Color of Twilight von Flordelis (Time of Death and Rebirth) ================================================================================ Kapitel 7: „Wie ein Theaterstück in einem großen Maßstab“ - Teil 2 ------------------------------------------------------------------ Zetsu spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, als er am nächsten Morgen erwachte. Zumindest glaubte er, dass es Morgen war. Draußen herrschte immer noch Dunkelheit, lediglich die Lichter der Stadt schienen in das Zimmer hinein. Aber die Atmosphäre war greifbar anders, nein, nicht anders – genauso. Dabei hatte er in seinem kurzen Leben gelernt, dass kein Tag dem anderen gefühlsmäßig glich, auch wenn es oft so aussah. Nanashi lag neben ihm und schlief noch immer, so dass er sie näher betrachten konnte. Sie wirkte kein bisschen wie ein Götterbiest, sondern wirklich mehr wie eine Puppe. Eine aus Porzellan, die man sich in ein Regal oder einen Schrank setzte. Für einen kurzen Augenblick glaubte er sogar, sie wäre eine solche – doch ihr sich hebender und senkender Brustkorb sagte ihm, dass sie durchaus sehr lebendig war. Ohne sie wäre er so einsam... er wusste nicht, was er tun sollte, wenn er ganz allein wäre. Wahrscheinlich wäre er dann immer noch in seiner Welt und würde auf den Tod warten. Plötzlich richtete Nanashi sich gähnend auf. „Hab ich gut geschlafen~“ Als sie bemerkte, dass Zetsu schon wach war, zuckte sie zusammen und erhob sich wieder in die Luft. Sie verneigte sich rasch. „Guten Morgen, Meister.“ Er erwiderte den Morgengruß, bevor er aufstand. Neugierig trat er an eines der Fenster und sah hinaus. In dem ärmlich aussehenden Viertel liefen einige Menschen herum, ohne wirklich etwas zu tun. Offensichtlich besaßen sie viel zu viel Zeit, sie unterhielten sich nicht einmal miteinander. Nanashi setzte sich wieder auf seine Schulter. „Etwas stimmt hier nicht.“ „Den Gedanken hatte ich auch schon. Aber was genau kann das sein?“ Darauf hob sie die Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber vielleicht können wir es irgendwie herausfinden. Wenn es zu gefährlich wird, sollten wir allerdings wieder gehen.“ „Kannst du das so einfach?“ „Sicher. Ich muss mich nur mit dem Spirit Corridor verbinden.“ Erneut musste sie über seinen fragenden Blick kichern. „Das ist ein Korridor, der mit allen Welten verbunden ist. Es ist nur ein wenig anstrengend, darüber zu reisen. Mit dem Turm der Unterstützung ist es leichter.“ Er nickte verstehend, auch wenn es ihm seltsam kompliziert erschien. Immerhin verstand er nicht wirklich, wie dieser Zeitbaum funktionierte. Am besten war es, sich einfach auf Nanashi zu verlassen. Zetsu und Nanashi gingen die Treppe hinunter. Die Bar war noch leer, niemand stand hinter dem Tresen. Statt des grellen gelben Lichts, brannte nur in einer Ecke eine rote Lampe, deren Leuchten dem Raum eine unheimliche Atmosphäre verschaffte. Hastig verließ Zetsu das Gebäude. Die Gasse war genauso verlassen wie zuvor, weit und breit war niemand zu sehen. „Wohin sollen wir gehen?“, fragte der Junge. Nanashi überlegte nur einen kurzen Moment. „Die eine Straße können wir nicht nehmen. Dieser Wächter ist um einiges stärker als Ihr. Vielleicht sollten wir uns woanders umsehen und uns mit jemandem unterhalten.“ Sein knurrender Magen sorgte dafür, dass sie schmunzelnd noch etwas hinzufügte: „Und wir sollten für Euch etwas zu essen suchen. Normalerweise muss man in solchen Welten mit Geld bezahlen... aber wir haben keines. Also müssen wir das anders machen.