Color of Twilight von Flordelis (Time of Death and Rebirth) ================================================================================ Kapitel 4: Rache ist süß – oder nicht? -------------------------------------- „Was sagst du dazu, Gekkyu? Du bist schon die ganze Zeit so schweigsam.“ Die Blicke der Anwesenden richteten sich auf den Mann, der wieder einmal an seiner Pfeife zog. Nach den ersten drei Todesfällen hatten die anderen Menschen sich wieder beruhigt und beschlossen, sich zusammenzusetzen und zu bereden, was es zu tun gab. Sie alle hatten eingesehen, dass das kopflose hin und her rennen zu nichts führte. Doch auch die Diskussionen gingen lediglich hin und her und das ganz ohne Ergebnis. Die einen wollten mit den Plündereien weitermachen und den Tod der drei Bewohner vergessen, die anderen wollten kollektiven Selbstmord begehen und wieder andere waren dafür, einfach so wie früher weiterzumachen. Gekkyu dagegen schwieg und zog an seiner kalten Pfeife. Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er sogar vergessen hatte, den Tabak anzuzünden. Als er von den anderen angesprochen wurde, blickte er auf. „Ich finde alle Vorschläge schlecht.“ „Hast du denn einen Gegenvorschlag?“, fragte Hinome leise. Verschwörerisch beugte er sich vor, ein unbekanntes Glitzern lag in seinen Augen. Bestimmend klopfte er auf die Zetsus Schwert, das auf dem Tisch lag. „Ich bin für einen ganz anderen Weg. Wir sollten Rache üben. Rache an den Göttern, die uns sterben lassen wollen.“ „Aber wie?“, fragten die anderen ratlos. Gekkyu klopfte noch einmal auf die Klinge. „Ihr habt alle gesehen, was vorher mit Zetsu geschehen ist. Weiß denn wirklich keiner von euch, was das hier für ein Schwert ist?“ Die anderen schüttelten mit den Köpfen, er seufzte. „Das hier ist ein Eien Shinken, ein Götterschwert.“ Sofort hielten alle die Luft an. Jeder von ihnen kannte die Sage der Götterschwerter und dass nur diese in der Lage wären, Götter zu töten – allerdings nur solange sie von einem anderen Gott oder zumindest einer Reinkarnation eines solchen geführt wurden. Wenn Zetsu ein solches Schwert besaß, dann... „Bedeutet das, dass Zetsu einmal ein Gott war?“, murmelte Hinome. Gekkyu nickte zustimmend. „Es ist wie du immer sagtest, er ist etwas ganz Besonderes. Auch seine Albträume weisen darauf hin.“ Wieder schluckten die anderen. Der Junge, den sie fast wie einen Gott verehrt hatten, war also tatsächlich einmal ein solcher gewesen. Aber dann drängte sich allen ein anderer Gedanke in den Sinn. Gekkyu hatte recht, mit Sicherheit würde Zetsu sie alle rächen können, sobald er mehr Mana bekommen hätte. Aber der einzige Weg, in dieser Welt an Mana zu kommen war... „Das würde aber bedeuten, dass er uns alle töten müsste“, meinte einer der Männer. „Kann Zetsu das wirklich tun?“ Gekkyu zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber viel bleibt ihm wohl nicht übrig. Wenn er uns töten kann, dann kann er auch diese Welt verlassen und nicht hier sterben.“ Hinome senkte den Kopf. „Ist das nicht zuviel verlangt? Er ist doch noch so klein...“ „Es ist die einzige Möglichkeit.“ Er sah die anderen an, die bereits fest entschlossen wirkten. Jeder von ihnen war bereit, sein Leben zu geben, für die Aussicht, dass die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden würden – und das auch noch von der letzten Hoffnung dieser Welt. Hinome seufzte. „Aber es gefällt mir trotzdem nicht...