Bilder unserer Zeit von ReiRei-chan ================================================================================ Kapitel 5: Unfallopfer die keine sind (2000) -------------------------------------------- 5. Kapitel - 2000 „Möchtest du noch Kaffee, Rapha?“ „Nein, danke“, wehre ich ab, stürze den Rest der braunen Brühe hinunter und kaue an meinem Brötchen herum. „Ich muss los.“ Jamie nimmt mir meinen Becher und das Brettchen ab, stellt alles auf die Spüle und lässt das Wasser ein. Gerade als ein Klecks Spülmittel darin landet, rausche ich aus der Tür. Im Wohnzimmer sammle ich die schmutzige Wäsche ein, stopfe sie in den Korb in meinem kleinen Badezimmer und putze mir in Rekordzeit die Zähne. Bevor ich das Schlafzimmer verlasse, werfe ich noch einen Blick auf den schlafenden Jungen in meinem Bett. Das Kissen liegt vollkommen zerdrückt unter ihm, die Decke hat er kurzerhand runter getreten. Sein Gesicht liegt direkt in der Sonne und ein schwaches Lächeln zeichnet sich bei ihm ab. Ich trete näher an ihn heran, streiche ihm das zerzauste, leicht fettige Haar aus der Stirn, hebe die Decke auf und werfe sie ihm wieder bis zur Hüfte über. Einen Moment lang betrachte ich sein Profil. Es kommt mir seltsam vertraut vor. Diesen Gedanken schüttle ich ab und mache mich endlich auf den Weg zur Arbeit. Draußen liegt noch ein wenig Schnee, der unter meinen Schuhen knirscht. Ich verfluche mich dafür, dass ich meine Handschuhe nicht mitgenommen habe, denn jetzt friere ich mir die Finger ab. Auf dem Weg zum Club begegnet mir Bernhard Vogel, den ich allerdings nur flüchtig grüßen kann. Er ringt mir im vorbeigehen aber das Versprechen ab, mich in der nächsten Zeit mal wieder bei Familie Vogel blicken zu lassen. Guter Laune, renne ich durch die Straßen, biege um Ecken und renne dabei mehrmals fast jemanden um. Schließlich stehe ich aber vor dem BlackRaven, krame den Schlüssel aus meiner Tasche und schließe auf. Drinnen ist noch alles Dunkel. Ich belasse es dabei. Vorsichtig schlängele ich mich durch die Tischreihen ins Büro, schalte den Computer an und während dieser hochfährt, mache ich die ersten Handgriffe an der Bar. Ich hole die Flaschen rauf, räume sie ins Regal und fülle den Kühlschrank wieder auf, sehe nach ob noch genug Früchte für die Cocktails da sind. Erich kommt irgendwann herein, verschwindet im Büro und dann kann ich die ersten Tastaturgeräusche vernehmen. Ich selbst stelle die Stühle runter und wische die Tische ab. In nur einer Stunde wird wieder eröffnet. „Wo ist der Kleine?“, fragt Erich hinter mir. „Er kommt nach. Wir haben ein Unfallopfer zu Hause.“ Erich nickt, schaltet überall die Lichter an und kontrolliert mit routiniertem Blick die Einrichtung. Danach verschwindet er wieder am PC und widmet sich seinen administrativen Aufgaben. „Guten Abend!“ „Hallo Frank“, grüße ich den breitschultrigen Mann, der soeben das Lokal betreten hat. Er ist unser Türsteher, der in der letzten Zeit tatsächlich viel zu tun hat. Ob es an Weihnachten liegt oder einfach daran, dass die Bar für längere Zeit geschlossen war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Er verschwindet in den angrenzenden Umkleideraum und ich höre sein fröhliches Pfeifen. Im Dunkeln kann er einem Angst machen, aber er ist wie ein riesiger Teddybär. Beeindruckend groß, aber mindestens genauso plüschig. „Gibt es besondere Anweisungen für heute?“ „Nein. Alles wie gehabt.“ Frank nickt, lässt sich von mir mit einem dankbaren Lächeln eine Cola einschenken und dann versinken wir in einer angenehmen, wie auch nichts sagenden Unterhaltung. Er ist ein netter Zeitgenosse, aber wir stammen aus verschiedenen Welten. Frank ist sehr behütet aufgewachsen und er vertritt viele Ansichten, die ich nicht gutheißen kann. Privat kommt man sich so nicht näher, aber wir können in einem freundschaftlichen Ton miteinander reden und ein Arbeitgeber-Angestellten-Verhältnis hat auch nie geschadet. „Ich bin da!“ „Wo warst du denn, Jamie? Die Küche wartet!“, blicke ich auf, halte dann aber inne und starre den Jungen hinter meinem kleinen Bruder an. Missmutig verziehe ich die Augenbrauen. „Warum hast du ihn mitgebracht?“ Jamie tippt mir gegen die Brust, die Augen zu Schlitzen verengt. „Du wolltest doch nicht, dass er alleine zu Hause bleibt. Außerdem ist er aufgewacht, als du gerade zur Tür raus warst. Da habe ich ihn ein bisschen aufgepäppelt. Wo sollte ich denn sonst mit ihm hin?“ „Er sollte nach Hause!“ „So ein Unsinn!