Color of Twilight von Flordelis (Time of Death and Rebirth) ================================================================================ Kapitel 12: Die blauen Schmetterlinge ------------------------------------- Stöhnend öffnete Zetsu seine Augen. Er erwartete, auf dem Waldboden zu liegen, mit dem Geruch von Holz in der Nase, doch die Wahrheit traf ihn um einiges härter. Der kalte Steinboden, auf dem er lag, schien ihm härter als jedes andere Material, das er kannte. In der Luft lag ein süßlicher Geruch von Fäulnis und Verwesung. Die Schwerkraft drückte ihn mit aller Gewalt auf den Boden zurück, doch er schaffte es dennoch, aufzustehen, auch wenn seine Beine noch immer unter ihm nachzugeben drohten. Sein suchender Blick offenbarte ihm einen bedrohlichen lila-farbenen Himmel und verdorrte Bäume um ihn herum. Aber keine Nanashi. Auch als er ihren Namen rief, erfolgte keine Antwort. Ob sein Shinjuu ihn im Stich gelassen hatte? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen, nicht Nanashi. So sehr konnte er sich nicht in jemandem täuschen... oder vielleicht doch? Verwirrt lief er schließlich los, setzte einen Fuß vor den anderen, um diesem Ort zu entkommen, wie auch immer dorthin gekommen war. Dabei fragte er sich, wie er dort gelandet war. Nach seiner Flucht aus der brennenden Hütte war er direkt davor ohnmächtig geworden. Es gab keine logische Erklärung, wie er den Ort hatte wechseln können. Sein Inneres zog sich wieder zusammen, als er daran dachte, dass Jinmu nun tot war, ermordet von einem Unbekannten. Doch Zetsu würde tun, was er konnte, um diesen Mann zur Rechenschaft zu ziehen – sofern er von diesem Ort entkommen könnte. Aber egal wie weit er lief, die Gegend änderte sich nicht. Immer wieder kam er an den selben Bäumen vorbei, am selben Abschnitt des Himmels. Wie konnte das sein? Mit einem tiefen Seufzen blieb er wieder stehen. Einsamkeit war ihm verhasst, weswegen dieser Moment ihm unendlich grausam vorkam. Er setzte sich auf den Boden, zog die Beine an seinen Körper und schlang die Arme darum. Sein Gesicht vergrub er in seinen abgestützten Armen, bevor er die Augen schloss. Es vermittelte ihm ein Gefühl von Sicherheit, aber die Einsamkeit ließ kein bisschen nach. Die absolute Stille lastete schwer in seinen Ohren. Egal, wo er bislang gewesen war, noch nie hatte es eine derartige Stille gegeben – und das verstärkte die Einsamkeit noch einmal. Wieviel Zeit vergangen war, wusste er nicht, als er plötzlich etwas spürte. Etwas schien um ihn herumzuflattern, mit sanften, aber bestimmten Flügelschlägen um ihn herumzutanzen. Zögernd öffnete Zetsu die Augen, bevor er den Kopf hob. Vier Schmetterlinge flogen immerzu um seinen Körper herum, die Flügel schimmerten in einem tiefdunklem Blau und zogen seinen Blick geradezu magisch an. Plötzlich schien ihm diese Welt nicht mehr so trostlos wie zuvor, auch wenn diese Wesen nicht mit ihm redeten. Allein ihre Anwesenheit spendete ihm Trost und Zuversicht. Die Sicherheit, dass er aus dieser Welt fliehen könnte, wuchs von Sekunde zu Sekunde. Ein wenig ungeschickt stand er wieder auf. Die Schmetterlinge flogen ein Stück voraus und verharrten in der Luft als ob sie auf ihn warten würden. Neugierig, wohin sie ihn führen würden, folgte er ihnen. Wie zuvor führte ihn der Weg durch die karge Steppe, doch diesmal wiederholte sich die Gegend nicht mehr. Stattdessen