“ Die anderen wandten sich nun ihr zu und versuchten sie umzustimmen. Zetsu liebte seine Tante genau wie sie ihn. Solange sie mit der Idee nicht einverstanden war, würde Zetsu sie mit Sicherheit auch nicht durchführen. Innerlich seufzte Hinome noch einmal. Zetsu... Er war schon längst wach, obwohl er sich wünschte, es nicht zu sein. Mit geschlossenen Augen lauschte er den Versuchen, Hinome davon zu überzeugen, der Sache zuzustimmen. Mit aller Macht kämpfte er seine Tränen zurück. Es würde nichts bringen, zu weinen. Niemand würde kommen, um ihn zu trösten. Seine Eltern waren tot, Gekkyu wollte von ihm getötet werden und Hinome saß in der Zange. Es schien als würde ihm keine andere Wahl bleiben, als dem Plan selbst zuzustimmen. Doch könnte er wirklich all diese Leute, eingeschlossen seines Onkels und seiner Tante töten? Die Handlung zuvor war nicht aus seinem eigenen Willen geschehen, konnte er sie wirklich wiederholen? Noch während er darüber nachdachte, spürte er plötzlich etwas Warmes neben sich. Verwirrt öffnete Zetsu seine Augen, die sich sofort überrascht weiteten. Neben ihm saß ein etwa puppengroßes Mädchen mit fliederfarbenem Haar und dunkler Kleidung und sah ihn besorgt an. Sie schien durchsichtig zu sein und auch als er versuchte, sie anzufassen, ging seine Hand durch sie hindurch. Noch nie zuvor hatte er etwas wie sie gesehen. „Wer bist du?“, fragte er leise. Sie antwortete nicht, aber er hatte das Gefühl, dass sie ihn genau verstand. Leise seufzend richtete er sich auf, worauf sie in die Luft schwebte. Zwei schwarze Stoffstreifen gingen von ihrem Rock ab und endeten in goldenen Kreisen. Sie lächelte leicht, als er endlich aufrecht saß. Was immer sie war, sie schien sich tatsächlich Gedanken um ihn zu machen. Zetsu war ihr dankbar dafür, besonders im Moment, auch wenn sie nicht sprach. Er stand von seinem Bett auf und lief mit nackten Füßen zur Treppe hinüber, das seltsame Wesen folgte ihm. Die Erwachsenen redeten immer noch auf Hinome ein und versuchten, sie von der Richtigkeit ihres Plans zu überzeugen. Langsam, sich unendlich Zeit nehmend für jede Stufe, ging Zetsu die Treppe hinunter, bis er ins Wohnzimmer blicken konnte, wo alle versammelt waren. Auf dem Boden waren immer noch dunkle Flecken zu sehen. Ein Kloß entstand in Zetsus Hals, als er wieder an seine leblosen Eltern auf dem Boden dachte. Ein Schauer fuhr über seinen Rücken, als er sich wieder das Gefühl ins Gedächtnis rief, das danach durch seinen Körper geströmt war. Erneut fragte er sich, ob er es schaffen könnte, all diese Menschen umzubringen, als einziger zurückzubleiben... Aber Gekkyu hatte recht: Es blieb ihm nicht viel anderes übrig. Rache war das Letzte, was den Einwohnern dieser Welt geblieben war und wenn Zetsu ihnen das geben könnte, würde er das tun. Einfach nur um ihnen allen zu zeigen, wie sehr er sie liebte, selbst nachdem sie seine Eltern so behandelt hatten. All die Jahre hatten sie alles für ihn getan, nun würde er alles für sie tun, sogar über seinen eigenen Schatten springen und sie alle töten. Mit diesem Entschluss betrat er das Zimmer. Sofort verstummte das Gespräch, alle Augen richteten sich auf ihn. Hinome stand sofort auf. „Zetsu, ist alles in Ordnung? Wie geht es dir?“ Er nickte. „Mir geht es gut, danke, Tante Hinome.“ Gekkyu räusperte sich. „Zetsu, wir müssen mit dir reden.