Color of Twilight von Flordelis (Time of Death and Rebirth) ================================================================================ Kapitel 5: Nanashi ------------------ Blinzelnd öffnete Zetsu seine Augen. Mit versteinertem Gesicht starrte er an den blauen Himmel, wo wie üblich keinerlei Wolken zu sehen waren. Die Verlockung, einfach liegenzubleiben und auf den Tod zu warten, war groß. Doch dann kamen ihm wieder die von ihm Getöteten in den Sinn. Er durfte ihr Sterben nicht umsonst sein lassen. Seine Hand hielt immer noch das Shinken umklammert, er konnte nicht einen einzigen Finger davon lösen. Seufzend richtete er sich auf. „Meister, Ihr seid wach!“ Erschrocken sah er zur Seite. Das Wesen saß neben ihm, ihr erleichterter Blick zeigte ihm, dass sie sich Sorgen um ihn gemacht hatte. Inzwischen war sie nicht mehr durchsichtig und gerade eben hatte er sogar ihre Stimmen vernommen. „Wer bist du?“, wiederholte er die Frage, die er schon bei ihrer ersten Begegnung gestellt hatte. Sie schwebte in die Luft und legte eine Hand auf ihr Herz. „Mein Name ist Nanashi, ich bin das Shugo Shinjuu des Eien Shinken 'Gyouten'.“ Sein verwirrter Blick ließ sie leise kichern, bevor sie ihm erklärte, dass ein Shinjuu dem Schutz des Shinkenträgers diente und stets an eine bestimmte Waffe und damit eine bestimmte Person gebunden war. „Ich bin also dafür zuständig, auf dich aufzupassen“, schloss sie schließlich selbstgefällig. „Ich hoffe, das stört dich nicht.“ Der letzte Satz hörte sich an als ob sie ihn nur aus Höflichkeitsgründen angehängt hätte, allerdings waren Zetsus Gedanken noch zu durcheinander, um das zu verstehen. Er wusste nicht, ob es ihn störte, also schüttelte er den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“ Im Grunde war er froh und dankbar, immerhin war er so nicht mehr ganz allein. Sie lächelte glücklich. „Das ist schön.“ Mit einem Lächeln auf dem Gesicht machte sie den Eindruck eines glücklichen kleinen Kindes und nicht den eines schützenden Götterbiests, wie der Titel Shugo Shinjuu eigentlich verriet. Für einen kurzen Moment schwiegen beide, bevor Nanashi sich wieder räusperte. „Was wollt Ihr jetzt tun, Meister?“ Sein Blick ging in die Entfernung, wo er den Turm sehen konnte, auf den er sofort deutete. „Wir müssen dorthin. Ich muss diesen Gott töten.“ Zuviel Zeit wollte er nicht verstreichen lassen, bis er seinen Auftrag ausführte. Immerhin konnte er nicht wissen, wann seine Welt endgültig zerfiel oder die Energie seines Shinken wieder nachließ. Er erwartete, dass sie widersprechen würde, doch sie nickte nur. „Wie Ihr wollt, Meister.“ Zetsu stand wieder auf. Mit der freien Hand klopfte er sich den Sand von den Schultern. Das Shinken in seiner Hand schwieg, vielleicht aufgrund der fehlenden Opfer. Der Junge suchte nach einem Kamel, doch schon bald merkte er, dass keines mehr lebte. Sie alle schienen während der Aufstände umgebracht worden zu sein, zumindest bezeugte dies das getrocknete Blut unter den leblosen Körpern. Also blieb ihm nichts anderes übrig als zu laufen. Die letzten Jahre hatte jeder Zetsu davon abgehalten, die Wüste zu betreten, indem ihm erzählt worden war, dass die Sonne ihn unbarmherzig austrocknen lassen würde. Allerdings stellte er nun fest, dass die Geschichten wohl alle übertrieben waren. Aber vielleicht lag es auch an der seltsamen Kälte in seinem Inneren, die einfach nicht wegging, egal wie stark die Sonne auf ihn niederbrannte. Irgendwann wurde es Nacht, aber Zetsu wurde nicht müde, dafür leuchtete die Klinge wieder sacht, als ob sie ihm den Weg weisen wollte. Nanashi schwieg den ganzen Weg über, erst als sie vor dem Turm stehenblieben, seufzte sie leise. „Endlich, ich dachte, wir kommen nie an.