Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Prolog: Nur ein Augenblick -------------------------- Wenn du aufhörst, es zu suchen, findest du das Glück. (Johann Wolfgang von Goethe) Ich glaubte förmlich zu spüren wie der Muskelkater sich auf den morgigen Tag freute, an dem er mich mit aller Macht überfallen könnte. Wenigstens sah also einer von uns dem nächsten Tag entgegen. Männer in edel aussehenden Geschäftsanzügen gingen an mir vorbei, warfen mir mitleidige und teilweise auch spöttische Blicke zu. Keiner kam auf die Idee, mir zu helfen, nein natürlich nicht, Gott bewahre, da könnten sie sich ja den Anzug schmutzig machen. Oder – oh nein – das Mädchen, also ich, transportierte vielleicht kiloweise Drogen durch die Stadt – morgens um halb acht, als ob ich nichts Besseres zu tun hätte. Eitle Lackaffen! Ich würde den Koffer auch ohne deren Hilfe den Berg hochkriegen und wenn es den ganzen Morgen dauern würde! Auch wenn ich rein theoretisch nicht mehr so viel Zeit hatte, mein Termin war immerhin um acht Uhr. Zum Glück dauerte es nicht mehr lange und machten meine Arme noch mit, so dass ich schließlich mit meinem Koffer wieder auf ebenem Grund stand. Und da sage noch einmal jemand, dass man leichter reisen würde, wenn der Koffer Räder hat. Bei meinem sah ich davon nämlich nichts – er rollte immer nur fröhlich nach unten. Sehr unvorteilhaft, wenn ich doch nach oben wollte. Aber vielleicht sah mein Koffer das auch als Metapher für mein Leben; stetig geht es abwärts. Wenigstens passierte ich endlich das hässliche graue Gebäude, dessen Schild stolz Tagesklinik in geschwungener Schrift verkündete. Und mit den Besuchern eben dieser machte ich auch gleich Bekanntschaft, da sie neugierig aus dem Fenster sahen. Als ob sie das erste Mal einen Menschen mit einem Koffer sehen würden, echt mal. Ich verzichtete darauf, ihnen eine eindeutige Geste zuzuwerfen und lief weiter. Hektische Beschäftigkeit herrschte auf dem Gelände, das ich betrat. Autos fuhren umher und hupten wie verrückt, sobald ich der Straße auch nur annähernd zu nahe kam, in weiß gekleidete Angestellte huschten quer über die Straße und das Parkgelände, um schneller an ihr Ziel zu kommen. Ich hasste diese Hektik und war mir da bereits sicher, dass ich hier absolut fehl am Platz war. Aber ein Zurück gab es nun auch nicht mehr, das hier war meine letzte Chance, wenn ich nicht unter der Brücke schlafen wollte. Vor einem hässlichen eidottergelben Gebäude blieb ich erneut stehen, um eine Sportgruppe vorbeizulassen. Bäh, wie konnte man so früh am Morgen nur Sport treiben? Mir reichte schon das Koffer ziehen. Vor der gläsernen Tür, durch die ich auch gehen wollte, blieb die Gruppe wieder stehen. Genervt von der Unterbrechung, ließ ich meinen Blick über die Anwesenden schweifen, um etwas zu finden, worüber ich mich gedanklich mokieren konnte – als ich plötzlich das Gefühl hatte, mein Herz würde für einen Moment aussetzen. In der hinteren Reihe stand ein Junge, ungefähr in meinem Alter, die Hände in die lange Sporthose vergraben, ein leicht spöttisches Lächeln auf dem Gesicht. Die blauen Augen schienen von innen heraus zu leuchten. Aber das wirklich Auffallendste an ihm waren seine Haare. Noch nie zuvor hatte ich Haar gesehen, dass so silbern glänzte. In seinem Nacken war es zusammengebunden, aber es fiel ihm glatt bis an die Hüfte. Für einen Moment vergaß ich bei diesem Anblick Luft zu holen, doch es wurde mir schon nach dem Bruchteil einer Sekunde wieder bewusst, so dass ich wieder einatmete. Mein atemloses Staunen schien er zwar mitbekommen zu haben, doch er reagierte nicht darauf – was ich ihm hoch anrechnete. Ich musste unbedingt wissen, wer er war. Doch gerade als ich meinen Mut zusammentrommelte, um ihn nach seinem Namen zu fragen, setzte die Gruppe sich wieder in Bewegung. Schweigend sah ich zu wie sie alle gehorsam in das Gebäude trabten. Erst als die Tür hinter dem Letzten wieder zufiel, kehrte das Leben in meinen Körper zurück. Hastig lief ich ebenfalls weiter und stolperte einen Moment rückwärts, als mein Koffer mich mit seinem ganzen Gewicht daran erinnerte, dass er auch noch an meiner Hand hing. Langsam und mühselig ging es bei mir also weiter. Bis ich die drei Stufen vor der Tür überwunden hatte, war die Gruppe im Inneren längst verschwunden. Aber das war nicht das, was noch weiter an meinen Nerven fraß – sondern die Erkenntnis, dass ich den Koffer auch noch in den ersten Stock hochtragen musste, denn ein Aufzug war weit und breit nicht zu sehen. Während ich die Treppe erklomm, verfluchte ich denjenigen, der dieses Gebäude geplant und denjenigen, der es schließlich gebaut hatte. War ein Aufzug wirklich zuviel verlangt gewesen? Eine Rolltreppe hätte es auch getan. Oben angekommen wurde ich noch vor einer weiteren Glastür begrüßt. Neugierig sah ich hindurch, aber auf dem Flur dahinter herrschte gähnende Leere. Wo waren alle nur? Ich öffnete die Tür und ging hindurch, nur um von einer gespenstischen Stille empfangen zu werden. Ein Willkommenskomitee war also auch zuviel verlangt wie es aussah. Ich widerstand der Versuchung, laut nach jemandem zu rufen, denn ein Schild verriet mir bereits, dass mein Ziel sich nur wenige Meter links von mir befand. Eine sichtbar gelangweilte Krankenschwester befand sich in dem Raum und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Fast schon tat es mir Leid, sie stören zu müssen – aber nur fast. Laut und bestimmt klopfte ich gegen den Türrahmen, da die Tür selbst weit offenstand. Die Krankenschwester zuckte zusammen und wandte mir ihren Blick zu. Die goldbraunen Augen erinnerten mich automatisch an Honig – und daran, dass ich den ganzen Morgen nicht gefrühstückt hatte. „Wie kann ich dir helfen, Liebes?“, fragte sie mit einer zuckersüßen Stimme, die mich nicht nur an ihrem Alter, sondern auch an ihrem Beruf zweifeln ließen. Von ihrer Oberweite wollte ich gar nicht erst anfangen. „Das ist doch die offene Station der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, oder?“, hakte ich noch einmal vorsichtshalber nach. Sie nickte schmunzelnd und wiederholte ihre Frage. Die folgenden Worte erforderten einiges an Überwindung von mir, aber nun war ich so weit gekommen, da würde ich keinen Rückzieher machen: „Ich bin Leana Vartanian – und ich habe hier einen Termin um 8 Uhr für die stationäre Aufnahme.“ Kapitel 1: Aufnahme ------------------- Hätte ich gewusst, dass ich ohnehin noch ins Hauptgebäude muss, um die Papiere auszufüllen, hätte ich das vorher gemacht. Aber wenigstens war mir erlaubt worden, den Koffer auf der Station zu lassen und ohne diesen quer über das Gelände zum Hauptgebäude und dort in den ersten Stock zu laufen – direkt an der noch geschlossenen Caféteria vorbei, die meinen Magen knurren ließ. Dass mein Koffer nicht bei mir war, war auch das einzige, was mich noch im Krankenhaus hielt – na ja, das und die Aussicht, dass meine Eltern mich rauswerfen würden, wenn ich diese Therapie vorzeitig abbrechen sollte. Laut der Uhr an der Wand hatte ich gerade einmal zehn Minuten für das Ausfüllen der Papiere gebraucht und wartete nun seit drei Minuten darauf, aufgerufen zu werden – gefühlt waren es allerdings volle drei Stunden. Warum dauerte das überhaupt so lange? Außer mir saß nur noch ein anderer Mann hier rum. Unwillkürlich stellte ich mir die Frage, was er wohl hier tat. Er schien nicht verletzt, aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er auf derselben Station wie ich sein würde – besonders weil er sein Gepäck noch bei sich trug. Als er zu mir herüber sah, wandte ich den Blick hastig ab und sah wieder zu der Tür, zu der wir gerufen werden sollten – wenn der Betrieb denn mal losgehen würde. Meine Gedanken schweiften wieder zu dem Jungen von vorhin ab. Ob er wohl ebenfalls auf meiner Station war? Tief in meinem Inneren hoffte ich es. Selbst wenn ich ihn vielleicht doch nie ansprechen würde, so wollte ich dieses Haar und diese Augen unbedingt noch einmal sehen, am liebsten jeden Tag. Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich es gar nicht mitbekam, als ich aufgerufen wurde. Der Mann von vorhin gab mir allerdings ein Handzeichen, was mich wieder in die Wirklichkeit holte. Dankbar nickte ich ihm zu, als ich mit meinen Papieren in den kleinen Raum rauschte. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch ging die dürre Bürokraft fast unter. Sie lächelte zwar, als sie mich zum Hinsitzen aufforderte, aber der leicht genervte Unterton in ihrer Stimme entging mir nicht. Vermutlich hasste sie diesen Raum abgrundtief. Klasse, damit waren wir schon zu zweit. Murmelnd überflog sie meine Angaben, bis sie bei einer Stelle innehielt. Über den Rand ihrer geschmacklosen Brille, die nicht mal mehr in den 90ern in gewesen war, sah sie mich forschend an. „Ist das Ihre Telefonnummer?“ Ich bestätigte ihr, dass es die Nummer meines Handys war. Immerhin war ich 18, damit volljährig, warum sollte ich also noch jemanden angeben? Sie schnalzte mit der Zunge. „Wir brauchen dann noch die Nummer der nächsten Person, die wir im Ernstfall benachrichtigen sollen.“ Ernstfall!? Es fehlte nicht mehr viel und ich hätte ihr ins Gesicht gespuckt. Hallo! Ich wollte mich keiner OP unterziehen, sondern nur ein paar Wochen in einer psychotherapeutischen Einrichtung verbringen. Was sollte da für ein Ernstfall eintreten? Bestand etwa die Gefahr, dass ich vor Langeweile eingehen würde? Da ich schwieg und sie nur böse anstarrte, ergriff sie wieder das Wort: „Gibt es denn jemanden?“ Ich war versucht, die Frage zu verneinen, nannte ihr schließlich aber doch Name, Adresse und Telefonnummer meiner Eltern. Auch wenn diese ohnehin nur schmunzeln würden, falls ein Ernstfall eintreten sollte. Mit einer Unterschrift besiegelte ich die Aufnahme. Nach einer knappen Verabschiedung rauschte ich wieder davon, um zumindest dieses Gebäude schnell hinter mir zu lassen. Die inzwischen geöffnete Caféteria ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen – allerdings hatte die Schwester vorhin eine Blutabnahme angekündigt und für die sollte ich lieber einen nüchternen Magen haben. Während ich durch die Parkanlage zurück lief, spürte ich Blicke auf mir. Neugierig hob ich den Kopf und entdeckte einen Balkon, der zu meiner Station gehören musste. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag setzte mein Herz für einen Moment aus. Der Junge von vorhin stand dort und sah auf mich hinunter. Er tat nichts, sein Gesicht zeigte keinerlei Emotion, er sah einfach nur auf mich runter und ich erwiderte den Blick. Seine Augen schienen sich direkt in meine zu bohren und ließen mich die Zeit vergessen. Nach wenigen Minuten, die sich wie Sekunden angefühlt hatten, wandte er sich schließlich ab und ging davon. Es fiel mir schwer, die aufkeimende Enttäuschung zu verbergen. Aber immerhin wusste ich jetzt, dass er wirklich auf meiner Station war. Auf dem Weg nach oben nahm ich zwei Stufen auf einmal, doch als ich vor der Glastür stand, war der Flur wieder völlig verwaist. Wäre auch zu schön gewesen. Ich stieß ein Seufzen aus und öffnete die Tür. Die Schwester von vorhin hatte inzwischen die Beine übereinander geschlagen und spielte mit einem Kugelschreiber. Wofür wurde die eigentlich bezahlt? Oder war sie vielleicht nur die Quotenschlampe? Als sie mich bemerkte, lächelte sie mich wieder an. „Na, alles erledigt?“ „Ja, endlich.“ Sie lachte. „Na komm, so lange hat das auch nicht gedauert.“ Elegant erhob sie sich von ihrem Stuhl und kam auf mich zu. „Ich bin übrigens Jatzieta Cooney, eine der Schwestern auf dieser Station.“ Ich nickte wortlos, meinen Namen kannte sie immerhin bereits. Gedanklich wunderte ich mich aber durchaus über den ihren. Jatzieta... so was hatte ich noch nie gehört. Es klang nicht einmal wie ein richtiges Wort. „Dann kommen wir nun zum unangenehmen Teil“, kündigte sie fröhlich an. Der sollte erst jetzt kommen? Ich ächzte innerlich, nickte dann aber. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich gemeinsam mit Jatzieta, die mir nicht nur Blut abnahm, sondern auch meine Größe und mein Gewicht notierte. Anschließend wurden mir die Regeln erklärt, denen ich eher gelangweilt lauschte. Kein Alkohol, keine Drogen, keine Besucher außerhalb der Besuchszeiten. Was kümmerte mich das? Ich hasste Alkohol, Drogen waren mir fremd und Besuch würde ich ohnehin nie welchen bekommen, immerhin kümmerte sich meine Familie nicht um mich – deswegen war ich ja hier. Und Freunde hatte ich auch keine, wer wollte schon mit einem Freak wie mir gesehen werden? Was mir sauer aufstieß war die Tatsache, dass ich die Mahlzeiten mit allen anderen einnehmen sollte. Auch zu Hause hatte ich immer allein gegessen, ich brauchte niemand, der mich nebenbei noch dumm von der Seite anglotzte. Aber andererseits... wenn dieser Junge auch dabei sein würde... dann würde ich wahrscheinlich gar nicht zum Essen kommen. Nachdem ich mein Essen für die ganze Woche ausgewählt hatte (der Essensplan gefiel mir durchaus, blieb nur zu hoffen, dass die Küche meiner Hoffnung gerecht wurde), wurde mir ein regulärer Stundenplan ausgehändigt. Im ersten Moment schluckte ich. Viele Zeiten waren dreifach besetzt, wie sollte ich gleichzeitig an allem teilnehmen? Doch schon im nächsten Moment griff Jatzieta nach einem Textmarker und markierte mir einige der Kurse, die, wie sie mir erklärte, für mich bestimmt wären. Lediglich am heutigen Tag würde ich noch meine Ruhe haben, um alles und die anderen Patienten kennen zu lernen. Die anderen Patienten... wo sie wohl gerade waren? Aber ein Blick auf den Plan verriet mir, dass sie alle höchstwahrscheinlich bei irgendwelchen Therapien und deswegen nicht zu sprechen waren. Wie lange würde es wohl dauern, bis ich dem Jungen begegnen würde? Jatzieta stand wieder von ihrem Stuhl auf und bedeutete mir, ihr zu folgen und mein Gepäck mitzunehmen. In kurzen, einstudierten Worten wies sie mir den Weg zur Toilette, zum Bad, zum Gemeinschaftsraum und zum Fernsehraum, bevor sie mich in ein Zimmer führte. Wenigstens wirkte der Raum nicht so sehr wie ein normales Krankenzimmer, nein, von der Einrichtung erinnerte er eher an eine Jugendherberge. Zwei einfache Holzbetten mit schneeweißem Bezug standen sich gegenüber an den Wänden. Neben den Betten standen Nachtschränkchen und an der Wand war ein Brett mit einer Nachtlampe befestigt. In der Nähe des Waschbeckens befanden sich zwei gleichfarbige Schränke, doch nur einer von beiden war offen. Jatzieta gab mir Bescheid, dass sie mein Schrank wäre und teilte mir dann auch mit, welches der beiden Betten mir gehören würde. Automatisch bedankte ich mich bei ihr. Sie lächelte nur, drückte mir den Schrankschlüssel in die Hand und verließ das Zimmer wieder. Gemächlich räumte ich meine Kleidung um. Lächelnd fuhr ich über das, was den Koffer so schwer gemacht hatte: Natürlich war ich nicht umhin gekommen, meine Lieblingsbücher für den Aufenthalt hier einzupacken. Eins nach dem anderen nahm ich sie in die Hände, blätterte durch sie hindurch, um den Geruch des Papiers und der Druckerschwärze in mich aufzunehmen. Schließlich ließ ich auch die Bücher im Schrank verschwinden und schloss diesen sorgfältig ab. Neugierig sah ich mich weiter um. Es fiel mir schwer zu glauben, dass im zweiten Bett jemand schlief, denn nicht nur das Bett selbst wirkte unberührt, auch das Schränkchen daneben und das Brett darüber wiesen auf keinen Besitzer hin. Seufzend ließ ich mich auf meinem Bett nieder. Hier würde ich also die nächsten Wochen verbringen, vielleicht sogar die nächsten Monate. Also konnte ich auch gleich anfangen, mich hier einzuleben. Ich zog die Schuhe aus und legte mich mit dem Gesicht zur Wand. Genüsslich kuschelte ich mich tiefer in das Kissen und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, bis die Erschöpfung mich schließlich übermannte und mich in einen traumlosen Schlaf fallen ließ – doch galt mein letzter Gedanke wieder dem silberhaarigen Jungen, dessen Namen ich noch nicht kannte. Kapitel 2: Schweigen -------------------- Als ich aufwachte, spürte ich wie meine Nackenhaare sich aufgerichtete hatten. Ein sicheres Zeichen dafür, dass mich jemand beobachtete. Aber wer sollte das tun? Vorsichtig drehte ich mich auf den Rücken und öffnete langsam die Augen. Erst verschwommen, aber schnell immer schärfer werdend, konnte ich ein Gesicht erkennen – das Gesicht eines Mädchens, das mich interessiert zu mustern schien. Für einen Moment betrachteten wir uns gegenseitig, bis - „Argh! Geh weg von mir, du Mutant!“ Mit einem heftigen Stoß warf ich das Mädchen zu Boden und setzte mich auf. Kein Laut entfuhr ihr, als sie auf dem Boden aufschlug. Ihre großen roten Augen füllten sich nur mit Tränen, ihr weißes Haar hing ihr ins Gesicht. Was zum Teufel war sie? Noch nie zuvor hatte ich einen solchen Menschen gesehen! Selbst als die Tränen über ihr Gesicht liefen sagte sie immer noch keinen Ton. Dafür überkam mich Mitleid. Sie sah so schwach und kindlich aus, ich hätte das nicht tun sollen. Vorsichtig kniete ich mich vor sie. „He, das tut mir Leid. Ich war nur ziemlich erschrocken. Ich wollte dir nicht wehtun und dich auch nicht beleidigen.“ Sie schniefte leise, war ansonsten aber immer noch still. Plötzlich ergriff sie meine Hand. „H-he! Was soll das? Was machst du da?“ Vorsichtig legte sie meine Hand auf ihren Kopf. Ich konnte nur mutmaßen, aber es sah aus als sollte ich ihr den Kopf tätscheln, möglicherweise um ihr zu zeigen, dass ich es nicht so gemeint hatte. Ihr Verhalten kam mir zwar seltsam vor, aber ich folgte ihrem Wunsch, was sie glücklich zu machen schien. Lächelnd wischte sie sich die Tränen weg, dann sah sie mich wieder an. „Wer... bist du?“ Sie hatte mir ihren Namen immer noch nicht gesagt und schien auch sonst nicht sonderlich gesprächig zu sein. Sogar auf meine Frage antwortete sie nicht, sondern angelte mit ihrer Hand nach einem Block und einem Stift auf ihrem Tisch. Hastig schlug sie den Block auf und schrieb etwas auf das Papier, bevor sie es mir hinhielt. Sogar einen solchen Namen hatte ich noch nie gehört. Baila Vays. „So heißt du?“, hakte ich vorsichtshalber nach. Sie nickte lächelnd. Irgendwie war sie ja richtig süß, so aus der Nähe betrachtet, wenngleich ziemlich ungewöhnlich. Andererseits hatte ich in meinem Leben schon viel Ungewöhnliches gesehen, da machte sie auch keinen Unterschied mehr. „Wohnst du in diesem Zimmer?“ Sie nickte noch einmal und zeigte auf mich. Ihre Gestik erinnerte mich an die eines kleinen Kindes – und warum sprach sie kein Wort? „Ich bin Leana Vartanian. Seit heute wohne ich auch hier.“ Ihre Augen leuchteten wieder, noch einmal gab sie mir zu verstehen, dass ich sie tätscheln sollte. Innerlich atmete ich erleichtert aus. Sicherlich hätte ich es um einiges schlimmer treffen können. Meine Zimmergenossin hätte zum Beispiel eine ständig heulende, selbstmordgefährdete Labertasche sein können oder eine nervige Emo-Zicke. Ein kleines schweigsames Mädchen, das offensichtlich nur gern gehabt werden möchte dagegen... das würde sicher richtig angenehm werden. „Bist du schon lange hier?“ Diesmal nickte sie, lächelte dabei aber traurig. Warum sie wohl hier war? Ihr trauriger Blick brachte mich automatisch dazu, ihr wieder den Kopf zu tätscheln. „Sei nicht traurig, Baila.“ Der Name rollte geschmeidig über meine Zunge. Bei Gelegenheit sollte ich jemanden fragen, woher dieser Name kam und was es mit dem Mädchen auf sich hatte. Ich stand auf und half Baila hoch. Sie legte eine Hand auf ihr Herz und deutete eine Verbeugung an; eine Geste, die wohl soviel wie „Danke“ bedeuten sollte. Das Mädchen brachte mich wirklich zum Lächeln. Wieder einmal ergriff sie meiner Hand und zog mich aus dem Zimmer. Geduldig folgte ich ihr. Baila führte mich in den Gruppenraum, der genau gegenüber der Tür zum Treppenhaus lag. Durch die verglaste Front hatte ich bereits einen Blick hineingeworfen, aber dies war das erste Mal, dass ich ihn wirklich betrat. Irgendein aktueller Chartbreaker plärrte aus dem Radio, das jemand eingeschalten hatte und dann wieder gegangen war. Neben einem großen Tisch, vielen Stühlen und Sesseln, so wie dem Zugang zu einem Balkon, entdeckte ich nur noch eine Dartscheibe. Erst Baila schaffte es, meinen Blick zu dem Gegenstand zu lenken, den sie mir offensichtlich zeigen wollte. In einem hell erleuchteten Aquarium schwammen unzählige bunte Fische. Fasziniert stand das Mädchen davor und betrachtete die Tiere, für die ich nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Es war nicht so, dass ich Tiere, insbesondere Fische, nicht leiden konnte, ich interessierte mich nur nicht sonderlich dafür. Dabei hatte ich mir als kleines Mädchen wie so viele andere auch, einen Hund gewünscht, ihn aber nie bekommen. Damals war ich darüber natürlich nicht sehr erfreut gewesen, aber inzwischen war mir das so ziemlich egal. Möglicherweise hatte auch diese Erfahrung – als eine von vielen – dazu beigetragen, dass ich mit meinen Eltern auf nicht sonderlich gutem Fuß stand. Lächelnd griff Baila nach einer Dose, die neben dem Aquarium stand und gab einen Teil des darin befindlichen Futters ins Wasser. Gierig versammelten die Fische sich um die Brocken und schnappten danach, bis wenige Sekunden später nichts mehr davon zu sehen war. Ich lächelte Baila zu, als sie mich begeistert ansah. Es musste schön sein, wenn man so einfach zu begeistern war. Als ich Stimmen hinter mir hörte, drehte ich mich um. Ein Junge, der älter als Baila, aber jünger als ich, zu sein schien, stand da und sah mich an. Sein Blick erinnerte mich an jemanden, der kurz davor war loszuweinen, aber es schien für ihn ein Normalzustand zu sein. Er musterte mich fragend, ich tat dasselbe bei ihm. Die braunen Haare und Augen bildeten einen Einklang, aber das rote Band, das er um seine Stirn geschlungen hatte, fand ich geradezu lächerlich. Vergnügt ging Baila auf ihn zu und umarmte ihn als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Lächelnd erwiderte er die Umarmung. „Ist das Besuch für dich, Baila?“ Seine Stimme klang männlicher als ich erwartet hatte. Ich übernahm die Antwort: „Nein, ich teile ab heute das Zimmer mit ihr.“ Plötzlich lächelte er auch mich an. „Das ist schön. Mein Name ist Subaru – und deiner?“ Ich nannte ihm meinen Namen, worauf er anscheinend glaubte, mir ein Kompliment machen zu müssen: „Das ist ein schöner Name.“ Statt mich zu bedanken – was ich ohnehin sinnlos fand, denn ich war bei meiner Namensgebung ja nicht gefragt worden – verschränkte ich die Arme vor der Brust. Er interpretierte die Geste zurecht als Ablehnung und wandte sich erneut Baila zu. „Hast du wieder die Fische gefüttert?“ Sie nickte heftig. Zumindest diesen Jungen mochte sie offensichtlich sehr. Ob er auch schon länger hier im Krankenhaus war? Die Frage nach dem schönen Silberhaarigen brannte mir auf der Zunge, aber ich schluckte sie runter. Subaru war mir nicht unysmpathisch – aber auch nicht sympathisch genug, dass ich ihn nach so etwas fragen würde. Subaru löste sich aus der Umarmung. „Ich habe jetzt Küchendienst, wir sehen uns später, ja?“ Baila nickte verstehend. Er lächelte mir auch noch einmal zu und ging wieder hinaus. Begeisternd lächelnd wandte sie sich mir zu. „Du magst ihn sehr, hm?“ Noch einmal nickte sie, diesmal so heftig, dass ihr Haar umherflog. Ich lachte leise – bis ich wieder Schritte hörte. Baila hielt ebenfalls inne und sah lächelnd auf den Gang. Anscheinend wusste sie bereits anhand der Schritte, wer denn da kommen würde. Ich wünschte, sie hätte mich vorgewarnt. Die Schritte kamen näher, allerdings stand ich in einem so ungünstigen Winkel, dass ich nicht sehen konnte, wer da auf den Raum zukam. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören und war sicher, dass auch Baila diesen mitbekam. Doch wenn sie das tat, verbarg sie es gut. Früher hatte ich mich immer über die Filme und Bücher – und nicht zuletzt Manga und Comic – lustig gemacht, in denen eine einzelne Begegnung so intensiv beschrieben wurde. Aber in dem Moment, in dem er durch die Tür kam, wusste ich, wie unrecht ich all diesen Autoren bislang getan hatte. Nicht nur, dass zum hoffentlich letzten Mal an diesem Tag mein Herz wieder aussetzte, nein, diesmal blieb mir auch noch die Luft weg. Sein Blick ging von Baila zu mir, sein Lächeln sorgte dafür, dass jegliches Gefühl aus meinen Beinen verschwand. Schließlich öffnete er seinen Mund und sagte mit einer überirdisch melodischen Stimme nur ein Wort: „Hallo.“ Kapitel 3: Einmal im Leben -------------------------- Ein stechender Schmerz breitete sich in meinem Rücken aus, als ich endlich wieder zu mir kam. Jemand neben mir schien meinen Puls zu fühlen, aber da ich meine Augen geschlossen hielt, war ich mir da nicht so sicher. Möglicherweise war das alles nur ein Traum gewesen, eine Komafantasie, während ich weggetreten war und es gab diesen überirdischen Jungen gar nicht. Allein die Vorstellung sorgte dafür, dass sich alles in mir zusammenzog. Es musste ihn einfach geben! „Er hatte schon immer eine umwerfende Wirkung auf Mädchen“, bemerkte eine mir unbekannte Stimme trocken. Ich knurrte als Erwiderung. „Ich bin kein Mädchen.“ Jatzieta lachte. „Scheint, dass Madam wieder wach ist.“ Als ich meine Augen aufschlug, entdeckte ich, dass sie es war, die meinen Puls erfühlte. Baila saß schockiert auf meiner anderen Seite. „W-was ist passiert?“, fragte ich irritiert. „Warum liege ich auf dem Boden?“ Die Krankenschwester lachte noch einmal. „Unser Everybody's Darling hat dich angesprochen und dann bist du umgekippt. Ich glaube, das Blut abnehmen ist dir nicht bekommen, meine Liebe.