“ Diesmal schüttelte der Junge mit dem Kopf. „Nein, müsst ihr nicht. Ich habe alles gehört.“ Bestürzt legte Hinome eine Hand auf ihr Herz. Die anderen tauschten betretene Blicke miteinander aus. Lediglich in Gekkyus Augen lag wieder dieses Glitzern. „Und wie ist deine Antwort?“ Ohne etwas zu sagen trat Zetsu an den Tisch. Er nahm das Schwert an sich, es fühlte sich unrealistisch leicht an, als ob es ein Teil von ihm wäre, eine Verlängerung seines Arms. Es war richtig, dass er diese Waffe in der Hand hielt. Zetsu hob den Kopf, sein sicherer, fester Blick richtete sich auf Gekkyu. „Ich mache es.“ Die anderen ließen nicht viel Zeit verstreichen. Bereits am nächsten Morgen stand die gesamte verbliebene Bevölkerung auf dem Stadtplatz zusammen. Der Wind trieb den Sand vor sich her, Zetsu folgte ihm mit seinem Blick. Das Schwert in seiner Hand schien zu ahnen, was geschehen würde. Auch wenn es ihm selbst lächerlich erschien, aber er war sich sicher, dass das Gefühl von Vorfreude von der Waffe ausging. Hinome stand zwischen den anderen, ihr Blick war betrübt auf den Boden gerichtet. Noch immer war sie nicht sonderlich damit einverstanden, aber wenn Zetsu selbst darauf bestand... Sie hatte letzte Nacht mit ihm darüber geredet und sich die Gründe für seine Entscheidung angehört. Sie konnte es immer noch nicht gutheißen, aber zumindest nachvollziehen. Er war vielleicht erst zehn, aber er dachte bereits um einiges erwachsener als sie. Der Stolz trieb ihr die Tränen in die Augen, allerdings erlaubte sie sich selbst nicht zu weinen. Sie musste für Zetsu stark sein, genau wie er es für sie alle war. Der Junge stand ihnen mit seinem Schwert gegenüber. Er fühlte sich wie ein Ausgestoßener, einsam und allein. Lediglich das puppengroße Wesen, das nun auf seiner Schulter saß, spendete ihm ein wenig Trost, auch wenn es immer noch nicht mit ihm sprach und anscheinend nur er es sehen konnte. Ratlos sahen die anderen Bewohner sich an. Unsicherheit breitete sich zwischen ihnen aus, für Zetsu war der Grund unverständlich – bis einer von ihnen es wagte, eine Frage zu stellen: „Wer soll den Anfang machen?“ Nach kurzem Überlegen und verhaltenen Murmeln trat Gekkyu vor. „Das der Vorschlag von mir kam, sollte ich anfangen.“ Hinome trat neben ihn und legte ihre Hände auf seinen Arm. Sanft, aber bestimmt, schüttelte sie mit dem Kopf. „Nein, bitte nicht. L-lass mich anfangen. Ich will nicht zusehen, wie du stirbst.“ „Aber Hinome...“ Der bittende Blick brachte ihn dazu nachzugeben. „In Ordnung. Denk nur daran, dass du keine Angst haben musst.“ Sie nickte noch einmal und ging zu Zetsu hinüber. Vor ihrem Neffen ging sie lächelnd in die Knie. „Alles in Ordnung, mein Liebling. Du musst einfach nichts anderes tun, als das Schwert zu führen.“ „Tante Hinome... ist das... wirklich das Richtige?“ Liebevoll strich sie ihm durch das Haar. „Ja, das ist es.“ Zum ersten Mal, seit sie von dem Entschluss gehört hatte, klang ihre Stimme dabei fest und sicher. Sie musste ihre Stimme fest klingen lassen, damit Zetsu nicht zweifeln musste. Er nickte langsam und hob das Schwert. Lächelnd schloss Hinome ihre Augen. „Ich bin... stolz auf dich, mein kleiner Zetsu.