“ „Du musstest ja nicht laufen“, erwiderte Zetsu. „Fliegen ist auch anstrengend“, bemerkte sie. „Sollen... wir wirklich reingehen, Meister?“ Genau wie seine Eltern zuvor, starrte Zetsu auf den Eingang als würde er warten, dass er hineingezogen werden würde. Dunkelheit herrschte im Inneren des Turms, abgesehen von einem grünen Leuchten, das ihn einzuladen schien, hereinzukommen. Ohne auf Nanashis Frage zu antworten, folgte Zetsu der Einladung und betrat den Turm. Das Shinjuu folgte ihm. Ohne zu zögern drückte sie auf den leuchtenden Knopf, so dass das Licht ansprang. Verdutzt betrachtete Zetsu das Metall. „Was ist das alles hier?“ „Das nennt man Computer“, antwortete Nanashi. „Damit können unzählige Daten verarbeitet werden. Echt praktisch.“ Sein Blick blieb verwirrt, noch eine Frage folgte: „Was sind Daten?“ „Mhm, das ist ein wenig kompliziert zu erklären.“ Da sie wieder schwieg, stellte er die nächste Frage: „Weißt du, was das für ein Turm ist?“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Gott hier lebte, also musste das Gebilde für irgend etwas anderes gut sein. „Das hier ist ein Turm der Unterstützung, mit diesem kann man zwischen den Welten im Zeitbaum umherreisen und außerdem...“ - sie schluckte - „kann man mit diesem Turm auch Welten vernichten, wenn man so will.“ Er begriff sofort, was sie ihm damit sagen wollte und stellte die richtige Schlussfolgerung: „Also ging die Zerstörung meiner Welt von diesem Turm aus.“ Nanashi nickte. „Ganz genau. Von hier wurde das Mana deiner Welt an eine andere geschickt.“ Zetsu wusste, dass sich seine Wut nun auf diesen Turm richten sollte, doch als er in sich hineinhorchte, war da... nichts. Er spürte keinen Wut, keinen Hass, gar nichts, nur Verwunderung und Neugierde. Wenn es möglich war, von hier aus in andere Welten zu reisen, dann würde er diese Möglichkeit auch nutzen, sobald er sich dem Gott auseinandergesetzt hatte. „Aber wo ist nun Gott?“, fragte Zetsu. Da er nun endlich hier war, wollte er diese Gestalt auch endlich sehen, genau wie seine Eltern zuvor. Nur wollte er diese dann bei der Gelegenheit auch gleich töten, um sich zu rächen. Allein der Gedanke wirkte absolut surreal, nachdem ihm beigebracht worden war, Gott zu respektieren und zu verehren aber deswegen war er doch letztendlich hier. Plötzlich wirkte Nanashis Gesicht als ob sie etwas Unangenehmes gerochen hätte. „Da kommt etwas.“ Kaum war ihr Mund wieder geschlossen, tauchte in der Mitte des Raumes die weiße Frau, die auch seinen Eltern erschienen war, auf. Zetsus Körper ging sofort in Abwehrhaltung, ohne dass sein Gehirn einen entsprechenden Befehl gab. Wieder war es als ob das Shinken die Kontrolle übernehmen würde. Die Frau lächelte. „Wen haben wir denn da?“ „Wer bist du?“, erwiderte er mit einer Gegenfrage. Sie deutete eine Verbeugung an, die auf Zetsu einen durchaus spöttischen Eindruck machte. „Mein Name ist Isbel, ich bin die Göttin dieser Welt.“ „Bist du nicht!“, kam aus seinem Mund, bevor er es verhindern konnte. Isbel lächelte. „Was für ein schlauer Junge. Erinnerst du dich etwa an mich?