“, wehrt Jamie ab, zieht den Jungen zu sich heran. „Sieht doch ein Blindfisch, dass er gerade da nicht wieder hin will!“ „Wir sind kein Armenhaus, Jamie. Und Streuner kann ich gar nicht leiden!“, bleibe ich stur, winke Frank zur Arbeit. Der Hüne erhebt sich, dreht das Schild von ‚geschlossen’ auf ‚geöffnet’ und bezieht dann Stellung vor der Tür. Wir haben noch eine Viertelstunde, aber so genau nehmen wir es nie. Erich kommt aus dem Büro, nickt Jamie zu und reicht mir dann ein paar Papiere. Eine Bestellungsliste, wie ich feststellte. Eine Seite gebe ich an meinen Bruder weiter, der wutschnaubend in der Küche verschwindet. Ich seufze. „So ein Scheiß“, murre ich leise, werfe Erich einen gequälten Blick zu, doch mein stummer Freund lässt sich nur zu einem hämischen Grinsen herab. Klasse. „Chris, nicht wahr?“ „Äh… ja…“, bestätigt der Blondschopf. Wobei seine Haare eher einen hellen Braunton haben. In der Sonne wirkte es blond. Ich schüttle den Kopf. „Weißt du wie du von hier zu dir nach Hause kommst?“ „Ich denke schon…“ „Dann verschwinde“, maule ich ihn an, zapfe das erste Bier und stelle es dem verwunderten Jungen vor die Nase. Frank lässt nach und nach die erste Kundschaft herein und ich widme mich voll und ganz meiner Arbeit an der Theke, während Erich die Essensbestellungen aufnimmt und Jamie weitergibt. „Aber…“, legt Chris Einspruch ein, den ich mit einem grimmigen Blick unterbinde. „Nix da! Du hast bei uns gepennt, geduscht und du hast meine Klamotten an, dass reicht vollkommen an Nächstenliebe. Also sieh zu das du Land gewinnst.“ Damit ist diese Sache für mich gegessen und ich ignoriere es einfach, wie Chris wie ein bockiger Esel auf seinem Hocker sitzen bleibt. Die ersten zwei Stunden bin ich alleine, danach taucht Nadine auf, die für kurze Zeit in der Umkleide verschwindet und sich dann ebenfalls hinter den Tresen stellt und mit anpackt. Nadine ist ein unglaublich liebes Mädchen, die mir beim Vorstellungsgespräch sofort gefallen hat. Am Anfang war sie noch etwas ungeschickt, aber bereits nach der ersten Woche konnte ich sie als echte Bereicherung bezeichnen. Nach der Arbeit haben wir oft noch zusammen einen getrunken und sie ist mir wirklich ans Herz gewachsen. „Du bist ja immer noch hier“, brumme ich einige Zeit später, als ich etwas Luft habe und mich wieder meinem schweigenden Problem widmen kann. Chris blickt beinahe störrisch zu mir auf. „Wenn ich gehen soll, dann brauche ich meine Kamera.“ „Deine Kamera?“, frage ich irritiert nach, denn weder heute, noch bei der Party habe ich bemerkt, dass er eine Kamera dabei hatte. Wäre natürlich ein absoluter Glücksgriff, wenn ich die bei der schwachsinnigen Aktion von Thomas und Erich platt gewalzt hätte. Kurzerhand erkläre ich meinen Bruder als meinen Lebensretter und statte ihm einen Besuch in der Küche ab. Jamie ist gerade dabei Fritten aus dem Fett zu ziehen und blickt eher überrascht zu mir auf. Dann strahlt er. „Sau geil diese Küche“, meint er. „Hast du eine Kamera bei Chris bemerkt?“, frage ich ihn rundheraus. Einen Moment überlegt er, doch schließlich erhellt sich seine Mine und ich will schon erleichtert aufatmen. Allerdings macht Jamie mir dann doch einen Strich durch die Rechnung. „Ja, einer von seinen Freunden hat sie mir in die Hand gedrückt und gemeint, ich solle sie auf jeden Fall mitnehmen und wie einen Schatz hüten. Sie steht noch auf dem Regal im Wohnzimmer. Allerdings sah sie schon lädiert aus, als ich sie bekommen habe.“ „Mist!“, fluche ich, werde jedoch von Nadine gerufen und mache mich erst einmal wieder an die Arbeit. Zwischen einem Bier und einer Spezi teile ich Chris Jamies Antwort mit und seine Mine erhellt sich. „Klasse! Dann bleibe ich hier und hole sie später ab. Deine Sachen kannst du auch gleich wieder haben.“ Das passt mir gar nicht, aber ich habe letztendlich keine Wahl und stimme zu. Meine Aufmerksamkeit wird von Chris abgelenkt, als die Tür aufgerissen wird und ein stark betrunkenes Mädchen hereingestürmt kommt. Sie lallt lauthals irgendeinen Unsinn und holt sogar aus um Nadine eine zu scheuern, als sich Franks massiger Körper dazwischen schiebt und sie wieder nach draußen befördert wird. „Alles okay bei dir?“, frage ich zur Sicherheit bei Nadine nach und bemerke einen blutigen Kratzer an ihrer Wange. „Brennt ein bisschen, aber es geht“, lacht sie, wischt sich das Blut mit einer Serviette ab. „Halb so schlimm, ich kann ja noch arbeiten.“ „Rapha, penn nicht! Die Leuten wollen was zu trinken!