Sprachen der Zuneigung von Sel ================================================================================ Kapitel 2: Je t'aime! --------------------- „Wir könnten auch...“ Ein Schlag auf den Tisch und Arthur und Francis schüttelten sich die Hände. Matthew saß am Ende des Tisches und seufzte. Gerade war ihm noch eine Idee gekommen, da hatten sie mal wieder alles ohne ihn beschlossen. Nicht eines einzigen Blickes hatten sie ihn während der ganzen Versammlung beachtet, als sei er nicht da. Aber das kannte er ja bereits. Er war eben nur der nutzlose Kanadier, der zufällig dabei saß. Aber nein, so schnell würde er sich heute nicht abspeisen lassen. Denn Arthur hatte ganz klar die Vorteile der Abmachung gezogen und Matthew würde nicht zulassen, dass Francis so schlecht weg kam. Er verstand nicht, warum der Franzose sich mit dem kleineren Teil der Beute, wenn man es so nennen konnte, zufrieden gab. „Monsieur...!“, rief der schüchterne Junge und lief dem Franzosen hinterher, als er den Raum gerade verlassen wollte. Aber er hörte ihn nicht. „Monsieur, bitte...! Ich muss Ihnen etwas sagen!“ Ignorierte er ihn? Er ging weiter und verließ das Gebäude, Matthew völlig achtlos zurücklassend. Er stand einen Moment da, links und rechts gingen die anderen Mitglieder der Versammlung vorbei: Signor Vargas zusammen mit Herrn Ludwig, Honda-san, Mister Jones zusammen mit Mister Kirkland. Und auch, wenn sie teilweise etwas genervt voneinander wirkten, trotzdem sprachen sie miteinander. Und Matthew erinnerte sich an etwas, das ihm jemand vor langer Zeit einmal gesagt hatte: solange ein Mensch gehasst oder verachtet wird, bedeutet das immer noch etwas Besseres, als völlige Ignoranz. Was also sollte Matthew tun? Er hatte nur seinen Freund, den Polarbären Kumajiro und nicht einmal der wusste, wer er war. Immer wieder erinnerte Matthew ihn daran: „Ich bin Matthew... das weißt du doch.“ Mit einer Geduld, die wohl außer ihm niemand mehr gehabt hätte. Aber langsam geriet der junge Kanadier an seine Grenzen, was Geduld betraf. Wie sollte er nur sein ganzes Leben meistern, wenn er nicht einen einzigen Freund in der Welt hatte? Es ging ihm nicht darum, anerkannt zu werden, was seine politischen Fähigkeiten oder seine militärischen Voraussetzungen betraf. Es ging ihm darum, diese Einsamkeit zu besiegen, die er seit Jahren mit sich herum trug. Während er langsam und kraftlos aus dem Gebäude ging, dachte er über die Zeit nach, als das noch anders gewesen war. Er erinnerte sich an seinen Bruder, Alfred F. Jones, an die beiden stolzen Männer, die wie Väter zu ihm gewesen waren, Francis Bonnefoy und Arthur Kirkland, die ihn umsorgt und mit ihm gespielt hatten. Sie hatten mit ihm geredet, ihn geliebt und ihn kaum eine Sekunde aus den Augen gelassen, aus Angst, er könnte sich verletzen. Und auch einige Zeit nach diesem einer glücklichen Familie ähnelnden Bild, als Arthur begonnen hatte, sich mehr um Alfred zu kümmern, war stets Francis an seiner Seite gewesen. Aber irgendwann war es einfach geschehen. Es hatte sich verändert. Irgendwann hatten sie ihn alle nicht mehr wahr genommen. An einigen Tagen war es besser, an anderen schlimmer, aber grundsätzlich überwogen die schlechten Tage so sehr, dass Matthew nach und nach begonnen hatte, sich damit abzufinden, dass man ihn nicht mehr als Person wahrnahm, sondern nur als mysteriöse, unbekannte Gestalt. Er wusste nicht einmal mehr, wie lange er schon damit leben musste. Aber es war zu lange. Und allmählich zerfraßen ihn diese Einsamkeit und die Zweifel an sich selbst innerlich. Er wusste nicht mehr, was er machen sollte. Er hatte bereits versucht, sich mehr in das Geschehen einzubringen, doch auch wenn er das Gefühl hatte, endlich sah ihn jemand an und endlich hörte man ihm zu, wirkten die Blicke der anderen doch wieder nur so leer, als würden sie durch ihn hindurch sehen. Matthew ließ sich auf den Stufen vor dem Versammlungsgebäude nieder und stützte sein Gesicht in seine