“ Er wollte fragen, was sie damit meinte, doch sein Körper verweigerte jeden Gehorsam. So stand er ihr nur mit erhobenem Shinken gegenüber, darauf wartend, dass sie ihre Deckung fallenließ. „Anscheinend erinnert sich der Gott in dir, aber er sagt es dir nicht“, folgerte Isbel aus diesem Verhalten. „Wie herzlos, Rutsuruji.“ Derselbe Name wie in meinem Traum!, fuhr es durch seinen Kopf. Dann hatte Onkel Gekkyu recht? Er erinnerte sich daran, dass sein Onkel am Tag zuvor noch darüber gesprochen hatte, dass Zetsu die Reinkarnation eines Gottes wäre. Doch es klang für den Jungen noch viel zu unbegreiflich als dass er es wirklich glauben könnte. Urplötzlich erlosch Isbels Lächeln, ihre Gesichtszüge wurden hart und unbarmherzig, ihre Augen glitzerten kalt. In einer anmutigen Bewegung hob sie ihren rechten Arm quer über ihren Körper. „Dann lass mich dir deine Unwissenheit – und dein Leben – nehmen.“ Zetsu schloss die Augen und erwartete den Schmerz. Doch alles, was zu hören war, war nur ein gellenden Schrei. Widerwillig, zögernd, öffnete er seine Augen wieder und blickte die Göttin überrascht an. Ohne sein Zutun oder dass es ihm auch nur aufgefallen war, hatte sein Körper Isbel angegriffen. Die silbern leuchtende Klinge steckte in ihrem Oberkörper, genau dort wo bei einem Menschen das Herz sitzen würde. Von diesem Punkt breiteten sich spinnennetzartig Risse auf ihrem Körper aus als ob ihr Körper aus Porzellan oder Glas bestehen würde. Zetsu betrachtete diesen Vorgang mit Verwunderung und Unglauben, sein ganzer Leib zitterte. W-was ist das nur? Ihr Arm war immer noch erhoben, mit verzerrtem Gesichtsausdruck blickte sie ihn an. Es schien sie unendlich viel Mühe zu kosten, ihren Mund zu öffnen. „Gar nicht schlecht, Rutsuruji.“ Ihre Stimme klang plötzlich verzerrt, als ob verschiedene Personen gleichzeitig durch ihren Körper zu sprechen versuchten. „Aber das Ziel des Jungen ist damit nicht erreicht. Wir werden nicht so einfach sterben.“ Mit einem überraschend leisen Geräusch zersprang der Körper in zahllose kleine Teile, die sich gleich in Manafunken auflösten. Zurück blieb eine seltsame Wolke, die allerdings nach einem weiteren Moment ebenfalls verschwand. Zetsu ließ das Schwert wieder sinken. Sein Gefühl sagte ihm, dass es die Wahrheit war. Wer oder was immer sie gewesen war, sie lebte immer noch und war lediglich verschwunden. Aber warum hatte sie in der Mehrzahl gesprochen? Wer war da noch gewesen? Während er seinen Gedanken nachhing, widmete Nanashi sich wieder dem Computer, auf dem sie einige Knöpfe betätigte. Ein befremdliches Geräusch ließ Zetsu zusammenzucken. Neugierig wandte er sich dem Shinjuu zu. „Was tust du da?“ „Ihr wollt doch Rache, oder?“, fragte sie, ohne aufzublicken. Das war keine Frage, über die er nachdenken musste, so dass er sofort nickte. Der Rachedurst war immer noch nicht gestillt, auch wenn es nicht sein eigener war. Er konnte das Verlangen der anderen durch sein Shinken spüren – und sie verlangten immer noch Rache. „Dachte ich mir doch“, murmelte Nanashi. Schließlich räusperte sie sich. „Ihr könnt die Verantwortlichen für den Untergang Eurer Welt im Idealen Stamm finden. Dorthin sollten wir reisen, wenn Ihr Eure Rache haben wollt. Aber...“ Sie warf ihm einen abschätzenden Blick zu, bevor sie mit der Zunge schnalzte und sich wieder dem Computer zuwandte. „Davor solltet Ihr ein wenig stärker werden. Immerhin habt Ihr es mit richtigen Göttern zu tun.