“ Die letzten beiden Sätze murmelte sie halblaut vor sich hin. Zetsu wusste nicht, was man sich unter Geld vorstellte. In seiner Welt hatte man sich wie selbstverständlich gegenseitig geholfen ohne dafür irgendwelche Gegenleistungen zu erwarten. Nanashi gab ihm schließlich zu verstehen, dass er weiterlaufen sollte. Er folgte der Anweisung und begab sich zu der Stelle, die er vorher von seinem Fenster aus gesehen hatte. Er suchte nach bekannten Gesichtern unter den Anwesenden, aber weder Yaga noch Shou oder Subaru waren dabei. Während Zetsu durch die Reihen lief, achtete er sorgsam darauf, niemanden anzurempeln. Das Gefühl, dass er gerade durch eine Kulisse stolperte, sorgte dafür, dass er sich immer wieder suchend nach jemandem umsah, der ihn im nächsten Moment wegscheuchen würde. Wie er auf diesen Vergleich kam, wusste er selbst nicht, aber er erschien ihm passend. Ein angenehmer Duft zog zu ihm herüber und lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine kleine Bude, aus der warmes helles Licht auf die Straße schien. Eine Markise aus Stoff sorgte dafür, dass Licht und Wärme zum größten Teil in der Bude blieb, der Geruch aber dennoch nach draußen ziehen konnte. Wie hypnotisiert ging Zetsu auf die Bude zu. Als er unter der Markise hindurchging, wurde er sofort von einem angenehm warmen Gefühl eingehüllt. Vor einem hölzernen Tresen standen mehrere Barhocker, hinter dem Tresen stand wieder Yaga. Lächelnd ging Zetsu näher. „Hallo~“ Sie wandte sich ihm zu und erwiderte das Lächeln. „Hallo, junger Mann. Bist du neu hier?“ Sein Lächeln erlosch und machte einem verständnislosen Ausdruck Platz. „Neu? Nein, wir haben uns doch gestern Abend schon gesehen.“ Es war noch nie vorgekommen, dass er vergessen worden war. Doch Yaga schüttelte nach einigem Nachdenken den Kopf. „Nein, ich erinnere mich nicht.“ Sie lächelte wieder. „Wie auch immer. Du siehst hungrig aus. Ich lade dich auf eine Portion Ramen ein, setz dich.“ Im Moment hätte Zetsu sogar puren Sand gegessen, wenn nichts anderes da gewesen wäre. Er setzte sich auf einen der Hocker – was an diesem Tag schon um einiges leichter ging – und sah von seiner neuen Position staunend auf die Töpfe und Schüsseln. Den leckere Duft konnte er nun um einiges besser in sich aufsaugen, er machte Hunger auf mehr. Mit einem freundlichen Lächeln stellte Yaga ihm eine randvoll gefüllte Schüssel hin, daneben legte sie ein Paar Holzstäbchen, das er ratlos musterte. Kichernd nahm sie ein neues Paar. „Schau, so geht man damit um.“ Sie trennte das Paar voneinander und demonstrierte ihm dann, wie man die Stäbchen richtig hielt, dass und wie man damit essen konnte. Zetsu sah ihr staunend dabei zu. Doch er begriff schnell und begann, sie erfolgreich mit seinem eigenen Essen nachzuahmen. Scheinbar zufrieden widmete sie sich wieder ihren anderen Aufgaben, während er das Essen gierig in sich hineinschlang. Es war das erste Mal, dass er Nudeln – so nannte Nanashi es – aß, nie hätte er gedacht, dass er so etwas Leckeres in seinem Leben verpasst hatte. Er hoffte, dass sie noch öfter in Welten kommen würden, wo es dieses Ramen oder zumindest etwas Vergleichbares gab. Nach der Mahlzeit bedankte er sich noch einmal und verließ die Ramenbude nach einem letzten Gruß, um sich weiter in der Stadt umzusehen. Mehrere Stunden später kehrte Zetsu wieder in die Bar zurück. Wie erwartet hatte er absolut nichts herausfinden können. Weder warum der Managehalt in dieser Welt so seltsam war, noch wo sich die anderen Menschen befanden. Er war in einem der riesigen Gebäude gewesen, doch dort wurde er nur von Leere und Einsamkeit empfangen. Nicht einmal Nanashi schien zu verstehen, was in dieser Welt vorging. In der Bar bot sich ihm dasselbe Bild wie am Abend zuvor. Exakt dieselben Leute saßen missmutig herum, ohne ihn auch nur zu beachten. „Na, Kleiner?“, fragte Yaga. „Was führt dich denn hierher?“ Zetsu sah sie verdutzt an. Das waren genau dieselben Worte, die sie am Tag zuvor zu ihm gesagt hatte. Ob das ein Zufall war? „Ich habe mich nur ein wenig umgesehen“, antwortete er. „Jetzt warte ich wieder auf Subaru und Shou.“ Vielleicht könnte er von den beiden noch mehr erfahren, wenn schon der Rest der Stadt in Schweigen versunken zu sein schien. „Dann setz dich doch erst mal. Du siehst ziemlich erschöpft aus.“ Wieder einmal setzte Zetsu sich auf den Barhocker. Wie am Abend zuvor stellte Yaga ein Glas mit Milch vor ihn, begleitet von einem Schmunzeln und exakt demselben Wortlaut: „Hier, ein Glas Milch für dich, Kleiner. Für alles andere in diesem Laden bist du leider noch zu jung.