“, schreit Jamie aus der Küche, deutet auf die voll besetzte Theke und ich beeile mich, den Bestellungen nachzukommen. Scheinbar hat Erichs neue Werbung sehr gut eingeschlagen, denn der Laden ist brechend voll. Auch draußen stehen die Leute beharrlich Schlange. Ich sehe die Überstunden förmlich anfliegen. „Kann mal einer Thomas anrufen?“ „Geht nicht, der ist auf einer Nachtwanderung!“ „Warum das denn?“, frage ich irritiert, schenke ein Bier nach dem anderen ein. „Das macht man so im Kindergarten“, grinst Erich mir zu, reicht Jamie die nächsten Bestellzettel und geht mir ein wenig zur Hand. Aber auch nicht wirklich lange, denn dann muss er schon wieder das Essen servieren. „Was ist mit Martina?“, gehe ich meine mentale Liste durch, doch auch diesmal verneint Jamie. Martina bereitet sich derzeit auf ihre Abschlussklausuren vor. Verdammtes Abitur. „Soll ich dir helfen?“ Verwundert drehe ich mich zu Chris um, der dasitzt und mich einfach anstarrt. Er hat Hundeaugen, denke ich in diesem Moment und will gerade zum sprechen ansetzen, als Nadine schon zustimmt und ihm eine Schürze zuwirft. „Was wird das?“, keife ich sie an, doch sie reagiert nur mit einem drohenden Zeigefinger. „Wir brauchen heute Hilfe und wenn er will, dann wird es ja wohl gehen. Ihr kennt euch doch! Ich zeig ihm einfach was er machen soll, dann klappt das schon!“ Jeglicher Protest bleibt mir im Hals stecken, als sich die beiden an die Arbeit machen. Viel zu schnell werde ich von den neuen Bestellungen abgelenkt. Erich legt eine andere Musik auf, hastet in seinem merkwürdigen Schritt durch die Reihen, stellt Teller ab, nimmt wieder welche auf. Mit einem Mal bleibt er vor mir stehen. „Tanzraum“, ist das Einzige, das er sagt. „Bloß nicht“, ist meine Antwort darauf. --- Es ist bereits fünf Uhr früh, als Frank den letzten betrunkenen Gast nach draußen und auf den Heimweg befördert. Jamie lehnt sich erschöpft an den Tresen, Erich kippelt auf einem Stuhl herum und Nadine ist mit Chris in ein leises Gespräch vertieft. Auch unter ihren Augen zeigen sich die ersten Ringe. „Feierabend“, verkünde ich und alle brechen in sich zusammen. Erich rutscht erschöpft vom Stuhl, Frank lässt sich auf einen leeren Bierkasten sinken, Jamie legt sich einfach platt auf die Theke, Nadine seufzt laut und reißt sich die Schuhe von den Füßen, während Chris die Augen schließt und sich die Schläfen massiert. „Gute Arbeit, Leute! War ein erfolgreicher Abend!“, spreche ich ihnen mein Lob aus. Erich nickt bestätigend, macht einen Schlenker mit der Hand, der mir andeutet, ich solle fortfahren. „Es gibt auf jeden Fall den vereinbarten Zuschuss und einen Urlaubstag extra.“ „Vielleicht sollten wir doch noch jemanden einstellen“, wirft Nadine ein, massiert sich die Fußsohlen und wirft einen fragenden Blick in die Runde. „Als Servicekraft auf jeden Fall. Wie ist es in der Küche?“ „Ein gelernter Koch schafft es bestimmt besser als ich. Ansonsten würde ich zwei Leute einstellen“, antwortet Jamie leise, stöhnt gequält auf und deutet auf seine Schultern. „Rapha, massier mich.“ Ich trete zu ihm, richte ihn auf und schwinge mich hinter ihn auf den Tresen, beginne mit meiner Massage. Dann spreche ich Frank an. „Brauchst du noch jemanden?“ „Nein. Bisher ist nichts passiert, ich glaube das wird auch so bleiben.“ „Und das Mädchen heute?“, meldet sich Erich nun zu Wort. „Die ist mir durch die Finger geschlüpft. Hat ihre Jacke dagelassen“, er zeigt seine Beute hoch. Ich winke ab. Noch ist tatsächlich nie etwas passiert, aber den Gedanken werde ich auf jeden Fall im Kopf behalten. „Wir sollten vielleicht direkt zwei neue Leute einstellen.“ Erich nickt, deutet auf seinen Kopf und lässt sich wieder erschöpft nach hinten fallen. Auch er hat sich eine innerliche Notiz gemacht. Keiner verspürt den Drang aufzustehen und aufzuräumen und so verplempern wir eine Stunde mit Nichtstun. Jamie lehnt sich irgendwann gegen mich, lächelt etwas verträumt zu mir herauf und spielt mit einer meiner Haarsträhnen. „Tut mir leid, Nadine“, entschuldigt sich Frank, bei der Blondine, die allerdings lachend abwinkt. Die beiden plaudern eine Weile miteinander, bis Frank sich schließlich verabschiedet und ich sie gemeinsam nach Hause schicke. Das Aufräumen schaffe ich zur Not auch alleine. Aber Erich und Jamie sind ja auch noch da. Und Chris. Missmutig werfe ich einen Blick zu dem Jungen herüber, der scheinbar ein friedliches Nickerchen hält. „Wir nehmen ihn heute wohl wieder mit zu uns, was?