“ Ich verzichtete darauf, ihr zu sagen, dass sie aufhören sollte, mich so zu nennen, aber auch nur weil etwas anderes mich so sehr ablenkte. „Everybody's Darling?“, fragte ich verwirrt. Die Stimme von vorhin zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich: „Ja, der Silberhaarige, den du schon den ganzen Morgen anstarrst.“ Auf dem Sessel saß ein braunhaariger Junge, seine blauen Augen wirkten müde und desinteressiert am Geschehen. Unter anderen Umständen hätte ich ihn bestimmt angefaucht, aber Sterne begannen vor meinen Augen zu tanzen, wenn ich mich aufregen wollte. Also eben anders. „Wer bist du, dass du so mit mir reden kannst?“ Er blieb völlig unbeeindruckt. „Nozomu Setoki. Weißt du, wie unhöflich es ist, andere anzustarren?“ „Er hat mich auch angestarrt!“, ereiferte ich mich. Was erlaubte der Kerl sich eigentlich? Stellte der mich grad als Stalkerin dar? „Bitte, streitet euch doch nicht.“ Subaru, der in der Tür stand, hob bittend die Hände. „Streit führt doch zu nichts.“ Ich unterdrückte ein Seufzen. Auch noch ein Samariter. Genau die Sorte Mensch, die mir am meisten auf die Nerven gingen... neben Emos und Zicken und meiner Familie. „So viel Aufregung an einem Tag“, seufzte Jatzieta. Blöde Kuh. Wenn sie ihre Ruhe haben wollte, hätte sie halt nicht Krankenschwester werden sollen. „Glaubst du, du kannst wieder aufstehen?“ Eigentlich nicht, aber ich wollte auch nicht den ganzen Tag auf diesem Boden liegen bleiben. Ich nickte, worauf Jatzieta mir nach oben half. Da ich immer noch wackelig auf den Beinen war, brachte sie mich nur zum nächsten Sessel – direkt neben dem von Nozomu. Leicht gereizt erwiderte ich seinen Blick. Warum sah der Kerl mich nur dauernd an? „Was ist?“, blaffte ich schließlich. „Gar nichts“, erwiderte er. „Ich hab mich nur gefragt, weswegen du hier bist. Aber ich glaube, ich weiß es schon.“ Diesmal waren mir die Sterne vor meinen Augen egal, als die Wut wieder in mir hochkochte. „Was weißt du schon!? Was denkst du denn, hä!?“ Er blieb nach wie vor unbeeindruckt. „Du hast ein Aggressionsproblem, nicht?“ Wenn mir in dem Moment nicht wieder schwindelig geworden wäre, hätte ich ihm eine reingehauen. „Ich habe kein Aggressionsproblem!“ „Wirklich nicht?“, fragte er deutlich überrascht. „Warum bist du dann hier?“ „Was geht dich das eigentlich an!?“ Seufzend schüttelte Jatzieta ihren Kopf. „Nozomu, lass sie in Ruhe. Ihr Blutzucker ist grad ziemlich niedrig. Warte doch bis nach dem Mittagessen, wenn du dich unbedingt mit ihr streiten willst.“ Darauf konnte ich wirklich verzichten. Grummelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah wieder stur nach vorne – als plötzlich ein Schokoriegel direkt vor meinem Gesicht auftauchte. Verwirrt blinzelnd folgte ich dem Arm, der mir die Süßigkeit anbot. Als ich bei seinem Gesicht ankam, spürte ich, wie ich schlagartig rot wurde. Ich hätte mich dafür ohrfeigen können. Der Silberhaarige lächelte mich an. „Hier. Du solltest was Süßes essen, dann geht es dir besser.“ Mein Widerstand schmolz bei dieser Stimme schneller dahin als Schnee in der Sonne. Mit einem gemurmelten Dank nahm ich ihm den Riegel aus der Hand und begann zu essen – obwohl ich Süßigkeiten normalerweise verabscheute. „Awww, Zetsu, du bist immer so umsichtig“, säuselte Jatzieta. „Du wärst bestimmt einmal ein guter Krankenpfleger.“ „Vielleicht“, antwortete er abweisend. Ooooh, selbst wenn seine Stimme einen so kühlen Unterton hatte, klang sie noch wundervoll. Er konnte einfach nicht von dieser Welt sein, wie sollte ein menschliches Wesen nur so- Ich stoppte mich in meinen Gedanken. Was zum Teufel dachte ich da eigentlich? Mutierte ich gerade wirklich zu Bella Swan? Bäh, ekelhaft! Wenn dieser Junge jetzt auch noch zu glitzern anfangen würde, würde ich mich vom Balkon werfen. Er beugte sich zu mir runter, so dass sein Gesicht gleichauf mit meinem war. „Geht es dir schon besser?“ Unfähig etwas zu sagen oder seinen Blick auch nur zu erwidern, nickte ich nur. Er lächelte erleichtert. „Ich bin übrigens Zetsu Akatsuki. Und dein Name?“ „Leana Vartanian“, antwortete ich leise und mühevoll. Wenn nur die anderen nicht auch noch anwesend wären und mich so anstarren würden... Jatzieta schien meine Gedanken aufzufangen, denn sie seufzte plötzlich. „Ich mach mich dann mal wieder an die Arbeit.“ Oh, ein Wunder, sie hatte tatsächlich etwas zu tun. Subaru nickte. „Ich auch. Hilfst du mir, Baila?“ Das Mädchen nickte zustimmend. Zu dritt verließen sie den Raum. Blieb nur noch Nozomu, der ein Störfaktor war. Doch ein Blick von Zetsu genügte, um diesen ebenfalls zum Gehen zu überreden. Der Silberhaarige setzte sich auf den frei gewordenen Sessel. „Neu hier, hm?“ „Wie man sieht...“ Normalerweise hätte es auf so eine bescheuerte Frage auch eine bescheuerte Antwort von mir gegeben, aber bei ihm konnte ich das irgendwie nicht. Er war einfach... anders. Hoffentlich würde er wirklich nicht mit Glitzern und Blut saugen anfangen. Bei meinem Glück war er aber vielleicht auch nur ein Alien. „Weswegen bist du hier?“, fragte er weiter. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, niemandem hier, außer den Ärzten, zu erzählen, wie ich hier gelandet war, aber bei ihm konnte ich einfach nicht anders. Ich berichtete ihm von der Zeit, als meine Depressionen angefangen hatten, von den vielen verschiedenen Anti-Depressiva, den unnützen Therapien, meinen verständnislosen Eltern und dem Nervenzusammenbruch, der mich schließlich ins Krankenhaus geführt hatte – als Alternative zum „Du kannst bald unter der Brücke schlafen“ meiner Eltern. Besonders an den Zusammenbruch erinnerte ich mich noch gut. Immerhin war er mitten in einem großen Supermarkt gewesen und ich war nicht gerade leise dabei vorgegangen, sehr zum Verdruss meiner Mutter, die dabei fast verzweifelt war. Zetsu nickte immer wieder und zum ersten Mal seit dem Beginn meiner Therapie hatte ich das Gefühl, dass wirklich jemand verstand, was in mir vorging. „Das klingt alles furchtbar“, urteilte er schließlich mitfühlend. Aber vor allem stellte er nicht die Frage, die mich bei allen Therapeuten und auch bei meinen Eltern so aufgeregt hatte: Warum hast du überhaupt Depressionen bekommen? Ich weiß nicht, weswegen ich diese Frage so sehr hasste. Vielleicht, weil ich keine eindeutige Antwort darauf besaß? Weil ich den Grund heute selbst nicht mehr so genau kannte? Ich schüttelte die Gedanken ab. „Und weswegen bist du hier?“ Er lächelte wieder sanft, seine Augen schienen dabei von innen heraus zu leuchten, was mein Herz wieder zum Flattern brachte. „Oh, weißt du... ich bin einfach nur ein wenig depressiv.“ „So wirkst du aber gar nicht“, rutschte es mir heraus. Er lachte. „Ich weiß, das sagen mir viele.“ Wie konnte man in eine psychotherapeutische Klinik kommen, wenn man nur ein wenig depressiv war? Ich hatte das Gefühl, dass er etwas vor mir verbarg. Aber das war auch logisch. Nicht jeder war so dumm wie ich und erzählte einem Wildfremden gleich seine ganze Lebensgeschichte. Obwohl ich das bei ihm auch nur wegen seiner unglaublichen Wirkung auf mich getan hatte. Ich wirkte garantiert nicht so sehr auf ihn, wie er auf mich. „Hast du dir die Station schon angesehen?“, fragte er plötzlich. Aus meinen Gedanken aufgeschreckt sah ich ihn für einen Moment nur fragend an. Als die Worte schließlich in mein Bewusstsein sickerten, schüttelte ich mit dem Kopf. „Nein, nicht wirklich.“ „Wenn du willst, führe ich dich herum. Aber nur, wenn du schon wieder laufen kannst.“ Ich nickte hastig. „Ja, es geht mir schon viel besser. Kannst du mir die Station also zeigen?“ Lächelnd stand er auf und reichte mir die Hand. Kaum, dass ich diese ergriffen hatte, spürte ich einen wohltuenden Schauer, der über meinen Rücken lief. So etwas konnte einem wirklich nur einmal im Leben passieren. War das vielleicht... Liebe? Sofort verwarf ich den Gedanken wieder. So ein Schwachsinn. Ich kannte ihn doch kaum und an Liebe auf den ersten Blick hatte ich auch nie geglaubt. Doch vielleicht wurde es Zeit umzudenken. Kapitel 4: Ist das Liebe? ------------------------- Die Küche war das erste, was er mir zeigte. Es war nur ein winzig kleiner Raum, gerade groß genug, dass ein vorsintflutlicher Herd, eine Spüle und zwei Personen darin Platz hatten. Dahinter gab es noch eine Kammer mit mehreren Kästen Wasser und – wie Zetsu mir erklärte – einem kleinen Kühlschrank, in dem allerdings nicht sonderlich viel aufbewahrt wurde. Ohne mir viel Zeit zum Umsehen zu lassen – obwohl es wirklich nicht viel zu sehen gab – zog er mich weiter. Direkt neben der Küche stand ein Sessel, an der Wand war ein Telefonapparat befestigt, mit dem man anscheinend kostenlos telefonieren konnte. Eine Info, die mir ziemlich egal war, denn wen sollte ich schon anrufen? Gegenüber des Telefons war eine kleine Säule aus Kork aufgebaut, an der allerlei Zettel hingen. Offensichtlich waren es weitreichendere Regeln als die in dem kleinen Handbuch, das Jatzieta mir vorhin gegeben hatte. Ich hoffte, dass Baila keinerlei Selbstmordfantasien mit sich herumtrug, denn ehrlich gesagt hätte ich das nur ungern gemeldet – auch wenn die Regeln es so verlangten. Nicht, weil ich nicht gern die Petze spielen wollte, sondern weil ich die bislang einzig Autoritätsperson nicht mochte. Als nächstes führte Zetsu mich in in den kleinen Raum neben der Küche. Ich konnte die Trommel einer Waschmaschine hören, die sich unablässig bewegte. Er erklärte mir, dass die anderen Patienten hier ihre Wäsche waschen würden, wenn sie keine Möglichkeit hatten, frische Kleidung zu bekommen. Anscheinend war ich hier also nicht die einzige, die sich nicht gut mit ihren Eltern verstand. Wir verließen den kleinen Raum wieder. Die Küche und der Waschraum lagen beide direkt gegenüber der Patientenzimmer. Zwei Zimmer neben meinem blieb Zetsu wieder stehen. Lächelnd deutete er auf die Tür. „Das hier ist mein Zimmer. Wenn du mal ein Problem hast, weißt du, wo du mich findest. Aber sei vorsichtig, Nozomu wohnt auch bei mir.“ „Kennst du diesen Kerl schon länger?“ Er nickte. „Nozomu und ich sind beste Freunde, wir kannten uns schon, bevor wir ins Krankenhaus kamen. Damals waren wir auf derselben Schule.“ „Warum ist er hier?“, fragte ich weiter. Zetsus Lächeln erlosch. „Nun, das hängt mit seinen Eltern zusammen. Sie waren beide Journalisten in einem umkämpften Kriegsgebiet und sind bei einem Anschlag ums Leben gekommen.“ Das war sicherlich nicht angenehm, aber täglich verloren viele Leute ihre Eltern – warum war er also hier? Ich stellte Zetsu die Frage, er schmunzelte belustigt. „Bräuchtest du keine professionelle Hilfe, wenn deine Eltern vor deinen Augen von einer Bombe zerfetzt werden?“ Diesmal schluckte ich. Gut, das war doch um einiges heftiger, da wüsste ich nicht einmal wie ich bei meinen Eltern reagiert hätte. Er schien eine solche Reaktion erwartet zu haben, denn er nickte zufrieden und ging schließlich weiter. Ich folgte ihm sofort, nur um im Fernsehzimmer zu landen. Der Boden war mit einem pflegeleichten blauen Teppich ausgelegt, gegenüber dem Fernseher stand ein bequem aussehendes, ebenfalls blaues Sofa. Ansonsten befanden sich nur noch ein heller Schrank mit einer Pflanze darauf im Zimmer. Das Schlichte gefiel mir, nur die Pflanze störte mich ein wenig. Ich war kein Fan von Botanik. Wir setzten uns gemeinsam auf das Sofa. Während des Rundgangs war es mir gar nicht aufgefallen, aber kaum saßen wir wieder, spürte ich erneut dieses Kribbeln in meinem Bauch. Er hatte sich so dicht neben mich gesetzt, dass ich seinen Geruch deutlich wahrnehmen konnte. Er erinnerte mich an unbeschwerte Tage, an denen ich in den Ferien am Strand gespielt hatte. Am liebsten hätte ich meine Arme um ihn gelegt, um den Geruch noch intensiver in mich aufzunehmen, aber ich ließ es bleiben. Vielleicht konnte er sowas auch gar nicht leiden, dann hätte ihn das eher vergrault als mir näher gebracht. Ich hätte mich am liebsten geohrfeigt. Warum dachte ich sowas? Noch nie zuvor hatte ich mich für Jungen interessiert, aber auch nicht für Mädchen, bevor hier Missverständnisse entstehen. Aber bei Zetsu... war das irgendwie anders. Möglicherweise hatten all die Romantiker, die ich früher gern als Spinner betitelt hatte, doch recht gehabt... irgendwie. Doch warum musste es mich gerade jetzt und hier, bei einem Krankenhausaufenthalt erwischen? Andere verliebten sich in Discos, Bars oder im Internet. Nur ich fiel mal wieder aus dem Rahmen und traf meine erste große Liebe in psychotherapeutischen Klinik. Wie das wohl rüberkam, wenn man es seinen Enkeln erzählte? Argh, nein, nein, nein! Wie konnte ich jetzt schon an so etwas denken? „Alles in Ordnung?“, fragte Zetsu. „Äh, ja, sicher... Warum... warum verbringst du eigentlich so viel Zeit mit mir?“ Er lächelte wieder. „Oh, nur so. Ich dachte mir, das würde dir gefallen. Wer hat mich denn vorhin so angestarrt?“ Gespielt schmollend erwiderte ich seinen Blick. „Du hast auch gestarrt.“ Lachend fuhr er mir ungefragt über das Haar. „Natürlich, weil du süß bist.“ Jeder andere hätte in diesem Moment von mir eine verpasst bekommen, aber da es von ihm kam, wurde ich nur noch röter im Gesicht. „Findest du?“ Er nickte zustimmend. Hastig legte ich meine Hände auf meine glühenden Wangen. Oooow, warum brachte er mich nur so durcheinander? Liebe war echt was Störendes. „Sagst du das zu jedem Neuzugang?“, fragte ich schließlich, um meine Verlegenheit zu überspielen. „Hmmm, nein, nur zu dem weiblichen Neuzugang.“ Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich ernst nehmen sollte. Sein Gesicht war völlig unbewegt, als er das sagte. Ich wollte gerade nachhaken, als Nozomu plötzlich in der Tür stand. „Zetsu, komm jetzt, es ist zehn Uhr, wir müssen los.“ Seufzend stand er auf. „Bin schon unterwegs. Bis später, Leana.“ Er lächelte noch einmal, bevor er gemeinsam mit Nozomu davonging. Kaum war er weg, kam es mir vor als ob irgend etwas Wichtiges fehlen würde, aber immerhin schlug mein Herz nicht mehr ganz so schnell. Andererseits fühlte ich mich ohne ihn auch nicht mehr so wohl wie zuvor. Hastig stand ich auf, aber als ich auf den Flur trat, waren die anderen bereits gegangen. Wohin waren sie alle gegangen? Und wann würden sie wiederkommen? Als ich Jatzieta danach fragte, lächelte sie wie üblich. „Sie haben Therapie. Ab morgen darfst du auch zur Therapie gehen.“ Plötzlich kicherte sie. „Zetsu scheint es dir ja ganz schön angetan zu haben.“ Abweisend verschränkte ich die Arme vor der Brust. „So ein Unsinn. Als ob Jungen mich interessieren würden. Ich bin mit mir selbst genug beschäftigt.“ „Darauf wette ich.“ Der Ton ihrer Stimme gefiel mir nicht, aber ich beließ es bei einem bösen Blick von mir. „Wann kommen die anderen wieder?“ „Um elf Uhr. Solange musst du dich allein beschäftigen.“ Sie kicherte noch einmal. Ohne auf eine zweite Aufforderung zu warten, fuhr ich noch auf dem Absatz herum und ging wieder in den Gemeinschaftsraum zurück. Ich stellte das Radio aus, das im Moment ohnehin für niemanden spielte und trat auf den Balkon hinaus. Der Ausblick war nicht berauschend. Von diesem Balkon aus konnte man lediglich die anderen Gebäude sehen, die zum Krankenhaus gehörten, dazu noch die Bäume in der Parkanlage, die allerdings einen genaueren Blick auf die Leute im Park verwehrten. Ich seufzte. Vielleicht hätte ich Zetsu noch sehen können, wenn- Argh! Wann hörte das endlich auf!? Ich hasste es, verliebt zu sein, das ließ meine rationale Sicht verschwimmen, es war ekelhaft. Außerdem war es bescheuert, denn anscheinend war es ja ohnehin was Einseitiges. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Zetsu auch etwas für mich empfand, wenn er denn dazu überhaupt fähig war. Aus irgendeinem Grund musste er ja immerhin hier sein. Aber kamen gefühlskalte Menschen überhaupt in Therapie? Wieder einmal zeigte sich, dass ich keine Ahnung hatte. Doch brauchte ich das überhaupt? Es war ja überflüssig, so etwas zu wissen, zumindest für mich. Sobald ich hier wieder draußen war, würde ich mit keinem Gestörten mehr etwas zu tun haben – und auch nicht mit Zetsu. Letzteres störte mich wieder. Ich grummelte leise. „Hör endlich auf, so viel nachzudenken, Leana.“ Selbstgespräche gehörten normalerweise nicht zu dem, was ich täglich tat, aber manchmal machte ich es dennoch. Sonst hörte mir ja niemand zu. Hinter mir erklangen Schritte. Ob einer der anderen doch nicht weg war? Oder wollte Jatzieta irgendetwas von mir? Erwartungsvoll drehte ich mich um. Kapitel 5: FSJ -------------- Im ersten Moment glaubte ich, Jatzietas Tochter oder Schwester oder was auch immer, vor mir zu haben. Die Farbe ihres langen roten Haares war so intensiv, dass ich mich dabei ertappte, wie ich die Hand ausstreckte, um es anfassen zu können. Nur um zu sehen, ob das Haar und auch die Farbe wirklich echt war. Die türkis-farbenen Augen leuchteten vergnügt. Alles in allem strahlte dieses Mädchen eine solche Lebensfreude und Optimismus aus, dass ich mir sicher war, dass sie keine Patientin war. Aber was wollte sie dann hier? Besuchszeiten waren doch auch erst ab 17 Uhr. „Ah, du musst eine neue Patientin sein.“ Ihre Stimme ließ sie jünger erscheinen als sie meiner Schätzung (ungefähr mein Alter) nach war. Ich konnte nur perplex nicken, während ich immer noch zu ergründen versuchte, wer sie wohl war. Doch das nahm sie mir gleich ab, als sie sich mit stolzgeschwellter Brust vorstellte: „Mein Name ist Satsuki Ikaruga. Ich mache in dieser Klinik mein Freiwilliges soziales Jahr.“ Also war sie so etwas wie eine Krankenschwester auf Zeit und Probe, höchstwahrscheinlich weil sie nichts anderes bekommen hatte. Hoffentlich machte sie ihren Job wenigstens gut. Immer noch lächelnd sah sie mich an. Sie schien auf etwas zu warten, aber mir fiel beim besten Willen nicht ein, was das sein könnte. Schließlich lachte sie leise. „Und wie heißt du?“ Am liebsten hätte ich mir gegen die Stirn geschlagen. Natürlich, ich hatte mich noch gar nicht vorgestellt. „Ich bin Leana Vartanian.“ Der Ausdruck des Wiedererkennens trat in ihr Gesicht, obwohl dies das erste Mal war, dass ich ihr begegnete. „Ah, du bist die, von der Dr Breen geredet hat.“ Ich erinnerte mich an den sanftmütigen Arzt, mit dem ich bislang einmal gesprochen hatte. Wieso hatte der über mich geredet? Fiel das nicht unter ärztliche Schweigepflicht? Sie kicherte leise. „Wirk doch nicht gleich so schockiert. Wir haben nichts Böses über dich geredet. Er hat uns, also der Belegschaft, nur erzählt, dass wir eine Patientin mit dem Namen kriegen würden.“ Gut, das war wohl nicht weiter verwunderlich, dass so etwas erzählt wurde. Aber wirkte ich wirklich schockiert oder übertrieb sie nur? „Hast du dir die Station schon angesehen?“, fragte sie. Ich nickte automatisch. „Zetsu hat sie mir gezeigt.“ Ihr erneutes Kichern machte mich diesmal misstrauisch. Verspielt warf sie ihr Haar zurück. „Zetsu zeigt jedem neuen weiblichen Patienten die Station.“ Also war mein Verdacht richtig gewesen. „So, tut er das?“, gab ich desinteressiert zurück. Innerlich spürte ich aber einen enttäuschten Stich. Ich hatte also recht gehabt und ich war nichts Besonderes für ihn. Aber was war das auch für eine dumme Annahme gewesen? Nicht nur, dass er mit seinem Aussehen sicherlich jede kriegen konnte, nein, ich kannte ihn auch erst seit wenigen Minuten. Ich sollte ihn mir aus dem Kopf schlagen, so schnell wie er hineingekommen war und endlich wieder dieselbe gefühlskalte Leana wie zuvor sein. Bis auf die Depressionen war das immerhin kein schlechtes Leben gewesen. „Zetsu mag eben Mädchen“, fuhr Satsuki fort. „Obwohl er immer sagt, er wartet auf die Richtige, anscheinend hat er sogar noch nie geküsst. Ich frage mich nur, woran er die Richtige festmacht.“ Ich tat so, als würde mich das nicht interessieren, aber eigentlich hatte sich mein Herz bei diesen Worten wieder in Aufruhr versetzt. Dann war er vielleicht doch nicht ein solcher Frauenheld? Aber ich schob es gleich wieder beiseite. Ich hatte doch gerade eben beschlossen, ihn mir aus dem Kopf zu schlagen und das würde ich auch tun. Satsuki lachte noch einmal, als sie merkte, dass sie mich damit nicht aus der Reserve locken konnte. „Hast du schon Baila getroffen?“ Ich nickte. „Allerdings hab ich ihr am Anfang wohl wehgetan.“ „Oh, das ist sie gewohnt“, kam es im Plauderton zurück. „Unsere Baila hat in ihrem Leben einiges mitgemacht, deswegen spricht sie auch nicht mehr.“ Sie konnte also sprechen, tat es aber nicht. Ich fragte mich, was wohl mit ihr passiert war, wagte aber nicht, weitere Fragen zu stellen, denn streng genommen ging es mich nichts an. Doch selbst nun, da ich wusste, dass Baila so etwas gewohnt war, plagte mich immer noch ein schlechtes Gewissen für diese übertriebene Reaktion. Zumindest ein wenig. „Dann hast du mit Sicherheit auch schon Subaru und Nozomu getroffen.“ Bei der Erinnerung an den Samariter und den Idioten versteinerte mein Gesicht wieder. Ich nickte. „Ja, habe ich.“ „War ja logisch. Baila und Subaru sind quasi wie Geschwister und Nozomu und Zetsu sind ja beste Freunde, nicht? Klar, dass sie unzertrennlich sind.“ Plötzlich überkam mich das Gefühl, dass sie Nozomu und Zetsu schon länger kannte – wonach ich auch sofort fragte. Sie nickte. „Oh ja~ Ich war in derselben Klasse wie Zetsu, Nozomu war in der Stufe unter uns.“ „Und jetzt sind die beiden hier Patienten und du machst ein FSJ... was für ein Zufall.“ Sie lachte verlegen. „Äh, ja, natürlich hast du recht. Aber was ist schon schlimm daran? Die beiden kennen mich, ich kenne sie, alles ist gut, oder?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Mir ist das egal. Aber wirkt das nicht stalkermäßig?“ Geschockt sah sie mich an. Ich hatte das zwar nur dahergesagt, aber anscheinend hatte ich einen Nerv bei ihr damit erwischt.“ „Glaubst du, das denkt er auch?“ „Wer?“ Ich nahm an, dass sie von ihrem Chef oder diesem Arzt oder sonst wem sprechen würde, aber die folgende Antwort überraschte mich doch: „Na, Nozomu natürlich. Allein wegen Zetsu wäre ich nicht hergekommen.“ Diesmal war ich es, die sie schockiert ansah. „Nozomu? Du bist nur wegen dem hier? Weswegen?“ Hektisch sah sie sich um, um sicherzustellen, dass niemand in der Nähe war, der das mitbekommen würde. Sie lehnte sich sogar über die Brüstung des Balkons, um zu sehen, ob jemand unten stand und lauschte. Es wunderte mich, dass sie nicht noch unter den Balkon kletterte und dort eventuelle Wanzen entfernte. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu. Bei ihrem durch und durch ernstem Gesichtsausdruck musste ich mir ein Lachen verkneifen, so sehr sah es wie ein schlechtes Schauspiel aus. „Weißt du, ich bin in Nozomu verliebt, seit Zetsu mich ihm vorgestellt hat.“ „Oh, wirklich?“ Noch mehr Liebe auf den ersten Blick, huh? Wie spannend. Spürt man die (nicht vorhandene) Begeisterung in meinen Worten? „Und?“, fragte ich. „Na ja, Beziehungen mit Patienten sind verboten...“ „Seid ihr denn ein Paar?“, kam es wieder von mir. Diesmal wand sie sich regelrecht um die Antwort. „Nun, nein, nicht direkt, nicht wirklich.“ Dachte ich es mir doch. „Wo liegt dann das Problem?“ „Du verstehst mich einfach nicht“, erwiderte sie weinerlich. Nein, das tat ich wirklich nicht. Aber das fand ich auch besser so. Ich konnte mir nicht einmal im Entferntesten vorstellen, wie man sich in diesen Idioten verlieben konnte, wie man sogar extra für ihn als Krankenschwester auf so einer Station anheuern konnte, ohne dafür auch noch bezahlt zu werden. Aber ich wollte es mir auch gar nicht vorstellen. Vielleicht war Nozomu irgendwann mal erträglicher gewesen, aber so ganz glaubte ich nicht daran. Unvermittelt lächelte Satsuki wieder, ein recht hinterhältiges und fieses Lächeln. „Tja, dann verrate ich dir auch nicht, weswegen Zetsu hier ist.“ Uh, verdammt, erwischt. Genau das wollte ich ja eigentlich wissen. Aber ich würde den Teufel tun und Satsuki um Verzeihung anbetteln, damit sie es mir doch noch erzählen würde. Gleichgültig ging sie zur Balkontür zurück. „Ich mache mich dann mal an die Arbeit. Es gibt viel zu tun.“ Daran zweifelte ich nicht. Jatzieta tat ja anscheinend nichts, außer verträumt in die Gegend zu starren. Satsuki ging wieder hinein und mit deutlich wütenden Schritten in Richtung Schwesternzimmer. Seufzend schüttelte ich den Kopf. Es kam mir vor, als wäre ich mitten in einer Soap – oder einem neuen Buch von Stephenie Meyer – gelandet. Wann würde das alles nur aufhören? Vielleicht träumte ich das alles ja nur und würde bald wieder zu Hause in meinem Bett aufwachen. Nein, das war auch keine gute Alternative. Lieber war ich hier, als bei meinen Eltern zu sein. Ich musste nur versuchen, das Beste aus dieser Situation zu machen und mir Zetsu endgültig aus den Kopf zu schlagen. Nur... wie sollte das gehen, wenn ich ihn jeden Tag in dieser Einrichtung sehen würde, wenn ich jedem Tag seiner Aura ausgesetzt sein würde? Da blieb wohl nur hoffen – und standhaft bleiben. Kapitel 6: Die kalte Schulter ----------------------------- Es war kurz nach elf, als die anderen endlich wiederkamen. Während Subaru wieder in der Küche verschwand (was putzte der Kerl da eigentlich die ganze Zeit?) und Zetsu und Nozomu mit Satsuki im Waschraum rumhingen (was immer sie da auch taten), kam Baila wieder zu mir. Ich saß mit den Beinen über die Lehne geschwungen auf einem der Sessel im Aufenthaltsraum. Um meine Gedanken von Zetsu abzulenken, hatte ich mir eines meiner Bücher geschnappt und mich darin vertieft. Als Satsuki den Titel („Dämon“) erblickt hatte, hatte sie wissend gelächelt. Das wunderte mich doch ein wenig, ich hätte nie erwartet, dass sie in ihrer Freizeit Bücher las. Sie wirkte auf mich eher wie der Typ Mädchen, der nur Modemagazine las. Baila setzte sich auf den Sessel neben mich und hielt mir lächelnd ein Bild hin. Wenn ich den Plan richtig in Erinnerung hatte, hatte sie wohl eben Kunsttherapie gehabt und wollte mir nun das Ergebnis eben jener zeigen, warum auch immer. Aber warum sollte ich ihr nicht den Gefallen tun? Ich nahm ihr das Bild ab, um es zu betrachten. Es sah nicht wie etwas aus, das von einem Kind stammte, wie ich es erwartet hatte, sondern überraschend professionell, sofern man bei dem Gebrauch von Wasserfarben von professionell sprechen konnte. Jedenfalls zeigte das Bild anscheinend Zetsu und mich, wie wir uns mit Schwertern gegenüberstanden. Wie sie wohl auf dieses Motiv gekommen war? Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich ein Schwert geschwungen – und ich hatte auch nicht vor, das jemals zu tun, weswegen auch? Schwerter waren schwer, unhandlich und teuer. Außerdem bekam man von dem übermäßigen Gebrauch sicher Blasen an den Händen. Nebenbei kannte ich auch die Kleidung nicht, die ich auf diesem Bild trug. Aber mir gefiel Zetsus graue Kleidung, sie passte absolut perfekt zu ihm. Wenn er einmal so vor mir stehen würde... Erwartungsvoll sah Baila mich an. Sie lächelte wieder, als ich ihren Kopf tätschelte und ihr das Bild zurückgab. Darauf stand sie auf und verließ den Gruppenraum wieder. Ein Blick über meine Schulter sagte mir auch, weswegen: Zetsu stand in der Tür und sah mich wie üblich lächelnd an. Mein Herz klopfte wieder schneller, aber dennoch blieb ich meinen Prinzipien treu. Demonstrativ wandte ich mich von ihm ab und vertiefte mich wieder in mein Buch. Ich konnte seine Verwirrung über dieses Verhalten fast schon spüren. Er setzte sich auf den frei gewordenen Sessel und versuchte einen Blick in mein Gesicht zu erhaschen. Um das zu verhindern hielt ich das Buch immer wieder anders hin. Er seufzte schließlich. „Hab ich dir was getan?“ „Nö“, antwortete ich kurzangebunden. „Was ist dann los?“ Bei der ehrlich scheinenden Besorgnis in seiner Stimme schmolz ich regelrecht dahin, aber ich musste hart bleiben und die kalte Schulter beibehalten. Wenngleich ich mir im Klaren darüber war, wie kindisch ich mich verhielt. Aber wen kümmert's? Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Ich kann warten.“ Dessen war ich mir sicher, aber da kannte er mein Durchhaltevermögen noch nicht. Mit betonter Gleichgültigkeit tat ich so als würde ich weiterlesen, doch er machte mich so nervös, dass ich einfach nicht über ein- und denselben Satz hinauskam. Dummerweise war er nicht so unaufmerksam wie einige andere Leute, die ich kannte. „Du bist sicher, dass du lesen kannst?“ „Was soll denn die Frage?“, fauchte ich. Mein Verhalten schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. „Nun, du bist seit einer Ewigkeit schon auf derselben Seite. Was ist los?“ „Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn Leute mich anstarren.“ Verärgert vertiefte ich mich wieder in das Buch und diesmal las ich wirklich weiter. Da ich es schon mehrmals gelesen hatte, musste ich den Inhalt nicht sonderlich in mich aufnehmen, um die Handlung zu verstehen. Schließlich blätterte ich um, ein triumphierendes Gefühl tief in mir. Zetsu legte den Kopf schräg, sein Lächeln war erloschen und hatte einem sorgenvollen Blick Platz gemacht. Ein Blick zum Dahinschmelzen, aber ich blieb meinen Prinzipien treu. So war es und so würde es auch immer sein. Und besonders ein Frauenheld wie er würde bei mir keine Chance bekommen, selbst wenn er noch ungeküsst war. Er ging einen Schritt weiter und griff nach meiner Hand. Ein warmer Schauer fuhr über meinen Rücken, doch ich ignorierte das Gefühl und las weiter. Verdammter Frauenheld, warum musste er so unwiderstehlich sein? Seufzend zog er sich wieder zurück. „Okay, okay, ich habs verstanden, du hast kein Interesse.“ „Gut erkannt, Sherlock.“ Mit ernstem Gesichtsausdruck zog er wieder ab. Zutiefst zufrieden mit mir las ich weiter, kam aber nicht wirklich weit. Schon nach wenigen Sekunden kam Nozomu rein. Ich seufzte genervt. „Gibt's was?“ „Jetzt versuchst du es auf die Masche, huh?“ Geräuschvoll klappte ich das Buch zu und stand auf. „Was für eine Masche denn!?“ Der Kerl regte mich so sehr auf, am liebsten hätte ich ihm wirklich eine reingehauen. Völlig kühl lehnte er mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. „Du hast erkannt, dass Zetsu kein Interesse an Mädchen hat, die ihm sofort nachgeben und zeigst ihm deswegen die kalte Schulter.“ Was sollte das denn bedeuten? Hatte er deswegen etwa keine Freundin? Weil jede sofort auf ihn reinfiel und er das nicht mochte? Aber warum benahm er sich dann gleich am Anfang so? Ich verstand das nicht. Nozomu rollte mit den Augen. „Stell dich nicht dumm. Wahrscheinlich hat Satsuki es dir erzählt.“ „Was denn?“, fragte ich weiter. Er presste die Lippen aufeinander. Anscheinend hatte er mehr gesagt als er eigentlich wollte. Um mehr herauszufinden müsste ich wohl ihn oder Satsuki fragen – aber mit Sicherheit würde keiner von beiden mir etwas sagen, würde ich ja auch nicht. „Ich hasse dich“, bemerkte ich beiläufig. Er zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst. Aber wenn du mich fragst, solltest du gleich dein Aggressionsproblem hier in der Klinik behandeln lassen. Das kann nicht gesund für dich sein.“ „Ich brauche deine Tipps nicht“, erwiderte ich fauchend. „Ich gebe sie dir nicht, weil ich dich mag.“ Weswegen denn dann? Argh, ich verstand diesen Kerl einfach nicht. Warum konnte er nicht einfach sterben gehen oder zumindest abhauen? Nozomu seufzte. „Wie auch immer, das war nur ein Ratschlag. Nimm ihn an oder lass es. Aber ich würde es dir empfehlen, sonst endest du wie sie.“ „Wie wer?“, fragte ich sofort. Ich biss mir regelrecht auf die Zunge. Warum musste ich manchmal so neugierig sein? Bevor er antworten konnte, hörte ich wie unten die Haustür zugeschlagen wurde. Wirklich zugeschlagen, es hörte sich weitaus weniger heftig an, als wenn sie einfach zufiel. „Das siehst du gleich“, bemerkte Nozomu. Neugierig sah ich auf die Glastür. Aus dem Treppenhaus hörte ich laute Stimmen, die sich gegenseitig anfauchten und dabei näherkamen. „Sind sie schon wieder wütend aufeinander?“, fragte Nozomu genervt. „Wer sind sie?“, fragte ich interessiert. „Mit Abstand die beiden nervigsten Personen auf dieser Station. Na ja, direkt nach dir.“ Da er nicht weiter darauf einging, sah ich wieder zur Tür und wartete darauf, dass die beiden endlich zu sehen waren. Kapitel 7: Streit ----------------- Auch die obere Glastür wurde mit Wucht zugeworfen. Ich befürchtete schon, das Glas würde aus dem Rahmen fallen, aber es schwang nur bedrohlich. Erschrocken starrte ich auf die beiden Personen, die sich plötzlich lautstark mitten auf dem Stationsflur zofften. Ich konnte nicht verstehen, worum es ging, so laut unterhielten sich die beiden miteinander. Aber ich glaube, ich wollte es auch gar nicht wissen. Jatzieta schielte aus dem Schwesternzimmer heraus, scheinbar um sicherzugehen, dass sich die beiden nicht gegenseitig an die Gurgel gehen würden. Das Mädchen hatte braunes Haar, das zu zwei Zöpfen gebunden war, ihre rotbraunen Augen sprühten vor Zorn über. Was konnte sie nur so aufgebracht haben? Er dagegen überraschte mich doch um einiges mehr. Nicht nur war seine Haut entweder gebräunt oder von Natur aus so dunkel, sein schwarzes Haar stand wild in alle Richtungen ab, zwei Rastazöpfe fielen seinen Nacken hinunter. In seinem Haupthaar war eine große rote Strähne zu sehen, die nicht gefärbt zu sein schien. Seine Eckzähne wirkten so spitz, dass ich im ersten Moment tatsächlich glaubte, dass er ein Vampir wäre. Doch ich verwarf den Gedanken sofort wieder – immerhin glitzerte er nicht, he he he. Plötzlich verpasste sie ihm eine Ohrfeige und rauschte davon. Ich konnte hören, wie eine Tür zugeknallt wurde. Sofort kehrte wieder Stille ein, Jatzieta zog sich auf ihren Stuhl zurück. Grummelnd rieb er sich die Wange und wandte sich Nozomu und mir zu. Als er uns sah, wandelte sich seine Laune um 180°. Er lächelte breit. „Nozomu! Na, alles klar?“ Der Angesprochene nickte. „Jap. Und bei dir?“ „Alles bestens!“ Sag bloß, die Ohrfeige von eben und überhaupt dieser ganze Streit machte ihm überhaupt nichts aus. Wie konnte das nur sein? Er sah mich an, sein Lächeln blieb unbeirrt. „Und wer bist du?“ Kleinlaut stellte ich mich ihm vor. Er hielt mir die Hand hin, die ich ergriff, damit er nicht wütend werden würde. „Ich bin Sorluska Roig. Freut mich.“ „Ähm, mich auch.“ Auf seinem Unterarm konnte ich alte, verheilte Narben sehen. Woher kamen diese wohl? „Du musst keine Angst vor mir haben“, sagte er lachend. „Ich beiße dich nicht.“ Verunsichert sah ich zu Nozomu, der meinen Blick schmunzelnd erwiderte. Als mir klar wurde, dass ich gerade Schwäche zeigte, wandte ich mich verärgert wieder ab und sah lieber wieder Sorluska an. „Und weswegen bist du hier?“, fragte er mich. Gab es wirklich so viele verschiedene Gründe, warum man sich auf dieser Station aufhielt? „Wegen Depressionen“, murmelte ich. Es ärgerte mich, dass Nozomu das nun natürlich auch mitbekam, aber ich traute mich nicht so recht, Sorluska gegenüber zu schweigen. Wenn er so schnell von „wütend“ auf „gut gelaunt“ schalten konnte, ging es umgedreht bestimmt genauso. Nozomu pustete Luft durch seine geschlossenen Lippen. „Depressionen, ja klar.“ Ich warf ihm einen wütenden Blick zu. Er war genauso ein Idiot wie meine Eltern, deswegen hasste ich ihn auch so. Dummerweise war er aber auch mit Zetsu befreu-, nein, Moment, den wollte ich mir ja aus dem Kopf schlagen, also konnte mir die Freundschaft der beiden egal sein. „Wer war denn das Mädchen?“, fragte ich zurückhaltend. Ich hatte erwartet, dass sich Sorluskas Gesicht wieder verfinstern würde, doch stattdessen grinste er. „Thalia Zabat. Sie ist aus dem selben Grund hier wie ich. Na ja, du weißt es ja bestimmt schon. Wir haben beide ein Problem mit Aggressionen.“ Und bei den beiden Vorzeige-Aggressiven wollte Nozomu mich auch in eine solche Schublade stecken? Ich warf dem Jungen neben mir einen genervten Blick zu. Er erwiderte mit einem „Du-bist-genauso“-Blick, was ich mit einem Tritt gegen sein Schienbein quittierte. Sorluska lachte. „Du passt hier wirklich wunderbar rein.“ Ich war mir nicht sicher, ob ich mich genervt oder geschmeichelt fühlen sollte. Ich entschied mich aber dafür, mich einfach mal zu bedanken. Da konnte man nichts falsch machen, oder? Sorluska grinste und entblößte dabei wieder seine scharfen Eckzähne. Eigentlich erinnerte er mich mehr an ein Raubtier, denn einen Vampir. Aber waren Vampire und Raubtiere nicht eigentlich dasselbe? Argh, warum plagte ich mich jetzt mit dem Thema rum? Vampire waren noch nie mein Steckenpferd gewesen, weswegen ich mir nie einen Spruch gegen „Bis(s)“ hatte verkneifen können. Noch ein Grund, weswegen ich zur Außenseiterin verkommen war und warum meine Mutter mich nicht leiden konnte. Sie war nämlich ein Fan der Reihe und sie war der festen Überzeugung, dass meine Abneigung dagegen ein Zeichen dafür wäre, dass ich verklemmt und spießig sei. Nein, ich weiß auch nicht, wie sie darauf gekommen war und ich hatte auch mit Sicherheit nicht nachgefragt. Auch nicht, warum sie anhand meines Büchergeschmacks so über mich urteilte. Ich nahm ihr Unverständnis für die Bartimäus-Reihe doch auch nicht als Anlass ihr Humorlosigkeit und keinen Sinn für guten Sarkasmus zu unterstellen – auch wenn das meiner Ansicht nach die Wahrheit war. „Ich bin dann auch mal in meinem Zimmer. Man sieht sich beim Mittagessen.“ Mit einem letzten Gruß ging Sorluska davon. Wieder einmal spürte ich, wie mein Magen zu knurren begann – und Nozomu schien es zu hören. Er warf mir einen grinsenden Blick zu. „Bin mal gespannt, ob dir verwöhntem Prinzesschen das Essen schmecken wird.“ „Wie kommst du dazu, mich so zu nennen?!“, fragte ich wütend. Darauf antwortete er nicht. Genau wie ich erwartet hatte. Allerdings blieb sein Grinsen, er fühlte sich also offensichtlich trotzdem im Recht. Ich schnaubte. „Idiot! Ich bin nicht verwöhnt! Und ich esse außerdem alles!“ „Wenn du meinst. Mir ist es eigentlich egal... und Satsukis Essen würdest du bestimmt nicht essen.“ Kochte sie wirklich so schlecht? Das würde in meinen Augen tatsächlich zu ihr passen. Ich beschloss, Nozomu zu ignorieren und setzte mich wieder auf den Sessel, um mich erneut in mein Buch zu vertiefen, während mein Inneres immer noch brodelte. Er schüttelte den Kopf und ging hinaus. Hoffentlich würde er nicht wiederkommen, am besten sprang er aus dem Fenster. Kaum war er weg, versank ich wieder in Gedanken. Diese ganzen Patienten, die ich heute getroffen hatte kamen wir alle seltsam vor. Baila, die keinen Ton von sich gab und nur liebgehabt werden wollte. Subaru, der gutherzige Samariter, der schon eine Ewigkeit die kleine Küche saubermachte. Nozomu, der nervige Idiot, dem ich am liebsten eine reinhauen würde. Sorluska und Thalia, die beide offensichtlich Probleme mit ihrem Temperament besaßen. Und dann war da noch Zetsu, Everybody's Darling, bei dem ich mir immer noch nicht sicher war, weswegen er sich eigentlich in dieser Klinik befand. Ich hätte gelogen, wenn ich gesagt hätte, dass es mich nicht interessieren würde. Natürlich brannte ich geradezu vor Neugierde, aber ich würde es niederkämpfen, solange einer von uns beiden sich in dieser Klinik befinden würde. Ganz sicher. Kapitel 8: Ciar Breen --------------------- Das Mittagessen ging ohne nennenswerte Ereignisse vonstatten. Ich war nur überrascht, wie gut es schmeckte. Bekannte und Verwandte hatten stets betont, wie schlecht Krankenhausessen wäre, auch in Witzen war das oft das Thema. Aber zumindest auf dieser Station schmeckte es wirklich lecker – und immerhin gab es kein Fleisch wie bei meinen Eltern. Dort gab es jeden verdammten Tag Fleisch. Ich war beileibe keine Vegetarierin, aber es hing mir im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Hals raus. Thalia und Sorluska waren erschreckend schweigsam während des Essens, Nozomu schwieg ohnehin und warf mir immer wieder Blicke zu, die ich genervt erwiderte. Lediglich Subaru und Zetsu scherzten das ganze Essen hindurch miteinander, was Baila sehr zu amüsieren schien. Am liebsten hätte ich auch gelächelt, einfach weil es schön war, Zetsus Lachen zu hören, aber ich gab mich betont kühl. Nach dem Essen blieb die ganze Gruppe – zu meinem Unmut – im Gruppenraum zusammen sitzen. Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte, also blieb ich einfach ebenfalls, auch wenn es mir gar nicht so sehr gefiel. Ich war eine Einzelgängerin und das wollte ich eigentlich auch bleiben. Dass sich Zetsu direkt neben mich setzte, half mir nicht gerade weiter, aber immerhin sprach er mich nicht an, warf mir nicht einmal einen Blick zu, während er sich mit den anderen unterhielt. Ich beachtete ihn ebenfalls nicht, verschränkte die Arme vor der Brust und sah nur zwischen den anderen hin und her. Thalia interessierte mich dabei am meisten, da ich sie endlich richtig mustern konnte. Ich fragte mich, woher diese Stimmungsschwankungen bei ihr kamen und wodurch sie ausgelöst wurden. Sie wirkte eigentlich wie ein normales Mädchen, ein wenig zickig, sehr auf das Äußere bedacht. Wäre ich ihr im Alltag begegnet, hätte ich nicht einmal im Traum daran gedacht, dass sie krank wäre. Aber so ging es den anderen wohl auch, wenn sie mich ansahen. Jedoch, wenn ich mir die anderen so ansah... Ich ließ meinen Blick schweifen. Keiner in diesem Raum sah wirklich krank aus. Plötzlich interessierte es mich doch, weswegen die anderen hier waren. Welche Wirrungen in einem normal verlaufenden Leben wohl zu einem solchen Aufenthalt führten? Lediglich bei Nozomu kannte ich den Grund. Aber was war mit den anderen? Ob Baila mir das später berichten könnte? Da sie schon länger hier war, konnte sie mir womöglich mehr über die anderen erzählen. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen, als ich plötzlich Schritte auf dem Flur hörte. Ein jung aussehender Mann mit schwarzem, zusammengebundenem Haar, von dem dicke Strähnen auf beiden Seiten seines Gesichts runterfielen lief gemeinsam mit Jatzieta den Gang entlang. Der Kittel verriet mir, dass er ein Arzt war. Seine Augen glitzerten hinter einer Harry-Potter-Brille. Ob er die nur wegen dem Hype gekauft oder ob sie ihm wirklich gefallen hatte? Ohne einen Blick in den Gruppenraum zu werfen, betrat er das Arztzimmer. Die Fragezeichen mussten wohl auf meiner Stirn gestanden haben, denn plötzlich hörte ich Thalias Stimme: „Ah, Dr Breen ist da. Wird aber auch Zeit.“ Ihre Stimme hatte einen ganz eigentümlichen Klang an sich. Sie hörte sich immer, egal was sie sagte, so an als wäre sie wegen irgend etwas eingeschnappt. Andere wären von so etwas sicher genervt gewesen, ich fand es ganz interessant. Mir gefiel ihre Stimme. Dieser Mann war also Dr Breen gewesen. Bislang hatte ich nur am Telefon mit ihm gesprochen, aber nun konnte ich endlich ein Gesicht mit der Stimme verbinden. Ich war gespannt, wie er sich im Gespräch von Angesicht zu Angesicht schlug. Satsuki kam zum Gruppenraum zurück. Wie üblich trug sie ihr fröhliches Lächeln zur Schau. „Leana, du bist heute als erste in der Sprechstunde dran.“ Ich stand auf und folgte ihr zum Arztzimmer, dessen Tür sie mir freundlicherweise aufhielt. Jatzieta und Dr Breen saßen nebeneinander auf zwei Stühlen. Sie lächelten mir zu, es fiel mir langsam wirklich schwer, diese ewige Lächelei zu ertragen. Ich setzte mich auf den angegebenen dritten Stuhl und sah beide neutral an. Der Arzt wirkte genauso sanftmütig wie seine Stimme am Telefon geklungen hatte. „Es freut mich, dich endlich selbst sehen zu können, Leana“, sagte er. „Ähm... ja.“ Was sollte ich sonst antworten? Mich freute es immerhin nicht. „Hast du dich schon gut eingelebt?“, fragte er weiter. „Es geht.“ Natürlich erwähnte ich nicht, wer mir alles auf die Nerven ging und wen ich bislang nicht leiden konnte. Das ging die beiden immerhin nichts an. Jatzieta notierte etwas auf einem Klemmbrett. „Und was führt dich genau hierher?“, fragte Dr Breen weiter. Ich erklärte ihm – zum zweiten Mal – ganz genau, wie mein bisheriges Leben bisher verlaufen war, wie die Beziehung zu meinen Eltern war und wie leer ich mich innerlich fühlte. Während Jatzieta fleißig Notizen machte, nickte Dr Breen immer wieder. Schließlich endete ich meine Erzählung und sah beide abwartend an. Ich hatte keinerlei Tränen in meinen Augen und selbst während ich redete, kam mir alles wie das Leben eines anderen vor. Die Schwester schien das ebenfalls zu bemerken und machte sich noch eine abschließende Notiz. Dr Breen nickte verstehend. „So ist das also. Du warst sicherlich bei einigen Ärzten inzwischen, richtig? Und keiner konnte dir helfen? Mhm, verstehe. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir weiterkommen werden.“ Ich fragte mich, woher er diese Zuversicht nahm, wollte aber auch nicht nachfragen. Allerdings musste ich ihm recht geben. Seit ich hier war, ging es mir schon ein wenig besser. Allein wegen Zetsu... würde ich meinen. „Gut, dann war das alles für heute“, sagte Dr Breen schließlich. „Ab morgen wirst du auch deine Tabletten bekommen, so wie die anderen und den Therapiealltag erleben.“ Ich nickte und stand wieder auf. Er reichte mir die Hand, die ich sofort schüttelte. Selbst seine Haut fühlte sich sanft an. Alles an ihm schien so zu sein. Als ich das Zimmer verließ, saß Zetsu bereits davor. Fragend sah ich ihn an. Er hob die Schultern. „Ich wollte auch noch mit dem Arzt reden.“ „Weswegen?“ Ich wollte mir die Zunge abbeißen! Warum musste ich ihm immer so viele Fragen stellen!? Er lächelte nett, aber mit einer gewissen Kälte in seinen Augen. „Was geht dich das an?“ „Es interessiert mich auch nicht“, erwiderte ich schnaubend. Wütend ging ich davon. Ich war nicht wütend auf ihn, sondern auf mich. Warum konnte ich bei ihm einfach nicht stark bleiben? Was hatte er an sich, das einen so sehr anzog? Heute Abend würde ich auf jeden Fall mit Baila reden. Vielleicht konnte sie mir einiges erzählen, was mir weiterhelfen würde. Kapitel 9: Die Nachtschwester ----------------------------- Die Zeit bis zum Abendessen verging überraschend schnell, schließlich saßen wir alle vor unseren Brötchen und den Aufstrichen und Belegarten. Wenigstens gab es auch noch andere Dinge als Wurst, denn neben Fleisch war Wurst mir auch zuwider. Deswegen griff ich nach einer Käsescheibe. Zetsu saß mir gegenüber und schmunzelte darüber. Ich weiß zwar nicht, was so lustig daran war, aber wenn er meinte. Ihn ignorierend aß ich weiter. Langsam funktionierte das Ignorieren immer besser. Morgen würde er mir bestimmt nichts mehr ausmachen. Nach dem Essen saßen wir wieder beisammen – das war anscheinend Sitte bei den anderen – als plötzlich Jatzieta und Satsuki hereinkamen. Beide trugen ein breites Grinsen auf dem Gesicht. „Also, Kinder, für heute ist Feierabend.“ Fragend sah ich zu ihnen hinüber. Feierabend? Würde die Station etwa unbewacht bleiben? Zetsu schmunzelte wieder. „Uh, dann kommt gleich Nelia. Mal schauen, ob sie heute wieder schlechte Laune hat.“ „Die hat sie doch immer“, bemerkte Nozomu. Das sagte ja gerade der Richtige. Jatzieta und Satsuki winkten uns zu und gingen davon. Noch lange danach war die lachende Stimme der beiden aus dem Treppenhaus zu hören. „Nelia?“, fragte ich neugierig, als sie nicht mehr zu sehen waren. „Das ist die Schwester, die nachts bei uns auf der Station ist“, antwortete Subaru. „Sie ist um einiges strenger als Jatzieta.“ Sorluska nickte zustimmend. „Oh ja. Mir hat sie mal meine Lautsprecher abgenommen, weil ich die Musik eine Minute nach zehn noch nicht ausgemacht habe.“ Klang wirklich nicht wie Jatzieta. Allerdings war ich dennoch gespannt darauf, diese Frau mal kennenzulernen – bis Subaru noch etwas ergänzte: „Aber bei Zetsu lässt sie alles durchgehen.“ „Niemand kann seinem Charme widerstehen“, stimmte Nozomu zu. Gespielt verlegen winkte Zetsu ab. „Ach kommt~ Das ist doch gar nicht wahr.“ Was für ein Idiot. Aber einen gewissen Charme besaß er, das musste ich einfach zugeben. Es dauerte nicht lange, bis plötzlich wieder Schritte erklangen. Ich konnte nicht anders als die neu dazugekommene Person mit leicht geöffnetem Mund anzustarren. Ihr azurblaues Haar fiel ihr glatt bis an die Knie, die ebenfalls blauen Augen blickten sich kühl um. Noch nie hatte ich solches Haar gesehen, weder von der Farbe, noch von der Länge. Nicht einmal das von Zetsu konnte da mithalten. Ihre majestätische Erscheinung schnürte mir automatisch die Kehle zu. Also, ich stand ja nicht auf Frauen, aber diese war einfach... wow. „Ist hier alles in Ordnung?“ Ihre kühle Stimme klang wie Balsam, im Vergleich zu der quietschenden und fast schon nervenaufreibenden von Jatzieta. Die anderen, außer Zetsu, sahen allerdings nicht sehr begeistert aus. Der Silberhaarige lächelte warm. „Guten Abend, Nelia.“ Sie sah ihn an und tatsächlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Offensichtlich konnte nicht einmal diese kühle Person seinem Charme widerstehen, Nozomu hatte wohl recht. „Guten Abend, Zetsu, schön dich zu sehen.“ Nozomu grinste, ich konnte regelrecht spüren, wie er Zetsu unter dem Tisch einen Tritt verpasste. Nelias Blick fiel auf mich. „Du musst die neue Patientin sein.“ Ich nickte zustimmend. „Leana Vartanian.“ „Nelia Attwater“, stellte sie sich vor. Water... das passte irgendwie. Bei ihrem Haar musste ich direkt an Wasser denken und so ging es bestimmt nicht nur mir. Jedenfalls war sie bis jetzt eine der wenigen sympathischen Personen, die ich hier getroffen hatte. „Ich bin die Nachtschwester“, fuhr sie fort. „Denk also erst gar nicht daran, dich über eine Regel hinwegzusetzen, ich kenne auch für Neulinge keine Gnade.“ Unfähig, etwas zu sagen, nickte ich nur. Die von ihr ausgehende Autorität faszinierte mich und schlug mich in ihren Bann. Ich hatte schon befürchtet, dass alle Schwestern hier wie Jatzieta wären, aber Nelia erleichterte mich um einiges. „Sollte es etwas geben, melde dich bei mir.“ Ich nickte erneut, sie ging davon. Die anderen sahen ihr durch die Glasfront hinterher, bis sie im Schwesternzimmer verschwunden war. Plötzlich wandten sich alle Blicke mir zu, jeder einzelne trug ein süffisantes Grinsen im Gesicht. „Na, Leana, auch von ihrer Magie verzaubert?“, forschte Nozomu. Verwirrt sah ich vom einen zum anderen. „Verzaubert?“ Langsam verstand ich wirklich nicht mehr, was hier gespielt wurde. Zetsu lachte leise. „Leute wie du sind schnell begeistert von Nelia.“ „Leute wie ich?“, fragte ich wütend. Ich wusste nicht, weswegen ich plötzlich wütend wurde, aber ich konnte einfach nicht anders. „Oh ja~“, fuhr Sorluska fort. „Leute, die Regeln und deren Einhaltung lieben.“ „So bin ich nicht!“, widersprach ich heftig. Argh! Warum sagte ich so etwas? Natürlich war ich genauso. Regeln waren gut, sie halfen uns allen und machten das Leben erheblich einfacher. Aber bei dieser Gruppe widersprach ich fast schon aus Prinzip. Ich hätte mich treten können. „Dann beweis es!“, forderte Nozomu. Subaru schüttelte bereits seinen Kopf. „Das könnt ihr doch nicht machen...“ Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, der ihn sofort ins Schweigen verfallen ließ. Zufrieden wandte ich mich wieder Nozomu zu: „Also, was soll ich tun!?“ Er schmunzelte. „Du willst es also wirklich tun? Respekt.“ „Sag ihr lieber erst, was es ist“, meldete Thalia sich. „Vielleicht räumt sie ja doch noch das Feld.