“ Diesmal trank er die Milch ohne zu zögern oder erst von Nanashi gedrängt werden zu müssen. Schweigend wartete er darauf, dass die beiden Bogenschützen eintrafen, damit er mit diesen reden konnte. Vielleicht würden sie ihm sagen, was hier los war... oder auch nicht. Wenn er sich Yagas Reaktionen auf ihn so ansah, würden sie ihn wahrscheinlich nicht einmal erkennen. Während Zetsu noch an seinem Glas nippte, öffnete sich die Tür, die beiden Bogenschützen traten ein. Schon bald legten sich die Blicke der beiden auf den Jungen. In ihren Augen konnte er sehen, dass sie sich wirklich nicht an ihn erinnerten. Da er das allerdings erwartet hatte, spürte er keine Enttäuschung, sondern nur erneut das Unverständnis über diese Welt. „Ich habe dich noch nie zuvor hier gesehen“, sagte Subaru. „Woher kommst du?“ Zetsu erklärte knapp und monoton, dass er aus einer anderen Welt kam, worauf Shous Gesicht sich wieder verfinsterte, während Subaru ihn erneut willkommen hieß. Shou nickte, der finstere Zug war wieder verschwunden. „Du kannst solange unser Gast sein wie du möchtest.“ „Genau dieselben Worte und Gesten wie gestern“, wisperte Nanashi in seinen Gedanken. „Hier ist etwas oberfaul.“ In der Hinsicht konnte er ihr nur zustimmen. Hier stimmte etwas vorne und hinten nicht, das spürte er selbst mit seiner mangelnden Lebenserfahrung. „Heute Nacht werden wir herausfinden, was es ist“, beschloss das Shinjuu. So standen die beiden mehrere Stunden später wieder auf der Straße, auf der Zetsu von dem Drachen angegriffen worden war. Nanashi war der festen Überzeugung, dass das Geheimnis dieser Welt mit dem Zentrum der Stadt zu tun hatte – und dorthin kam man nur über diese Straße. Mit seinem Shinken, das er fest in der Hand hielt, folgte Zetsu dem Weg, dabei sah er sich immer aufmerksam nach allen Seiten um. Nichts und niemand war zu sehen. Vielleicht würde diesmal kein Wächter kommen. Er wollte schon seine Achtsamkeit ein wenig fallenlassen, als er plötzlich wieder dieses Gefühl verspürte. Er musste nicht erst den Kopf heben, um seinen Verdacht zu bestätigen. Das tiefe Grollen und die Flügelschläge verrieten ihm bereits, dass er entdeckt worden war. Bei dem Anblick des fliegenden Drachen konnte Zetsu für einen Moment nicht anders als sich zu fragen, wie die Flügel diesen Koloss in die Höhe heben und dort halten konnten. Sofort verwarf er den Gedanken wieder. Dafür war nun keine Zeit. Erneut standen sie sich beide gegenüber und starrten sich gegenseitig an. Doch diesmal zitterte Zetsus Körper nicht. Er konnte immer noch die Macht spüren, die von dem Wächter ausging, aber diesmal ängstigte sie ihn nicht, sie kam nicht so unerwartet wie zuvor. Stattdessen erwiderte er den Blick des Drachen mit einem eigenen, gefestigten Blick, der aussagte, dass er kein Stück weichen würde. Diese Sicherheit rührte allerdings hauptsächlich von seinem festen Glauben, dass Subaru und Shou ihn wieder retten kommen würden. Wenn nicht, dann... Er wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, doch das musste er auch nicht. Im nächsten Moment steckte schon ein Pfeil im Körper des Drachen. Das Wesen schrie gepeinigt auf. Zetsu nutzte den Moment und rannte an dem Wesen vorbei, die Straße weiter. Er ignorierte die Rufe in seinem Rücken, konzentrierte sich einfach nur darauf, zu rennen. Schon nach wenigen Schritten spürte er seine Beine nicht mehr, es war als ob er schweben würde und er war sich sicher, dass es etwas mit seinem Shinken zu tun hatte. Doch der Effekt hielt nicht lange hin. Jemand griff an seinen Arm, abrupt kam Zetsu wieder zum Stillstand. „Ich habe dir gesagt, dass du stehenbleiben sollst!“, fauchte Shou, der vor ihm auftauchte. „Du kannst dort nicht hin!“ Zetsu sah erst ihn an, dann ging sein Blick zu Subaru, der seinen Arm festhielt. „Sie haben ebenfalls Shinken!“, kam es von Nanashi. „Darum konnten sie gegen die Wächter kämpfen. Warum ist mir das nicht gleich aufgefallen?