“ „Oh ja, jetzt, wo du es erwähnst: Bin ich wirklich... einmal ein Gott gewesen?“ Gespannt wartete er auf ihre Antwort, obwohl er sich nicht sicher war, ob er diese glauben könnte. Sie nickte. „Oh ja, das stimmt. Ihr wart einst Rutsuruji, der Meister von 'Gyouten'.“ Ihm drängte sich der Verdacht auf, dass sie noch etwas hinzufügen wollte, doch sie schwieg. Er wollte nicht nachhaken, deswegen wechselte er das Thema: „Wie kommt es, dass du mit diesem Ding umgehen kannst?“ Für ihn war dieses Gerät nur eine Ansammlung von Metallplatten, Knöpfen und Glasscheiben, weswegen er es umso erstaunlicher fand, dass sie tatsächlich den Umgang damit beherrschte. „Ich bin ein Engels-Shinjuu, na ja, eigentlich ein gefallener Engel, darum kann ich vieles.“ Auf seine Frage, was ihre Gattung damit zu tun hatte, schwieg sie. Er interpretierte es so, dass sie selbst nicht wusste, warum beides zusammenhing und fragte daher nicht weiter. Schweigend wartete er darauf, dass sie fertig wurde. Während sie beschäftigt war, betrachtete er sie neugierig. Ihr ernster Gesichtsausdruck verriet, wie konzentriert sie über etwas nachdachte, was sich seinem Verständnis entzog. Seine Gedanken begannen in seinem Kopf zu kreisen. In den letzten zwei Tagen hatte er nicht nur seine Eltern, sondern auch alle anderen verloren, die ihm je begegnet waren. Dafür war dieses Shinjuu, Nanashi, in sein Leben getreten und würde ihm nun helfen, seine Heimatwelt zu verlassen. Wenn das kalte Gefühl in seinem Inneren, das schon fast schmerzhaft war, nicht gewesen wäre, wäre er der festen Überzeugung gewesen, nur zu träumen. Doch so konnte er sich sicher sein, dass dies alles echt war. Mit einem triumphierenden Summen fuhr sie schließlich wieder zu ihm herum. „Ihr solltet Euch nun von Eurer Welt verabschieden. Ich glaube nicht, dass wir wieder herkommen werden.“ Zetsu schwieg darauf. Es gab nichts, wovon er sich verabschieden müsste. Alle, die er kannte, wenn nicht gar die gesamte Bevölkerung dieser Welt, waren tot. Entweder durch seine Hand oder durch andere Gründe, die ihm unbekannt waren. Ansonsten bestand diese Welt nur noch aus Sand, Sand und noch mehr Sand, abgelöst von Felsen, Steinen, Gebäuden, die bald verkommen würden und vertrocknetem Holz. Das einzig Gute waren die Erinnerungen an eine Kindheit, die erst seit kurzem vorbei war und doch so unendlich weit weg erschien. Und diese Erinnerungen würde er auf ewig in seinem Inneren mit sich tragen, er würde sie nicht zurücklassen. Nein, hier gab es nichts, von dem er sich verabschieden müsste. Dies gab er Nanashi zu verstehen, worauf sie wieder nickte. Offenbar hatte sie so etwas von ihm erwartet. Noch einmal drückte sie auf einen Knopf, worauf ein hellgrünes Licht in der Mitte des Raumes erschien. Nanashi setzte sich auf Zetsus Schulter und nickte ihm aufmunternd zu. „Dann lasst uns gehen. Wenn es sein muss, werde ich den ganzen Zeitbaum mit Euch erkunden.“ Noch wusste er nicht, was das zu bedeuten hätte, doch er ahnte, dass es viel Arbeit versprach. Erneut war er froh und dankbar über Nanashis Unterstützung. „Vielen Dank.“ Sie lächelte ihm zu. Ein letztes Mal sog er tief die Luft dieser Welt ein, dann trat er in das grüne Licht, das ihn mit einem kribbelnden, unbekannten Gefühl erfüllte. Schon wenige Sekunden später, war der Turm so verlassen wie zuvor und das Licht erlosch wieder. Damit war die verwitterte Welt endgültig menschenleer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)