“ Diesmal warf ich ihr einen giftigen Blick zu, wandte mich aber sofort wieder an den Braunhaarigen. Auffordernd sah ich ihn an. Er lächelte zufrieden. „Also, ab 22 Uhr herrscht Nachtruhe, aber Sorluska und ich haben beschlossen, heute Nacht in den Keller zu gehen.“ „Was wollt ihr im Keller?“, fragte ich interessiert. Die anderen sahen ihn ebenfalls neugierig an, während sie auf eine Antwort warteten. Nozomu verzog das Gesicht zu einem Schmunzeln. „Im Keller werden die Süßigkeiten aufbewahrt.“ Das fiel mir nicht nur schwer zu glauben, nein, eigentlich interessierte es mich auch nicht. Ich hasse Süßigkeiten mit Leidenschaft. Aber vielleicht würden die beiden mich ein wenig anders sehen, wenn- Verdammt, was dachte ich da eigentlich!? Was kümmerte mich das!? Ich hatte absolut kein Interesse daran, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden – aber leider hatte ich nun auch keine großartig andere Wahl mehr. Wenn ich einen Rückzieher machen würde, wäre mir der Spott der beiden und vielleicht auch dem Rest der anderen sicher. Ich holte tief Luft. „Okay, okay, ich mache es.“ Nozomu und Sorluska warfen sich einen grinsenden Blick zu, Thalia seufzte lediglich. Zetsu lachte leise. „Viel Spaß ihr drei.“ „Kommst du nicht mit?“, fragte ich ihn. Er schüttelte mit dem Kopf. „Kein Interesse. Ich stehe auf Süßes – aber ich schlafe nachts gern.“ Brauchte er wirklich so viel Schlaf? Ich sah wieder zu Nozomu. „Wann und wo treffen wir uns?“ Sein Grinsen bereitete mir Sorgen, aber ich ging nicht weiter auf den Gedanken ein. „Um elf Uhr unten an der Treppe. Wie du dich rausschleichst, ist dir überlassen.“ Wieder warf ich einen Blick zum Schwesternzimmer hinüber. Ich konnte Nelia nicht sehen und vermutlich hatte sie kein Wort von dem gehört, was wir hier gesprochen hatten, dennoch überkam mich der Anflug eines schlechten Gewissens. Aber wie ich gesagt hatte: Ich würde nicht wieder zurückweichen! Ich nickte zustimmend. „Verstanden! Und wehe einer von euch macht einen Rückzieher!“ Die beiden nickten ebenfalls, das Grinsen immer noch auf ihren Gesichtern. Kapitel 10: Die Mutprobe ------------------------ Aufgrund der von Nozomu und Sorluska angesetzten Mutprobe verzichtete ich darauf, Baila an diesem Abend auszufragen. Stattdessen starrte ich an die Decke und versuchte, nicht einzuschlafen. Baila schlief bereits wenige Minuten, nachdem sie ins Bett gegangen war, ein. Beneidenswert... so schnell war ich noch nie eingeschlafen. Ich verwarf den Gedanken und konzentrierte mich dafür auf Nelias Schritte, die auf dem Gang zu hören waren. In regelmäßigen Abständen lief sie den Gang auf die andere Station hinunter. Die andere Station war nur durch eine Glastür von dieser getrennt. Soweit ich weiß, war das die geschlossene psychiatrische Klinik, während diese hier die offene war. Es hörte sich wirklich bescheuert an, aber na ja... solange ich nicht dorthin musste, konnte mir das egal sein. Wenn ich die Geräusche richtig deutete, betrat Nelia die andere Station. Vermutlich könnte ich diese Situation ausnutzen, um ins Treppenhaus und von dort nach unten zu kommen. Ich musste es wohl oder übel ausprobieren. Als die Schritte erneut an der Zimmertür vorbeigingen, stand ich auf. Ich wartete einen Moment, bis ich hörte, wie die Glastür hinter Nelia zufiel, dann verließ ich das Zimmer und ging auf den Gang hinaus. Doch statt direkt ins Treppenhaus zu laufen, ging ich zuerst in den Gruppenraum, wo ich mich neben das Aquarium kauerte und innerlich betete, dass Nelia nicht hereinsehen würde. Ich wollte nicht erleben, was geschah, wenn sie wütend wurde. Kaum saß ich da, hörte ich erneut, wie die Glastür zufiel und Nelia den Gang entlanglief. Also war meine Einschätzung der Zeitspanne richtig gewesen. So hätte ich es nie unauffällig ins Treppenhaus geschafft. Mit Sicherheit wäre ich noch an der Tür erwischt worden. Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Am anderen Ende des Ganges hielt sie wie üblich inne, fuhr schließlich herum und ging wieder in die andere Richtung davon. Warum musste sie so viel herumlaufen? Konnte sie nicht wie Jatzieta einfach nur im Schwesternzimmer herumlungern? Kurz bevor die Tür wieder zufiel, sprang ich erneut auf und lief auf den Gang hinaus. Ich öffnete die Tür zum Treppenhaus vorsichtig und schloss sie genauso vorsichtig wieder, bevor ich die Treppe hinunter huschte. Zum Umsehen blieb mir keine Zeit, aber anscheinend hatte ich es geschafft. Am unteren Absatz entdeckte ich tatsächlich Nozomu und Sorluska. „Wie seid ihr hier runtergekommen?“, zischte ich. Es war mir entgangen, wie die beiden sich rausgeschlichen hatten. Dabei hätte ich es eigentlich mitbekommen müssen, während ich Nelias Muster erforscht hatte. Die beiden Jungen sahen mich schmunzelnd an. „Das ist unser Geheimnis“, erwiderte Nozomu. „Es wundert mich allerdings, wie du hier runterkommen konntest.“ Ich musste mich stark zurückhalten, den beiden eine Grimasse zu schneiden. Wofür hielten die beiden mich denn? Sorluska grinste darauf. „Wollen wir dann mal? Euch anzicken könnt ihr auch später noch.“ Ich folgte den beiden zu einer metallenen Tür, die mir vorhin nicht aufgefallen war. Davor blieben die beiden wieder stehen, Nozomu kramte in seiner Tasche nach etwas. „Wo hast du den Schlüssel her?“, fragte ich, als er diesen hervorzog. „Das wüsstest du gern, was?“ Ja, das wüsste ich wirklich gern. Aber natürlich sagte er es mir nicht. Nozomu schloss die Tür auf und ging gemeinsam mit Sorluska hinein. Ich folgte den beiden und sah mich interessiert um. Doch schon nach wenigen Sekunden runzelte ich meine Stirn. Von Süßigkeiten war hier nichts zu sehen, lediglich Heizungsrohre und eine alte Heizanlage. Ein lautes Stampfen, das von der Maschine kam, erfüllte den feuchten Keller. Licht spendete einzig und allein eine rote Glühbirne, die eine bedrohliche Atmosphäre verbreitete. Es war wie in diesem Film, äh, Nightmare on Elm Street, genau. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Freddy Krueger gleich hervorgesprungen wäre. „Ist das ein mieser Scherz?“, fragte ich schlecht gelaunt. „Natürlich nicht“, erwiderte Nozomu. „Der Süßkram ist weiter hinten im zweiten Raum.“ Er deutete in eine Ecke, die ich von meinem Standort aus nicht einsehen konnte. Misstrauisch warf ich den beiden einen Blick zu, dann ging ich weiter in den Raum hinein, während die beiden Jungen an der Tür stehenblieben. Weiter drinnen blieb ich wieder stehen und sah mich um. Außer Rohren und einer brummenden Maschine gab es nichts, nicht einmal eine Tür in einen anderen Raum. Mit einem genervten Seufzen fuhr ich herum. Ich setzte gerade an, um etwas zu sagen – und sah nur noch, wie die Tür zufiel. Im nächsten Moment hörte ich, wie jemand den Schlüssel herumdrehte. „Hey!“ Ich hastete zur Tür hinüber und versuchte diese zu öffnen. Aber sie war bereits abgeschlossen. Wütend hämmerte ich dagegen. „Verdammt! Lasst mich raus!“ Die Jungen auf der anderen Seite lachten. „Morgen vielleicht.“ Während ich weiter gegen die Tür hämmerte, stieß ich den beiden alle wüste Beschimpfungen entgegen, die ich kannte. Doch als Ergebnis hörte ich lediglich wie das Lachen der beiden sich entfernte. Nur langsam hörte ich auf, gegen die Tür zu schlagen. Meine Hand schmerzte bereits, aber meine Panik übernahm die Oberhand und ließ mich den Schmerz ignorieren. Erneut versuchte ich, an der Klinke zu rütteln, aber die Tür gab nicht einen Millimeter nach. „Verdammt!“ Ich trat gegen die Tür – nun tat auch noch mein Fuß weh. Fluchend sah ich mich im Raum um. Dabei versuchte ich, tief durchzuatmen, um nicht in Panik zu geraten. Plötzlich schien das Schnaufen der Heizung noch lauter als zuvor zu sein und die Lautstärke nahm stetig zu. Mit einem leisen Schrei legte ich die Hände auf meine Ohren und ging in die Knie. Alles in mir betete darum, dass es endlich aufhören möge oder tatsächlich noch eine Tür in einen anderen Raum erscheinen würde. Doch meine Hoffnung schien (natürlich) nicht einzutreten. Ich schluchzte leise, die ersten Tränen liefen über mein Gesicht. Erneut kam ich mir wie ein kleines Kind vor, das in einem furchterregenden Raum gefangen war. Ja, es erinnerte mich wirklich daran, wie mich damals aus Versehen selbst in den Keller gesperrt hatte. Ich war nur von ausgestopften, angsteinflößenden Tieren, Spinnen und anderen Insekten umgeben gewesen – und meine Eltern hatten über zwölf Stunden nicht gemerkt, dass ich nicht da war. Erst am Morgen darauf waren sie auf die Idee gekommen, mich zu suchen – und selbst dann hatten sie mich erst am Nachmittag im Keller gefunden. Danach war ich nie wieder dort hinunter gegangen. Allein schon bei dem Gedanken daran war mir der kalte Schweiß ausgebrochen. Aber natürlich hatten weder meine Mutter noch mein Vater meine Angst ernst genommen. Was auch sonst? Ob es diesmal wieder so lange dauern würde? Auf jeden Fall würden Nozomu und Sorluska meine Rache zu spüren bekommen – selbst wenn ich hier sterben sollte. Obwohl ich hoffte, dass das nicht eintreten würde. Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß und immer nur vor- und zurückwippte, als ich plötzlich wieder Schritte hören konnte. Zögernd nahm ich die Hände von den Ohren und presste die Lippen aufeinander. Wenn das Sorluska und Nozomu waren, würde ich ihnen nicht den Triumph bieten, mich wie ein kleines Kind schluchzen zu hören. Vor der Tür hielten die Schritte wieder inne. Hastig stand ich auf und strich mir die Tränen aus dem Gesicht. Ich drehte mich zur Tür um. Sobald sie reinkommen würden, würde ich ihnen einen unangenehmen Empfang bereiten. Nie wieder würden sie mir so einen Streich spielen, dafür würde ich sorgen. Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht, die Tür öffnete sich. Noch bevor ich sehen konnte, wer dort stand, stürzte ich mich mit einem Schrei auf die Person. Kapitel 11: Gerettet -------------------- Im nächsten Moment spürte ich bereits wie sich Arme um mich schlossen, eine leise Stimme versuchte beruhigend auf mich einzusprechen. Ich stellte die ohnehin kraftlosen Faustschläge ein und schluchzte leise. Wieder liefen Tränen über mein Gesicht, ohne dass ich es verhindern oder noch bevor ich herausfinden konnte, wer mir da gegenüberstand. Aber ich war dennoch dankbar für die Hände, die über meinen Rücken strichen und mir den Trost gaben, den ich zuvor nie bekommen hatte. Erst als ich mich endlich beruhigt hatte, konnte ich herausfinden, wer mich da eigentlich tröstete. Am Liebsten hätte ich mich selbst getreten. Natürlich war es Zetsu in dessen Armen ich da gerade lag – und dummerweise fühlte es sich verdammt gut an. Sofort riss ich mich von ihm los und wandte ihm den Rücken zu. Ich fuhr mir über die Augen. „Was willst du? Wolltest du sehen, wie die Idioten mich eingesperrt haben?“ Bestimmt steckten die drei unter einer Decke. Zetsu würde ja wohl nicht aus Zufall hier rumstehen. „Nein“, antwortete er. „Aber ich dachte mir, dass sie wieder so etwas abziehen. Das machen sie öfter mit neuen Patienten, die sie nicht mögen. Beim letzten Mal ist der Neue sogar am nächsten Tag wieder gegangen.“ Subaru hatte mich also eigentlich warnen wollen? Und ich hatte ihn nur giftig angesehen. Wie toll und dankbar ich doch war. „Hast du dem nicht geholfen?“, fragte ich kühl. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete: „Nein. Wir haben alle erst am nächsten Morgen erfahren, was die beiden getan haben. Aber na ja... vielleicht war es besser, dass er wieder gegangen ist. Er hat nicht wirklich zu uns gepasst.“ Es klang als würde er von einer Clique und nicht von einer Patientengemeinschaft reden. Ich schluckte schwer. „Warum hast du mir geholfen?“ „Ich mag dich“, sagte er nach kurzem Zögern. Diesmal setzte mein Herz nicht aus, dafür machte es einen heftigen Sprung. Er mochte mich... ich konnte nicht sagen, was ich in diesem Moment fühlte, zu viele Gedanken rauschten durch meinen Kopf und machten es mir schwer, einen solchen zu fassen. Aber nein, nein, nein! Ich wollte nicht, dass er mich mochte. Warum konnte er mich nicht einfach nicht leiden, so wie die anderen? „Ist das wahr?“, fragte ich leise. Irgendwann würde ich mir bestimmt noch meine vorschnelle Zunge abbeißen. „Ja, ist es“, antwortete er. „So etwas sage ich nicht zu jedem.“ Owww, warum machte er es mir so schwer? Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre ihm wieder in die Arme gefallen. Doch ich gab dem Drang nicht nach. „Pff, ist mir doch egal.“ Bei einem Blick über meine Schulter erkannte ich, dass er mit den Schultern zuckte. „Wenn du meinst. Ich habe dir nur gesagt, was ich dachte. Lass uns wieder nach oben gehen, ich bin müde.“ Ich wollte etwas dazu sagen, aber der Spott blieb mir im Hals stecken. Er sah tatsächlich nicht sonderlich gut aus. „Aber was ist mit Nelia?“, fragte ich. „Wird sie nicht wütend werden?“ „Überlass du nur mir“, erwiderte er zuversichtlich und reichte mir seine Hand. Ich zögerte noch einmal, doch schließlich gab ich nach. Mit einem betont gleichgültigen Gesichtsausdruck ergriff ich seine Hand, obwohl mein Herz in Wahrheit wie verrückt schlug. Zetsu schloss die Tür und steckte den Schlüssel ein. Gemeinsam gingen wir die Treppe wieder hinauf und betraten ohne nachzusehen die Station. Sofort erklang ein scharfes Räuspern. Ich wandte Nelia meinen Blick zu und erwartete eine Strafpredigt. Allerdings sah sie nicht mich an, sondern nur Zetsu. „Was hat das zu bedeuten?“ Er entschuldigte sich sofort. „Leana ging es nicht so gut, deswegen habe ich sie nach unten gebracht.“ „Die Tür ist nachts abgeschlossen“, erwiderte Nelia. „Warum seid ihr nicht hier auf den Balkon gegangen?“ „Ich wollte die anderen nicht stören, außerdem reichte ihr die kühle Luft im Treppenhaus.“ Nelia verschränkte die Arme vor der Brust. Ungeduldig tippte sie mit ihren Fingern auf ihren Armen. „Warum hast du nicht Bescheid gesagt?“ Zetsu deutete auf den kleinen Tisch, der genau gegenüber der Tür ins Treppenhaus stand. Ein Klemmbrett mit einer Liste lag darauf. Erstaunt stellte ich fest, dass unsere Namen ganz unten auf der Liste standen. „Du warst gerade nicht da und ich wollte Leana nicht zu lange warten lassen, also habe ich unsere Namen aufgeschrieben. Ich dachte mir, da siehst du eher drauf.“ Verwundert sah ich ihn an. Er schien wirklich für alles eine Ausrede zu haben und auf alles gewappnet zu sein. Seufzend gab Nelia auf, sie sah mich an. „Geht es dir denn nun besser?“ Ich nickte schweigend. „Fein, dann geh jetzt aber ins Bett. Es ist schon halb zwölf, ihr solltet schon längst schlafen.“ Wir nickten zustimmend und gingen in Richtung unserer Zimmer. Nelia ging wieder in die andere Richtung davon. Vor meinem Zimmer blieb ich wieder stehen. „Zetsu... danke.“ Lächelnd wandte er sich mir zu. Seltsamerweise kam mir dieses Lächeln anders vor als die anderen, die ich im Laufe dieses Tages von ihm gesehen hatte. Normalerweise wirkten sie bei ihm immer aufgesetzt, aber dieses schien wirklich echt zu sein. „Du musst mir nicht danken. Ich habe dir gern geholfen. Versprich mir einfach, dass du nicht gehen wirst, ja? Ich werde Nozomu und Sorluska schon den Kopf dafür waschen.“ Fragend sah ich ihn an. „Warum willst du, dass ich bleibe?“ Leise lachend tippte er mir gegen die Stirn. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich mag.“ „Aber wir kennen uns erst seit ein paar Stunden.“ „Du warst mir auf den ersten Blick sympathisch“, erwiderte er. Ich nickte nur. Diese Worte hatten mich absolut sprachlos gemacht. Also hatte er mich von Anfang an gemocht? Genau wie ich ihn? Dennoch gab ich meinen Plan nicht auf. Zumindest vorerst nicht. Nach wie vor würde ich Zetsu so gut es ging ignorieren, bis ich mehr über ihn wusste. Nelia räusperte sich erneut, als sie uns immer noch auf dem Gang stehen sah. „Gute Nacht, Leana. Schlaf gut.“ „Gute Nacht...“ Er lächelte mir noch einmal zu, fuhr herum und ging in sein Zimmer davon. Ich betrat mein eigenes. Baila schlief immer noch tief und fest, so dass ich mich ohne große Worte wieder in mein Bett legen konnte. Erst in diesem Moment brachen die vergangenen Ereignisse erneut über mich herein. Erneut schlug mein Herz heftig, aber diesmal nicht wegen Zetsu, sondern der wieder aufkommenden Panik. Während ich mich unter meine Decke verkroch, gab ich mich zum zweiten Mal in dieser Nacht den Tränen hin. Doch es dauerte nicht lange, bis ich einschlief und schließlich friedlich von Zetsu träumte. Kapitel 12: Mysterium Zetsu --------------------------- Die Nacht war viel zu schnell vergangen, als ich am nächsten Morgen geweckt wurde. Verschlafen richtete ich mich auf, als die Tür aufging und Nelia hereinkam. „Guten Morgen. Es ist Zeit, aufzustehen. Beeilt euch, in fünfzehn Minuten gibt es Essen.“ Sie rasselte den Spruch routiniert herunter und fuhr dann herum, um das Zimmer zu verlassen. Mein Blick fiel auf mein Handy, das mir anzeigte, dass es sieben Uhr morgens war. Zu Hause wäre ich bereits seit einer Stunde wach gewesen. Überhaupt war mein Schlaf zu Hause sehr schlecht gewesen, oft war ich nachts mit einem irrationalen Gefühl der Furcht und einem rasenden Herzschlag aufgewacht und war morgens dann spätestens um sechs aufgestanden. Hier dagegen hatte ich tatsächlich die ganze Nacht durchgeschlafen. Vielleicht würde es dann nicht einmal so schlimm werden, wie ich anfangs befürchtete. Baila war bereits aufgestanden und damit beschäftigt, sich anzuziehen. Schließlich winkte sie mir zu, wahrscheinlich um mir einen guten Morgen zu wünschen. Ich lächelte. „Guten Morgen, Baila.“ Sie vollführte einige Handbewegungen, die ich als weitere Frage interpretierte. Ich nickte. „Ich habe gut geschlafen, danke.“ Anscheinend war das wirklich ihre Frage gewesen, denn sie lächelte glücklich. „Hast du auch gut geschlafen?“, fragte ich. Diesmal war sie es, die nickte. Schließlich gab sie mir zu verstehen, dass ich mich beeilen sollte. Für einen Moment überlegte ich, das Essen sausen zu lassen, aber mein knurrender Magen machte mir unmissverständlich klar, dass er das nicht tolerieren würde. Also stand ich auf und zog mich ebenfalls an. Gemeinsam verließen wir das Zimmer und gingen in den Gruppenraum, wo bereits die Tabletts mit dem Essen und den Namensschildern standen. Thalia und Subaru schienen sie verteilt zu haben. Erneut stand mein Tablett gegenüber dem von Zetsu. Er schien allerdings nichts damit zu tun zu haben, deswegen fragte ich mich, auf wessen Mist das gewachsen war. War es etwa Zufall? Oder doch so etwas wie Schicksal? Nozomu und Sorluska betraten den Raum und wirkten alles andere als begeistert. Keiner von beiden grüßte mich, allerdings konnte ich darauf auch verzichten. Wir saßen bereits fünf Minuten, als Zetsu schließlich als letzter hereinkam. Er wirkte noch müder als letzte Nacht, aber vielleicht war er einfach ein Morgenmuffel. Solche Leute gab es ja bekanntermaßen. Mit einem leisen Morgengruß setzte er sich mir gegenüber. Ich erwiderte ebenso leise und unbegeistert. Immerhin galt die kalte Schulter noch, nicht? Im Gegensatz zum Mittag- und Abendessen ging das Frühstück lautlos vonstatten. Kurz vor halb acht stand Subaru plötzlich auf. „Wir sollten uns beeilen, wir haben noch Sport.“ Fragend sah ich ihn an, bis mir wieder einfiel, dass es tatsächlich jeden Morgen eine halbe Stunde Sport gab. Zwar nicht unbedingt eines meiner Hobbys, aber auch nichts, was ich hasste. Ich folgte Baila wieder in unser Zimmer, wo wir uns die mitgebrachten Sportschuhe anzogen, bevor wir gemeinsam mit den anderen nach unten gingen. Vor der Tür wartete bereits Nelia. Ich wunderte mich, dass sie mir am Tag zuvor nicht aufgefallen war – allerdings war mein Blick da auch ganz auf Zetsu gerichtet gewesen. Der Sport bestand aus verschiedenen Gymnastikübungen und einigem Gerenne im Park. Schulsport war anstrengender und zumindest einer schien sich nicht vollständig auspowern zu können. Sorluska hatte noch genug Kraft, um vor sich hinzugrummeln, wofür er immer wieder von Thalia zurechtgewiesen wurde. Ich verstand nicht, was die beiden sagten, aber ihre Körpersprache sagte einiges. Während wir ziemlich unkoordiniert herumrannten, entdeckte ich plötzlich Zetsu, der auf einer Bank saß. Irritiert blieb ich stehen. „Warum sitzt du da?“ Fragend sah er mich an. „Warum nicht?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum rennst du nicht hier herum?“ Er blinzelte müde, während er die Schultern hob. „Keine Lust.“ Ich hatte ihn nicht als Sportmuffel eingestuft, nein, von seinem Körper her hätte ich sogar gedacht, dass er ziemlich häufig Sport macht, aber vielleicht war ihm das hier zu kindisch. Irgendwie warf er mir immer mehr Fragen auf, wenn er mir etwas beantwortete. „Hast du überhaupt auf etwas Lust?“, fragte ich weiter. „Auf sehr vieles sogar.“ Bevor ich eine weitere Frage stellen konnte, stand plötzlich Subaru neben mir. „Komm, du solltest dich langsam beeilen. Nelia hat schon nach dir gefragt.“ „Aber was ist mit Zetsu?“ Ich deutete auf den Silberhaarigen, der immer noch unbeteiligt auf der Bank saß. Subaru schüttelte seinen Kopf. „Das ist schon okay, dass er hier sitzt. Glaub mir.“ Ich wollte noch eine weitere Frage stellen, aber anscheinend war es Subaru unangenehm, weiter vor Zetsu darüber zu sprechen. Jedenfalls schnappte er sich meinen Arm und zog mich mit sich zum Vorplatz zurück, wo die anderen inzwischen wieder standen. Nelia warf einen Blick auf uns. Als ich den Kopf wandte, entdeckte ich plötzlich Zetsu, der neben mir stand. Er war uns gefolgt, ohne dass ich es gemerkt hatte. „Scheint als wären wir wieder vollzählig“, bemerkte Nelia. „Dann können wir wieder hochgehen, es wird Zeit für eure Medikamente.“ Das, was ich am liebsten verdrängt hätte. Medikamente zu nehmen war gut und schön, aber ehrlich gesagt lebte ich auch ohne Medikamente sehr gut. Ich wollte keine von diesen ruhig gestellten Zombies werden – aber vermutlich musste ich damit leben, wenn ich schon in solch einer Klinik war. Gemeinsam gingen wir alle wieder nach oben, wo wir von der inzwischen aufgetauchten Jatzieta enthusiastisch begrüßt wurden. „Guten Morgen, Kinder~ Ihr habt mir ziemlich gefehlt.“ „Guten Morgen“, grüßten wir unbegeistert zurück. Außer Subaru, Baila und Zetsu schien niemand sie wirklich zu mögen. Und die zählten nicht, die schienen aus irgendeinem Grund jeden zu mögen. Auf dem Tisch im Schwesternzimmer standen bereits allerlei kleine Döschen mit Pillen drin, die Namen standen außen drauf. Missmutig ging mein Blick von einem zum anderen. Bis auf drei Döschen schienen alle dieselben Medikamente zu enthalten. Das von Thalia und Sorluska unterschied sich von den anderen, aber die beiden hatten ebenfalls denselben Inhalt. Lediglich Zetsus Medikamente waren vollkommen anders, was mich wieder zu der Frage führte, was er hier tat. Weswegen wurde er hier behandelt? Ich musste bei Gelegenheit wirklich einmal jemanden fragen. Nacheinander reichte Jatzieta jedem seine Dosis und einen Becher Wasser dazu. „Immer runter damit, Kinder, damit Nelia unbesorgt Feierabend machen kann.“ Nelia rollte mit den Augen. Ihr war es offensichtlich egal, ob jemand seine Tabletten nahm oder nicht – abgesehen von Zetsu. Aufmerksam blickte die Schwester ihn an, bis er schließlich seine Tabletten geschluckt hatte. Kaum war das geschehen, nickte sie zufrieden. „Gut, Jatzieta, du hast die Notizen ja schon gesehen. Ich bin dann bis heute Abend wieder weg.“ „Bis später“, verkündete Jatzieta gut gelaunt. Damit fuhr Nelia herum und ging davon. Ich vermisste sie bereits. Ob sie mir wohl sagen würde, was mit Zetsu war? Und warum sie ihn so sehr behütete? Dummerweise war ich wirklich neugierig, was mir sonst gar nicht ähnlich sah. Aber wenn es um das Mysterium Zetsu ging... ach, Mann, jetzt hatte ich dafür sogar schon einen Namen. Am besten, ich würde noch eine eigene Einsatzgruppe für die Polizei bilden, damit wir dem auf die Spur kamen. Plötzlich sah Zetsu mich an. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Er konnte doch keine Gedanken lesen, oder? Er lächelte. „Hast du letzte Nacht gut geschlafen?“ Wieso fiel ihm die Frage plötzlich ein? Ich nickte nur. Natürlich erzählte ich ihm nicht davon, dass ich im Bett wieder geweint und dann von ihm geträumt hatte. Bestimmt hätte er darüber ohnehin nur gelacht. Die Antwort schien ihn zufriedenzustellen. Er fuhr herum und ging davon. Nozomu gab ein abwertendes Geräusch von sich. „Auch das noch.“ Baila und Subaru sahen ihn fragend an, lediglich Thalia und Sorluska schienen ihn zu verstehen, allerdings wirkte keiner von beiden begeistert. Wenngleich ich das Gefühl hatte, dass sie ohnehin nie von irgend etwas zu begeistern war. „Was denn?“, fragte ich, die mal wieder gar nichts verstand. Nozomu schüttelte nur den Kopf. „Gar nichts, vergiss es einfach. Am besten, du vergisst echt alles und gehst wieder nach Hause.“ „Setoki!“ Thalia sah ihn wütend an. „Rede nicht so mit ihr! Vielleicht hilft ihm das ja.“ Nozomu schnaubte und ging wortlos an ihr vorbei, um das Zimmer zu verlassen. Fragend sah ich ihm hinterher, bevor ich mich wieder an Thalia wandte: „Was soll wem helfen?“ Sie schüttelte allerdings nur den Kopf und zog Sorluska mit sich hinaus. Mein Blick ging weiter zu Baila und Subaru, doch die beiden hoben nur die Schultern. Sie schienen zwar untereinander ganz dicke zu sein – wie mein Mathelehrer zu sagen pflegte – aber mit den anderen hatten sie wohl nicht so viel zu tun. Jatzieta lächelte nur amüsiert. „Nun, Kinder, ihr solltet wohl auch mal gehen. Demnächst beginnt die Morgenrunde.