“, lacht Jamie leise. „Scheint so“, brumme ich ungehalten, gebe meinem kleinen Bruder einen Klaps auf den Bauch, der ihn zusammen zucken lässt. Es herrscht angenehmes Schweigen. Es war ein erfolgreicher erster Tag. Ich bin zufrieden. Erich erhebt sich etwas schwerfällig, macht sich an der Kasse zu schaffen und nimmt die heutigen Einnahmen mit sich ins Büro, in dem er sich kurzerhand einschließt. Er wird der Letzte sein, der heute geht. „Na kommt, räumen wir auf.“ Ächzend machen wir uns an die Arbeit. Jamie bringt seine Küche wieder auf Vordermann, während ich die Tische wische und die Stühle hochstelle. Bei dem Lärm wacht Chris schließlich auf. Er gähnt herzhaft, greift sich aber ohne jedes Wort den Besen und beginnt mit dem Auskehren des Lokals. --- „Braucht noch jemand was zu trinken?“ Chris und ich schütteln wortlos den Kopf. Keinem von uns steht jetzt nach etwas anderem der Sinn als nach dem warmen Bett. Jamie verabschiedet sich mit einem schwachen Winken auf die Schlafcouch. Ich öffne die Schlafzimmertüre, reiße mir augenblicklich das Hemd herunter und pfeffere es in die nächstbeste Ecke. Als ich an meinem Hosenknopf nestle, prallt Chris gegen mich, wirft mich nach vorne. Etwas unsanft lande ich auf meinem eigenen Ellenbogen. „Autsch.“ „Sorry, hab dich nicht gesehen“, entschuldigt sich Chris bei mir, rollt sich zur Seite sodass ich wieder problemlos atmen kann. „Wollte kein Licht machen.“ Wortlos knipse ich die Nachttischlampe an, werfe ihm einen grimmigen Blick zu, der allerdings an Härte verliert als ich ihn vollkommen entspannt daliegen sehe. Er hat die Augen geschlossen, atmet ruhig, während seine Finger ineinander verschlungen auf seinem Bauch ruhen. Er hat ein sehr schönes Profil. Erschrocken zucken wir zusammen, als mein Handy klingelt. Überrascht starrt Chris mich an. Ich greife nach dem Gerät, klappe es auf und bekomme bei der angezeigten Nummer beinahe einen Herzkasper. „Zack“, flüstere ich atemlos und kann sein Grinsen förmlich riechen. „Hi Rapahel! Wie schön, dass du noch wach bist!“ „Warum rufst du an?“ „Wollte dir nur zur Neueröffnung gratulieren. War es ein Erfolg?“ „Ja.“ „Freut mich für dich! Sag mal… kann ich dich besuchen kommen?“ Verdutzt starre ich auf den Teppich zu meinen Füßen. Ich höre wie Jamie hereinkommt, er entreißt mir das Handy und wirft mir einen wütenden Blick zu. „Zack, wie schön das du anrufst.“ Ehe ich ihn aufhalten kann, ist er wieder aus der Tür verschwunden und lehnt sich dagegen, damit ich ihm nicht folgen kann. Nach mehrmaligen Versuchen sie zu öffnen, lasse ich es bleiben. „DAS IST SCHEIßE, JAMIE!“, brülle ich, donnere meine Faust gegen den Rahmen, werfe mich in völliger Frustration neben Chris auf das Bett. „Verfluchte Kacke…“ Zack war nie gut auf Jamie zu sprechen, aber nachdem die beiden sich ein paar Mal getroffen haben, beruht das nun auch auf Gegenseitigkeit. Beide haben etwas dagegen, dass ich mich mit dem jeweils anderen beschäftigte. Eine starke Belastung für mich, denn ich will mich zwischen meinem Bruder und dem Mann, den ich liebe, nicht entscheiden. Ich zucke zusammen, als ich eine Hand auf meinem Arm spüre und reiße mich von dieser Berührung los. Aus zusammengekniffenen Augen sehe ich Chris an, der beschwichtigend die Hände hebt. „Ich wollte dir nicht zu nahe treten, aber…“, murmelt er. „Schon gut.“ Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis Jamie endlich wieder zurück kommt und mir mein Handy zurückgibt. Das Gespräch ist noch nicht beendet, also melde ich mich wieder. „Zack?“ „Jamie mag mich wohl genauso wenig wie ich ihn“, sagt Zack mit einem leisen Lachen. „Was hat er gesagt?“ „Er hat mich nur freundlich daran erinnert, dass er mir den Arsch aufreißen wird, wenn ich dir wieder wehtun sollte. Woraufhin ich ihm gesagt habe, dass ich ihm seinen kleinen Hals umdrehe, wenn er sich zwischen uns stellt.“ Bei diesen Worten durchzuckt es mich eiskalt und ich greife intuitiv nach Jamies Hand, der noch immer vor mir steht und sich jetzt auf meinen Schoß sinken lässt. Er lehnt seinen Kopf an meine Schulter. „Ich bring ihn um, wenn er dir nochmal wehtut“, flüstert er mit rauer Stimme. „Wirst du trotzdem kommen?“, frage ich Zack, drücke Jamies Hand fester. „Wenn du mich sehen willst.“ „Will ich.“ „Schön… Hast du nächstes Wochenende Zeit?“ „Ich muss arbeiten.“ „Dann sag mir einen Tag.“ „Hm… nächsten Monat habe ich vielleicht wieder Zeit. Ich melde mich bei dir, okay?“ „Tu das. Und Rapha?“ „Ja?“ „Ich vermisse dich.