standen sie unvermittelt in dem Raum, in dem auch Zetsus Träume spielten. Da die anderen Personen aus seinem Traum nicht da waren, konnte er sich das allererste Mal ungestört umsehen. Boden und Wände bestanden aus riesigen Marmorquadern, die mit glühenden blauen Linien durchzogen waren. Wurzeln, mit grün glühenden Linien, überwucherten die Quader, verursachten jedoch keine Risse im Gestein. Das war aber auch nicht nötig, denn zwischen jedem einzelnen Quader herrschte fingerbreit Platz, so dass die Pflanzen ungestört wuchern konnten. Wenn er den Kopf in den Nacken legte, blickte er in endlos scheinende Dunkelheit, wo irgendwo weitere Wurzeln in der Luft zu schweben schienen, wenn er nach unten sah, gab es dasselbe Bild, so als ob er sich zwischen zwei gegenüberliegenden Schichten Erde befinden würde – nur dass die Erde fehlte. Wie konnten die Wurzeln in der freien Luft wachsen? Einer der Schmetterlinge gab ein Geräusch von sich, das an das helle Klingeln einer kleinen Glocke erinnerte. Es lenkte Zetsus Aufmerksamkeit wieder auf das Insekt, das ihm scheinbar den weiteren Weg zeigen wollte. Die anderen drei Schmetterlinge dagegen hielten sich hinter seinem Rücken. Der Junge folgte dem führenden Schmetterling, bis ihn eine schneidend kalte Stimme wieder zum Stehen brachte: „Zirol...“ Es war nur ein Wort, doch er erkannte die Stimme hinter sich sofort. Ein Schauer durchfuhr Zetsu. Wenn er sich nun umdrehen würde, würde er herausfinden, wie die Person aussah, zu der diese Stimme gehörte. Diese Stimme, die zu dem Körper gehörte, durch dessen Augen er diese schreckliche Albträume beobachtet hatte. „Zirol...“, sagte die Stimme erneut. Zetsu verstand den Sinn des Wortes nicht, aber vielleicht war es auch nur ein Name? Langsam drehte der Junge sich um. Das Erste, was ihm an diesem Mann auffiel war das lange silberne Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, direkt danach folgte das fein geschnittene Gesicht mit den halb geschlossenen stahlblauen Augen, die ihn aufmerksam musterten. Die graue Kleidung kannte Zetsu teilweise von seinen Träumen, das Shinken in seiner Hand war genau dasselbe wie das welches der Junge führte. „Wer bist du?“ Ein arrogantes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. „So, du bist also mein Tenseitai.“ Die Worte kamen nur zögerlich so als müsste er vor jedem einzelnen erst einmal nachdenken, ob es überhaupt das richtige war. „Was... ist das?“, fragte Zetsu, dem das letzte Wort völlig unbekannt war. Das Lächeln wurde noch breiter, doch inzwischen war auch Spott in seinen Augen zu erkennen. „Ein Tenseitai ist eine Wiedergeburt. Du, mein Lieber, bist meine. Aber du bist enttäuschend.“ Zetsu wich zurück. Der Mann hatte ihm in in seinen Träumen schon nicht gefallen, ihm nun so gegenüberzustehen verbesserte seine Meinung über ihn nicht sonderlich. „Wer bist du?“, wiederholte Zetsu seine erste Frage. Sein Gegenüber schnalzte mit der Zunge. „Mein Name ist Rutsuruji.“ Das war der Name, den auch Nanashi ihm gegenüber erwähnt hatte. Aber wenn Zetsu wirklich mal er gewesen war, warum war Rutsuruji dann so kalt? „Glaubst du mir nicht?“, fragte der Mann. „Aber es ist wahr. Mit so etwas würde ich keine Scherze machen.“ Langsam kam er näher, Zetsu wich gleichzeitig zurück. Langsam schüttelte der Junge mit dem Kopf. „L-lass mich in Ruhe, geh weg!