Hände. Er spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Aber zulassen, dass er jetzt zu weinen begann, wollte er auf keinen Fall. Also stand er auf und klatschte sich einige Male selber gegen die Wangen, um wieder neuen Mut zu fassen. Heute Abend trafen sich die Alliierten alle noch einmal, das wusste er, also würde er es noch einmal versuchen, sich einzubringen. Es konnte nicht unmöglich sein. Sie hatten ihn früher nicht ignoriert, sie würden es ab heute Abend auch nicht mehr tun! Matthew hatte sich den ganzen Tag darauf vorbereitet, am Abend all seinen Mut zusammen zu nehmen, um ebenso ernst genommen zu werden wie die anderen Nationen. Also stand er vor der Tür und... zitterte wie Espenlaub. Er war bis eben noch so fest davon überzeugt gewesen, dass alles klappte, aber nun da er diese riesige Tür sah, über der in Großbuchstaben „Ratssaal“ geschrieben stand. Und dann öffnete er eben diese Tür langsam und sah in einige Gesichter, die ihn eines kurzen Blickes würdigten, dann aber ignorierten, Genau genommen in viele Gesichter, unendlich viele. Das waren nicht nur die Alliierten. Er erkannte auch die Achsenmächte wieder, außerdem aber auch Leute wie Roderich Edelstein, Gilbert Beilschmidt und selbst Sadiq Adnan hatte den weiten Weg auf sich genommen. Es waren so viele mächtige Staaten anwesend, dass sämtlicher Mut aus Matthews Gliedern wich und er sich wieder klein und unbedeutend fühlte. „Hiermit eröffne ich das diesjährige Treffen der Nationen!“, verkündete Alfred lautstark und Matthew fiel es wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Das Treffen der Nationen. Aber dass es dieses Mal, ausgerechnet dieses Mal, wo Matthew sich vorgenommen hatte, vor den Alliierten Mut zu zeigen, so große Ausmaße annahm, dass selbst Nationen anwesend waren, die man sonst fast nie zu Gesicht bekam, damit hatte der Kanadier nicht gerechnet und das war es, was ihn nun wie immer verstummen ließ. Und so blieb es die gesamte Versammlung lang. Nach etwa fünf Stunden waren alle Punkte der Liste abgehakt und die Nationen verabschiedeten sich voneinander, da fiel Ludwig noch etwas ein. Er stand auf und bat noch einen Moment um Ruhe. Er war immerhin Deutscher. Und es musste alles seine Richtigkeit haben. So hielt er eine Liste herum, in die sich bitte jedes Land eintragen sollte, das hier anwesend gewesen war. „Ich habe eure Namen bereits aufgelistet, ihr müsst nur unterschreiben.“ Matthew seufzte. Er war sich ziemlich sicher dass man ihn nicht fragen würde, ob er sich einträgt, und sich durch die Massen zu schlagen brachte nichts. Also blieb er im Gegensatz zu allen anderen Ländern sitzen und faltete geduldig und schweigend die Hände im Schoß. Es dauerte ewig, bis sich alle Länder eingetragen hatten und erst, als man in aufgelockerte Gespräche versank und die Nationen sich etwas von dieser dummen Liste entfernten, wagte Matthew es, aufzustehen und auch seine Unterschrift hinter seinen Namen zu setzen. Er nahm das Klemmbrett, auf das die Liste gehaftet war, und überflog einige Namen. Sie waren nach dem Alphabet sortiert, also sollte er sich selbst ja direkt bei Wao Yong wiederfinden. Aber nichts. Vielleicht hatte man einen der Namen falsch geschrieben? Aber Matthew fand auch im Rest der Liste kein Anzeichen von seinem Namen. Kein Anzeichen davon, dass er existierte. Und da wachte irgendetwas in ihm auf, was er vorher noch nie so stark wahrgenommen hatte wie jetzt. Sein Herz begann zu pulsieren, bis zum Hals, so schien es, seine Hände krallten sich immer fester an das Brett mit der Liste, in der er verleugnet wurde, seine Augen waren weit geöffnet und zitterten vor Wut. Und dann konnte er nicht mehr zurückhalten, was er im Grunde schon seit Jahren loswerden wollte: "Hört auf mich zu ignorieren! Hört auf mich zu ignorieren!! HÖRT AUF MICH ZU IGNORIEREN!!!" Matthew sank auf die Knie und legte seine Hände vors Gesicht, in die er nun verzweifelt hinein schluchzte. Er konnte nicht fassen, dass man einfach