“ Ehe ich zu einer Antwort ansetzen kann, hat Zack auch schon wieder aufgelegt. Jamie nimmt mir das Handy aus der Hand, legt es auf den Nachttisch und schaut mich aus traurigen Augen an. Er küsst mich sanft auf Wangen und Stirn, streicht mir langsam durch die Haare. „Es reicht“, brumme ich, schiebe Jamie sanft von mir und werfe einen mahnenden Blick zu Chris, der das Schauspiel mit großen Augen verfolgt. „Chris muss schlafen.“ „Du auch. Und denk nicht mehr darüber nach“, erwidert Jamie, erhebt sich und wünscht uns beiden eine gute Nacht. Dann bin ich mit dem sprachlosen Chris alleine. „Seid ihr zusammen?“ Entnervt rolle ich mit den Augen, schubse Chris nach hinten auf die Matratze, ziehe mir endlich meine Hose aus und schlüpfe unter die Decke. „Wir sind Brüder, okay?“ „Dann habt ihr beide einen starken Bruderkomplex.“ „Halt endlich die Fresse!“, keife ich. „Du kennst uns nicht und hast keine Ahnung von unserem Leben, also halt bloß die Füße still, sonst schmeiß ich dich raus!“ Chris zuckt unter meiner wütenden Stimme zusammen, schlüpft schnell aus seinen Sachen und versteckt sich unter der Decke. Ein wenig ängstlich, aber genauso trotzig schaut er von unten her zu mir auf. „Tut mir leid“, sagt er, doch ich kaufe ihm das nicht ab. „Morgen bringe ich dich persönlich nach Hause“, entgegne ich ihm, drehe mich um, lösche das Licht und mache endlich die Augen zu. Auch Chris legt sich zurecht. Dann ist es still und ich lausche auf seinen ruhigen Atem. Bald folgt ein leises Schnarchen. Noch immer liege ich wach und denke an Zack. Ich will ihn. Und ich werde ihn immer wollen, egal was mir Jamie und auch Thomas ans Herz legen. Ich liebe ihn! --- „Guten Morgen.“ Jamie blickt auf, als Chris in die Küche geschlichen kommt und reicht ihm gleich eine frische Tasse Kaffee, die der andere jedoch dankend ablehnt. „Ich trinke nur Tee.“ „Rapha macht dir gleich Einen.“ „Mach ich?“, frage ich gelangweilt nach, erhebe mich jedoch artig, als ich Jamies vernichtenden Blick bemerke. Chris lässt sich prompt auf meinen Stuhl fallen und wird von meinem kleinen Bruder in ein Gespräch verwickelt. „Hast du gut geschlafen?“ „Ja, danke.“ „Prima!“, freut sich Jamie. „Deine Kamera ist übrigens im Wohnzimmer. Sie ist nicht verloren gegangen, aber sie sieht etwas lädiert aus. Tut mir leid.“ Ich spanne mich unwillkürlich an und überlege, wie viel mich so eine Kamera kosten wird und rechne schon mit Unsummen, als Chris beinahe teilnahmslos mit den Schultern zuckt. „Das ist okay. Sie ist ein Erbstück. Ich meinte eigentlich eine neue Kamera von Samsung. Die war in einer schwarzen Tasche, die ich dabei hatte.“ Jamie wirft mir einen fragenden Blick zu, den ich ebenso beantworte. An eine schwarze Tasche kann ich mich gar nicht erinnern. Ob Oliver und seine Leute vielleicht etwas darüber wissen? „Ruf mal Thomas an, vielleicht weiß der was davon.“ Jamie greift nach dem Telefonhörer neben sich, drückt die entsprechende Kurzwahltaste und trommelt dann in einer inneren Unruhe auf die Tischplatte. Er wirft Chris einen aufmunternden Blick zu. Ich fülle Wasser in die Tasse, halte unserem kleinen Anhängsel die verschiedenen Teesorten hin und er entscheidet sich letztendlich für schwarzen Tee. Beim Zucker verneint er, also stelle ich ihm die Tasse auf den Tisch und reiche ihm ein Messer und einen Teller. Ich verscheuche Jamie von seinem Stuhl, setze mich darauf und mein kleiner Bruder nimmt auf meinem Schoß platz. Er überlässt mir das Telefon, während er für mich ein Brot schmiert. Nach einer schieren Unendlichkeit meldet sich Thomas verschlafene Stimme. „Hast du die Nummer von Oliver?“, frage ich ohne Umschweife. „Was? Wer?“ „Oliver. Silvester. Nummer“, fasse ich kurz zusammen. „Hm… warte…“ Ich höre undeutliches Rascheln, dann ein Brummen. Endlich meldet sich Thomas wieder und verneint. Er habe keine Nummer von den anderen Jungs, könne sich auch an keine Tasche erinnern. Ich verabschiede mich und lege auf. „Thomas hat keine Nummer. Hast du keine? Du warst doch mit denen zusammen“, wende ich mich an Chris, der mich über den Rand seiner Tasse hinweg ansieht. „Ich habe sie zufällig getroffen.“ „Dann gehen wir nachher einfach noch mal in den Park und schauen da. Vielleicht haben wir Glück“, startet Jamie einen neuen Versuch. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass wir dort etwas finden werden, aber ein Blick kann durchaus nicht schaden. Auch wenn es mir missfällt, dass ich Chris dadurch noch länger um mich habe, als ich eigentlich wollte. „Ich mach das alleine“, murmelt Chris leise, schlürft an seinem Tee und schaut nervös zwischen uns hin und her. Entweder sind wir ihm nicht ganz geheuer oder er vermutet, dass wir kleine Jungs in die Bratpfanne hauen und essen. „Auf keinen Fall“, bestimme ich kurzerhand. „Ich hab gesagt, dass ich dich heute persönlich zu Hause absetze und das werde ich auch tun. Hast mir schon genug Probleme bereitet.