“ Da Baila und Subaru mir zunickten, verließ ich gemeinsam mit ihnen das Schwesternzimmer, meine Gedanken schon wieder bei Zetsu. Ich seufzte innerlich. Warum war es nur so schwer, nicht an ihn zu denken? Vielleicht, weil er einem immer wieder neue Fragen aufwarf? Aber komme, was wolle, ich würde die Fragen aufklären – und ihn DANN endlich vergessen, ganz sicher. Kapitel 13: Nein ---------------- Ich weiß immer noch nicht, was ich von diesem Krankenhaus erwartet hatte. Eine Wunderheilung vielleicht? Oder möglicherweise war ich nur hergekommen, um meinen Eltern zu entfliehen. Im Endeffekt wusste ich selbst nicht mehr, ob das eine gute Idee gewesen war. Die Depressionsgruppe um zehn Uhr bestand aus Subaru, Nozomu, Zetsu (was auch sonst) und mir. Ich setzte mich extra weit weg von Zetsu, nur um mich dabei zu erwischen, wie ich immer wieder zu ihm hinübersah. Er war also doch wegen Depressionen hier? Danach sah er gar nicht aus, egal wie ich es betrachtete. Sein Verhalten war seltsam, ja, aber es gab seltsamere Jugendliche und die waren auch nicht hier. Die Gruppe wurde von Cynard Asturions geleitet, einem gutaussehenden Mann mit langem dunkelblondem Haar. Eigentlich sah er nicht sonderlich nach einem Therapeuten aus und sein Name klang auch nicht danach (wobei ich mir selbst nicht sicher war, wie ein echter Therapeut auszusehen oder zu heißen hatte). Cynard saß auf der anderen Seite des Tisches und lächelte uns sanft an. Seltsamerweise störte mich das bei ihm aber nicht. Ansonsten hatte ich immer das Bedürfnis, jemandem eigenmächtig dieses Lächeln wegzuwischen – aber bei Cynard nicht. Sein Blick richtete sich auf mich. „Du bist neu hier, nicht?“ Ich nickte wortlos. Vorstellen war aber auch nicht notwendig, denn er fuhr direkt fort: „Dann bist du mit Sicherheit Leana Vartanian. Wie gefällt es dir hier?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Es geht.“ Er lachte leise. „Das dachte ich mir. Willst du uns erzählen, warum du hier bist?“ „Wenn Sie so fragen: Nein.“ Nozomu seufzte, aber Zetsu lachte ebenfalls, während Subaru mich nur hilflos ansah. Cynard neigte den Kopf. „Nun, du musst auch nicht. Aber diese Gruppe kann dir nur helfen, wenn du freiwillig darüber redest.“ „Wie viele Leute haben Sie schon geheilt?“ Meine Frage schien ihn aus dem Konzept zu bringen, aber er fing sich erstaunlich schnell wieder. „Ich bin nicht für die Heilung der Patienten zuständig. Jeder Patient muss sich selbst heilen.“ „Esoteriker?“, erwiderte ich. Cynard seufzte und vermerkte etwas auf seinem Klemmbrett. Ich versuchte, einen Blick darauf zu erhaschen, doch er hob das Brett hoch, so dass ich nichts mehr sehen konnte. Schließlich räusperte er sich und sah zu Subaru, der neben mir saß. „Und wie geht es dir?“ Der Braunhaarige hob die Schultern. „Die Albträume haben nachgelassen.“ „Das ist doch eine schöne Nachricht.“ Ich sah Subaru fragend an. Depressionen verursachten doch normalerweise keine Albträume, oder? Ich kannte nur Schlaflosigkeit als Symptom. Aber möglicherweise ließ mich da mein Wissen auch im Stich. Subaru lächelte verhalten. Er wirkte weitaus weniger gelassen und fröhlich als außerhalb dieser Gruppe. „Aber dafür scheinen die Träume selbst intensiver zu werden.“ „Willst du hier darüber reden?“, fragte Cynard fürsorglich. „Nun... Ich kann immer noch die knirschenden Bremsen hören und auch Shou sehen, wie er...“ Subaru verstummte wieder, ich konnte sehen, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten, bevor er hastig den Blick senkte. Es war das erste Mal, dass ich die Trauer eines anderen Menschen regelrecht fühlen konnte. Doch ich verstand immer noch nicht, was bei ihm geschehen war oder wer dieser Shou war. Ob Baila vielleicht etwas wusste? Cynard machte eine weitere Notiz auf seinem Klemmbrett. Nach einem kurzen Blick auf Subaru, wandte er sich Nozomu zu. „Wie geht es dir inzwischen?“ „Besser“, antwortete der Gefragte. „Ich habe keine Albträume mehr, außer wenn ich von der Schule träume. Und Professor Cworcs meinte, dass ich demnächst auch am RAT teilnehmen könnte.“ Ich erinnerte mich an Professor Cworcs, den steifen, grünhaarigen Brillenträger, der diese Station leitete. Mit ihm hatte ich damals mein Vorgespräch, bevor ich hierher gekommen war. RAT stand meines Wissens für Realitäts Anpassungs Training. Es beinhaltete die stundenweise Rückkehr in die Realität außerhalb des Krankenhauses. Wenngleich ich mir nicht vorstellen konnte, dass das irgendwie sinnvoll war. Aber wer war ich schon, um das zu beurteilen? Cynard lächelte. „Das klingt wirklich gut, Nozomu. Du und Zetsu seid schon lange hier, oder?“ Beide nickten zustimmend, wenngleich Zetsu dabei immer noch ungebremst lächelte, als ob er bereits damit auf die Welt gekommen wäre. Bevor Cynard weitermachen konnte, schaltete ich mich ein: „Warum habt ihr alle Albträume? Ist das eine Grundvoraussetzung, Depressionen zu haben?“ „Na ja, wenn ich nur so tun würde als ob“, antwortete Nozomu, „würde ich natürlich auch keine Albträume haben.“ „Denkst du ich bin zum Spaß hier oder was!?“, fauchte ich. „Dir würde ich es zutrauen“, erwiderte er. Ich wollte auffahren, doch Subaru drückte mich wieder auf meinen Stuhl zurück. „Bitte nicht, Leana. Nozomu meint es nicht so.“ Diesmal schluckte ich meine scharfe Reaktion runter. Ich wusste nicht, was Subaru alles mitgemacht hatte, doch ich war mir sicher, dass es besser war ihn nicht auch noch in meinen Streit mit Nozomu reinzuziehen, wenn er eigentlich nur schlichten wollte. Ich schnitt Nozomu eine Grimasse, bevor ich mich wieder abwandte. Er schnaubte wütend. Cynard schüttelte seinen Kopf, bevor er eine weitere Notiz vermerkte und dann wieder mich ansah. „Albträume sind nicht zwingend eine Grundvoraussetzung, aber hin und wieder kommen sie vor, wenn der Patient überhaupt zum Schlafen kommt.“ „Und dann kommt es gleich zweimal vor?“, fragte ich skeptisch. „Das ist eben eine Ausnahmesituation.“ Ohne weitere Worte wandte er sich Zetsu zu. Vermutlich konnte er mich nicht leiden, aber nachdem wie ich mit ihm gesprochen hatte, wunderte mich das nicht mehr. Es störte mich aber auch nicht weiter. Immerhin war ich nicht in die Klinik gekommen, um mir Freunde zu sammeln. „Wie sieht es bei dir aus, Zetsu?“, fragte Cynard. Der Silberhaarige lächelte leicht, aber diesmal war es kein... liebenswertes, so wie es sonst war. Es wirkte traurig und verbittert – das erste, was wirklich den Eindruck entstehen ließ, dass er hierher gehörte. „Ich lebe noch“, antwortete er schließlich. „Und bin immer noch hier eingesperrt.“ Es klang bedauernd, sein trauriges Lächeln unterstrich es auch noch. Ich fragte mich, warum Zetsu wohl nicht fähig war, die Klinik einfach wieder zu verlassen. Vielleicht war er noch minderjährig und seine Eltern stimmten einer Entlassung nicht zu. Allerdings wusste ich gar nichts über seine Eltern. Warum nur hatte ich ihn nicht vorher gefragt? Eigentlich hatte ich ihn gar nichts gefragt, außer warum er hier war. Er dagegen wusste inzwischen alles über mich und meine Vergangenheit. Fehlte nur noch, dass ich ihm die Namen all meiner ehemaligen Fantasiefreunde aufgezählt hätte. „Willst du mehr darüber erzählen?“, fragte Cynard. „Nein“, war die knappe Antwort. „Nachmacher“, brummte ich leise. Die anderen lachten als Antwort, weswegen ich mich fragend umsah. Subaru fasste sich als erstes wieder, um es mir zu erklären: „Zetsu sagt das immer, schon bevor du hier warst.“ „Oh...“ Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätten den Raum verlassen, nur um den schmunzelnden Gesichtern zu entgehen, die mich auszulachen schienen. Wie konnte ich nur davon ausgehen, dass er mir etwas nachmacht? War ja klar, dass er es zuerst so gemacht hat. Erneut notierte Cynard etwas. Nach einem Blick auf seine Uhr stellte er seufzend fest, dass die Stunde bereits vorbei war. Ich konnte es kaum fassen, mir schienen gerade einmal ein paar Minuten vergangen zu sein. Cynard verabschiedete sich lächelnd von uns und verließ den Raum. Ich wartete nicht lange, sondern sprang direkt auf und lief ebenfalls hinaus, bevor Nozomu noch etwas sagen konnte. Bis zum Mittagessen war noch Zeit – und ich würde diese in meinem Zimmer verbringen. Kapitel 14: Am Abend -------------------- Früher dachte ich immer, Schultage würden quälend langsam vergehen. Aber langsam bekam ich das Gefühl, dass die noch das Paradies gewesen waren, verglichen mit dem, was ich hier durchmachte. Es war immer noch gerade mein zweiter Tag, dabei kam es mir bereits wie zwei Wochen vor. Allerdings war mein Plan aufgegangen. Bis zum Mittagessen hatte ich vollkommene Ruhe in meinem Zimmer. Während des Essens hielt ich den Kopf gesenkt, um Zetsu nicht sehen zu müssen und im Anschluss war ich sofort wieder in meinem Zimmer verschwunden – wo ich den ganzen Nachmittag saß. Das Abendessen verlief ebenfalls schweigsam, keiner schien recht Lust zu haben, irgendetwas zu sagen, am Allerwenigsten ich. Das Schweigen, so sehr ich es auch genoss, wurde allerdings von zwei Personen nicht sonderlich gut aufgenommen. Jatzieta und Satsuki standen im Türrahmen, beide mit einem tadelnden Blick bewaffnet, den ich nicht nachvollziehen konnte. Was konnte an Schweigen nur auszusetzen sein? Einige Minuten schafften wir es, sie kollektiv zu ignorieren, bis eine es nicht mehr aushielt. „Wollt ihr eigentlich noch lange da rumstehen?“, fragte Thalia schließlich genervt. „Ich kann es nicht leiden, wenn man mir beim Essen zusieht.“ „Ja, weil man dann sieht, wieviel du verschlingst“, gluckste Sorluska. Der Schlag gegen seinen Hinterkopf, der als einzige Reaktion darauf erfolgte, tat sogar mir beim bloßen Zusehen weh. Fluchend rieb er sich die schmerzende Stelle und bedachte die teilnahmslos weiteressende Thalia mit einigen Flüchen. Statt einzuschreiten oder das Mädchen gar zu tadeln, schmunzelte Jatzieta nur amüsiert. „Immerhin könnt ihr noch reden.“ Ich fühlte mich wirklich wie im falschen Film. Als ob ich mir Mission: Impossible hätte ansehen wollen und dabei in einer schlechten Sitcom gelandet wäre – und ich hasse Sitcoms. Das einzige Gute an dieser war... nein, nein, nein! Hastig verwarf ich den in mir aufkeimenden Gedanken an Zetsu wieder und warf ihm nicht einmal einen Blick zu, obwohl er mir wie bei bisher jeder Mahlzeit gegenübersaß und es mich doch interessiert hätte, ob er vielleicht mich ansah. Doch statt mich damit zu beschäftigen, blickte ich immer wieder zu Jatzieta hinüber. Das erneut eingesetzte Schweigen ließ sie wieder die Stirn runzeln. Unwillkürlich stellte ich mir die Frage, ob sie nicht eitel genug war, um sich um dadurch entstehende Falten zu kümmern. Aber vielleicht interessierte sie so etwas auch gar nicht und sie nahm den natürlichen Alterungsprozess ihres Körpers als gegeben. Sollte dem so sein, würde ihr Ansehen bei mir um zwei Punkte steigen – immerhin würde sie dann unter hundert Minuspunkte kommen. Während ich noch beschäftigt war, Zetsu nicht anzusehen, stand dieser plötzlich auf und ging an Jatzieta vorbei. Als er sich ihr zuwandte, konnte ich sein blasses Gesicht und die eingefallenen Wangen sehen. Heute Vormittag hatte er noch ausgesehen wie immer – er wurde doch nicht etwa krank? „Ich bin müde, ich werde ins Bett gehen“, kündigte er der Schwester an, die nur ein ernstes Nicken für ihn übrig hatte. Schließlich fuhr er wieder herum und verschwand in den Flur, wo man nach kurzer Zeit eine Tür hören konnte. Ich wandte mich wieder den anderen zu und stellte überrascht fest, dass jeder einen ernsten Zug auf seiner Miene trug. Plötzlich kam ich mir mit meiner ins Gesicht geschriebenen Verwirrung nur noch fehl am Platz vor. Sorluska wandte sich an Nozomu. „Yo, ist alles in Ordnung mit ihm?“ Ich konnte sehen, wie der Braunhaarige mir einen raschen Blick zuwarf, so als wollte er prüfen, ob ich zuhören würde, dann nickte er knapp. „Ja. Er fühlt sich nur ein wenig ausgelaugt, das ist alles.“ Wovon fühlte der sich denn ausgelaugt? Beim Sport tat er nichts und so wie ich ihn am Vortag erlebt hatte, war er wohl auch den Rest des Tages nur rumgesessen. Doch ich stellte die Frage nicht laut. Nozomus Blicke verrieten mir, dass es ihm gar nicht gefiel, wenn ich mich zu neugierig, besonders in Bezug auf Zetsu, zeigte. Betont desinteressiert blickte ich daher in eine andere Richtung. Noch einmal spürte ich seinen brennenden Blick auf mir, doch ich glaubte, auch die Befriedigung fühlen zu können, als er sich wieder von mir abwandte. Der Rest des Abends verlief schweigend. Ohne Zetsu schien wohl niemand wirklich Lust zu haben, sich zu unterhalten oder sie nahmen Rücksicht auf den Schlafenden, damit er nicht durch eventuell zu laute Gespräche geweckt werden würde. Wenngleich ich immer noch nicht verstand, weswegen alle so einen Terz um ihn machten. Ja, er war außerordentlich charismatisch und gutaussehend, aber musste sich deswegen alles um ihn drehen? Erst bei dieser Frage fiel mir wieder auf, dass ich nicht sonderlich besser war. Seit ich hier war, drehten sich meine Gedanken auch nur noch um ihn. Mit Sicherheit war ich von ihm verhext worden, eine andere Möglichkeit konnte es einfach nicht geben. Es war unmöglich, dass ich mich aus freien Stücken wie Bella Swan verhielt. Allein der Gedanke jagte mir kalte Schauer über den Rücken, die mich frösteln ließen. Es verging noch eine Weile, in der ich bei den anderen saß. Die träge Stimmung schlug mir auf das ohnehin schon deprimierte Gemüt, weswegen ich erleichtert aufsprang, als Baila mir zu verstehen gab, dass sie nun in unser Zimmer zurückkehren würde. Als sich die Tür hinter und schloss, spürte ich bereits, wie ein Teil der Deprimiertheit von mir abfiel. Ich wollte die Gelegenheit, endlich allein mit Baila zu sein, nutzen, um einige Dinge in Erfahrung zu bringen. „He, Baila~“, begann ich so ungezwungen wie möglich. „Kann ich dich etwas fragen?“ Lächelnd wandte sie sich mir zu, sie nickte, genau wie ich es erwartet hatte. Nur wie sollte ich anfangen? „Weißt du vielleicht, weswegen Zetsu hier ist?“ Für einen Moment blickte sie mich an, als wollte sie fragen, ob ich mir das nicht denken könnte, dann schüttelte sie den Kopf. Eine ausführlichere Antwort schien ich nicht zu bekommen, ihr Block blieb geschlossen. „Und weißt du, warum es ihm plötzlich so schlecht ging?“ Erneut sah sie mich mit diesem Blick an, dann schüttelte sie wieder mit dem Kopf. Wieder einmal beschlich mich das Gefühl, dass ich von ihr oder Subaru keine großartigen Informationen über Zetsu erhalten würde. Mir blieb also nur, ihn selbst oder Nozomu zu fragen – aber bei beiden Varianten erschien mir die Möglichkeit, aus dem Fenster zu springen um einiges attraktiver. Da sie mich aber immer noch aufmerksam ansah und offensichtlich auf eine weitere Frage wartete, beschloss ich, etwas anderes in Erfahrung bringen zu wollen. „Warum ist Subaru hier?“ Es musste etwas mit diesem Shou und knirschenden Bremsen zu tun haben – aber das konnte so vieles bedeuten. Endlich öffnete Baila ihren Block, mit flinken Strichen begann sie etwas aufzuschreiben. Gespannt wartete ich darauf, dass sie mir das Geschriebene endlich zeigen würde. Schließlich drehte sie mir die beschriftete Seite zu. Subarus Freund Shou starb bei einem Autounfall. Subaru denkt, dass es seine Schuld war, weil das Auto Shou erwischte, nachdem er Subaru weggeschubst hat. Dann waren es Schuldgefühle, die ihn in die Depression und schließlich hierher getrieben hatten? Eine Woge von Mitgefühl überkam mich, allerdings hielt sie nicht sonderlich lange an, sondern wurde von Scham ersetzt. Wenn ich die Gründe der anderen für ihr Hiersein hörte, kamen mir meine eigenen so unbedeutend vor. Ich musste wirklich der undankbarste Mensch auf der Welt sein – genau wie meine Eltern es immer gesagt hatten. Der Gedanken an meine Erzeuger, die sich stets einen Dreck um mich geschert und nur an ihrem Ruf interessiert gewesen waren, erfüllte mich wieder mit Wut. Eine so unbändige, ohnmächtige Wut, die mir die Tränen in die Augen trieb. Das bemerkte ich allerdings erst, als Baila mir vorsichtig mit einem Taschentuch an den Augenwinkeln herumtupfte. Peinlich berührt trat ich einen Schritt zurück, fahrig ging ich mir mit dem Ärmel über die Augen. „Ist schon gut, alles nicht so schlimm“, versicherte ich. Dieselben Worte, die ich mir seit Jahren einredete und langsam ihre Wirkung zu verlieren schienen – auf Baila dagegen hatten sie offensichtlich von Anfang an keine. Ungläubig und besorgt sah sie mich an, doch ich wandte mich von ihr ab und begann damit, mich umzuziehen. Ich wollte nicht über meine Eltern reden, die Probleme mit ihnen waren nichts im Vergleich zu denen der anderen, ich würde mich nur selbst lächerlich machen. Wäre Zetsu nicht gewesen und die Aussicht, zu meinen Eltern zurück zu müssen, hätte ich auf der Stelle gepackt und wäre wieder nach Hause gefahren. Irgendwie hätte ich mich mit Sicherheit durchgebissen, so wie ich es mein ganzes Leben geschafft hatte. Ohne Baila, die mich immer noch mitleidig ansah, zu beachten, legte ich mich schließlich ins Bett, mit dem Rücken zu ihr. „Guten Nacht“, murmelte ich mit erstickter Stimme, bevor ich das Licht auf meiner Seite löschte. Für einige Minuten hörte ich Baila noch geschäftig rascheln, dann schaltete sie ihre Lampe ebenfalls aus. Wie am Tag zuvor dauerte es nicht lange, bis sie wieder eingeschlafen war. Hastig verkroch ich mich unter meiner Decke, nur für den Fall der Fälle, wo ich sofort ungehindert in Tränen ausbrach und mich fast lautlos schließlich in den Schlaf weinte. Ein Schlaf, in dem ich endlich frei war von den Gedanken an meine Eltern und meine eigene Empfindlichkeit. Kapitel 15: Chefvisite ---------------------- Mittwoch und Donnerstag vergingen fast noch quälender, als Montag und Dienstag. Nicht nur, dass mir in den Pausen zwischen irgendwelchen Therapieverfahren gähnend langweilig war, nein, ich bekam nicht einmal Zetsu zu Gesicht. Er verbrachte die Zeit auf seinem Zimmer, das Essen wurde ihm von Jatzieta gebracht, deren ungewohnt ernster Gesichtsausdruck mich stets schwer schlucken ließ. Nicht, weil ich Angst vor ihr bekam, sondern weil ich mir tatsächlich Sorgen machte. Da ich mir geschworen hatte, Nozomu nicht danach zu fragen, ich Zetsu aber auch nicht einfach in seinem Zimmer aufsuchen konnte – er hätte das bestimmt absolut falsch verstanden – , beschloss ich einfach, Subaru zu fragen. Zwar war mir bereits aufgefallen, dass er und Baila nicht sonderlich viel Kontakt mit dem Silberhaarigen pflegten, doch waren die beiden immerhin in derselben Depressionsgruppe. Da musste doch irgendetwas zu erfahren sein. Also befand ich mich nach dem Frühstück und der Medikamentenvergabe – der Morgensport entfiel zum Glück donnerstags und freitags – mit ihm in der kleinen Küche. Offenbar war es sein erst mal letzter Tag Küchendienst, den er damit verbringen wollte, das kleine Räumchen auf Hochglanz zu polieren. Würde die Reihe jemals an mich kommen, wäre ich mit Sicherheit nie mit einer solchen Hingabe wie er dabei. Es war also die beste Zeit, ihm Fragen zu stellen, immerhin war er möglicherweise so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er mich nicht zu sehr hinterfragen würde. „Sag mal, Subaru~“, begann ich zurückhaltend, ich wollte ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Wie erwartet blickte er gar nicht erst von seiner Arbeit auf, sondern gab nur ein „Hm?“ von sich. Perfekt! „Weißt du eigentlich, warum Zetsu hier ist?“ Dummerweise hielt er inne, statt einfach brav weiterzuputzen. Er wandte mir sein Gesicht zu, so dass ich den fragenden Blick sehen konnte. Es hätten nur noch die Fragezeichen um seinen Kopf herum gefehlt, damit ich mir wie der letzte Idiot vorgekommen wäre. „Warum willst du das wissen?“ Was sollte die Frage eigentlich? Ich war neugierig! War das hier verboten oder was?! Ich antwortete ihm das – natürlich ließ ich dabei den gereizten Unterton weg und die beiden Gegenfragen. „Außerdem hat er mich auch gefragt. Aber als ich ihn fragte, wollte er mir nicht so recht antworten.“ DAS hätte ich wohl nicht antworten sollen, denn Subarus Miene verschloss sich sofort. „Wenn er es dir nicht sagt, sollte ich es auch nicht tun. Das wäre nicht richtig.“ Ich überlegte, ihm zu erzählen, dass Baila mir gesagt hatte, weswegen er hier war, doch ich verzichtete darauf. Ich wollte nicht, dass sie wegen mir mit ihm Ärger bekam. „Und wenn ich 'Bitte' sage?“, fragte ich, doch er blieb stur. Gut, ich hatte mich also in einem Punkt geirrt: Subaru wusste, weswegen Zetsu hier war – er wollte es mir nur nicht sagen. War es denn wirklich so furchtbar? Bei Zetsus Auftreten konnte ich es mir gar nicht vorstellen. Andererseits war dieses lockere, selbstbewusste Auftreten vielleicht nur ein Schutzmantel, den er brauchte, um nicht verletzt zu werden. Man sagte ja immer, dass Rowdys innerlich alle verletzte und eigentlich ganz liebe Geschöpfe waren – eine Auffassung, die ich nicht wirklich teilte, aber vielleicht lag das nur daran, dass jemand, der andere in den Selbstmord trieb, in meinen Augen nicht unbedingt als lieb eingestuft werden konnte. „Wenn Zetsu dir vertraut, wird er es dir selbst sagen“, fuhr Subaru fort. Falls er mir jemals vertrauen würde. Diesen Zustand sah ich in naher Zukunft jedoch noch nicht auf mich zukommen. „Kannst du mir wenigstens sagen, warum es ihm gerade so schlecht geht?“, bat ich. Niemand konnte mir erzählen, dass Depressionen einen innerhalb von ein paar Stunden für mehrere Tage so stark außer Gefecht setzten, dass sogar Jatzieta nicht nach scherzen zumute war. Genau wie bei Baila bekam ich hierauf keine Antwort. Doch hatte ich bei Subaru dafür immer noch das Gefühl, dass er etwas wusste und es mir nur nicht sagen wollte. Als ob die ganze Station sich gegen mich verschworen hätte. Plötzlich hob Subaru den Kopf, automatisch tat ich dasselbe, Herdentier, das ich als Mensch bin. Außerdem fiel in Filmen in dem Moment immer irgendetwas von der Decke und ich wollte mir die Kopfschmerzen ersparen. Zu meinem Glück entdeckte ich aber nur eine Uhr, die vor sich hintickte und mir verriet, dass es bereits neun Uhr war – stand ich wirklich schon so lange mit Subaru in der Küche herum? Meine Gedanken mussten mich wirklich ziemlich ablenken, wenn ich nicht mal bemerkte, dass ich schon eine Stunde hier stand. Auf den Gedanken, dass die meiste Zeit dafür draufgegangen war, mich zu überwinden, ihn anzusprechen und die Frage zu stellen, kam ich in dem Moment gar nicht. „Er wird bald hier sein“, murmelte Subaru. Ich senkte den Kopf wieder und rief mir den Plan ins Gedächtnis. Wenn mich nicht alles täuschte, sollte um viertel zehn die Chefvisite stattfinden. Das machte mich nun doch ein wenig nervös. In den letzten Tagen hatte ich ohnehin immer mehr an meinen Depressionen gezweifelt, was wenn er erkennen würde, dass ich eigentlich gar nichts hätte und mich rauswarf? Natürlich wollte ich eigentlich nicht hier drin sein, aber ich wollte auch nicht zu meinen Eltern zurück. Zwar gab es immer noch meine ältere Schwester, aber... ich war mir nicht wirklich sicher, ob die mich bei sich aufnehmen würde. Sie war bereits vor ein paar Jahren von zu Hause geflüchtet und meine Eltern hatten mir die Schuld daran gegeben. Ja, wir haben uns oft gestritten, aber war das nicht normal für Geschwister? Seitdem hatte ich jedenfalls nichts mehr von ihr gehört, ich wusste nicht einmal genau, wo sie eigentlich wohnte. Gut, das war gelogen. Letztes Jahr schickte sie mir eine E-Mail aus dem Urlaub – Los Angeles, es war schön, sonnig und gab zu ihrer Enttäuschung keine Erdbeben während ihres Aufenthalts – aber offenbar nur, weil ich noch in ihrem virtuellen Adressbuch stand und die Nachricht an all jene geschickt wurde, die darin verzeichnet waren. Ich hatte ihr nicht darauf geantwortet und die Mail gelöscht. Ein Seufzen kroch meine Kehle empor, doch ich schluckte es runter. An meine Schwester konnte ich noch ein andermal denken, nun müsste ich mich erst einmal mit diesem Chefarzt auseinandersetzen – ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was mir da bevorstand. Als ich wenige Minuten später wieder im Aufenthaltsraum saß, den Blick auf das Aquarium gerichtet, bemerkte ich als eine der ersten die Person im Treppenhaus. Sein aufrechter Gang wirkte streng, sein Gesicht dagegen machte eher einen gelangweilten Eindruck, während sein langes grünes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war geradezu nach Freigeist schrie. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass er ebenfalls ein Patient war. Doch Jatzieta zerstörte meine Vorstellung direkt. Lächelnd – und damit meine ich nicht ihr anzügliches Lächeln, das sie sonst zur Schau trug – ging sie auf den Mann zu. Beide begrüßten sich halblaut, bevor sie ihm mit einer eleganten Bewegung ein Klemmbrett reichte. Bevor er es entgegen nahm, zog er eine Brille aus seiner Tasche und setzte diese auf – im Gegensatz zu Dr Breen erinnerte er allerdings gar nicht an Harry Potter, sondern mehr an einen ausgebrannten Lehrer vor seiner ersten Tasse Kaffee. Seine Augen huschten über das Papier auf dem Klemmbrett, dann nickte er verständig. Er hob den Blick und sah mich durch die Glasscheibe hindurch an. Wer immer er war, er wusste sofort, dass ich neu war, das konnte ich seinem Gesicht ansehen. Im nächsten Moment wandte er sich allerdings ab und ging in Richtung Behandlungszimmer davon. Jatzieta dagegen kam in den Aufenthaltsraum, das Lächeln auf ihrem Gesicht war wieder das Altbekannte. „Unser Chef empfängt dich jetzt“, flötete sie. Moment! DAS war der Chefarzt? Bislang hatte ich diesen noch nie gesehen oder mit ihm gesprochen, alles war über Dr Breen abgewickelt worden – aber Chefärzte hatten in meiner Vorstellung immer anders ausgesehen. Viel älter, mit weißen Haaren, jeder Menge Falten im Gesicht und nur mit einem Arztkittel unterwegs. Andererseits schienen mir bislang alle Psychologen irgendwie... anders zu sein. Nach einer erneuten Aufforderung von Jatzieta erhob ich mich schließlich von meinem Sessel und folgte ihr. Der Chefarzt empfing mich mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck, der äußerst desillusioniert wirkte. Als ob er selbst keine Hoffnung mehr für seine Patienten hätte – zum Glück war das hier nicht die Intensivstation und ich war nicht wegen einer lebensbedrohlichen Krankheit hier, sonst hätte ich mir an dieser Stelle überlegt, ob ich auf dem Heimweg nicht vielleicht beim Notar vorbeigehen sollte, um ein Testament aufzusetzen. Nicht, dass ich viel zum Vererben gehabt hätte... Nach einer knappen Begrüßung setzte ich mich auf dem angebotenen Stuhl und wurde von Jatzieta mit ihm alleingelassen. War das wirklich rechtens? Doch bevor ich mich in paranoiden Vorstellungen verstricken konnte, stellte der Arzt sich bereits vor: „Mein Name ist Salles Cworcs.