leugnete, dass es ihn gab. Er war doch hier. Wieso sah ihn niemand...? Es dauerte noch eine Weile bis das Schallen seiner Stimme aus dem Raum entschwunden war. Als Matthew mit seinen verweinten Augen aufsah, die vor Anstrengung bereits ganz rot waren, erkannte er, was ihn noch mehr schmerzen sollte: Es hatte ihn niemand gehört. Kein einziger von ihnen. Sie alle redeten weiter mit ihren Gesprächspartnern, als sei überhaupt nichts gewesen. Matthew begann vor Entsetzen den Kopf zu schütteln und glaubte nicht, was ihm hier klar vor Augen geführt wurde. Er würde einsam bleiben. Niemals. Man würde ihn niemals wieder wahrnehmen. In seiner Verzweiflung stand er auf und rannte aus dem Raum hinaus. Es hatte einen Moment gedauert, bis sein Schallen den Raum verlassen hatte. Doch ebenso hatte es auch einen Moment gedauert, bis eben dieses Schallen an das Ohr eines Einzigen hier gedrungen war. Francis sah von einer Wand zur anderen und fixierte seinen Blick, als würde er nach etwas suchen. Er hatte es gehört. Da war eine Stimme gewesen. Doch hier im Raum gehörte sie niemandem. Also ging er langsam zum Ausgang der Halle und folgte seinem Bauchgefühl, das ihm sagte, dass er draußen finden würde, wonach er suchte. Er hatte diese Stimme wahrgenommen. Und er würde sie nicht ignorieren. Als Francis den Flur betrat, erschrak er, als er zu seiner Rechten, auf einer Bank, die hier stand, einen weinenden Jungen sah. Einen Jungen, der ihm ähnelte. Und von dem er sich sicher war, dass er ihn kannte. Er versuchte sich an seinen Namen zu erinnern, doch es funktionierte einfach nicht. „Eh... pardone...“, begann er, da sah dieser Junge auf einmal erschrocken auf und wirkte schockiert darüber, dass man ihn ansprach. Ebenso erschrocken war aber Francis, dem auf einmal all seine Erinnerung an den Jungen zurück zu kehren schien: „Matthew!“ Matthew sah ihn einen Moment lang nur mit weitem Blick an, etwas atemlos, sein Mund leicht geöffnet, als wolle er eigentlich etwas sagen. Francis hatte auf seinen Ausruf reagiert! Er stand plötzlich auf, erfüllt von neuer Kraft. "Monsieur...!" Er ging auf ihn zu, erst langsam, immer schneller, bis er rannte, seine Augen immer noch von Tränen erfüllt. "Francis...! Francis!" Als er ihm dankbar dafür, dass er sich an ihn erinnerte, in die Arme fiel, sah Francis immer noch ganz verwirrt geradeaus und erst nach einem weiteren Augenblick erwiderte er Matthews Umarmung. „Mein Gott, wo... wo warst du nur die ganze Zeit...? Wir haben uns Sorgen um dich gemacht...“ Matthew glaubte nicht, was er da hörte. Sie sollten sich Sorgen um ihn gemacht hatten? Bis eben hatte er ihn doch völlig ignoriert. Alle hatten ihn ignoriert. „Ich war hier! Genau hier, die ganze Zeit, aber ihr habt mich alle nicht gesehen! Ihr habt mich ignoriert!“ Als Francis das von dem Jungen hörte, konnte er es nicht glauben. Er hatte geglaubt, der Junge sei einfach verschwunden. Er hatte ihn nicht ignorierte und mindestens genauso wenig hatten das die anderen getan. Der Franzose verfiel in sein gebürtiges Temperament und hielt sich mit seiner Muttersprache nicht mehr zurück. Er dachte nicht einmal mehr daran, dass Matthew ihn wahrscheinlich gar nicht verstehen würde, doch das war ihm erst einmal egal: Er musste Dampf ablassen. „Je ne t'ignore pas! Tu es très important pour moi. Je ne peux seulement pas le montrer!“ Matthews Atem ging schneller, sein Hals schnürte sich für einen Augenblick wie von selbst zu und Tränen erfüllten seine Augen erneut, die danach schrien, hinaus zu dürfen, aber er riss sich zusammen. Er ließ sich weiter von Francis anschreien und das in Worten, die er nicht einmal mehr verstand. Einige Bruchstücke drangen an sein Ohr, von denen er glaubte, sie schon einmal gehört zu haben. Aber sein Französisch war bei Weitem nicht mehr gut genug, um alles zu verstehen, was ihm hier an den Kopf geworfen wurde. Stattdessen fiel ihm das Atmen nur immer schwerer und er ballte seine Hände zu Fäusten. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und drängte Worte weiter nach oben, die unbedingt gesprochen werden wollten. Aber Matthew verhinderte es. Immer noch. Trotz all der Demütigung weigerte er sich, etwas zu sagen. Bis Francis etwas sagte, was seine Meinung von einem Moment zu dem nächsten änderte: „Tu es en colère, mais pourquoi tu n'as rien dit!? J'ai toujours été là!“ Es war genug. Selbst Matthews Wille, sich zurückzuhalten, war mit diesem Satz gebrochen und ebenso das Gefühl, nicht ein einziges Wort zu verstehen. Es war, als würden all seine Erinnerungen an die Sprache in ihm durch die aufsteigende Wut wieder zurückkehren und er machte, was er längst hätte tun sollen. Er schrie Francis an und sagte, was er fühlte: „Non, tu ne l'étais pas!!“ Francis schreckte zurück und sah seinen Gegenüber fragend an. Der schien von sich selbst erschrocken und senkte seine Stimme wieder. „Du warst... früher einmal für mich da. Aber... dann kamen Alfred und ich in Arthurs Obhut und du...“ Er senkte den Kopf, um die Tränen zu verstecken, die ihm nun übers Gesicht rannen. Doch sein Schluchzen verriet ihn trotz alledem. Francis seufzte. „Wieso... hast du nie etwas gesagt...?“ Matthew wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und brachte unter Schluchzen nur ein „Du... hast mich nicht gehört“ hervor. Der Franzose sah den Jungen an, wie ein Vater seinen Sohn und schüttelte enttäuscht den Kopf. Enttäuscht von sich selbst und davon wie das alles nur so hatte ausarten können. Matthew war am Ende seiner Kräfte, das erkannte auch Francis und wusste nicht, was er tun sollte. „Ich...“, setzte er an und senkte nur beschämt seinen Blick. „Matty...?“ Matthew sah erschrocken auf und blickte hinter sich, um zu sehen, wer da außer Francis auf einmal erkannte, dass der Kanadier hier war. Ein blonder, junger Mann. Eine Brille auf der Nase und eine Fliegerjacke an. Matthew biss sich auf die Lippe. „Al...“ Und als sein Bruder gerade so liebevoll lächelte, trat neben ihm der Mann hervor, den er seit Jahrzehnten einen Vater nennen konnte. Arthur, der aber nicht wie Alfred nur da stand, sondern auf Matthew zuging, wie auf etwas, das sehr kostbar und lange Zeit verloren war. Denn so glaubte er tatsächlich, er hätte ihn gerade wieder gefunden. Er sah Matthew verwirrt an. „Aber... wo... wo warst du...?“, fragte der Engländer unsicher und wirkte dabei tatsächlich sehr nachdenklich. „Er war hier“, beantwortete ihm da Francis seine Frage und legte Matthew von hinten seine beiden Hände auf die zitternden Oberarme des Jungen. „Er war die ganze Zeit hier. Und wir waren zu dumm und zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um ihn zu sehen.“ Arthur wollte noch etwas sagen, erkannte dann aber, wie erschöpft Matthew wirkte und wie glücklich auf der anderen Seite, so dass er all seine Worte hinunter schluckte und stattdessen seine Hand auf Matthews Wange legte, um ihm gleich danach einen sanften Kuss auf die Stirn zu drücken. Da trat auch Alfred näher an ihn heran. Sie hatten früher unglaublich viel Zeit zusammen verbracht. Wie hatte er ihn nicht sehen können? Stimmte es, was Francis gesagt hat? Waren sie alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um an Kanada zu denken? Waren ihre eigenen Probleme denn wirklich so groß gewesen, dass sie gereicht hatten, um eine andere Nation gänzlich zu vergessen? Er fühlte sich so dumm. „Tut mir Leid, kleiner Bruder.“ Matthew strahlte zufrieden von einem Ohr zum anderen, aber trotzdem glaubte er Alfred korrigieren zu müssen. „Ich bin genauso alt wie du.“ „Bist du?“ „Na ja.. zumindest... glaube ich das. Ach, egal!“ Von diesem Tage an war selbstverständlich nicht auf einmal alles in bester Ordnung. Aber man begann sich wieder an Kanada zu erinnern. Und besonders, und das bedeutete Matthew mehr als alles andere, erinnerten sich Francis, Arthur und Alfred wieder an ihn. Die Menschen, die er seine Familie nennen durfte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)