“ Missmutig verzieht Chris die Lippen, erwidert allerdings nichts. Von Jamie bekomme ich allerdings einen Klaps gegen die Stirn. „Sei gefälligst nett.“ „Ich bin nett!“ „Garstiger Gnom!“, zischt Jamie, erhebt sich von meinem Schoß und räumt seine Tasse weg. Dann verschwindet er aus der Küche. Ich seufze lediglich und schüttle den Kopf über meinen kleinen, schnell eingeschnappten Bruder. Ich frühstücke in Ruhe zu Ende, erhebe mich und räume den Tisch ab, während Chris noch immer schweigend dasitzt und seine nun leere Tasse festhält. Wie schon zweimal zuvor fällt mir sein hübsches Profil auf. Seine Wangen wirken weich, beinahe noch kindlich, während sein Kinn einen sehr markanten Zug aufweist. Das Haar ist unregelmäßig geschnitten, was zur selben Zeit merkwürdig und anziehend wirkt. Die Nase passt genau zwischen die braunen Augen, deren Wimpern beinahe feminin wirken, so lang wie sie sind. „Ist die Kamera wichtig?“, frage ich leiser als beabsichtigt. „Ich arbeite mit ihr. Ich bin Fotograf.“ Überrascht hebe ich eine Augenbraue. Chris wendet sich mir zu, lächelt sanft und reicht mir seine Tasse, die ich ihm ohne jeden Kommentar abnehme und wegräume. Ich lehne mich an den Küchentresen und denke noch einmal über eine mögliche Rückerstattung nach. Wenn er damit arbeitet, dann ist es beinahe unabdingbar ihm die Kamera zu ersetzen. „Ihr seid ja immer noch hier!“, stürzt Jamie wieder in die Küche. Er hat Jacke, Schuhe und Handschuhe angezogen und seine Tasche in der Hand. Ich bringe ihn jeden Tag zur Schule, scheinbar hat er auf mich gewartet. Ich wuschle ihm kurz durch die Haare, gehe ins Schlafzimmer und ziehe mich richtig an. Chris folgt mir und wir schweigen wieder. Normalerweise macht mir eine solche Situation nichts aus – immerhin bin ich mit dem faststummen Erich befreundet -, aber irgendetwas an Chris macht mich nervös. Etwas fluchtartig verlasse ich den Raum, stoße fast mit Jamie zusammen, als ich den Flur hechte und dort nach meiner Jacke greife. „Ist was?“ „Nein, alles klar.“ Chris kommt uns nach, lächelt sanft, als Jamie ihm seine Kamera in die Hand drückt und er sie zärtlich streichelt. Er ist scheinbar jemand, der in seinem Beruf aufgeht. Der Weg zum Park dauert fast eine halbe Stunde zu Fuß und da Jamie Unterricht hat, liefere ich ihn in der Schule ab, verabrede mit ihm wie es morgen nach meiner Arbeit laufen wird und mache mich mit Chris im Schlepptau erneut auf den Weg. Wieder einmal redet keiner von uns ein Wort. Mit einem Mal höre ich ein Klicken neben mir, wende den Kopf und starre geradewegs in eine Kameralinse. Und noch einmal ein Klicken. Brummend packe ich Chris am Arm, ziehe ihn nahe zu mir, funkle ihn böse an. „Was soll denn der Scheiß?“, frage ich missmutig. „Du bist wunderschön.“ Meine Kinnlade klappt nach unten. Der veralbert mich doch. Ich komme mir wie ein Fisch auf dem Trockenen vor - und er erklärt mir gerade herzallerliebst, ich solle doch einfach atmen lernen. „Sag mal hakt’s bei dir, oder was?“, entrüste ich mich, greife seinen Arm fester. „Das tut weh!“, beschwert er sich auch gleich darauf. Als ob mich das jucken würde. „Ist mir doch egal! Du hast einen Vogel echt! Ich bin froh, wenn ich dich nachher los bin!“, gifte ich ihn weiter an, zerre ihn unsanft über die Wiese, schleife ihn regelrecht hinter mir den Abhang herunter und zu dem Gebüsch wo ich ihn das erste Mal gesehen habe. Ich verfluche diese Begegnung jetzt schon. „Sieh selbst nach deinem Scheiß“, grummle ich patzig, krame nach meiner Zigarettenschachtel, während Chris sich auf alle Viere begibt und sich durch das Gebüsch schlängelt. Dornen reißen ihm die Haut auf, doch er gibt keinen Laut von sich. „Wo ist sie nur?“, höre ich ihn murmeln, aber weder ich, noch seine verlorene Tasche antworten ihm. Ist vermutlich uns beiden zu doof. Ich an der Stelle der Tasche würde auch nicht zu so Einem zurückkommen wollen. „Entweder hat sie ein Penner mitgenommen oder sie ist vom Reinigungsdienst in den Müll geworfen und abtransportiert worden“, sage ich leichthin, doch er reagiert nicht darauf. Stattdessen pflügt er sich weiter durch das Gestrüpp. Mit einem lauten Seufzen trete ich zu ihm, packe ihn und ziehe ihn wieder auf die Beine. Ich betrachte seine zerschrammten Arme und Hände. Als ich auch einen provisorischen Blick auf sein Gesicht wage, kann ich nicht anders als ihm einen Klaps gegen die Stirn zu geben. „Ey, was soll das?