“ Er ignorierte ihre Gedanken und sah weiterhin Subaru an. Der Blick des Bogenschützen war völlig leer, als ob er gedanklich gar nicht anwesend wäre. Zetsu versuchte zu ergründen, was los war, doch plötzlich zog Subaru ihn mit sich. Es war Shou, der das schließlich kommentierte: „Wir bringen dich jetzt wieder zurück, nicht, dass dir noch etwas passiert.“ Sie versuchten also, ihn vom Zentrum fernzuhalten? Nein, das konnte er nicht mit sich machen lassen! Mit einem heftigen Ruck riss er sich von Subaru los. Dabei holte er mit seinem Shinken aus und erwischte den Bogenschützen damit. Erschrocken starrte Zetsu ihn an. Aus der Wunde des Älteren strömte kein Blut und auch kein Mana – stattdessen legte der Riss in der Haut den Blick auf blankes Metall frei. Was immer er war, er war kein Mensch! Zetsu wollte weglaufen, doch der Schreck war in seine Glieder gefahren, die ihm wieder den Dienst versagten. Beide kamen wieder näher. Wenn er nun nicht weglaufen würde, würden sie ihm möglicherweise etwas antun und er wollte nicht wissen, was sie tun würden. Sie streckten ihre Hände aus, um ihn zu ergreifen. Ängstlich kniff Zetsu die Augen zu – und hörte plötzlich ein lautes, durchdringendes Geräusch. Vorsichtig öffnete er seine Augen wieder. Shou und Subaru standen vollständig still. Was ist das? „Klingt nach einer Sirene. Aber weswegen heult eine mitten in der Nacht?“ Bevor Zetsu nachhaken konnte, was eine Sirene war, fuhren sowohl Subaru als auch Shou plötzlich herum und gingen davon. Die Bewegungen der beiden wirkten unnatürlich, allem Anschein nach waren sie wohl wirklich keine Menschen. „Was geht hier vor?“, fragte Zetsu leise. Er befürchtete, dass sie wieder zurückkommen würden, wenn er zu laut spräche. Nanashi verließ seine Schulter und blieb vor ihm in der Luft schweben. „Ich weiß es jetzt. Die Shinjuu der beiden haben es mir erzählt.“ Damit begann sie, ihm eine Geschichte zu erzählen, die ihm unbegreiflich war. Genau wie seine Welt, war diese vor dem Untergang gestanden. Doch bevor sie hatte zerstört werden können, hatte Shou einen Pakt mit dem Centre geschlossen: Er würde alles tun, was verlangt werden würde, solange dieses Centre die Welt – und vor allem Subaru – retten würde. Also wurde diese Welt von dem Manazufluss des Zeitbaums abgekappt, so dass Mana weder zufließen, noch verschwinden konnte, was den ungleichmäßigen Managehalt erklärte. Anschließend hatte das Centre seine Macht genutzt, um die letzten 24 Stunden der Welt vor der Zerstörung wiederherzustellen und diese in einem ewig währenden Kreislauf immer wieder abzuspielen. Zu diesem Zweck waren auch alle Menschen durch Androiden – künstliche Menschen – ersetzt worden. Nanashi vollführte eine ausschweifende Handbewegung. „Diese ganze Welt ist zu einer riesigen Theaterbühne geworden, auf der immer und immer wieder dasselbe Stück aufgeführt wird.“ „Ein Theaterstück in einem großen Maßstab“, murmelte Zetsu. Sein Shinjuu nickte bestätigend, Trauer lag in ihrem Blick. Nie wieder würde in dieser Welt etwas sterben oder geboren werden, die Menschen darin waren verdammt, auf ewig immer dasselbe zu tun, ohne sich dessen bewusst zu sein. Für Zetsu war diese Welt schlimmer als eine vollkommen tote, er verspürte nur noch einen Wunsch: „Können wir hier weg? Bitte... ich will hier nicht bleiben.“ Nanashi nickte. „Selbstverständlich, Meister.“ Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Nur wenige Sekunden später erschien plötzlich ein Portal vor ihr. Die schillernden Farben in seinem Inneren luden geradezu zum Eintreten ein. „Das ist also ein Spirit Corridor?“ Sie nickte noch einmal. „Lasst uns gehen, Meister. Die nächste Welt wird Euch besser gefallen.“ Neugierig ging er näher. Bevor er hindurchtrat, drehte er sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf die Welt, die ihren eigenen Tod verleugnete. Nein, das hier würde er mit Sicherheit nicht vermissen. Er sah wieder nach vorne und trat durch das Portal, das sich hinter ihm schloss und wieder verschwand als wäre es nie dagewesen. Und tatsächlich sollte es für die Bewohner der Welt so sein als wäre der junge Zetsu Akatsuki niemals bei ihnen gewesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)