Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Kapitel 15: Geständnisse (2001 / 08) ------------------------------------ 15. Kapitel - 2001 (August) Der Duft der vielen frisch erblühten Blumen weht durch die offenen Türen hinein, macht de beißenden Geruch des Weihrauchs ein wenig angenehmer. Der Priester steht hinter seinem Rednerpult und stellt gerade einmal mehr fest, dass die eheliche Verbindung eine Verbindung vor Gott ist und noch ganz anderes Blabla. Die Zeremonie zieht sich für meinen Geschmack unheimlich, dennoch gebe ich mir Mühe einen so freundlichen Eindruck wie nur möglich zu machen. Schließlich sitze ich auf der anderen Seite von Martinas Eltern. Jamies Trauzeugen sind Chris und Thomas. Mir hingegen hat er die Rolle des Elternäquivalents zugedacht und damit gebe ich mich zufrieden. Hin und wieder spüre ich die neugierigen Blicke einiger Angehöriger und Freunde von der anderen Seite aus, doch ich ignoriere sie so gut es geht. Unsere Familiengeschichte ist nichts was Jamie groß ausplaudern würde und obwohl er Martina gänzlich eingeweiht hat, hat diese versprochen nichts davon an wen auch immer weiterzugeben. Ich bin ihr dankbar dafür. Lieber ertrage ich neugierige, unwissende Blicke, als solche die abstoßend oder mitleidig wirken. Es geht schließlich niemanden was an aus welchen Verhältnissen Jamie und ich stammen und warum gerade meine liebenswürdige Person als Vater des Bräutigams auftritt. Direkt hinter mir sitzt Familie Vogel – die beiden Zwillinge sind schon seit einer ganzen Weile mucksmäuschenstill, was wohl daran liegen mag, dass Thomas ihnen die Hölle auf Erden angedroht hat, wenn sie sich nicht artig benehmen. Es scheint zu wirken. Erich sitzt mit seinen Eltern eine weitere Reihe nach hinten. In der letzten Zeit haben wir nicht viel von ihm gesehen oder gehört und die Veränderung die er durchlaufen hat ist wirklich einfach nur erschlagend. Seine Haare sind nur kurz geschnitten, auch der Bartansatz wurde abrasiert und überhaupt strahlt seine ganze Haltung nun einen eifrigen Geschäftsmann aus, anstatt des Tunichtguts als den wir ihn kennen. Offenbar haben seine Eltern nun ernst gemacht und ihn so geformt wie sie ihn schon immer haben wollten. Irgendwann kommt aber alles zu einem Ende, es werden die Ringe getauscht, die von einem stolzen Chris überreicht werden, dann sprechen sowohl Jamie als auch Martina wirklich herzzerreißende Liebesschwüre aus und schließlich hören wir alle die finalen Worte: „Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“ Und das tut Jamie auch. Sehr überschwänglich, vielleicht auch ein bisschen unbeholfen, aber auf jeden Fall voller Liebe und Zuneigung für seine frisch angetraute Braut. Gemeinsam schreiten sie unter dem Applaus und den Glückwünschen der Gäste aus der kleinen Kirche, hinein in den malerischen Garten, der drum herum angelegt wurde. Fotos werden geschossen. In aller erster Linie von Hans-Wilhelm Berger, den Jamie nur zu gerne eingeladen hat, nachdem er von Chris erfahren hat was für ein toller Fotograph sein Großvater doch sei. Ich bin einer der Ersten der dem Brautpaar nach draußen folgt. Ich ziehe Martina an mich, küsse sie auf beide Wangen, beglückwünsche sie, ehe ich mich meinem kleinen Bruder zuwende, den ich fest an mich drücke. „Ich liebe dich, Rapha“, kommt es leise von ihm. „Ich dich doch auch, du Glückspilz“, gebe ich lächelnd zurück, überlasse sie dann beide den anderen Gästen und ziehe mich zu Erich zurück, der einige Meter abseits an einer Zigarette zieht. Wir nicken uns zu, er leiht mir sein Feuer und gemeinsam hängen wir einen Moment unseren eigenen Gedanken nach. Alle Anwesenden stellen sich nach und nach für Fotos auf, Umarmungen folgen, lautes Gelächter erschallt und überall scheint an diesem Sommertag die Sonne. „Alles klar?