“, mokiert er sich, doch ich deute nur an ihm vorbei. „Echt raffiniert, wirklich“, meine ich, trete an ihm vorbei, strecke mich und angle mir schließlich eine schwarze Tasche aus dem Geäst eines nahe stehenden Baumes. „Ist sie das?“ „Ja!“, ruft Chris freudig aus, reißt die Tasche an sich, kontrolliert ihren Inhalt und wir beide sind mehr als nur erleichtert, als wir seine Kamera unversehrt vorfinden. Mit routinierten Handgriffen schaltet er das Display ein, geht die gemachten Bilder nach Fehlern durch. „Was macht die Tasche denn auf einem Baum?“, frage ich ihn, schaue dabei über seine Schulter und sehe eine Reihe von belanglosen Bildern. Die hat er alle auf der Straße gemacht. Irgendwelche Passanten, mehr ist nicht drauf. Dann wechselt die Szene und man kann den Park aus verschiedenen Blickwinkeln sehen. „Da habe ich sie aufgehängt, damit ich sie nicht bei dem Trubel verliere.“ „Hat ja funktioniert. Warte mal!“ Er stoppt bei einem Foto, reicht mir seine Kamera und neugierig betrachte ich das Bild. Ich sehe mich selbst. Scheinbar hat Chris mich von hier unten fotografiert, die Froschperspektive deutet darauf hin. Hinter mir kann man den Mond sehen, dessen Hof verwischt leuchtet. Meine Hände habe ich in meinen Hosentaschen vergraben und irgendwie wirke ich nachdenklich. Vergeblich versuche ich mich an diese Szene zu erinnern. „Wie hast du das gemacht?“, frage ich nach. „Das war vor der Party. Ich saß hier unten und wollte eigentlich den Mond ablichten, aber dann standest du auf einmal im Bild“, murmelt Chris leise, so als ob es ihm peinlich wäre. Jetzt erinnere ich mich aber auch wieder. Ich bin vor all den anderen angekommen und wollte den Platz reservieren. Allerdings fällt mir nicht mehr ein ob ich tatsächlich über etwas nachgedacht habe. Ich schalte durch die nächsten Bilder, die abwechselnd Oliver und seine Freunde oder meinen eigenen Trupp zeigen. Manchmal sind auch Einzelaufnahmen von Personen drauf. Das letzte Bild zeigt Oliver, wie er mit einer hässlichen Grimasse in einen Burger beißen will. Danach kommt eine verschwommene Aufnahme. „Das war dann wohl dein Absturz“, grinse ich Chris an, der rot anläuft und sich wegdreht. „Was machst du mit den Bildern?“, händige ich ihm die Kamera wieder aus, die er vorsichtig in seiner Tasche verstaut. „Ein paar werde ich wohl entwickeln, die anderen lösche ich wieder.“ „Hm.“ Mehr sage ich dazu nicht. Jetzt wird es allerhöchste Eisenbahn den Kerl nach Hause zu bringen. Gemeinsam schlendern wir durch die Straßen. Ich habe jetzt keine besondere Eile mehr, da ich weiß, dass ich Chris gleich abliefern kann. Wir verlassen das Viertel in dem ich wohne, durchqueren die Fußgängerzone und kommen so am anderen Ende der Stadt raus. Oder zumindest fast. Zu Fuß braucht man für diesen Weg etwas mehr als eine halbe Stunde. Allerdings ist es schon ein Unterschied, denn hier beginnt beinahe schlagartig das vornehme Viertel. Schicke Reihenhäuser und neue Bauten. Bei uns ist alles schon etwas älter und heruntergekommener. Man sieht die Spuren der Weltkriege in meinem Viertel. Die Stadt hatte in der Vergangenheit Projekte zur Erneuerung, aber die Bürger haben sich erfolgreich gewehrt. Für viele ältere Menschen befindet sich in diesem Ortsteil ihr ganzes Leben. Sie wollen es nicht anders. „Welche Straße?“ „Heinrich-Heine-Allee“, murmelt Chris, seine Augen versteckt er unter seinem unregelmäßigen Haarschnitt. Er hat absolut kein Rückrad. Bei einem Schaufenster bleibe ich stehen und betrachte mir die Einlagen genauer. Nach eingehender Betrachtung, betrete ich den Laden und lasse den verdutzten Chris unschlüssig stehen. Ich grüße die Verkäuferin, dann schlängele ich mich durch die Regale und greife mir nach kurzer Zeit zwei Computerspiele raus. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Spiele die Zwillinge haben wollten, aber ich bin mir fast sicher, dass es diese waren. Da ich allerdings nichts von Falschkäufen halte, zücke ich kurz entschlossen mein Handy und rufe bei Familie Vogel an. Marianne meldet sich und ich spreche mit ihr über die Spiele. Sie bestätigt meine Vermutung und legt mir nahe, die Spiele da sein zu lassen wo sie sind. Ich widerspreche ihr lachend, verabschiede mich und gehe mit meiner Eroberung zur Kasse. Schnell sind die Sachen bezahlt und eingetütet. Chris sieht mich mit großen Hundeaugen an. „Was ist?