“ Ehe ich überlegen konnte, ob es mir möglich war, diesen Namen auszusprechen und ihn mir zu merken, sprach er bereits weiter: „Ich weiß, mein Nachname ist ziemlich ungewöhnlich. Daher gilt für dich dasselbe Angebot wie für alle anderen Patienten, mich mit meinem Vornamen anzusprechen.“ Das war in meinen Augen fast noch ungewöhnlicher als sein Name. Ich kannte Autoritätspersonen nur als stets auf ihren Status hinweisende Personen, die unausstehlich wurden, wenn man dies missachtete und es wagte, sie irgendwie anders anzusprechen. Erneut kam ich nicht selbst zu Wort, ehe er fortfuhr: „Also, Leana... es ist doch in Ordnung, wenn ich dich so nenne? Du bist seit Montag hier. Wie gefällt es dir bislang?“ „Gut.“ Was sollte ich sonst sagen? „Ich kann die anderen Patienten nicht wirklich leiden und habe nicht wirklich das Gefühl, hierher zu gehören, aber ich hab auch keine Lust, wieder nach Hause zu gehen und das Essen ist ertragbar. Ach und übrigens finde ich Zetsu Akatsuki unglaublich atemberaubend.“? Das wäre eine seltendämliche Schnapsidee. Er nickte gedankenverloren, während er sich etwas notierte. „Du bist ganz allein hergekommen, nicht? Oder hat dich jemand gefahren?“ Ich schnaubte. „Nein, ich kam allein.“ Wäre ja noch schöner gewesen, wenn einer meiner Elternteile mich gefahren hätte. Sie hatten ja kaum erwarten können, dass ich endlich das Haus verlasse. Mit Sicherheit war ich längst in Vergessenheit geraten, der bereitgestellte gekühlte Sekt und die vielen aus dem Keller geholten Weinflaschen würden dafür gesorgt haben. Was wohl aus meinem Zimmer gemacht worden war? Als ich noch dort gewesen war, hatten sie sich noch gestritten, ob daraus ein Hobbyraum oder ein Raucherzimmer werden sollte. Ob fünf – okay, sagen wir wegen dem Vollrausch drei – Tage überhaupt ausreichten, um das schlussendlich zu entscheiden? Danach stellte er mir einige allgemeine Fragen über meine bisherigen Ärzte, meinen Schulabschluss, bisherige Krankheiten, Familienstand und ich beantwortete alles wahrheitsgemäß. Seine gelangweilte Stimme erfüllte den Raum und lullte mich dermaßen ein, dass ich mich am Liebsten hingelegt und geschlafen hätte. Schließlich blätterte er die Unterlagen auf dem Klemmbrett um. Anscheinend waren wir am Ende dieses Fragebogens angekommen. Ich erwartete, dass Salles ebenfalls fragen würde, warum genau ich hier war und ich zum wiederholten Male die Geschichte meines Lebens runterrasseln musste, doch stattdessen sah er mich plötzlich schweigend an. Ich erwiderte seinen Blick gefestigt, während ich auf seine nächste Frage wartete. Für eine Weile schwiegen wir uns nur an. Wir beide schienen fest entschlossen zu sein, nicht als erstes wegzusehen. Und dann kam eine Frage, mit der ich nicht gerechnet hatte: „Gibt es etwas, das dir auf der Seele liegt?“ Ertappt zuckte ich zusammen. Warum fragte er das? Als ob er meine Gedanken erraten hätte, sah er wieder auf das Klemmbrett und antwortete auf die unausgesprochene Frage: „Jatzieta sagt, du hättest Schwierigkeiten damit, dich zu integrieren und würdest dich von den anderen abkapseln.“ Typisch, genau das bekam sie natürlich mit. „Das ist am Anfang der Therapie ziemlich normal“, erklärte Salles. „Immerhin muss man sich erst eingewöhnen. Aber sie sagt auch, dass es bei dir ein wenig anders ist.“ Er ließ das Gesicht gesenkt, blickte mich nur über den Rand seiner Brille hinweg an. Sollte ich ihm von meinen Befürchtungen erzählen? Vielleicht würde er mich direkt rauswerfen, wenn ich das tat. Aber ich konnte doch ohnehin nicht ewig so tun als ob und außerdem brannte es mir wirklich auf der Zunge. Also erzählte ich ihm von der Befürchtung, dass ich möglicherweise nicht an Depressionen litt, dass ich mir nur etwas einredete, um nicht bei meinen Eltern sein zu müssen, dass das der Grund war, warum bislang keine Therapie geholfen hatte. Geduldig und mit unbewegter Miene hörte er mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Ich konnte nicht ablesen, was er dachte und so sprudelten immer mehr Wörter hervor, ohne dass ich es verhindern konnte oder gar wollte. Es tat ausgesprochen gut, sich diese Befürchtungen von der Seele zu reden, ohne dass mir jemand gegenübersaß, der sich offensichtlich fragte, ob ich verrückt sei. Als ich schließlich fertig war, schloss Salles die Augen. „Ich verstehe.“ Innerlich machte ich mich bereit, meinen Koffer zu packen, allen Lebewohl zu sagen und dann unter eine Brücke zu ziehen. Ob es in der Nähe wohl hübsche Brücken gab? Vielleicht hätte ich mich auf dem Hinweg besser umsehen sollen. Zu meinen Eltern wollte ich auf jeden Fall nicht zurück und ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wo meine Schwester inzwischen wohnte. Ganz davon abgesehen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie mich einfach so bei sich aufnehmen würde. Ich jedenfalls würde so etwas nicht tun – glaube ich, ich war ja noch nie in so einer Situation. Salles öffnete seine Augen wieder – und lächelte. Das erstaunte mich, er schien mir nicht der Typ Mensch zu sein, der oft lächelte, aber in diesem Moment tat er es. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? „Mach dir keine Sorgen“, sagte er ungewohnt sanft. Das konnte unmöglich die Eröffnung zu einem Rauswurf sein, oder? „Depressionen äußern sich bei jedem Menschen unterschiedlich. Sieh dir doch allein Nozomu und Subaru an – würdest du darauf kommen, dass sie beide aus ähnlichen Gründen an Depressionen leiden?“ So hatte ich das bislang gar nicht betrachtet. Langsam schüttelte ich den Kopf, setzte aber sofort nach: „Aber die beiden haben immerhin etwas Schlimmes erlebt, ich dagegen-“ Er ließ mich nicht ausreden: „Du hast auch ziemlich viel in deinem Leben durchgemacht. Es mag oberflächlich für dich erscheinen, wenn du es mit den anderen vergleichst, aber jeder Mensch geht individuell mit seinen Gefühlen um. Ich kann dir aus dem Stegreif mehrere Personen nennen, die eine ähnlich schwere Familiensituation haben – einige wurden dadurch stärker, andere zerbrachen daran und wieder andere lebten ein vollkommen normales Leben. Du bist daran zerbrochen, aber das bedeutet nicht, dass du schwach bist. Nein, ich denke, dass du eine starke Person bist, denn immerhin hast du den Schritt in diese Klinik gewagt – freiwillig, wie mir zugetragen wurde.“ So hatte ich das bislang nie betrachtet. Die allgemeine Vorstellung (auch die meiner Eltern) war ja, dass nur Schwächlinge zu Psychiatern gingen. Immerhin war man früher auch so groß geworden, ohne dass man sich gleich reihenweise von Brücken warf, wie mein Vater immer zu sagen pflegte. Zähne zusammenbeißen und runterschlucken, das war seine Devise. Er hatte nie verstanden, warum ich das nicht auch konnte. Es war mir selbst ein Rätsel. Kurz nach dem Auszug meiner Schwester war mir das einfach nicht mehr möglich gewesen. Damals hatte ich auch meinen ersten Zusammenbruch und kurz darauf den ersten Besuch beim Schulpsychologen, der mich bald zu einem anderen weiterwinkte. „Dann... dann werfen Sie mich nicht raus?“, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, das Lächeln war wieder verschwunden. „Dr Breen hat bereits mit mir über dich gesprochen. Er sprach auch die Aufnahme-Empfehlung aus und ich bin sicher, er weiß, was er tut. Und nachdem, was du mir heute erzählt hast, bin ich sicher, dass wir dir helfen können, sofern du dich öffnest.“ Es war seltsam und die meisten Leute würden mich zu Recht für verrückt halten, aber zu hören, dass ich in der psychiatrischen Klinik bleiben durfte, dass man mir glaubte, dass man mich ernst nahm, dass ich wirklich depressiv war; all das erleichterte mich in diesem Moment so sehr, dass ich glaubte zu spüren, wie mir ein ganzes Bergmassiv vom Herzen fiel. „Geht es dir nun besser?“, erkundigte er sich. „Viel besser“, bestätigte ich. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, eine letzte Notiz, dann ließ er das Klemmbrett sinken. „Gibt es noch irgendwelche Fragen?“ Jede Menge! Aber sie alle betrafen Zetsu und ich konnte mir daher nicht vorstellen, dass sie beantwortet werden würden, also schüttelte ich mit dem Kopf. „Nein.“ „Dann sehen wir uns in einer Woche wieder.“ Zum Abschied schüttelten wir uns die Hände, dann stand ich auf und verließ das Arztzimmer. Vor der Tür atmete ich tief ein. Den so von mir verhassten stechenden Geruch des Reinigungsmittels würde ich also noch länger ertragen müssen, aber das war mir egal. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich tatsächlich wieder Hoffnung für mich – und ich war bereit, diese zu ergreifen. Kapitel 16: Crisis Core ----------------------- Der ganze Krankenhausaufenthalt war bislang Langeweile pur – weswegen ich mich im Gegensatz zu früher auch nicht über das Wochenende freute. Samstags und Sonntags gab es nämlich absolut gar nichts zu tun, man wurde nicht einmal geweckt. So schlief ich bis neun Uhr und wachte erst auf, als ich eine seltsam vertraute Stimme vom Flur hörte: „Nein, es geht mir wirklich wieder besser. Der Arzttermin reicht auch noch nächste Woche.“ Mein Herz machte einen erleichterten Sprung, nur damit ich diesem gleich eine verpassen konnte. Es war Zetsu, der da auf dem Gang mit Jatzieta diskutierte. Offenbar ging es ihm wieder gut genug, dass er sein Zimmer endlich verlassen konnte. Seit langem fühlte ich mich wieder beschwingt, mein Bett zu verlassen, mich anzuziehen und ihm um den Hals zu fallen. Nein, Moment, der letzte Gedanke war nicht ernst gemeint. Ein Blick auf das Nachbarbett verriet mir, dass Baila bereits auf den Beinen war. Ich war froh, dass sie mich hatte schlafen lassen, so fehlten mir zumindest ein paar langweilige Stunden. Aber vielleicht machten die anderen Patienten ja irgend etwas Spannendes am Wochenende. Ich schmunzelte, als mir der Gedanke bewusst wurde. Vielleicht war es nur der Teil meines Gehirns, der für Klischees verantwortlich war, aber etwas in mir sagte, dass es in einer solchen Klinik nichts Spannendes gab. Außer vielleicht Zetsu. Und da wäre ich wieder bei meinem leidigen Thema. Da es langsam Zeit wurde, meine Tabletten zu nehmen, stand ich auf und zog mich an. Außerdem gehörte ich normalerweise nicht zu den Langschläfern. Bevor ich das Zimmer verließ, atmete ich noch einmal tief durch und versuchte mein wild klopfendes Herz zu beruhigen. Warum musste es nur immer so schnell schlagen, wenn ich an Zetsu dachte, das wurde langsam lächerlich. Früher hatten mich Jungen nie so sehr interessiert und auch Nozomu und Subaru waren mir recht egal. Aber Zetsu... Hastig schob ich den Gedanken beiseite – und stand kurz darauf dem Original gegenüber. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass er sich direkt vor meiner Tür mit Jatzieta unterhalten hatte. Der frische Geruch von Seife und Shampoo umgab ihn, er kam wohl direkt aus der Dusche. Aber als er mich anlächelte, war das auch nebensächlich. „Guten Morgen, Leana~“ „Guten Morgen, Zetsu.“ Ich beschloss, ein wenig lockerer an die Sache ranzugehen, damit er nicht merkte, wie aufgeregt ich war: „Hast du auch mal wieder den Weg aus deinem Zimmer gefunden?“ Er schmunzelte. „Du glaubst gar nicht, wie schwer das war.“ „Vielleicht solltet ihr besser aufräumen“, führte ich das Spiel weiter. Es schien uns beiden diebisches Vergnügen zu bereiten, denn auch er fuhr offenbar zufrieden fort: „Wir werden wohl eine Putzkraft dafür einstellen müssen, wir sind einfach viel zu beschäftigt.“ In dem Bruchteil der Sekunde, in der ich noch über eine Erwiderung nachdachte, unterbrach Nozomu uns: „Seid ihr fertig mit Flirten? Das wird ja langsam peinlich.“ „Ich flirte nicht!“, zischte ich zur Antwort, doch er rollte nur mit den Augen. „Wenn du das sagst.“ Zetsu gab ihm ein deutlich sichtbares Zeichen, dass er verschwinden sollte, was Nozomu auch sofort befolgte. Schließlich sah der Silberhaarige mich wieder an. „Bist du auf dem Weg zum Frühstücken?“ Ich nickte nur, worauf er lächelte. „Dann lass uns zusammen essen.“ Er ließ mir nicht einmal die Gelegenheit abzulehnen, offenbar setzte er meine Zustimmung voraus. Bevor ich wusste, wie mir geschah, ergriff er meine Hand und zog mich mit sich. Vorbei meine guten Vorsätze, ihm aus dem Weg zu gehen. Im Moment war ich einfach nur froh, dass es ihm gut ging und die Sorgen offenbar umsonst gewesen waren. Wir verbrachten so ziemlich den ganzen Tag miteinander, bis zum Abendessen zumindest, auch wenn wir den Großteil davon gemeinsam vor dem Fernseher saßen. Wir sahen uns Sitcoms an, die ihn offenbar zum Lachen brachten, bei denen ich den Witz aber vergeblich suchte. Vielleicht wäre mir das aber auch leichter gefallen, wenn ich nicht ständig zu ihm hinübergesehen hätte. Wir unterhielten uns nicht, auch wenn mir diese eine Frage immer noch auf der Zunge brannte: Was zur Hölle war nur los mit ihm? Warum war er hier? Aber ich wusste, dass er mir nicht antworten würde, deswegen fragte ich erst gar nicht. Stattdessen versuchte ich es zu ergründen, allein indem ich ihn ansah. Es soll ja Leute geben, denen es möglich war, Gedanken zu lesen, wenn sie sich nur fest genug konzentrierten. ... Ich gehörte jedenfalls nicht dazu. Die Erkenntnis enttäuschte mich ein wenig. Das wäre an diesem Tag wirklich hilfreich gewesen. Aber ich war wohl eher Bella statt Edward. Zetsu schien nicht zu bemerken, dass ich ihn anstarrte oder es kümmerte ihn nicht, jedenfalls kommentierte er es nicht einmal. Erst beim Abendessen redete er wieder, allerdings nur mit Nozomu und den anderen. Er ignorierte mich nicht, das sah ich an seinem Blick, aber... vielleicht war ich ihm ja zu langweilig. Vielleicht hätte ich während des Tages etwas sagen sollen oder ich war ihm zu unheimlich, da ich ihn die ganze Zeit angestarrt hatte. Argh! Warum dachte ich darüber überhaupt nach!? Selbst wenn er meine erste Liebe war – was ich doch sehr bezweifelte – so etwas ging doch nie gut. Erste Beziehungen gingen zu 99% in die Brüche oder endeten später in bitteren Scheidungen mit gegenseitigen Schuldvorwürfen über verpasste Chancen und so nen Kram. Ja, ich lese manchmal die Frauenmagazine meiner Mutter mit den spannenden Nachrichten über gealterte Schlagerstars oder den brandheißen Gerüchten aus irgendwelchen Königshäusern. Ab und an braucht eben auch mein Gehirn den Leerlauf, man kann ja nicht immer nur P.M. lesen. Wo war ich? Ach ja, genau, Zetsu – in den ich nicht verliebt bin, damit das klar ist – unterhielt sich während des Essens mit den anderen am Tisch. Es war schwer zu glauben, dass er bis gestern noch zu krank gewesen war, um sein Zimmer zu verlassen. Nach dem Essen saßen wir wieder einmal alle im Gruppenraum zusammen. Die Frage nach Spannung erübrigte sich für mich in dem Moment auch: Während Baila und Subaru beide mit Zeichnen beschäftigt waren, saß Thalia im Sessel neben mir und strickte. Ein Anblick, der für mich recht unwirklich war. Als ich ihr das erste Mal begegnet war, war sie außerordentlich sauer gewesen und auch später schien sie immer eine gewisse Wut unter der Oberfläche brodeln zu lassen. Doch während sie strickte wirkte sie unglaublich gelassen, ihre Gesichtszüge waren ungewohnt entspannt, sie wirkte wie ein friedlicher Mensch, der nur durch Zufall in diese Gruppe geraten war. Ob Stricken wohl ein Teil ihrer Therapie war? Ich wollte es fragen, doch ich fürchtete, dieses perfekte Bild zu zerstören. Nozomu saß in einem Sessel und spielte mit einem schwarzen Gerät. Es war zu groß für ein Handy und auf dem Rücken waren die Initialen PSP zu sehen. Ich musste einen Moment nachdenken, bevor mir einfiel, dass das irgendeine tragbare Spielkonsole oder so etwas war. Meine Schwester war früher verrückt nach ihrem Gameboy gewesen, selbst mit 16 hatte man sie ständig mit dem immer neuesten Modell irgendwo stehen sehen. Ich selber hatte die Faszination dahinter nie verstanden. Nicht einmal Tetris, das angeblich beliebteste Spiel der Welt, oder dieser seltsame italienische Klempner in den roten Klamotten, konnten mein Interesse wecken. Einfacher gesagt: Es war einfach nicht meine Welt. Zetsu saß auf der Lehne und beobachtete das Spiel, Sorluska stand hinter dem Sessel und betrachtete alles über Nozomus Schulter. „Hast du keine Phönixfedern mehr oder was?“, fragte der Rowdy forsch. „Er kratzt gleich ab, besser du setzt sie gleich ein.“ „Nein, spar dir das lieber“, erwiderte Zetsu. „Wenn du in der Mission stirbst, macht das nichts, deine Phönixfedern kannst du noch für was anderes brauchen.“ Sorluska schnalzte verärgert mit der Zunge. „Unsinn! Durch die Missionen bekommt er Erfahrung und mit genug davon braucht er keine Federn für die anderen Gegner.“ „Hört auf damit“, brummelte Nozomu. „Ihr nervt im Moment beide, ich muss mich konzentrieren.“ Aus den Augenwinkeln konnte ich Thalia schmunzeln sehen. „Er schafft es sowieso nicht“, murmelte sie, gerade laut genug, dass ich es hören konnte. Auf meinen fragenden Blick fuhr sie fort: „Er ist seit Wochen mit dieser Mission beschäftigt.“ Als ob die Jungen sie darin bestätigen wollten, stöhnten alle drei unisono auf. „Nicht schon wieder!“ Frustriert senkte Nozomu das Gerät. „Das ist doch unmöglich. Wie soll man das denn schaffen?“ Ich weiß nicht, wie die kommenden Worte es schafften, sich an meiner gedanklichen Vorauswahl vorbeizuschmuggeln, doch schon im nächsten Moment hörte ich mich selbst „Jeder andere würde es bestimmt schaffen“ sagen. Die Blicke der Jungen richteten sich auf mich, plötzlich fühlte ich mich wie auf dem Präsentierteller. „Was ist?“ „Jeder, huh?“, fragte Nozomu. „Meinst du etwa, du würdest das schaffen?“ „Ich bin nicht jeder“, versuchte ich, mich wieder rauszuwinden. Was ich als Allerletztes brauchen konnte war es, in einer Herausforderung von ihm unterlegen zu sein. Mein Stolz würde das nicht hinnehmen, da war ich mir sicher. Doch mit seiner Reaktion hatte ich nicht gerechnet: „Klar, du kannst nicht mal den Bruchteil meiner Fähigkeiten aufbringen. Du würdest gnadenlos untergehen~“ Ich weiß wirklich nicht, was genau es war, doch in dem Moment, in dem ich das hörte, sprang mein Ehrgeiz ans Steuer und gab Vollgas. „Red keinen Unsinn! Gib mir das Teil! Ich mach das!“ Schmunzelnd reichte er mir die PSP. Schon als ich diese in der Hand hielt, bereute ich meine Entscheidung. Sie war schwerer als erwartet und die Anzahl der Tasten verwirrte mich. Der letzte Gameboy, den ich gesehen hatte, besaß nur vier Knöpfe und ein Steuerkreuz, dieses Monstrum hier allerdings... Moment, dreizehn Tasten, ein Steuerkreuz und so ein seltsames Teil, das offenbar auch die Spielfigur steuerte. Und auch die Grafik war ganz anders als das, was ich damals erblickt hatte. Allerdings wollte mir das nicht übel gefallen, diese Pixel von damals waren gar nicht nach meinem Geschmack gewesen. Offenbar hatte die Spielindustrie einen riesigen Sprung gemacht, während ich nicht dabeigewesen war. Nozomu drückte mich auf den Sessel, auf dem er eben noch gesessen hatte, so dass er sich neben Sorluska und damit hinter mich stehen konnte. Der Geruch von Zetsu, der ja immer noch auf der Lehne und damit direkt neben mir saß, half mir nicht gerade dabei, mich zu konzentrieren, während Nozomu mir die Steuerung erklärte. So kompliziert schien sie gar nicht zu sein, irgendwie würde ich mich da schon zurechtfinden, trotz der ganzen Tasten, von denen ein Teil gar nicht genutzt wurde. Irgendwo zwischendrin schnappte ich auch den Namen dieses schwarzhaarigen Kerls auf: Zack Irgendwas, der aus irgendeinen Grund gegen irgendwelche Shinra-Typen kämpfte – zumindest in der Mission, die ich erledigen sollte. Ganze Tausend von denen sollte ein einzelner töten. Lächerlich, genauso wie das große Schwert auf dem Rücken von Zack. Mit Sicherheit würde ich noch mehr lächerliche Dinge entdecken, wenn ich das ganze Spiel angehen würde. Zum Glück ging es hier aber nur um die eine Mission. Sie startete vergleichsweise harmlos, was mein Glück war, denn ich musste mich erst in das System einfinden. Außerdem irritierten mich diese Bilder am linken oberen Rand, die sich andauernd zu drehen schienen. Mit der Zeit schaffte ich es allerdings, sie zu ignorieren und mich in das Spiel einzufinden, während immer mehr Soldaten nachkamen. Ich erledigte Welle um Welle, wenn auch mehr durch Glück als durch Können, wenn ich ehrlich sein soll. Teilweise handelte ich schon fast automatisch, meine Finger reagierten schneller als mein Gehirn, das schon gar nicht mehr hinterherkam. Auch deswegen weil alle drei Jungen auf mich einredeten. Ich verstand kein Wort, obwohl ich versuchte, alles aufzunehmen. Irgendwann verschmolzen die Stimmen zu einem einzigen wütenden Summen, das ich wieder zu ignorieren schaffte. Je näher ich dem vierstelligen Siegergebnis kam und je hartnäckiger die Feinde desto verkrampfter wurden meine Hände. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich keine geübte Spielerin war oder ob ich tatsächlich immer wieder fürchtete, zu verlieren. Als ich in den 900er-Bereich kam, verstummten die Jungen um mich herum und starrten gebannt auf den kleinen Bildschirm. Ich kam mir vor, als würde das Schicksal einer ganzen Welt auf meinen Schultern lasten, wahrscheinlich waren sie deswegen auch so verspannt. Doch als es schließlich soweit war und die Mission als erfolgreich gekennzeichnet wurde, stellte sich keine Euphorie in mir ein. Stumpf starrte ich auf das Display, während ich wie von weit hören konnte, dass Zetsu mir gratulierte. Die beiden Jungen hinter mir schienen nichts zu sagen, bestimmt waren sie noch damit beschäftigt, das zu schlucken. Mir fehlte die Genugtuung, von der meine Schwester immer gesprochen hatte, das warme Gefühl des Triumphs, das sich wie lindernder Balsam auf die Seele legte. Vielleicht war ich einfach nicht zum Spielen geboren – oder ich litt wirklich an Depressionen und die schafften es, sogar solche Momente wertlos zu machen. „Nicht schlecht“, hörte ich plötzlich Nozomus klare Stimme. „Aber bilde dir nichts darauf ein, das war das pure Anfängerglück.“ „Glaubst du an so etwas?“, fragte ich mit gerunzelter Stirn. „Es ist offensichtlich“, erwiderte er. Offenbar war er nicht gewillt, mir diesen Triumph zu gönnen und mir war das Thema zu unwichtig, um darüber zu streiten. Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst.“ Ich reichte dem deutlich verstimmten Nozomu seine PSP – und hörte ein lautes Räuspern. Sofort hielten alle im Gruppenraum den Atem an, zumindest kam es mir so vor. Mein Blick folgte denen der anderen, so dass ich ebenfalls Nelia an der Tür entdeckte. Ihr strenger Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass wir gegen irgendeine Regel verstoßen hatten. Gedanklich ging ich die Bestimmungen durch. Gut, gewaltverherrlichende Spiele waren verboten, aber konnte man das von eben wirklich als solches bezeichnen? Missbilligend schüttelte sie den Kopf und streckte die Hand aus. „Her damit.“ Nozomu warf einen um Hilfe heischenden Blick zu Zetsu, der auch sofort reagierte. Er setzte sein umwerfendstes Lächeln auf – jedenfalls hielt ich es dafür, sollte es eine Steigerung geben würde man wohl einen Zuckerschock davon erleiden – und richtete sich auf. „Bitte, Nelia, Nozomu wollte es ja eigentlich nicht auspacken. Ich habe ihn darum gebeten, obwohl er mich immer wieder an die Regel erinnert hat. Also nimm sie ihm nicht weg, bitte.“ Natürlich glaubte sie ihm nicht, dass er Nozomu darum gebeten hatte, das konnte ich ganz deutlich in ihrem Gesicht sehen... doch es war einfach unfassbar schwer, sogar für sie, ihm zu widerstehen. Nach einem kurzen inneren Kampf seufzte sie. „In Ordnung, ausnahmsweise. Aber wenn ich euch noch einmal damit erwische, gibt es keine Gnade mehr.“ „Verstanden. Vielen Dank, Nelia.“ Erst als sie den Gruppenraum wieder verließ, lockerte sich auch die Atmosphäre auf. Thalia sah Zetsu mit einem anerkennenden Schmunzeln an. „Gar nicht schlecht. Wie schaffst du es nur immer, sie um den Finger zu wickeln?“ „Gekonnt ist eben gekonnt“, erwiderte er lächelnd. Ich hätte schwören können, das auch schon einmal gehört zu haben, aber da mir nicht einfiel, wo, schwieg ich einfach. Nozomu nahm mir die PSP wieder ab. „Yeah, danke, Zetsu.