“, frage ich schließlich an Erich gewandt, der seinen abgerauchten Glimmstängel achtlos zu Boden wirft und austritt. „Ich hab keinen Bock auf Frankreich“, gibt er mürrisch zurück. „Vielleicht findest du eine heiße Franzschwuchtel“, versuche ich es eher schwach ihn aufzumuntern. Verächtlich verzieht er ob dieser Antwort auch das Gesicht, knufft mich in die Seite, ehe er sich an meinen Arm hängt. „Zwei Jahre diese Lackaffen… keinen Bock drauf…“ Ich antworte nicht darauf, mir fällt auch gar nichts zu dem Thema ein, und so stehen Erich und ich schweigend nebeneinander, rauchen und schweigen. Mit Erich kann man das auch einfach noch immer am Besten. Wenn man jemanden braucht, der einem allein durch seine bloße Anwesenheit Trost spendet, dann ist man bei ihm an der richtigen Adresse. „Kannst du danach machen was du willst?“, stelle ich verspätet eine Frage. „Hm… wer weiß…“, brummt er. „Vielleicht bin ich dann Babysitter für den hässlichen Wurm“, schnaubt er, deutet dabei auf die Gestalt seiner kleinen Schwester, die sich an der Hand ihrer Mutter durch die Gästemenge drängelt. „Wie alt ist die eigentlich?“ „Siebenundzwanzig“, antwortet er säuerlich. „Muttis Liebling und Vatis ganzer Stolz.“ „Ich glaube, hier liegt Liebe in der Luft“, spotte ich breit grinsend, stoße Erich mit der Schulter an und klaue mir eine weitere Zigarette aus seiner offen dargebotenen Schachtel. „Ein Jährchen älter, wäre sie da nicht was für Thomas?“ „Ich breche ihm sämtliche Knochen, wenn er meiner Schwester zu Nahe kommt“, droht Erich durchaus überzeugend. In Wahrheit hat er kein Problem mit seinen Eltern oder seiner Schwester Sarah. Nur hin und wieder probt er gerne den Aufstand oder versucht ab und an seine eigene Genialität in den Vordergrund zu stellen. Sowohl Herbert als auch Ruth Richthäuser haben eine Extraportion Gehirnmasse bekommen, sind kleine Genies in der Schule gewesen, ebenso im späteren Arbeitsleben und haben es zu mächtig viel Erfolg und Kohle gebracht. Sie hat ihre eigene Juwelierskette und er vertreibt in seinem eigenen Büro die ein oder andere millionenschwere Immobilien. Erich hat zwar die Genialität seiner Eltern geerbt, jedoch nicht deren großspurige Art, die darauf angelegt ist in wenig Zeit viel Geld zu machen. Wie er mir in einem unsere langen und sehr intensiven Gespräche einmal erzählt hat, gründet sein eigener Traum darin, an einer renommierten Universität Mathematik zu studieren und später auch einmal zu lehren. Natürlich kein Beruf der in den Augen der Eltern auf viel Wohlwollen stößt. Seitdem versuchen sie ihm mit sanfter Gewalt zu suggerieren, dass ein einfaches Lehrer- oder Dozentendasein nicht die Erfüllung seines Lebens sein kann. Derzeit scheint Ruth wieder am Drücker zu sein, wenn sie ihren Sohn für zwei Jahre nach Frankreich schickt. Manchmal habe ich so das Gefühl, dass Erichs Eltern darum pokern wer ihm gerade das Leben schwer machen darf. An und für sich sind beide sehr nett, auch sehr fürsorglich und liebevoll, immer daran interessiert was ihr Sprössling denkt und fühlt, allerdings rücken sie sehr ungern von einer einmal getroffenen Entscheidung ab. Und sei es die Zukunft ihres Sohnes. Sarah ist im Gegensatz zu ihrem Bruder mit mäßig viel Intellekt ausgestattet, besuchte daher auch nur eine mittelmäßige Privatschule und hat frei heraus entschieden, dass sie als einfache Büroangestellte ihr Glück gemacht hat. Und die Eltern haben das akzeptiert. Vermutlich, weil man von Sarah eh nicht mehr erwarten konnte. Erich tut mir in der Hinsicht schon leid. So intelligent zu sein, dass einem theoretisch alle Türen offen stehen, wenn man doch nur eine begrenzte Auswahl hat. Dank der eigenen Erziehungsberechtigten… das Leben ist hart. „Und dir, geht’s dir gut?