“ Mühelos glitt die Klinge durch ihren Oberkörper, der sofort leblos tiefer sank. Zetsu streckte die Hand aus und wollte seiner Tante an die Schulter greifen, doch sie löste sich bereits in Manafunken auf, die Klinge leuchtete wieder. Vor seinem inneren Auge sah er verschiedene Momente seines Lebens mit Hinome. Wie sie ihm abends Geschichten erzählte, wie sie ihm Schokolade zusteckte, wie sie ihn tröstete, wenn er hingefallen war und sich verletzt hatte. Nun würde sie das nie wieder tun. Doch er schluckte die Tränen hinunter. Er konnte nicht weinen, nicht jetzt. Es war seine Entscheidung gewesen, diesen Weg zu gehen, also sollte er ihn auch bis zum Ende beschreiten. Wieder übernahm dieses seltsame kalte Gefühl in seinem Körper die Oberhand. Seine Hand führte das Shinken automatisch, wie von einem Puppenspieler geführt. Nach und nach und ohne auf eine besondere Reihenfolge zu achten, fuhr die Klinge durch jeden einzelnen Körper, saugte gierig das nach dem Tod freigesetzte Mana auf. Mit jedem weiteren Opfer, das inzwischen gesichtslos für ihn war, spürte er, wie die Macht der Waffe wuchs und dabei nach immer mehr verlangte. Für einen Beobachter hätten seine Bewegungen wie ein Tanz angemutet, der selbst dann nicht endete, als längst niemand mehr da war, der dem Shinken zum Opfer fallen könnte. Zetsu tanzte weiter, zu einer unhörbaren Melodie, die nur etwas tief in seinem Inneren kannte, umgeben von zahllosen goldenen Funken, die ihm die Sicht nahmen. Doch er kümmerte sich nicht darum, vor seinen Augen sah er ohnehin nur noch dieses blaue Leuchten und die Wurzeln aus seinen Träumen. Und alles, was er spürte war ein scharfer Schmerz in seinem rechten Arm, der von einem hellen Leuchten begleitet wurde. Er tanzte solange, bis sämtliche Manafunken verschwunden waren und er schließlich bewusstlos zu Boden fiel. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er so viele Sterne am Himmel gesehen. Noch letzte Woche, die ihm inzwischen so lange her erschien, hatte er versucht die Sterne zu zählen und war daran verzweifelt. Bei diesem Himmel jedoch hätte er erst gar nicht versucht, sie zu zählen, es mussten Myriaden sein und jeder funkelte als heller als der vorige als ob sie sich einen Wettstreit liefern würden. Vier blaue Schmetterlinge, deren Flügel im Sternenlicht zu glühen schienen, flogen immer wieder über ihn hinweg. Manchmal ließen sie sich für einen Moment auf ihm nieder, bevor sie wieder mit den Flügeln schlugen, um ihren Flug fortzusetzen. Jedesmal, wenn sie auf seinem Körper für eine Pause verweilten, wurde sein Inneres von einem angenehmen Gefühl erfüllt. Es fühlte sich vertraut und wie ein Stück Heimat an. Zetsu versuchte, sich zu bewegen, doch sein Körper reagierte nicht. Er schaffte es nicht einmal, seinen Blick vom Himmel abzuwenden. „Wo bin ich?“ Seine Worte hallten von unsichtbaren Wänden wider. Er war noch nie an diesem Ort gewesen und doch kam er ihm plötzlich so vertraut vor. Ein warmes Gefühl hüllte ihn ein, als er eine leise Stimme an seinem Ohr vernehmen konnte: „Rutsu... ruji...“ Dieser Name... er kannte ihn, er war sich ganz sicher, dass es sein eigener Name war – oder besser: Er war es einmal gewesen. Aber wann? Niemand beantwortete ihm seine Fragen, doch er fühlte, dass es Zeit wurde, wieder zu gehen. Seine Rache an Gott stand auch noch aus. Mit unendlicher Anstrengung schloss er seine Augen wieder, in der Hoffnung, dass er wieder in seiner Welt aufwachen würde, auch wenn er dort nun völlig allein war. 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