“ Angst, das war es, was er dieser Person gegenüber verspürte. Rutsuruji strahlte Gefahr aus, das feine Lächeln in seinem Gesicht verstärkte diesen Eindruck noch einmal. Aber Zetsu wusste nicht, wohin er rennen sollte. Dieser Ort war ihm fremd, obwohl er ihn jede Nacht in seinen Träumen gesehen hatte. „Du bist ein Fehler“, fuhr Rutsuruji fort. „Und Fehler müssen ausgemerzt werden.“ Er hob das Shinken über seinen Kopf. Zetsu kniff die Augen zusammen und erwartete den Schmerz – doch er kam nicht. Stattdessen konnte er einen lauten Schrei hören. Als er seine Augen öffnete, entdeckte er, dass einer der Schmetterlinge vor Rutsurujis Gesicht auf- und abflatterte. Der Gott schrie dabei als ob er bei lebendigem Leibe verbrennen würde. Unzählige Fragen jagten durch Zetsus Kopf, doch statt sich im Augenblick darum zu kümmern, fuhr er sofort herum und rannte davon. Er wusste immer noch nicht, wohin, aber das war ihm im Moment auch vollkommen egal, solange er nur wegkommen würde. Da er sich nicht umsah, bemerkte er nicht, wie Rutsuruji den Schmetterling zerschlug. Das Insekt zersprang augenblicklich in unzählige glitzernde Funken, die sich auflösten. Der Gott knurrte leise und nahm die Verfolgung auf. Egal wie weit Zetsu lief, die Gegend änderte sich nicht, genau wie die trockene Ebene zuvor. War er in einem Albtraum gefangen? Einer Illusion? Wenn ja, wie könnte er dieser endlich entfliehen? Die verbliebenen drei Schmetterlinge flogen vor ihm, es schien als wollten sie ihm den Weg weisen. Das trübe Licht, das sie spendeten, gab ihm zumindest ein wenig Halt, um nicht völlig zu verzweifeln. Verzweiflung würde bedeuten, dass er für immer in dieser Welt gefangen wäre, dessen war er sich absolut sicher. Unvermittelt stolperte er plötzlich über etwas und fiel der Länge nach hin. Heftige Schmerzen zuckten durch seinen Körper. Stöhnend richtete er sich wieder auf. Mit seinen Fingern fuhr er über sein Gesicht, dunkelrotes Blut blieb an den Spitzen kleben. Der Anblick der Flüssigkeit rief in ihm wieder die Erinnerung an die Ermordung seiner Eltern war, sein ganzer Körper zitterte, als die intensiven Emotionen erneut über ihn hereinbrachen. Nicht weinen... nicht weinen... ich muss weiter! Einer der Schmetterlinge setzte sich auf seine Nase. Funken begannen von dem Insekt aus- und in Zetsus Körper überzugehen. Je besser er sich wieder fühlte desto blasser wurde der Schmetterling – bis er schließlich ganz verschwand. Was sind das nur für Wesen? Hinter sich konnte er Schritte hören, die langsam näherkamen. Sofort richtete er sich wieder auf, um weiterzulaufen. Die verbliebenen Schmetterlinge flatterten wieder vor ihm her. Mit neuer Energie beseelt rannte Zetsu diesmal schneller als zuvor. Er könnte dem Gott entkommen, daran glaubte er ganz fest, er würde es schaffen, er musste einfach. Die Euphorie beflügelte ihn noch einmal zusätzlich, bestimmt würde er im nächsten Moment Licht sehen und damit endlich den Ausgang gefunden haben. Nur noch ein paar Schritte, nur noch ein wenig... Doch Flucht und Euphorie endeten urplötzlich an einer Wand. Ungläubig hielt Zetsu inne. Nein, das darf nicht... das darf nicht sein. Sein Blick ging hinauf und hinunter auf der Suche nach einem Riss, einem Spalt, der groß genug war, um ihn durchzulassen, irgend etwas... aber da war nichts. Er saß eindeutig in einer Falle. Hinter ihm wurden wieder die Schritte des Gottes laut. Zetsu fuhr herum und wich mit dem Rücken bis zur Wand zurück. Sein Körper bebte, als Rutsuruji vor ihm stehenblieb, immer noch dasselbe Lächeln im Gesicht wie zuvor. „Na? Bist du endlich bereit, deinem Schicksal zu folgen?