“, reißt mich mein Freund unvermittelt aus meinen Gedanken. „Hm?“, mache ich nur wenig beredt. „Komm schon, erzähl mir den neusten Klatsch.“ „Jamie zieht Anfang September mit Martina zusammen und ich habe Chris geküsst.“ Eine hochgezogene Augenbraue ist alles an Gefühl, das Erich mir zugesteht. Natürlich hat er das alles schon kommen sehen. Seine Hochwürden weiß ja immer bestens Bescheid. „War mir klar“, kommt es von ihm. Mir auch, denke ich. „Und ich hatte ein Gespräch mit seiner Mum. Darin hat sie mir zu verstehen gegeben, dass ich in ihren Augen nicht der geeignete Partner für ihren Sohn bin und doch bitte nur den Bodyguard spielen soll.“ „Wer kann’s ihr verübeln?“, stichelt Erich grinsend, gänzlich unbeeindruckt von meinem Todesblick, den ich ihm für diesen Kommentar zukommen lasse. „Ne, mal ernsthaft, warum?“ „Sie meinte, dass Chris kaum Freunde hat, wohl hin und wieder nur eine Affäre und sie sich freut, dass wir uns angefreundet haben und das sie eben hofft, dass ich ihm bei seiner Bräutigamsuche helfe.“ „Krass. Hast du ihr nicht gesagt, dass der Kleine voll auf dich abfährt?“ „Natürlich nicht. Den Streit darf er sich gerne selber mit ihr liefern“, wehre ich ab. „Und du? Was machst du jetzt?“ „Weiß nicht“, nuschle ich leise. „Ich denke, ich lass es einfach.“ „So schnell wirfst du die Flinte ins Korn?“, fragt Erich misstrauisch nach. „Er ist eben noch so jung! Außerdem habe ich selbst kaum eine Perspektive, wie soll ich ihm da eine bieten? Ich bin nicht gerade das strahlende Vorbild!“ „Wer hat gesagt, dass du das sein sollst?“ Erichs Frage bringt mich aus dem Konzept. Wie immer habe ich das Gefühl, dass ich nur ein kleiner dummer Junge bin, der mal wieder nicht verstanden hat, das Zwei plus Zwei eben doch nur Vier ergibt. „Ist doch klar, ich bin eben älter!“, setze ich mich zur Wehr. „Chris stört das nicht im Geringsten“, wehrt Erich ab. „Er sieht in dir das, was du nun einmal von Natur aus bist: Ein Mann. Schlicht und ergreifend ein Kerl. Ein ziemlich blöder, aber immerhin.“ „Hey!“, werfe ich protestierend ein. „Er mag dich aus genau diesem Grund, weil du da was Bestimmtes zwischen den Beinen baumeln hast und auch scheinbar sonst ganz passable rüber kommst. Wenn er ein Vorbild haben will, dann sucht er sich im Schrank ein Bild seiner Urgroßmutter, aber wenn er einen Mann fürs Leben sucht, dann kommt er eben zu dir“, führt Erich ungerührt zu Ende und ich beneide ihn fast um seine abgebrühte Art. Trotzdem ist und bleibt er ein soziales Trampeltier. „Vielen Dank für diese aufmunternden Worte“, gebe ich leicht säuerlich zurück, ernte dafür ein herablassendes Salutzeichen. Ich nicke Erich knapp zu, dann wende ich mich ab, geselle mich zu Bernhard und Marianne und bin für einige Zeit für niemanden sonst mehr zu sprechen. --- Abends haben sich sowohl Braut als auch Bräutigam umgezogen, ebenso wie einige der Gäste. Gemeinsam haben wir uns in ein nettes Lokal in der Nähe der Kirche zurückgezogen, stoßen noch einmal auf eher feuchtfröhliche Art auf das Paar an. Die Stimmung ist ausgelassen, auch wenn viele der Älteren nichts trinken, so sind sie dennoch sehr gut gelaunt und alle scheinen sich mehr oder weniger zu verstehen. Hans-Wilhelm hat sich jedoch bereits verabschiedet und so ist Chris der einzige Vertreter seiner Familie. In den vergangenen zwei Monaten habe ich ab und an etwas mit Chris