“, blaffe ich unfreundlich, doch er hebt nur die Schultern und setzt den Weg fort. Ich trete neben ihn, schiebe die Tüte von meiner linken in meine rechte Hand, damit sie nicht störend zwischen uns hängt. Offenbar hat Chris das als Einladung verstanden, denn er hakt sich bei mir unter. Auf meinen grimmigen Blick erhalte ich nur ein strahlendes Lächeln. „Bei dir piept es ganz gewaltig“, murre ich, doch mein Begleiter lacht nur. Gemeinsam biegen wir in seine Straße ein und gehen diese fast bis zum Ende durch, bis Chris endlich anhält und auf eines der Häuser zeigt. Es ist eines dieser Reihenhäuser. Nichts Besonderes, auch nichts besonders Auffallendes. Hübsch ist es dennoch. „Dann auf! Geh klingeln!“, fordere ich ihn auf, aber Chris schüttelt nur den Kopf. „Ich will nicht“, meint er trotzig. „Wie alt bist du denn? Drei?“, schnauze ich, nehme die drei kleinen Stufen in einem Satz und klingele noch ehe Chris mich am Arm festhalten kann. Er wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu, den ich mit erhobener Augenbraue beantworte. Von drinnen höre ich Schritte, etwas poltert, dann gibt es ein Klicken im Schloss, die Türkette wird gelöst und endlich geht die Haustür auf und eine Frau mittleren Alters steht vor mir und sieht mich überrascht an. „Hi“, grüße ich knapp, schiebe Chris dann nach vorne. „Ihr Sohn.“ Beinahe sofort geht ein Ruck durch die Frau, sie stürzt vorwärts, reißt Chris in ihre Arme, drückt und küsst ihn, während sie immer wieder überschwängliche Ausrufe macht. „Ich hab mir Sorgen gemacht, Chris! Gott sei dank ist dir nichts passiert!“ „Mum, lass los!“, beschwert sich der Kleine, drückt seine Mutter von sich und richtet in einer störrischen Haltung seine Kleidung. Die eigentlich mir gehört. Verdammt. „Vielen Dank!“, wendet sich die Frau jetzt an mich. Ich werfe einen raschen Blick auf das Namensschild an der Klingel. Berger. „Nicht der rede Wert, Frau Berger.“ „Wollen Sie nicht reinkommen? Ich habe gerade Kaffee gemacht.“ „Vielen Dank, aber ich muss wieder weiter.“ Sie nickt verstehend, reicht mir aber eine Geschäftskarte mit dem Hinweis, dass ich mich jederzeit bei ihr melden soll, wann immer mir etwas einfallen sollte, wie sie mich doch noch entlohnen könne. Als sie ihren Sohn ins Haus ziehen will, wehrt dieser ab und bittet um einen Moment allein. Ich verdrehe die Augen und gehe auf Abstand zu ihm, den er allerdings mit zwei Schritten wieder überbrückt. Er steht direkt vor mir und sieht mich etwas verunsichert an. „Sehen wir uns noch mal wieder?“ „Nur wenn ich es nicht verhindern kann.“ „Das ist gemein!“, mault er. „Das ist ehrlich“, gebe ich zurück, klopfe ihm einmal auf die Schulter und wende mich zum gehen. Doch er packt mich am Arm, zieht mich zurück. Ich brumme ungehalten. „Was denn noch?“ „Ich hab’ deine Sachen“, grinst er. „Behalt’ sie.“ „Ich weiß wo du wohnst.“ Langsam wird es mir etwas ungemütlich. „Und du bist zu blöd um wieder dahin zu finden“, versuche ich ihn einzuschüchtern, doch dieses selbstsichere Grinsen verschwindet nicht, wird nur eine Spur fester. Irgendetwas ist mit der heutigen Jugend schief gelaufen. Der ist doch nicht normal! „Lass mich los.“ „Erst wenn du mir versprichst, dass wir uns wieder sehen.“ „Warum willst du das so unbedingt?“, frage ich ihn nun stark verwundert. Denn wer würde schon freiwillig jemanden treffen wollen, der alles in allem ein recht unfreundlicher Arsch ist? „Ich mag dich.“ Diese Antwort haut mich glatt um. Ich starre Chris einfach nur wortlos an. Sowas passiert mir ja nicht alle Tage und gerade ist meine ganze Schlagfertigkeit ins Nirgendwo entschwunden. Ich versuche mich gegen die Vorstellung zu wehren, dass ich in nächster Zeit wieder mit dem Knirps zu tun haben werde, aber auf der anderen Seite reizt es mich unheimlich, mehr über den Jungen herauszufinden. So jemand wie Chris ist mir wahrhaftig noch nie begegnet. „Chris…“, spreche ich leise, räuspere mich und muss einmal tief durchatmen, bevor ich es wieder wage etwas zu sagen. Doch im ersten Moment, strecke ich nur meine Hand nach ihm aus, greife in seinen Nacken und ziehe ihn näher zu mir. Seine Augen funkeln erwartungsfroh und im Sonnenlicht wirken sie fast golden. „Mach doch was du willst“, brumme ich schließlich, wende mich von Chris ab und marschiere geradewegs nach Hause. Aus dem Augenwinkel heraus bemerke ich Frau Berger hinter einem der Vorhänge. Ihr Blick hat etwas Ablehnendes. --- Puh, Rapahel ist weich geworden, oder? - Und Chris? Er erinnert mich an SpongeBob. Ô.Ô Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)