“ Zetsu schüttelte heftig mit dem Kopf. „Nein, ich will nicht sterben!“ „Oh, du bist ein schlauer Junge“, stieß der Gott aus. „Ich habe dir doch noch gar nicht gesagt, dass ich dich töten werde. Aber irgendetwas musst du ja von mir haben.“ Der Junge versuchte, noch weiter zurückzuweichen, mit der Wand zu verschmelzen, doch natürlich funktionierte es zu seinem Unglück nicht. Rutsuruji hob erneut sein Shinken. Die Klinge bohrte sich problemlos durch Zetsus Oberkörper und auch in die Wand hinter ihm. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck zog der Gott das Schwert wieder heraus. Wie in Zeitlupe stürzte der Junge zu Boden. Statt Blut floss Mana aus der Wunde und schwebte lautlos gen Himmel. Rutsuruji kniete sich neben ihn. Ungewohnt sanft strich er dem Jungen durch das Haar, in seinen Augen war Bitterkeit zu sehen. Das Lächeln war immer noch da, aber es wirkte mehr denn je wie eine aufgesetzte Fassade. „Warum... warum siehst du so traurig aus?“, fragte Zetsu mühsam. Ohne Vorwarnung erlosch das Lächeln. „Das ist nichts, was dich angeht. Bald schon gibt es keinen Grund mehr dafür – und du wirst endlich deine Rache bekommen. Das sollte dich doch glücklich machen.“ Das sollte es wirklich, aber Zetsu fühlte sich keineswegs danach. Sein Inneres bäumte sich noch einmal auf, aber sein Körper reagierte wieder nicht darauf. Noch einmal strich Rutsuruji durch das Haar des Jungen. „Du brauchst keine Angst vor dem Tod zu haben. Er ist immer nur der Anfang.“ Die tröstenden Worte, die ihm offensichtlich nicht sonderlich leichtfielen, aber ernst gemeint waren, stimmten Zetsu ein wenig ruhiger. Fühlte sich Sterben wirklich so an? Sein Körper schien immer leichter zu werden, mit ihm schwanden Sorgen, Kummer und Ängste und auch der Wunsch nach Rache. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich wieder richtig frei. „Du kannst sterben, wenn du willst“, flüsterte Rutsuruji. „Es ist Zeit für dich...“ Zetsu konnte es sich nicht erklären, aber er war sich sicher, dass der Gott recht hatte. Er würde nicht einfach so verschwinden, denn dies war erst der Anfang. Der Glanz verschwand aus seinen Augen und ließen nur stumpfe Spiegel zurück, kaum dass sein Atem erstarb. Rutsuruji seufzte noch einmal schwer. Langsam löste er sich in violette Manafunken auf, die in Nase und Mund des leblosen Jungen eindrangen – gemeinsam mit den blauen Funken eines weiteren Schmetterlings. Gemeinsam mit den Funken schien ein kleines Wunder zu geschehen. Der Oberkörper des Jungen begann sich wieder in einem regelmäßigen Rhythmus zu heben und zu senken, der Glanz kehrte wieder in die Augen zurück, doch waren sie diesmal wesentlich finsterer und weniger unschuldig als zuvor. Das Lächeln auf seinem Gesicht erinnerte keineswegs an das herzliche Lächeln des kleinen Jungen, sondern mehr an das des Gottes. Mit dieser unheimlichen Grimasse ließ er den verbliebenen Schmetterling auf seiner Hand landen. „Es wird Zeit...“ Ungelenk stand er auf, um endlich diesen Ort zu verlassen und seinen Plan voranzutreiben – auch wenn er noch nicht wusste, dass es nicht so funktionieren würde wie er hoffte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)