unternommen. Etwas ganz Klassisches wie Eisessen, Kino oder auch mal ein Besuch in einem wirklich angesagten Club. Näher gekommen bin ich ihm seit dem Gespräch mit seiner Mutter jedoch nicht mehr. Dafür bin ich einfach viel zu unsicher. Erichs Worte haben mir wieder etwas Selbstvertrauen und Mut gegeben, dennoch bin ich noch immer unentschlossen darüber, ob das mit Chris und mir überhaupt eine Chance hat. Wenn ich mir nur selbst endlich darüber im Klaren wäre, was ich für ihn empfinde. Der Abend wird immer älter, einige der Gäste verabschieden sich, hauptsächlich von Martinas Seite aus, aber auch einige der Freunde. Auch Jamie hat den ein oder anderen Arbeitskollegen eingeladen, was mich zwar etwas überrascht hat, aber sonst auch nicht weiter aufgefallen ist. Mein Bruder ist schließlich frei darin mit jedermann etwas zu unternehmen. Am Ende sitzt wieder nur der harte Kern zusammen. Jamie, Martina, Thomas, Erich, ich und natürlich auch Chris, der sich den Ehrenplatz an der rechten Seite meines kleinen Bruders gesichert hat. Die andere ist natürlich Martina vorbehalten. „Schöner Tag, ehrlich“, seufzt Thomas leise, nimmt einen großen Schluck von seinem Weizenbier, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und ich spüre wie er unter dem Tisch seine Füße auf meine Knie legt. „Freut mich, dass es dir gefallen hat“, lacht Martina, zieht sich ihren schwarzen Bolero über, da sie nun doch ein wenig zu frösteln scheint. Um uns herum herrscht Stille, denn das Brautpaar hat in dem Lokal einen abgetrennten Bereich angemietet, der nun nur noch von uns besetzt wird. Ein Kellner ist eigens für uns zuständig, hat im Moment jedoch wenig zu tun. Wir sind alle versorgt. „Von allen die es hätten werden können, muss es ja ausgerechnet Martina sein“, plappert Thomas munter weiter. „Dabei bist du doch so jung… hast das ganze Leben noch vor dir…“ „Habe ich immer noch“, wirft Jamie schmunzelnd ein. „Jetzt aber mit einer bildhübschen Frau an meiner Seite.“ Diese Aussage versetzt mir ein Stich ins Herz. Ich muss lernen damit umzugehen. Aber die Trennung von meinem kleinen Bruder ist mir noch zu plötzlich, als das ich wirklich damit umgehen könnte. Meine Wohnung wird unerträglich leer werden. Aufgrund dieser Aussage beginnt Martina eine kaum ernst gemeinte Kabbelei mit Thomas, in deren Verlauf sich Jamie mal auf die eine, dann auf die andere Seite schlägt, dabei aber Prügel von beiden bezieht. Als Chris nach einiger Zeit von seinem vorangegangen Toilettengang zurückkommt, packe ich ihn am Handgelenk und befördere ihn auf den Stuhl neben mir. Auch wenn ich noch immer keine endgültige Entscheidung getroffen habe, so kann ich dennoch eins mit Gewissheit sagen: Der Kleine macht mich an. „Alles okay?“ „Na klar“, antwortet er. „Bei dir auch? Oder hat dich meine Mum in die Flucht geschlagen?“ Darauf gehe ich nicht ein. Mir ist bewusst, dass Chris trotz seiner Versicherung sich etwas mehr erhofft hat. Aber ich gehe eben mein eigenes Tempo. Das wird sich nach wie vor nicht ändern. „Was machst du morgen Abend?“, frage ich leise, ziehe ihn etwas näher zu mir heran. Er runzelt die Stirn, legt den Kopf zur Seite und sieht tatsächlich so aus, als ob er ernsthaft über diese Frage nachdenken muss. Chris zieht es in die Länge, lehnt sich dann jedoch vor, greift leicht in meine Haare und bringt seine Lippen ganz nah an mein Ohr. „Ich weiß noch nicht genau was, aber ich bin sicher es beinhaltet dich.“ Einen Moment bin ich wie elektrisiert, verstärke meinen Griff um sein Handgelenk, unterdrücke nur mühsam ein aufgeregtes Schlucken. Woher auch immer er es hat, aber Chris hat eindeutig ein Talent dafür, jemanden, und mich im Speziellen, anzuheizen. „Filmabend, bei mir?