“ Alle widmeten sich wieder ihren Tätigkeiten, während ich aufstand und Nozomu seinen Platz auf dem Sessel wieder einnahm. Im Gegensatz zu Thalia wunderte ich mich nicht darüber, dass sein Charme sogar auf Nelia gewirkt hatte. Wenn er sogar auf mich wirkte, musste das auch bei anderen funktionieren. Zetsu zwinkerte mir zu, ein seltsam angenehmes Kribbeln breitete sich dabei in meinem Bauch aus. Ich seufzte leise, als mir bewusst wurde, was das bedeutete. Um es mal mit den Worten von Bella Swan zu sagen: Ich war bedingungslos und unwiderruflich in ihn verliebt. Nur im Gegensatz zu ihr war ich nicht gewillt, das einfach so hinzunehmen. Ich würde das aussitzen, bis diese Phase vorbei war, immerhin hielt keine Liebe ewig – und wenn das vorbei war, würden sich meine Gedanken hoffentlich nicht mehr dauernd um ihn drehen. Kapitel 17: Von Göttern und Spöttern ------------------------------------ Der Sonntag verging quälend langsam, ich war heilfroh, als es endlich Montag wurde. Diese Woche würden endlich all meine Therapien beginnen und ich hoffte, dass zumindest die Wochentage ein wenig schneller vergehen und ich mehr Ablenkung von Zetsu bekommen würde. Während des Frühstücks konnte ich noch nicht wissen, dass diese Ablenkung schneller kommen würde als mir lieb war – und das auf äußerst unangenehme Weise. Nach dem Frühsport, den ich immer mehr zu hassen begann, kehrten wir auf die Station zurück. Ausnahmsweise lief ich einmal gemeinsam mit Thalia hinauf, da Baila bereits mit Subaru vorgelaufen war. Die anderen Jungen dagegen liefen irgendwo weit hinter uns. Thalia war gar nicht so übel, wenn sie nicht gerade einen Wutanfall bekam. Eigentlich war sie mir sogar ganz sympathisch, vielleicht konnten wir Freunde werden... oder so. Wenn ich so darüber nachdenke, fiel mir auf, dass ich nie irgendwelche Freunde gehabt hatte. Oberflächliche Bekannte, schnelllebige Kontakte mit Mitschülern, ja, aber Freunde? Fehlanzeige. Mir stand aber auch nicht wirklich der Sinn nach solchen. Selbst im Internet hielt ich mich von diesen Communitys fern, um nicht Gefahr zu laufen, dass Leute mich sympathisch finden und sich mit mir anfreunden könnten. So betrachtet war es selbst für mich seltsam, dass ich hier im Krankenhaus Leute traf, mit denen ich mich tatsächlich anfreunden würde. Jedenfalls betraten wir die Station und ich kann mit Fug und Recht sagen, dass sie uns beiden sofort auffiel. Man musste sie einfach bemerken. Nicht weil ihr Aussehen so hervorstach, sondern weil sie direkt vor dem Gruppenraum saß – und extrem wütend zu sein schien. Die Luft um sie herum schien elektrisch geladen zu sein und geradezu zu knistern, kein Vergleich zu Thalia oder Sorluska, wenn sie wütend waren und die waren schon Furcht einflößend. Sie war nicht über den Haupteingang hergekommen, das hätte ich selbst beim Laufen durch den kleinen Park gesehen. Also wo kam sie her? Thalia erschauerte für einen Moment. „Oh nein, nicht die...“ „Kennst du sie?“, fragte ich. Bevor das Mädchen uns bemerkte – sie schien wirklich extrem sauer zu sein, dass sie uns bislang nicht einmal beachtete –, zog Thalia mich in den Gruppenraum. Ehe sie etwas sagte, warf Thalia noch einmal einen Blick hinaus, wahrscheinlich um sicherzugehen, dass die Wartende nicht zu uns sah. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu. „Das ist Narukana Flann. Sie war schon einmal hier und wurde dann auf die geschützte Station verlegt.“ „Geschützte... Station?“ Ich hatte zwar schon einmal davon gehört, aber was genau es sein sollte, war mir nicht klar. Ich wusste nur, dass sie direkt nebenan war und diese Station von jener nur durch eine Glastür getrennt war. „Man könnte es auch geschlossene Station nennen“, antwortete Thalia mir. „Ah, verstehe“, sagte ich. „Warum wurde diese... Narukana“ - Gott, was für ein idiotischer Name - „denn auf die geschützte Station verlegt?“ Thalia warf noch einmal einen prüfenden Blick durch die Glasscheibe, um nachzusehen, ob dieses Mädchen inzwischen auf uns aufmerksam geworden war, aber sie schien uns immer noch nicht zu beachten. Daher wandte Thalia sich wieder mir zu. „Dazu musst du erst mal wissen, warum sie überhaupt hier ist. Das wirst du mir nie glauben, ernsthaft.“ Neugierig geworden sah ich ihr direkt in die Augen, doch gerade als sie den Mund öffnete, um fortzufahren, erklang von draußen ein Schrei. Irritiert sahen wir beide hinüber. Satsuki war während unseres Gesprächs offenbar aufgetaucht, hatte ebenfalls den Neuankömmling bemerkt und ihrem Unmut in einem lauten Schrei Luft gemacht. „Was tust du wieder hier!?“ Narukana sah die Rothaarige an, ihre Nase so hoch erhoben, dass ihr Blick fast zur Decke ging. „Ich wurde hierher verlegt. Hätte ich gewusst, dass du immer noch hier bist...“ Sie ließ den Satz unbeendet, da offenbar irgendetwas Interessantes in ihr Blickfeld trat. Nur einen Moment später hüpfte sie mit einem fröhlichen Schrei auf dieses Etwas zu. Ich ignorierte Thalias Seufzen und ging zur Tür, um mir anzusehen, auf was sie da zugesprungen war. Allein bei dem Gedanken, dass es möglicherweise Zetsu war, wurde mir flau im Magen. Ich wollte ihn zwar aus meinen Gedanken verbannen, aber das hieß nicht, dass ich sehen wollte, wie irgendeine andere sich an ihn ranschmiss. Doch als ich zwischen all den Haaren endlich ausmachen konnte, wer da versuchte, sich aus Narukanas Griff zu lösen, kehrte die Gleichgültigkeit zurück. Satsuki dagegen kreischte laut auf und versuchte, Nozomu aus den Klauen der anderen zu befreien. Ich musste schmunzeln, auch wenn mich das ein wenig ärgerte, da ich sehen konnte, dass Zetsu das ebenfalls tat. Er stand ein wenig abseits der ganzen Sache und beobachtete es genau wie Sorluska und ich. „Ah, Narukana, wie schön dich zu sehen~“, sagte er mit vor Ironie triefender Stimme. „Haben sie dich da drüben wieder gehen lassen?“ Sie ließ Nozomu so abrupt los, dass dieser beinahe hintenüber stürzte. Allerdings hatte er Glück, da Sorluska ihm half, sein Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Schade, ich hätte ihn gern stürzen gesehen. Aber in dem Moment war ich ohnehin damit beschäftigt, Narukana anzusehen, um ihre nächste Reaktion zu beobachten und mich selbst unter Kontrolle zu halten. Würde sie nämlich auch ihm um den Hals fallen, wollte ich nicht dieselbe Reaktion wie Satsuki zeigen. Tatsächlich aber musste ich mich nicht einmal zusammenreißen, um das zu verhindern. Allerdings nicht, weil es mich kalt ließ, sondern weil Narukana ihm lediglich einen wütenden Blick zuwarf. „Du bist ja auch noch da!“ „Was erwartest du denn?“, erwiderte er. Sie schnaubte wütend. „Langsam nervst du mich!“ „Oh, nur langsam? Dann gebe ich mir wohl nicht genug Mühe.“ Das wütende Kreischen konnte ich mir sparen, aber das hingerissene Seufzen nach seinen Worten musste ich wirklich gewaltsam unterdrücken. Ganz offenbar erzürnt, hob sie eine Hand an ihre Schulter, während sie mit der rechten auf Zetsu zeigte, der nicht einmal eine Augenbraue hob. Schweigen legte sich wie eine Decke auf diese Szene, fragend sah ich von einem zum anderen. Doch die anderen waren zu sehr damit beschäftigt, Narukana gebannt anzusehen. Gab es irgend etwas, was ich verpasst hatte? Die ganze Szene wirkte auf mich mehr als nur surreal, besonders da keiner sich mehr bewegte, als ob jemand bei einem Videorecorder – die tollen Vorläufer der DVD-Player, die VHS-Bänder abspielten und die ich persönlich bevorzugte – auf die Pause-Taste gedrückt hätte. Oder wie die Schlussszenen früher Filme und Serien, in denen der Regisseur – oder wer auch immer – es für eine tolle Idee hielt, ein Standbild der letzten Einstellung zu zeigen, ehe der Abspann über den Monitor flimmerte. Ich war so sehr in diesen Gedanken vertieft, dass ich mich selbst nicht bewegte, um die Szene nicht zu stören. Erst als Zetsu zu lachen begann, erwachten wir alle wie auf Stichwort wieder aus unserer Starre. „Ah, immer noch der Überzeugung, dass du eine Göttin wärst?“ Ich glaubte echt, mich verhört zu haben. Den sogenannten Gottkomplex hatte ich bislang immer für ein Gerücht gehalten, für eine Erfindung der Filmindustrie, um deren Psychopathen zu rechtfertigen. Nun vor einer solchen Person zu stehen war ein sehr seltsames Gefühl für mich, besonders weil sie ganz anders zu sein schien als die in den Filmen propagierten Kranke. Brummelnd stellte Narukana sich wieder normal hin. „Sobald ich das Siegel, das meine Macht unterdrückt, endlich zerstört habe, werde ich dich auf eine andere Welt verbannen und dann werde ich dich gemeinsam mit dieser endgültig vernichten!“ Seufzend rollte Zetsu mit den Augen. „Ja, ja, ja~“ Das Knistern in der Luft verstärkte sich noch einmal, doch ehe Narukana wirklich ausrasten konnte, trat Jatzieta hinzu. Ihr Lächeln war genau dasselbe wie immer, aber ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie am Liebsten bei den Spötteleien mitgemacht hätte. Ich fragte mich, warum sie sich davon abhielt, sonst nahm sie doch auch kein Blatt vor den Mund. „Ich werde euch unsere Narukana-sama erst einmal entführen müssen“, verkündete sie. „Da gibt es noch ein paar Papiere, die ausgefüllt werden müssen.“ „Bitte, bitte“, erwiderte Zetsu. Mit hoch erhobenem Haupt schritt Narukana neben Jatzieta ins Schwesternzimmer, während die anderen mich wieder in den Gruppenraum zerrten. „H-hey!“ Sogar Satsuki kam zu uns herein und schloss die Tür hinter sich – mir war bislang nicht mal aufgefallen, dass dieser Raum eine Tür besaß – ehe Thalia sich wieder mir zuwandte. „Wir waren vorher noch nicht fertig. Aber wahrscheinlich hast du es inzwischen selbst mitbekommen.“ „Sie hat einen Gottkomplex?“, hakte ich sicherheitshalber doch lieber noch einmal nach. Erstaunlicherweise nickten alle im Einklang, was doch äußerst selten war für diese unterschiedliche Gruppe. „Als sie hier das erste Mal reinkam“, erklärte Zetsu, „dachten wir erst, sie macht Witze. Aber sie ist so sehr davon überzeugt, dass einer von uns mit einem Siegel ihre Macht unterdrückt, dass sie sogar mal unsere Zimmer durchsucht hat und unsere Schrankschlüssel klaute.“ Darum und wegen der intensiven Annahme, dass sie wirklich eine Göttin war, hatten die Ärzte offenbar beschlossen, sie auf die geschützte Station zu verlegen, zumindest erklärten mir die anderen das so. Warum sie allerdings wieder da war, wusste keiner von ihnen. „Vielleicht schickt man sie nach dem Auftritt von eben auch wieder zurück“, hoffte Sorluska. „Noch eine Woche mit der und ich packe freiwillig.“ „Dann hätten wir wenigstens endlich Ruhe“, schnaubte Thalia. Ihre Körpersprache sagte mir aber etwas völlig anderes. Ich war mir nicht sicher, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen, aber so wie sie sich in diesem Moment verhielt, war ich mir ziemlich sicher, dass sie sich äußerst nahestanden. Allerdings beschäftigte mich in diesem Moment etwas anderes. Mein Blick ging durch die Glasscheibe zum Schwesternzimmer, in dem immer noch Narukana saß. Ein mehr als nur ungutes Gefühl überkam mich bei ihrem Anblick. Kennt ihr das, wenn man jemanden sieht und sofort weiß, dass diese Person noch für Ärger sorgen wird? Genau so fühlte ich mich bei Narukana, nur noch um einiges intensiver, da mir ja erzählt worden war, dass sie bereits für Ärger gesorgt hatte. Ich war so sehr davon überzeugt, dass ich sie bereits vor meinem inneren Auge in meinem Schrank wühlen sah. Aber immerhin überkamen mich keine Visionen unseres zukünftigen Ablebens so wie in Final Destination. Ich müsste also nur auf meine Schrankschlüssel aufpassen und ihr aus dem Weg gehen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich ja noch nicht wissen, wie sehr sie sich ausgerechnet auf mich einschießen und versuchen würde mir den Rest der Woche das Leben zur Hölle machen. Kapitel 18: Unmut ----------------- „Au! Geht das auch ein wenig vorsichtiger!?“, fauchte ich. Genervt blickte der Arzt mich über den Rand seiner Brille an. Warum musste jeder verdammte Arzt in diesem Krankenhaus eine Brille tragen? Und warum musste ausgerechnet der hier dabei auch noch so arrogant aussehen? „Du machst mir die Behandlung ganz schön schwer“, murrte er. „Ich hätte eigentlich schon seit zehn Minuten Feierabend – müsst ihr jungen Leute euch das Leben gegenseitig schwer machen und mich mit hineinziehen?“ „Vielleicht haben Sie auch einfach den Beruf verfehlt“, erwiderte ich. Wütend starrten wir uns gegenseitig an, bis er wieder murrend den Kopf senkte und seine Arbeit fortsetzte – ohne dabei Rücksicht auf meinen geschundenen Fuß zu nehmen. Fast schon gewaltsam riss er eine der Glasscherben mit dem Kommentar „Die saß ungünstig“ heraus. Die beinahe liebevolle Bewegung, mit der er die Scherbe in einer Nierenschale ablegte, wirkte wie der reinste Hohn, aber er schien das zu genießen. Wie gern hätte ich ihm irgendwas über den Schädel gezogen, aber er war ja eigentlich nicht Schuld daran, dass ich hier herumsaß. Nein, es war diese verdammte Narukana. Gut, ich konnte es nicht beweisen, da sie ziemlich gerissen vorgegangen sein musste, aber wer sollte mir sonst Glasscherben in meine Schuhe geben? Ich fragte mich nur, wie sie das geschafft hatte, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte. Bailas tiefer Schlaf war ja zumindest für das Mädchen eine Ausrede, aber bei mir war das eigentlich nicht so. Warum hatte ich nichts gemerkt? Wie üblich hatte ich an diesem Morgen ohne vorher nachzusehen, einen meiner Schuhe angezogen, nur um direkt darauf vor Schmerzen aufzuschreien. Bislang hatte ich über diese Art des Mobbings immer nur müde gelächelt, aber bei der Geschwindigkeit, in der sich mein Schuh mit Blut gefüllt hatte, war mir nicht mehr nach Lächeln zumute gewesen. Zum Glück hatte Nelia sofort Sorluska angewiesen, mich ins Hauptgebäude zu bringen, wo sie einen Arzt aufgespürt hatte – eben diesen Idioten hier, dessen Name ich in seinem Murren nicht mitbekommen hatte. Sorluska war ziemlich stark, auch wenn man ihm das kaum ansah. Selbst gegen meinen ausdrücklichen Protest hatte er mich den ganzen Weg ins Hauptgebäude und dort sogar die Treppe hinaufgetragen – und ihm schien das auch noch Spaß gemacht zu haben. Vermutlich sah er mich als kostenloses Krafttraining. Aber nun gut, mich sollte das nicht kümmern, ich war immerhin dankbar, dass ich den Weg nicht hatte humpeln müssen. Aber es wäre doch irgendwie schöner gewesen, wenn Zetsu derjenige gewesen wäre, der... Argh, nein verdammt! Besser ich dachte wieder an etwas anderes wie zum Beispiel... Narukana! Dieses verdammte Miststück mit ihrem Gottkomplex! Wenn ich könnte, würde ich sie von einem hohen Gebäude hinunterwerfen. Schmerzen rissen mich wieder aus meinen Gedanken. „Au! Verdammt nochmal! Ich dachte, Sie sind Arzt und nicht Schlächter!“ Er schmunzelte bösartig. „Ein Schlächter wäre wesentlich sanfter.“ Ich war versucht, diesem Kerl meinen Fuß ins Gesicht zu treten, aber das hätte eher bei mir für Schmerzen gesorgt statt bei ihm, also ließ ich es lieber bleiben. „Und jetzt stell dich nicht so an“, wies er mich zurecht. „Ich dachte immer, Depressive stehen auf Schmerzen.“ Verärgert zog ich meine Stirn kraus. „Wie bitte?“ „Ihr schlitzt euch die Arme auf, nicht tief genug, um euch umzubringen, aber immer noch tief genug, damit ihr schön blutet, um zu sehen, dass ihr am Leben seid, woohoo~“ In seiner Stimme konnte ich neben Spott auch Unverständnis und Abscheu hören. Anscheinend bekam er öfter mal Patienten von der anderen Station, wie auch seine nächsten Worte mir bestätigten: „Und ich darf sie dann alle wieder zusammenflicken und mir ihr Gejammer anhören, wie schlimm ihr Leben doch ist, weil ihre Eltern ihnen keine Taschengelderhöhung geben wollten.“ Er schien mir sehr mitteilungsbedürftig zu sein, weswegen ich ihn nicht unterbrach und ihm weiter zuhörte, obwohl ich mit seiner Meinung keineswegs konform ging. „Den meisten Jugendlichen heutzutage geht es so gut, dass sie nicht mal mehr wissen, wie gut es ihnen geht“, fuhr er fort. „Weißt du, was ich in deinem Alter getan habe? Ich habe gemeinsam mit meinem Vater Leichen von der Straße eines Kriegsgebiets gekratzt.“ Allein beim Gedanken daran wurde mir schlecht, ein Schauer fuhr über meinen Rücken. „Ich bin Arzt geworden, um Menschen zu helfen, nicht zu sterben. Nicht, um Jugendliche nach ihrem Beinahe-Selbstmordversuch wieder zusammenzuflicken. Ich bin dafür, dass das auch Ciar und Salles übernehmen, die haben immerhin Erfahrung mit Depressiven.“ Die drei kannten sich also? Vielleicht hatten sie ja den Club der Brillenschlangen eröffnet und trafen sich abends immer, um gemeinsam eine Weinschorle zu trinken. War bestimmt interessant, wenn Dr Breen und Dr Cworcs sich über die neuen Depressiven austauschten und dieser Kerl dann dazwischenrief, dass die Jugendlichen doch alle nur übertrieben. Als ob er meine Gedanken erahnen würde, zog er erneut einen Splitter besonders schmerzhaft heraus. Sein sadistisches Grinsen dabei war hoffentlich nur ein Streich meines Vorstellungsvermögens. „Vielleicht hätten Sie lieber Zahnarzt werden sollen“, meinte ich. „Die werden für's Quälen bezahlt und ihre Patienten halten gewöhnlicherweise die Klappe.“ Er schmunzelte wieder. „Das war mein Plan B, falls ich durch das Medizinstudium gefallen wäre.“ Das Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen, was ihn sehr zu freuen schien. „Oho, du kannst also noch lächeln. Du bist wohl anders als die anderen Depressiven, die hier vorbeikommen.“ „Kann schon sein“, erwiderte ich neutral. Immerhin hielt er mich für keine dieser Klischee-Depressiven, auch wenn ich diesem Kerl nichts zu beweisen hatte. Es kam immerhin darauf an, dass Dr Breen und Dr Cworcs mir glaubten und nicht er, der hoffentlich bald mit meinem Fuß fertig war. Endlich wurden meine Gebete erhört und die letzte Scherbe landete in der Nierenschale. Nachdem er eine Salbe aufgetragen und den Fuß verbunden hatte, stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch hinüber, wo er sich wieder setzte. Er zückte einen Kugelschreiber und begann in meiner Akte herumzukritzeln. „Ich kann dir ein Schmerzmittel verschreiben, wenn du willst“, sagte er, ohne aufzusehen. „Nein, das geht schon.“ Aber Narukana würde eines brauchen, wenn ich mit ihr fertig war. Niemand zerschnitt mir meinen Fuß und kam damit einfach davon. Primitiv? Vielleicht, aber was kümmerte mich das? Manche lernten es einfach nicht anders und Narukana gehörte offensichtlich dazu. „Du wirst aber erst mal an Krücken laufen müssen“, sprach er weiter, ohne den Stift abzusetzen. „Und schone den Fuß bestmöglich. Falls es keine Komplikationen gibt, würde ich dich gern nächste Woche noch einmal sehen.“ „Geht klar.“ Es gab ohnehin nichts, was ich sonst machen wollte – außer Narukana verprügeln. Schließlich beendete er das Aktualisieren meiner Akte. Er steckte den Kugelschreiber wieder weg und faltete das Datenblatt zusammen, um es wieder sicher zu verstauen. Schmunzelnd sah er mich wieder an. „Soll ich drüben anrufen, damit sie den Muskelkerl vorbeischicken?“ Entschieden schüttelte ich den Kopf. „Wenn Sie mir die Krücken geben, komme ich schon allein wieder rüber.“ Noch einmal wollte ich nicht als Sorluskas Gratis-Training angesehen werden. „Wie du willst. Warte einen Moment.“ Er stand auf und verließ den Raum. Seufzend blickte ich auf die blutdurchtränkte Socke, die neben der Nierenschale lag. Der Arzt hatte sie aufschneiden müssen, um an meine Verletzungen zu kommen, ohne diese noch zu verschlimmern. Hoffentlich würden nicht noch mehr Kleidungsstücke unter Narukana leiden müssen. Ich besaß keinerlei Geld, mir Neues zu kaufen und auf meine Eltern konnte ich auch nicht bauen. Da fiel mir etwas anderes ein: Was würde ich nach diesem Krankenhausaufenthalt machen? Wo sollte ich hingehen? Eiskalte Panik erfasste mich, doch ich kämpfte sie hastig nieder. Bei Gelegenheit würde ich darüber mit den anderen oder einem der Ärzte oder Therapeuten sprechen, im Moment war es unwichtig. Ich konzentrierte mich wieder auf Narukana und meine Wut ihr gegenüber, die mich mit einer erstaunlichen Hitze füllte und alle anderen Gedanken verdrängte. Ja, schon viel besser. Der Arzt kam wieder zurück, mit zwei Krücken in den Händen, die er mir reichte, ehe er mir zu erklären begann, wie ich diese zu benutzen hatte. Ich lauschte ihm aufmerksam, während meine Gedanken wieder zu Narukana wanderten und der Frage, wie ich es ihr wohl am besten heimzahlen könnte. Kapitel 19: Trivial ------------------- Ich weiß heute nicht mehr, wie lange es dauerte, bis ich schließlich wieder auf meiner Station ankam, aber mein Magen knurrte bereits lautstark, immerhin hatte ich kein Frühstück bekommen. Bis auf Jatzieta schien die Station verweist, also fand wohl gerade irgendeine Therapie statt. Mir war aber egal, welche das möglicherweise sein könnte, ich wünschte mir nur, dass Narukana bald zurückkommen würde, damit ich ihr eine Krücke über den Kopf ziehen konnte. Vielleicht waren aber auch alle nur auf ihren Zimmern, warum auch immer. „Das sieht aber nicht gut aus~“, kommentierte Jatzieta. Welch tolle Bemerkung, dabei hatte ich erwartet, dass ich wie Claudia Schiffer aussehe. Ha ha~ Manchmal fragte ich mich, warum diese Frau überhaupt eingestellt worden war. „Ist mir bewusst“, erwiderte ich nur trocken. „Ähm, wegen meinen Tabletten...“ Wegen dem Vorfall war ich noch gar nicht dazu gekommen, sie zu nehmen, doch mit Jatzietas Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Peinlich berührt sah sie ein wenig zur Seite. „Was ist los?“ War ich in der Zwischenzeit etwa rausgeworfen worden? Jatzieta räusperte sich. „Also~ Weißt du, unsere kleine Narukana hat deine Tabletten gegen Smarties ausgetauscht, als ich nicht hingesehen habe.“ Ich war so überrascht von dieser Neuigkeit, dass ich nicht einmal wütend werden konnte. „Äh... was?“ „Also, das war so“, ereiferte Jatzieta sich sofort, das zu erklären. „Alle waren beim Morgensport und ich war nur schnell unterwegs, um etwas auf der geschützten Station nachzusehen und als ich wiederkam, hatte Narukana bereits all deine Tabletten für diese Woche gegen Smarties ausgetauscht.“ Fassungslos sah ich die Schwester an. War ich hier wirklich in einem Krankenhaus? Ich kam mir eher wie in einer Irrenanstalt vor, in der sogar die Ärzte und das Pflegepersonal verrückt waren. „Kriege ich dann neue Tabletten?“ „Das ist nicht ganz so einfach~“, bemerkte Jatzieta nach kurzem Zögern. Was war hier schon einfach? „Aber morgen kriegst du wieder welche, versprochen“, fügte sie hastig hinzu. Wäre Zetsu nicht gewesen, wäre ich wohl spätestens an dieser Stelle aufgebrochen, um ein anderes Krankenhaus aufzusuchen. „Und was habt ihr mit den Smarties gemacht?“ Ich wollte sie zwar nicht essen, aber Narukana immerhin gern ins Gesicht schleudern – oder ihr in den Hals stopfen, je nachdem was mir besser gefiel, sobald wir uns trafen. „Gegessen~ Zetsu fand sie sehr gut~“ Ich konnte nicht einmal wütend sein, immerhin mochte ich keine Süßigkeiten und sie waren dann ja zumindest Zetsu zugute gekommen. „Toll...“ „Oh, tut mir Leid, Liebes, aber Zetsu meinte, du magst keine Süßigkeiten.“ Hatte ich ihm das mal erzählt? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, doch es fiel mir beim besten Willen nicht mehr ein. Im Laufe meiner Anwesenheit hatte ich ihm so viel erzählt, dass auch diese Information dabei gewesen sein könnte. Und er hatte es sich gemerkt, awwww~ Nein, Moment! Verdammt, warum war es so schwer, damit aufzuhören? „Falls ich gebraucht werde, ich bin im Gruppenraum“, erklärte ich, fuhr herum und humpelte mit meinen Krücken davon. Im Gruppenraum setzte ich mich auf einen der Sessel und lehnte mich zurück. Der Weg hierher war erstaunlich anstrengend gewesen, sogar ohne Gepäck, nächstes Mal würde ich mich doch lieber von Sorluska abholen lassen. Allerdings hoffte ich auch, dass es kein nächstes Mal geben würde. Doch bevor ich richtig in meine Gedanken abdriften konnte, wirbelte Satsuki, gefolgt von Nozomu und Zetsu herein. „Da bist du ja wieder~“ Also doch keine Therapie. Nun, es war Mittwoch, ich glaube, da gab es um die Zeit keinerlei Therapie. Aber wie auch immer. Ich sah die drei an. Satsuki strahlte über das ganze Gesicht, während die anderen beiden mich recht neutral ansahen, Zetsu lächelte nicht einmal, obwohl er meine Smarties gegessen hatte. Manchmal war er echt ein Idiot... zu dumm, dass ich selbst das anziehend an ihm fand. „Warst du bei Bel-Bel?“, fragte Satsuki mich. Irritiert blickte ich sie an. Da sie keine Anstalten machte, ihre Frage weiter zu erläutern, blickte ich zu Zetsu, der nun tatsächlich schmunzelte. „Bel-Bel ist Dr. Beliar Hanto. Ein leicht griesgrämiger Arzt, der was gegen Emos hat.“ Es klang eindeutig nach dem Kerl, der mich behandelt hatte. Ich glaube sogar, dass ich das in seinem Grummeln rausgehört hatte. „Ja, das war er. Aber warum-?“ „Nur Satsuki darf ihn Bel-Bel nennen“, erklärte Zetsu weiter. „Ich glaube, er mag sie...“ Sie lachte. „Ach was~ Er hat eher Angst vor mir.“ Noch ein Lachen, das mir zeigte, dass sie den Satz nicht ernst meinte. Aber ich konnte mir ohnehin nicht vorstellen, dass jemand wie dieser Arzt Angst vor ihr haben würde. Allerdings konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass jemand wie er Satsuki mögen würde. Andererseits fand er vielleicht ihre positive Art so interessant, er selbst schien ja keine zu besitzen. „Ist die Verletzung schlimm?“, fragte Zetsu, der ehrlich besorgt zu sein schien. „Du hast vorher ziemlich viel geblutet.“ „Es geht schon“, antwortete ich. Mein Blick ging zu Nozomu, auf dessen Gesicht ein Schmunzeln erschien. Ich konnte sehen, dass er etwas sagen wollte und schon öffnete er seinen Mund: „Du siehst aus wie Bella Swan am Ende von Twilight.“ „Du hast es auch gelesen?“, fragte ich schockiert. Selbst Zetsu sah seinen besten Freund überrascht an. Der störte sich allerdings nicht an unseren Blicken, sondern hob nur die Schultern. „Ich hab den Film gesehen.