“, presse ich mühsam beherrscht heraus. „Nur wenn ich auf deinem Schoß sitzen darf“, stellt er seine Bedingung. „Wenn du anständig bleibst“, revidiere ich, gebe dabei aber gleichzeitig auch meine Befürchtung und meine insgeheime Hoffnung preis, dass er es nicht tut. „Dafür darf ich dich küssen“ „Nicht tiefer als die Schultern“, schränke ich ein und komme mir langsam etwas dämlich vor. Seit wann verhandle ich denn darüber wie ein Abend zu laufen hat? Gleichzeitig ist es aber auch aufregend und es kribbelt mir in den Fingern. „Hm“, zieht er einen Schmollmund. „Streicheln?“ „Nicht weiter als zum Bauch.“ „Alter Sturkopf!“, beschwert er sich zischend, platziert dabei gekonnt einen warmen, leicht feuchten Kuss in meiner Halsbeuge. Ein Stromschlag wandert von dieser Stelle durch meinen Körper und ich knurre unwillig auf. Wenn Chris es noch weiter treibt, dann werde ich gleich sehr unhöflich und zerre ihn mit nach draußen. Ich gebe zu, dass eine zweimonatige Selbstkasteiung nicht gerade meine beste Idee gewesen ist. Und dabei haben wir uns bisher nur geküsst und ein wenig gestreichelt. Wie sieht das erst aus, wenn wir tatsächlich einmal mehr tun sollten. „Rapha?“, kommt es leise von ihm und ich brumme zum Zeichen, dass ich ihn höre. Doch statt etwas zu sagen, sieht Chris mich einen Moment lang unschlüssig an, ehe er sich zu mir herüber lehnt und sanft mit seinen Lippen über die meinen streift. Nur ganz kurz und zart, als habe er Angst er könne mir wehtun. „Schade, dass ich hiernach direkt nach Hause muss“, seufzt er gegen meinen Mund. „Ich hätte gerne bei dir übernachtet.“ Im nächsten Augenblick ist alles weg. Seine Wärme, sein Geruch, seine Stimme, der Hauch seiner Berührung. Chris hat sich umgedreht und ist verschwunden. Einfach weg. Und ich bin darüber ernsthaft enttäuscht. „Also ohne jeden Zweifel“, meldet sich Thomas vorlaut zu Wort und erst jetzt fällt mir ein, wo ich mich gerade eigentlich befinde. „Aber ihr zwei zusammen seid echt heiß.“ Vier Augenpaare starren mich gespannt an, teilweise auch amüsiert oder gar überrascht, aber alle ganz unverhohlen neugierig. Jamie ist ziemlich verblüfft, wie ich bemerke, jedoch kann er sich ebenso wenig wie Thomas ein breites Grinsen verkneifen. „Hier sprühen richtig die Funken“, kommentiert mein bester Freund haltlos weiter. „Einfach nur endgeil wie ihr euch mit Blicken ausgezogen habt, diese Energie, diese Leidenschaft, einfach nur…“ „Halt die Klappe, Tommy“, kommt es mürrisch von Erich, der dem Angesprochenen auch gleich eine Kopfnuss verpasst. „Jungs, Ruhe! Chris kommt!“, wirft Martina warnend ein, schenkt mir jedoch ein zartes Lächeln. Irgendwie scheint sie die Einzige zu sein, die versteht, dass mir die ganze Situation doch etwas peinlich ist. Ich war nie der Typ solche Dinge an die große Glocke zu hängen. Aber außer Chris war es mir nur bei Zack ernster als eine Nummer für die Nacht und auch bei Zack habe ich darauf geachtet, dass weder Jamie noch meine Eltern etwas davon mitbekommen. Auch wenn es dann am Ende nicht mehr so ganz geklappt hat. Aber bei Chris… irgendwie verliere ich bei ihm immer etwas die Beherrschung. „Was ist denn bei euch eingeschlagen, dass ihr so schaut?“, kommt es von dem Jüngsten unseres Bundes verwirrt und überrascht, ehe er einen wissenden Blick in meine Richtung wirft und schließlich leicht verlegen zur Seite schaut. Als er sich an mir vorbei zu seinem Platz durchdrängeln will, halte ich ihn auf, ziehe ihn zu mir und platziere ihn kurzerhand auf meinem Schoß. Ich selbst habe nicht das Bedürfnis ihn jetzt wieder ziehen zu lassen und wenn alle anderen eh schon alles zu wissen scheinen, dann stört es wohl auch keinen. Chris ist überrascht, rührt sich jedoch auch nicht vom Fleck und nach und nach nehmen wir unsere vorherigen Gespräche wieder auf. Es wird noch ein langer, gemütlicher Abend in kleiner Runde. Erich erzählt nun allen offen von seiner baldigen Reise nach Frankreich und einstimmig wird eine große Abschiedsfeier angesetzt. Als das Lokal schließt, ziehen Thomas und Erich noch gemeinsam um die Häuser und in die ersten Bars nehme ich Chris noch mit. Martina und Jamie haben sich zu ihrem derzeitigen Wohnsitz, Martinas Wohnung, aufgemacht, mir jedoch versprochen in den nächsten Tagen bei mir vorbeizuschauen. Und als Chris meine Hand drückt, fällt es mir gar nicht mehr so schwer zu sagen, dass Jamie ruhig noch länger bei seiner Ehefrau bleiben kann, auch wenn der Zeitpunkt seines Auszugs in immer greifbarere Nähe rückt. Nach der fünften Bar lassen Chris und ich die beiden größten Saufköpfe dieses Planeten alleine zurück; machen uns auf den Weg zu ihm nach Hause, denn schließlich habe ich seiner Mutter hoch und heilig versprochen, ihn dort unversehrt wieder abzuliefern. Den ganzen Weg dahin unterhalten wir uns ganz ungezwungen über alles Mögliche. Ich plaudere sogar ein wenig aus dem Nähkästchen und gebe von mir und Jamie einige Details aus unserer Kindheit preis. Nichts düsteres, natürlich, eher so Dinge wie Jamies frühere Angst vor jedem kleinen Krabbeltier. Ich musste ihn immer retten und er lehnte es bis zu seinem sechsten Lebensjahr entschieden ab barfuss über eine Wiese zu gehen. „Die Käfer nagen mich ganz bestimmt an“, gebe ich Jamies damalige Worte wieder und finde Chris’ leises, beinahe raues Lachen ganz entzückend. Irgendetwas stellt dieser Querkopf mit mir an, das steht schon mal fest. Seine Hand ruht noch immer in der meinen, leicht streichelt sein Daumen über meine Haut und hinterlässt dort eine leichte Gänsehaut. „Danke, Rapha.“ „Wofür?“, frage ich verwirrt nach. „Das du mich damals davor bewahrt hast in diesen Club zu gehen“, erklärt er flüsternd. „Hm… keine Ursache…“, brumme ich, rücke ein wenig dichter zu ihm auf, versinke einen Moment in seinen Augen, die zaghaft zu mir aufblicken. „Oh verdammt!“, knurre ich, schlinge meine Arme um seinen Körper, sauge beinahe manisch seinen verlockenden Duft in mir ein und vergesse einmal vollkommen, dass wir nur noch eine Querstraße von seinem Haus entfernt stehen. „Was stellst du nur mit mir an?“ Und dann sind da seine weichen Lippen, die sich auf meine legen, mich sanft umfassen. Eine neckische Zunge, die mich dazu verleitet mich für sie zu öffnen, diesen Kuss nicht nur zuzulassen, sondern auch in gleichwertiger Weise zu erwidern. Ich greife mit einer Hand in Chris’ Haare, halte seinen Kopf fest, während ich meinen anderen Arm komplett um seinen Körper schlinge, diesen somit noch näher an mich heran bringe. Er hingegen greift sich mein Hemd, zieht daran, hält es fest, stellt sich ein wenig auf die Zehenspitzen um den Größenunterschied zwischen uns zu verringern. Das hier ist kein romantischer Kuss. Es ist pures Verlangen. Chris stöhnt in meinem Mund auf, als ich mit fast brutaler Gewalt zwischen seinen Lippen vorstoße, ihn plündere und dabei immer weiter zurück dränge. Ich schiebe ihn gegen eine Hauswand, presse ihn dagegen und lehne mich selbst eng an ihn, gehe ein wenig in die Knie um besser an seine sündigen Lippen heran zu kommen. Mit einem fast verzweifelt klingenden Laut schlingt er mir seine Arme um den Nacken und als er sich versucht an mir hochzuziehen, greife ich mit meinen Händen nach seinem Po, hebe ihn hoch und klemme ihn zwischen mir und der Wand ein, während seine Beine den Weg um meine Hüfte finden. Gott, ich habe ihn zwei Monate lang gesehen, aber nie angefasst, nie geküsst. Ich dachte ich bräuchte Zeit, müsste ihn kennen lernen, es langsam angehen lassen, aber das hier… scheiße, dass ist alles andere als langsam. Und zu allem Überfluss fühlt es sich auch noch so verdammt richtig an! Mit Chris scheint es einfach zu funktionieren. Er ist so leidenschaftlich, dass es mich mitreißt, er haut mich einfach von den Socken, aber er ist auch so bodenständig und kühl, dass ich mit ihm immer jemanden habe, dem ich mich anvertrauen kann. Trotzdem ist er noch immer ein Kind, mit kindischen Gelüsten wie nach Jamies Schokotorte oder diesen essbaren Schnullern, die es zu Zeiten meiner Eltern noch häufig zu kaufen gab. Und vor allem hat Chris eins: Einen Traum! Er weiß genau, dass er später einmal Fotograf werfen will. Darauf arbeitet er hin, lässt sich von nichts davon abbringen und bleibt beständig am Ball. Er hat sehr viel Ausdauer, wenn er sich eine Sache mal in den Kopf gesetzt hat. Chris ist jemand, der etwas von ganzem Herzen macht. Ich lasse den Kuss ruhiger werden, harmloser, genieße einige Momente wie weich sich Chris gegen mich schmiegt, ehe ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge vergrabe und einmal tief durchatme. Chris ist erregt, dass spüre ich nu zu deutlich an meinem Bauch. Er zittert ein wenig und ringt etwas schwerer als ich nach Luft. Aber er bleibt ganz ruhig in meinen Armen, hält sich an mir fest und gibt mir irgendwie dennoch das Gefühl, dass ich derjenige bin, der gehalten wird. „Oh scheiße…“, seufzt er leise. „Ich liebe dich, Raphael, ich liebe dich so wahnsinnig…“ Ich richte mich auf, sehe ihm in die Augen, erkenne darin nur Zuneigung für mich und fühle mich fast schlecht, weil ich diese Worte noch immer nicht ehrlich erwidern kann. Chris ist so viel, vor allem so viel Gutes, dass ich befürchte, nicht gut genug für ihn zu sein, ihm einfach nicht gerecht zu werden. Ich will ihn nicht verletzen, ihm nicht wehtun, aber bei meinem Charakter bleibt das wohl nicht aus. „Hey“, säuselt er sanft in mein Ohr. „Hör auf zu denken, es ist okay. Ist schon gut.“ Er krault durch meine Haare, drängt sich enger an mich, ignoriert dabei seine eigene Erregung und flüstert liebevolle Dinge vor sich hin, die mich tatsächlich beruhigen. Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich zu zittern angefangen habe. „Chris, es… es tut mir leid…“ „Was denn?“ „Das ich dir gegenüber so widersprüchlich bin“, sage ich. „Ich will dir nicht wehtun, aber… ehrlich gesagt, weiß ich nicht wohin mit mir.“ „Hm, das habe ich gemerkt“, schmunzelt er, spielt mit einer meiner Haarsträhnen. „Wenn ich wüsste wie ich dir helfen könnte, würde ich es tun. Aber ich habe so das dumpfe Gefühl, dass du das alleine machen musst.“ „Ja, kann sein.“ „Rapha?“ „Hm?“ „Bin ich dir nicht zu schwer?“, fragte er lachend und erst jetzt registriere ich, dass ich ihn noch immer festhalte. Ich habe es irgendwie vergessen. „Nein. Eigentlich nicht“, gebe ich unumwunden zu. „Willst du runter?“ „Nicht wirklich, aber die ganze Nacht können wir auch nicht so stehen bleiben“, antwortet er, seufzt leise auf, als ich ihn daraufhin trotzdem wieder auf dem Boden absetze. Als ich nah an seinem Gesicht bin, ziehe ich ihn sanft zu mir, küsse noch einmal seine herrlichen Lippen und versinke in seinem Augenaufschlag. „Was willst du überhaupt mit so einem verkorksten Kerl wie mir?“, stelle ich ihm schließlich die Frage, die mir schon seit unserer ersten Begegnung auf der Seele brennt. „Ich will mein Leben mit dir teilen“, antwortet er prompt. „Wieso bist du dir nur so sicher? Woher weißt du, dass du das willst?“ Chris legt einen Moment nachdenklich die Stirn in Falten, ehe er meine Hand greift, sie auf seine Brust, direkt über seinem Herzen legt. Ich spüre das kräftige, gleichmäßige Schlagen, das mir ein wenig zu schnell vorkommt. „Als ich dich das erste Mal gesehen habe, war ich einfach nur hin und weg von deinem Aussehen“, erzählt er mir leise. „Dieses Bild im Park… das war wie ein Traum… ich dachte wirklich einen Moment lang, dass du von einem anderen Planeten kommen würdest. Als ich morgens bei dir aufwachte ist mir schnell klar geworden, dass du auch nur ein normaler Mensch bist und noch dazu ein ziemlich unfreundlicher.“ Das kann ich schlecht leugnen. „Aber ich habe in deinen Augen so vieles lesen können, Raphael. So vieles, dass es mich manchmal ganz traurig gemacht hat. Du hast scheinbar schon ein ganzes Leben gelebt und alles was davon geblieben ist, sind deine Augen.“ Chris’ Großvater hat damals so etwas Ähnliches gesagt, erinnere ich mich gerade und ich frage mich, ob die beiden vielleicht irgendwelche magischen Kräfte haben. Mir ist noch nie jemand untergekommen, der allein an meinem Blick erkennen konnte, dass ich schon einiges hinter mir habe. „Ich wollte mehr über dich erfahren. Aber dann habe ich Jamie kennen gelernt und er ist so ganz anders als du. Mit ihm bin ich sehr schnell warm geworden. Durch ihn habe ich auch erst gemerkt, dass ich mich tatsächlich in dich verliebt habe.“ „Warum?“ „Weil ich eifersüchtig auf ihn wurde. Wann immer ihr zwei zusammen ward, gehörte deine ganze Aufmerksamkeit ihm und du hast ihn immer so liebevoll angesehen. Er ist deine Welt. Und manchmal ist er sich dessen gar nicht bewusst. Das hat mich wütend gemacht und in mir den Wunsch geweckt, dass ich selbst einmal derjenige bin, um den sich bei dir alles dreht. Ich will bei dir sein. Wenn möglich, mein Leben lang.“ Dieses Geständnis macht mich sprachlos. Ich hatte immer das Gefühl, dass es Chris auf eine lockere Art nimmt, das Ganze nicht so ernst nimmt wie ich. Für ihn sah es immer so leicht aus mit allem fertig zu werden, dass ich wirklich geglaubt habe, dass er sich keine Gedanken darüber machen würde. Offenbar habe ich ganz weit daneben gelegen. „Ich gebe zu“, fährt er fort. „Das ist am Anfang nicht sehr geschickt vorgegangen bin. Aber ich wollte unter allen Umständen in deiner Näher bleiben, deswegen habe ich mich zum Beispiel auch bei Martinas Abschlussball so aufgedrängt. Ich wollte dir einfach im Gedächtnis bleiben.“ „Das hast du wohl geschafft“, gebe ich brummend zu. Er lächelt mich daraufhin an, fährt mit seinen Fingerspitzen über meine Wangen, streckt sich ein wenig in die Höhe, küsst mich ganz zart auf meine Lippen. „Ich weiß nicht, was du alles erlebt hast, Rapha. Jamie spricht nicht gerne darüber. Scheinbar ist bei euch in der Kindheit einiges schief gelaufen und Jamie prangert gerne Zack an, den ich bisher auch nur einmal kurz gesehen habe. Mehr weiß ich nicht. Aber wenn es das ist, was dich mir gegenüber so hemmt, dann wäre ich froh, wenn es dir gelingen würde, dich mir zu öffnen, damit ich deine Zweifel vielleicht endlich ausräumen kann.“ „Chris, ich…“ „Nicht jetzt“, wehrt er ab. „Vielleicht irgendwann. Oder nie. Das hast du in der Hand.“ Wir stehen und schweigend gegenüber, sehen uns minutenlang einfach nur an, berühren und hin und wieder ganz vorsichtig, ohne dabei zu weit zu gehen und schließlich ist es Chris, der mir ein letztes Mal zu lächelt, ehe er sich abwendet und langsam davon geht. --- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)