“ Er blickte mich spöttisch an. „Immerhin besser als das Buch zu lesen.“ Ich gab ihm ungern recht, aber es stimmte: Das Buch war die schlimmste Zeitverschwendung meines Lebens gewesen. Nun gut, nicht, dass ich bislang etwas Sinnvolles in meinem Leben getan hätte, von daher galt wohl jedes Buch, das ich las, als Zeitverschwendung. „Ihr seid beide schräg“, urteilte Zetsu. „Wie kann man etwas über glitzernde Vampire lesen oder ansehen? Die einzige Gelegenheit, bei der Vampire glitzern dürfen, ist, wenn sie wie bei Blade zu glühender Asche zerfallen.“ Nozomu lachte durch die Nase. „Sagt mir gerade derjenige, der seine Freizeit mit dem Lesen von anspruchslosen Comics und Manga verbringt.“ „Mein Leben ist anstrengend genug“, wehrte Zetsu ab. „Da muss ich nicht noch extra anstrengende Literatur lesen.“ Oh, wie gern hätte ich ihn an dieser Stelle gefragt, warum sein Leben so anstrengend war. Doch mit Nozomu und Satsuki in der Nähe, traute ich mich nicht. „Also ich mag Twilight“, bemerkte Satsuki. Warum wunderte mich das nur nicht? Bestimmt war sie auch einer der kreischenden Fans bei der Filmpremiere und eine begeisterte Forenschreiberin, die unzählige Satzzeichen verwendete, um ihren Punkt klarzumachen. ... Verdammt, woher wusste ich solche Dinge nur? „Es ist so romantisch~“, fuhr sie fort. „Was ist romantisch an einer griechischen Statue mit Stalkerqualitäten?“, fragte Zetsu. „Ich wette, wenn ich mich nachts in das Schlafzimmer eines Mädchen schleichen und sie dort beobachten würde, wäre die bestimmt nicht begeistert.“ Satsuki lachte amüsiert. „Ach was, du siehst gut aus, dir würden Mädchen alles vergeben.“ Es war das erste Mal, dass ich sah, wie sich Nozomus Blick in etwas anderes änderte als seine genervte Fassade. Allerdings konnte ich das nicht genauer betrachten, weil ich genau wie er und Zetsu damit beschäftigt war, Satsuki schockiert anzusehen. Fragend erwiderte sie unsere Blicke, besonders meinen, da sie anscheinend gehofft hatte, ich würde sie in dem Punkt unterstützen. „Satsuki...“, begann Nozomu vorsichtig. „Du solltest vielleicht weniger Zeit auf dieser seltsamen Internetseite verbringen. Das bekommt dir nicht.“ Zetsu nickte zustimmend. „Oder du lässt dich gleich hier einweisen. Realitätsverlust findet Dr. Salles immer besonders spannend.“ Ob es hier schon öfter solche Fälle gab? Ich verzog mein Gesicht. Ich neigte oft dazu, zu denken, dass etwas nicht existierte, bevor ich es nicht kannte. Immer, wenn ich etwas über diese Station erfuhr, das vor meiner Zeit hier geschehen war, spürte ich dieses seltsame Gefühl in meinem Inneren. Mein Magen zog sich zusammen, allein schon bei dem Gedanken, dass alles ohne mich schon existiert hatte und auch weiter bestehen würde, wenn ich nicht mehr hier war. Niemand brauchte mich hier, genau genommen war ich nur ein Störfaktor in dem geregelten Ablauf... Ob sich einer der anderen auch so fühlte? „Bestimmt nicht!“, erwiderte Satsuki sofort. Ich zuckte zusammen und sah sie erstaunt an. Allerdings blickte sie nicht mich an, sondern fixierte Zetsu. „Eher geht die Welt unter als dass ich darauf verzichte, abends in meinem eigenen Bett einzuschlafen.“ „Oh, wenn du dein Bett hier mit Nozomu teilen würdest...“, feixte der Silberhaarige, doch bevor er aussprechen konnte, bekam er einen Rippenstoß von seinem besten Freund. „Au, schon gut...“ Ich erinnerte mich, dass Satsuki in den Braunhaarigen verliebt war, was Zetsu anscheinend genau wusste. Da Nozomu ihn unterbrochen hatte, wusste er das möglicherweise auch. Vielleicht teilten wir beide denselben Plan, die Person zu vergessen, in die wir uns verliebt hatten. Oh Gott, das machte ihn mir sogar fast sympathisch. Nein, besser ich dachte an etwas anderes. „Wo ist denn Narukana?“ Ja, das war viel besser. Ich konnte bereits spüren, wie die Wut wieder in mir aufstieg. Nicht nur, dass ich wegen ihr jetzt an Krücken laufen musste, nein, sie tauschte meine Medikamente auch gegen Süßigkeiten ein! Ich legte zwar nicht sonderlich viel Wert auf meine Drogen, aber es ging mir ums Prinzip! Sie konnte sich nicht einfach derart in mein Leben einmischen. Zur Antwort deutete Zetsu auf den Gang hinaus. Schnaubend machte ich mich bereit, sie zu empfangen. Tatsächlich dauerte es keine zwei Sekunden, bis sie endlich in der Tür auftauchte. Schockiert sah sie mich an. „Du bist ja immer noch da. Hat mein Gläserner Fuß-Skill etwa nicht gewirkt?“ „Was für ein...?“ Ich sah Zetsu an, der allerdings den Kopf schüttelte. „Frag lieber nicht.“ Narukana schien unsere Unterhaltung nicht zu interessieren, sie schnaubte. „Ich werde dir zeigen, was es heißt, mit der Hexe zusammenzuarbeiten, die meine Macht versiegelt hat!“ Ich hatte nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wovon sie da sprach. Gut, das mit dem Siegel hatten die anderen mir bereits erzählt, aber ich kannte nicht mal eine Hexe, wie sollte ich da mit der zusammenarbeiten? „Oh, bitte nicht...“, murmelte Zetsu. Narukana ließ mir keine Zeit zum Nachhaken, was er meinte. Das nächste, woran ich mich erinnerte, war ein heftiger Schmerz, der durch meinen Körper zuckte. Ich lag auf dem Boden und wehrte mich instinktiv gegen Narukanas Schläge, bevor ich überhaupt gemerkt hatte, dass sie mich schlug. „G-geh runter von mir!“ Ich versuchte, sie von mir zu stoßen, doch sie war überraschend stark und ließ sich von meinen schwachen Abwehrversuchen nicht beeindrucken. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, warum mir niemand half, aber als ich einen Blick durch Narukanas dichte Mähne auf den Rest des Raumes erhaschen konnte, stellte ich fest, dass außer uns niemand mehr da war. Klasse... tolle Mitpatienten und FSJlerin. In einem weiteren Versuch, sie wieder loszuwerden, packte ich Narukana an den Schultern und ließ mein Gesicht damit vollkommen ungeschützt. Sie nutzte die Gelegenheit, um mir mit ihren Fingernägeln über die Wange zu fahren. Ein starkes Brennen folgte dieser Handlung. Mit einem heftigen Ruck warf ich Narukana von mir herunter, sie landete direkt neben mir auf dem Boden, wo sie leise fluchend versuchte, sich wieder aufzurichten, bevor ich es schaffte. Allerdings war ich schneller – doch statt einfach aufzustehen und wegzuhumpeln, beugte ich mich über sie, um ihr einen heftigen Schlag zu verpassen. Doch etwas ließ mich innehalten. Ich spürte einen stechenden Blick in meinem Rücken, der mir einen kalten Schauer durch den Körper jagte. Das konnte nicht Jatzieta sein und mit Sicherheit auch sonst niemand von den anderen Patienten. Nur zögerlich wandte ich mich um, obwohl ich das Schlimmste befürchtete. Doch die Person, die ich da sah, wirkte ganz und gar nicht wie das Befürchtete – auf Narukana allerdings wohl schon. Erschrocken sog sie die Luft ein. „Die Hexe...“ Kapitel 20: Die Hexe -------------------- Die Person, die da stand war ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter, ihr schwarzes Haar hatte ungefähr dieselbe Länge wie mein braunes, nein, ein wenig länger. Der verwirrte Blick aus ihren braunen Augen sagte mir, dass sie sich fragte, wer ich war – genau wie ich mich fragte, wer sie war. Doch schon bald sah sie Narukana an, ihre Stirn zog sich dabei kraus. „Du bist ja schon wieder hier, Marukana.“ „Argh, du sollst aufhören, mich so zu nennen“, kam die knurrende Antwort. „Mein Name ist Narukana!“ Die Fremde lachte spöttisch. „Das ist kein Name, sondern eine Krankheit.“ „Duuu!“ Narukana sprang auf und wollte sich auf die mir Unbekannte stürzen, doch diese hob nur die Hände, weswegen die Möchtegern-Göttin innehielt. „Uh-uh-uh~“, mahnte die Fremde. „Wenn du mir etwas antust, werde ich das Siegel in eine andere Welt verfrachten und du bekommst deine Kräfte niiiie~ wieder.“ Die Worte schienen sie zu amüsieren, ein Lächeln zierte plötzlich ihr Gesicht. Jeder andere hätte wohl mitgelacht, doch Narukana zuckte zusammen. „D-das würdest du nicht wagen.“ „Lass es einfach auf einen Versuch ankommen.“ Für einige Sekunden standen die beiden sich schweigend gegenüber, während ich sie angespannt beobachtete. Einen kurzen Moment kam es mir tatsächlich so vor als ob ich einen Film sehen würde, in dem zwei Magier sich für einen Kampf gegenüberstanden. „Verschwinde endlich“, sagte die Unbekannte. Ich unterdrückte das spöttische Lachen. Als ob Narukana auf so etwas hören würde... Doch zu meinem Erstaunen huschte das Mädchen tatsächlich in den Gang hinaus und verschwand aus meinem Sichtfeld. „W-wie machst du das?“, fragte ich erstaunt. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kinderspiel.“ Plötzlich begann sie zu lächeln und hielt mir ihre Hand hin. „Ich bin Alona Darrow~“ Für einen kurzen Moment war ich äußerst verdutzt. Warum stellte sie sich mir vor? Was erwartete sie jetzt von mir? Oh... ja, wahrscheinlich, dass ich mich ebenfalls vorstellte. Normalerweise verriet ich Fremden nicht einfach meinen Namen, aber immerhin hatte sie sich auch vorgestellt und außerdem war sie Narukana losgeworden, also war es möglicherweise okay. Ich ergriff ihre Hand, die mir gleich aufhalf, so dass ich mich wieder auf den Sessel setzen konnte. „Leana Vartanian.“ „Ah, hübscher Name. Hört man nicht oft, nicht wahr?“ Ich schwieg. Was sollte ich auch dazu sagen? Die Wahl des Namen war nicht meine Entscheidung gewesen – aber ich war ganz froh darüber, dass nicht jede Zweite so hieß. Sie störte sich offenbar nicht an meinem Schweigen, sondern sprach direkt weiter: „Du bist wohl jetzt in Bailas Zimmer, hm?“ Ein kurzes Nicken genügte ihr als Antwort und war ihr genug Ansporn, weiterzureden: „Bevor ich hier raus bin, war ich mit ihr im Zimmer. Sie spricht aber immer noch nicht, oder?“ Diesmal schüttelte ich den Kopf. „Ah, dachte ich mir schon. Das dauert wohl noch etwas, sie kam zeitgleich mit mir ins Krankenhaus, aber bei ihr war abzusehen, dass es 'ne ganze Weile dauern wird.“ Was war mit diesem Mädchen los? Warum musste sie die ganze Zeit sprechen? Aber Moment! Sagte sie gerade, sie war eine Patientin hier gewesen? Dann wusste sie vielleicht auch etwas über Zetsu... der einfach abgehauen war, als Narukana mich angegriffen hatte. „He, äh, Alona...“ Ihr Gesicht schien plötzlich zu leuchten, als ob sie sich freuen würde, dass ich mich an ihren Namen erinnerte. „Weißt du, warum Zetsu hier ist?“ Ihr Gesicht entgleiste plötzlich als ob ich da etwas besonders Ekliges erwähnt hätte. „Der ist auch noch da? Mann, kann der nicht einfach tot umfallen oder sich zumindest in die Kardiologie legen, wo vernünftige Leute mit seinem Leiden liegen?“ Kardiologie, huh? Das würde heißen, dass er etwas mit dem Herzen hatte – aber warum war er dann hier? Das machte nicht viel Sinn. „Oh, wie nett du mal wieder über mich sprichst.“ Zetsu trat erneut in mein Sichtfeld, der eiskalte Blick erzeugte einen schmerzhaften Stich in meinem Inneren – aber immerhin sah er damit nicht mich an, sondern Alona, die sich davon aber nicht beeindrucken ließ. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und erwiderte seinen Blick kampflustig. „Selbst schuld. Du hast mit der ganzen Sache angefangen.“ Er warf sein Haar zurück, allerdings wirkte diese Geste diesmal weniger charmant, dafür eher... arrogant. Also so richtig, die Art Arroganz, die einen dazu bringen will, der entsprechenden Person einen Fausthieb zu verpassen. „Komm schon, es ist nicht so als wärst du ein Unschuldslamm“, sagte er. „Du hast es von Anfang an darauf angelegt, mich zu deinem Feind zu machen.“ Alona rollte deutlich genervt mit den Augen. „Komm schon, als ob du es wert wärst, dich als meinen Feind zu bezeichnen.“ Einen kurzen Augenblick gaukelte ich mir tatsächlich vor, dass sie sich nur gegenseitig aufzogen – doch die kühle Atmosphäre und die Blicke, die sie sich dabei zuwarfen, sagten mir, dass diese Feindschaft wirklich der Wahrheit entsprach. „Was habt ihr denn gegeneinander?“, fragte ich vorsichtig. Die Blicke beider wandten sich mir zu und – was ich erstaunlich fand – wurden gleichzeitig wieder weicher. „Wir mögen uns einfach nicht“, antwortete Zetsu. „Das ist alles.“ Dabei war ich bislang überzeugt gewesen, dass er jeden mögen würde – na ja, außer Narukana, aber wie konnte man die auch mögen? Sah ich hier vielleicht eine Seite von Zetsu, die mich von ihm abbringen würde? Allein bei dem Gedanken zogen sich meine Brust und mein Magen wieder zusammen. „So ist es“, stimmte Alona zu. „Deswegen finde ich es schade, dass du immer noch nicht tot umgefallen bist. Aber es stimmt wohl und Unkraut vergeht nicht.“ Für nur einen winzigen Augenblick sah sie zu ihm und in diesem Moment schmunzelten beide. Es war so schnell vorbei, dass ich glaubte, ich hätte es mir nur eingebildet. Dieser kurze gegenseitige Blick beruhigte mich wieder ein wenig. Ganz so anders wie ich Zetsu kennengelernt hatte, war er also doch nicht, zum Glück. „Jedenfalls behauptet er inzwischen, ich wäre eine Hexe“, bemerkte Alona. „Du bist ja auch eine“, erwiderte er. „Du verzauberst Menschen und legst sie unter deinen Bann.“ Das erinnerte mich fast schon an das, was er mit mir tat. Vielleicht war er ja ein Zauberer, einer von der talentierten Sorte, der einen Liebeszauber gesprochen hatte, der selbst jemanden wie mich ansprach. Meine Mundwinkel zuckten leicht, als ich das dachte. Pff, als ob es so etwas geben könnte – obgleich es vieles erklären würde. Zu schade, dass das im echten Leben nicht funktionierte. Dann müsste ich eigentlich nur noch diesen Zauber durchbrechen und wäre wieder dieselbe, an Männern uninteressierte Leana wie zuvor und ich würde nicht mehr dauernd an ihn denken müssen. Hach, wäre das schön~ Sie seufzte, mit den Nerven offenbar völlig am Ende. „Ich habe niemanden verzaubert, meine Güte.“ „Narukana sieht das anders~“ „Weil du es ihr eingeredet hast!“ Mir kam es vor als ob sie ihm gleich an die Kehle springen würde, weswegen ich mich hastig räusperte. „Ähem, wenn du entlassen wurdest, was machst du dann hier?“ Alona wandte sich sofort mir wieder zu. „Nachuntersuchung, alle drei Monate. Ein negativer Effekt, wenn man sich so früh wieder entlassen lässt.“ „Ach, tu doch nicht so“, merkte Zetsu an. „Du kommst doch gern alle drei Monate wieder her. Wie sonst solltest du Dr. Cworcs wiedersehen können?“ Das war jetzt nicht wahr, oder? Sie schnitt ihm eine Grimasse. „Gar nicht wahr. Ich muss ganz schön weit fahren hierher, das ist mir nicht mal Dr. Cworcs wert.“ Irritiert sah ich Alona an. Das war nicht wirklich wahr, oder? „Oh ja genau, als ob du nicht nur ursprünglich in die Klinik gekommen wärst, um ihn anzubeten.“ Wie konnte man nur? Sie schien nicht wütend zu sein, stattdessen wirkte sie eher genervt. Vielleicht war an dieser Sache doch nicht so viel dran. „Ich bin nur in diese Klinik gekommen, weil sie am Nächsten war. Das sollte sicherstellen, dass ich jederzeit abhauen kann, wenn mir das alles zu viel wird. Überall anders wäre das nicht gegangen.“ Zetsu wirkte davon nicht wirklich überzeugt, ich war dagegen eher verwirrt – hoffte aber, dass sie bald wieder abhauen würde. Noch mehr neue Leute in meinem Leben und ich würde bald nicht einmal mehr wissen, wer ich war. Aber wenn sie schon da war, konnte ich sie gleich etwas fragen. „He, warum denkt Narukana, dass ich ihr Siegel verstecke, wenn du doch angeblich diejenige warst, die dafür verantwortlich ist?“ Alona zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht mal so recht, warum sie auf die Idee kam, dass ich ihre Kraft versiegelt habe. Vielleicht denkt sie, ich hätte dich als neue Wächterin hergeschickt. Aber bei Leuten wie ihr weißt du doch nie.“ Sie schmunzelte amüsiert. „Würde mich nicht wundern, wenn wirklich mal eine Krankheit nach ihr benannt werden würde.“ Also würde ich mich wohl weiter mit Narukana herumschlagen müssen, prima. „He, das nächste Mal, wenn sie dich angreift, ziehst du ihr einfach eines mit der Krücke über“, schlug Alona vor. „Vielleicht wird sie dann ein wenig schlauer.“ Zetsu schien etwas dazu sagen zu wollen, doch stattdessen räusperte er sich nur. Ich erkannte auch bald den Grund dafür: Dr. Cworcs stand hinter Alona und wirkte alles andere als glücklich über ihre Worte. Ich war so auf sie fixiert gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass er die Station betreten hatte. Sie fuhr ebenfalls herum und zuckte heftig zusammen. „Dr. Cworcs!“ „Ich finde es nicht in Ordnung, dass du meinen Patienten Tipps gibst, wie man am besten gewaltsam gegen andere Patienten vorgeht.“ Seine Miene blieb völlig unbewegt und sogar seine Stimme zeigte keinerlei Anzeichen von irgendwelchen emotionalen Regungen. Bewundernswert, wie sehr er sich unter Kontrolle hielt – oder nahm er vielleicht genügend Beruhigungstabletten? Ich könnte mir nicht vorstellen, jeden Tag mit irgendwelchen Geschichten aus dieser oder anderen Stationen konfrontiert zu werden. Mich deprimierten schon nur die wenigen, die ich bislang kannte. „T-tut mir Leid“, sagte sie hastig. „War keine Absicht.“ Er sah sie prüfend an, doch etwas anderes bekam er nicht mehr von ihr zu hören, weswegen er nur ein Schulterzucken andeutete. „Nun, wie auch immer, es wird Zeit für deinen Termin.“ Wie auf Stichwort erschien plötzlich Jatzieta mit einem Klemmbrett neben ihm. „Ich bin bereit~“ Alle drei nickten sich zu, Alona winkte noch einmal, bevor sie mit den anderen beiden im Behandlungsraum verschwand. Zetsu rümpfte die Nase. „Ich hatte gehofft, ich sehe sie nie wieder.“ „Findest du sie so schlimm?“ Er wandte sich mir zu – und erneut wurden seine Gesichtszüge weicher, worauf mein Herz gegen meinen Willen einen Sprung machte. „Na ja, sie ist eigentlich ganz erträglich“, antwortete er. „Immerhin besser als Narukana, aber eigentlich genauso nervig.“ Sein folgendes Schulterzucken sagte mir, dass es ihn nicht weiter kümmerte und er auch nicht weiter darüber reden wollte. Stattdessen lächelte er mir zu, ehe er meine Krücken aufhob, die ebenfalls auf den Boden gefallen waren. „Hast du dann heute noch etwas vor?“ „Ja, ich will mich ein wenig hinlegen, um zu schlafen.“ Der Mangel an Medikamenten, die kleine Auseinandersetzung mit Narukana und mein schmerzender Fuß machten mir zu schaffen. Ich wollte nur noch in mein Bett fallen und schlafen, von mir aus auch bis zum nächsten Tag. „Ich bring dich auf dein Zimmer“, bot er mir sofort an, doch ich wehrte direkt ab: „Nein, danke. Ich schaffe das auch noch allein.“ Ich bekam den Eindruck, er wäre enttäuscht, doch da er fast direkt danach mit den Schultern zuckte und sich umwandte, um wegzugehen, schien das nicht so zu sein. Diesmal war die Enttäuschung auf meiner Seite, ich verwarf sie allerdings sofort. Das war doch genau das, was ich von seiner Seite aus wollte, damit ich ihn endlich vergessen konnte. Aber was war das für ein bitteres Gefühl, das sich bei dem Gedanken in mir ausbreitete? Nichtsdestotrotz versuchte ich, es zu ignorieren und ins Bett zu kommen, um endlich zu schlafen. Kapitel 21: Erwischt -------------------- Den Traum, der mich während meines Schlafs heimsuchte, werde ich wohl nie vergessen. Zwar war mir nicht jedes Detail im Gedächtnis geblieben, doch ich weiß noch, dass ich gemeinsam mit Zetsu und meiner Schwester Isolde zusammenwohnte – und ich für uns alle kochte. Muss ich dafür extra erwähnen, dass ich keinerlei Talent zum Kochen besitze und die Küche schon in Flammen aufgeht, wenn ich mir nur eine Milch in der Mikrowelle warmmache? Aber in meinem Traum schmeckte das Essen ausgezeichnet und sowohl Zetsu als auch Isolde waren so angetan davon, dass sie mich baten, auch am nächsten Tag zu kochen. Ansonsten werde ich eher gebeten, nie wieder zu kochen. Ein familiäres, warmes Gefühl, das ich bislang kaum gekannt hatte, erfüllte mich während dieser Szene – deswegen behielt ich diesen Traum so gut im Gedächtnis. Genau wie das, was geschah, als ich aufwachte. Was genau es war, das mich weckte, weiß ich nicht mehr so genau, aber kaum hatte ich wieder registriert, dass ich noch immer im Krankenhausbett lag, spürte ich, wie jemand sich mit mir im Raum befand, offenbar äußerst beschäftigt damit etwas zu suchen. Da ich mit dem Gesicht zur Wand lag, konnte ich selbst mit geöffneten Augen nicht sehen, wer es war. Im ersten Moment dachte ich mir aber nichts dabei, immerhin teilte ich das Zimmer mit Baila, aber dann fiel mir auf, dass das Mädchen nicht so rücksichtslos laut wühlen würde – und vor allem nicht in meinem Nachttisch. Da ich von dem Schlaf und den langsam einsetzenden Schmerzen in meinem Fuß noch ein wenig benommen war, drehte ich mich nur langsam auf die andere Seite, um den ungebetenen Gast zu betrachten. Bei meinem Zustand brauchte ich einen Moment, um das extrem lange Haar und die dünne Gestalt einzuordnen. Ich runzelte meine Stirn. „Was tust du da?“ Narukana zuckte zusammen und hielt inne. Sie bewegte sich nicht mehr als ob sie hoffte, dass ich sie dann nicht mehr sehen würde als ob ich eine Schlange oder so etwas wäre. Wofür hielt dieses Mädchen mich eigentlich? „Ich sehe dich immer noch“, grummelte ich. Wütend sah sie mich an. „Warum schläfst du nicht!? Ich habe dich extra nochmal mit einem Schlafzauber belegt!“ „Hör endlich auf mit dem Quatsch.“ Ich war viel zu müde, um auf ihr dummes Spiel einzugehen. Langsam setzte ich mich aufrecht hin, um größer zu sein als sie, solange sie neben meinem Bett kniete. Mein Blick huschte über die auf dem Boden verteilten Bücher, die äußerst unsanft behandelt worden zu sein schienen. Ich atmete tief durch, um die Wut zu unterdrücken, dann ließ ich meinen Blick zu meinem Schrank weiterwandern. Die Tür war sperrangelweit offen, meine gesamte Kleidung war herausgezerrt und verstreut worden – und ich musste nicht erst überlegen, wer dafür verantwortlich war. „Narukana!“ Sie sprang augenblicklich auf, als ich ihren Namen aussprach. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie auf mich. „Das ist alles deine Schuld! Rück endlich mein Siegel heraus!“ „Es gibt kein Siegel!“, fauchte ich wütend. „Das ist doch nur in deinem Kopf!“ Als ob sie das ausprobieren wollte, zeigte sie weiterhin auf mich und legte die andere Hand an ihre Schulter. Sie atmete schwer, ich konnte sehen, wie stark sie sich konzentrierte und beobachtete sie dabei schweigend. Ich war immer noch wütend, aber gleichzeitig auch müde und durch den Traum in einer seltsamen harmoniebedürftigen Stimmung, die es mir nicht erlaubte, mich wirklich aufzuregen. Nach zwei Minuten gab Narukana ihre Konzentration schließlich auf. „Es MUSS ein Siegel geben, es funktioniert immer noch nicht!“ Seufzend griff ich mir an die Stirn. „Wenn ich dich ansehe, frage ich mich immer, ob ich wirklich so krank und depressiv bin, wie ich immer denke.“ Narukana schnaubte. „Mich kannst du nicht hereinlegen! Ich weiß genau, dass das hier keine richtige Klinik ist! Ihr wollt mich hier nur zermürben!“ Für die anderen durfte das wohl auch zustimmen, Zetsu zumindest schien es Spaß zu bereiten, sie zu ärgern und das dürfte wohl zu zermürben zählen, oder? „Und wenn ich dann nervlich am Ende bin,“, fuhr sie mit weinerlicher Stimme fort, „werdet ihr mich einsperren!“ Wenn es nach mir ginge, hätte man sie gleich eingesperrt. Warum hatte sie die geschützte Station überhaupt verlassen dürfen? Selbst Helen Keller hätte gemerkt, dass Narukana nicht alle Tassen im Schrank hatte und man sie am Besten in eine Gummizelle sperren und den Schlüssel wegwerfen sollte. Ernsthaft, so etwas sollte man nicht frei herumlaufen lassen. Sie hatte bereits dazu beigetragen, meinen Fuß aufzuschlitzen und sie schlich sich fast unbemerkt in mein Zimmer, um meine Sachen zu durchwühlen, wer wusste schon, wie weit sie noch gehen würde. Das erste Mal in meinem Leben fürchtete ich tatsächlich, dass ich einem Mord zum Opfer fallen könnte – und das gerade an einem Ort, an dem ich eigentlich sicher sein sollte. Aber ich würde nicht kampflos gehen! Ich würde eine von denjenigen sein, die sich in einem Horrorfilm so lange wie möglich durchkämpfte, statt in einer fünf-sekündigen-Szene den Kopf zu verlieren. Auch wenn mir nicht der Sinn danach stand, überhaupt durch fremde Hand zu sterben – und wenn dann doch eher durch einen etwas stilvolleren Killer wie zum Beispiel Michael Myers. „Wie wäre es, wenn ich dich gleich in meinen Schrank sperre?“, fragte ich genervt. Genug Platz befand sich in diesem ja nun. Narukana stemmte die Hände in ihre Hüften. „Mach dich nicht über mich lustig! Ich weiß, dass dieser Schrank das Tor zu einer anderen Welt ist!“ Hilfe, sie wurde ja immer schräger. „Was ist bei dir eigentlich schief gelaufen?“, fragte ich seufzend. „Wurdest du mal zu heiß gebadet?“ Schmollend schob sie ihre Unterlippe vor, doch bevor ich noch einmal fragen konnte, wurde die Tür geöffnet und Satsuki kam herein. Wurde hier nicht einmal mehr angeklopft? Was war das hier für ein Verein? Missbilligend blickte sie Narukana an. „Hier bist du also. Wird aber auch Zeit, dass ich dich finde.“ Verwirrt sah sie auf den Boden, als sie bemerkte, dass meine Habseligkeiten kreuz und quer im Zimmer verstreut waren. „Mann, Leana, du solltest wirklich mal ein bisschen mehr Ordnung halten.“ „Das ist nicht meine Schuld“, knurrte ich zur Antwort. Anklagend sah ich zu Narukana hinüber, die sich inzwischen Satsuki zugewandt hatte. Sie glaubte zwar, ich würde ihr Siegel bewachen, doch das rothaarige Mädchen war ihre Rivalin um Nozomus Herz – auch wenn ich keine Ahnung hatte, was die beiden an dem Kerl fanden. Aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten... oder auch nicht. Ich kannte beide Varianten des Sprichworts, wusste aber nicht, welche davon die richtige war. Wahrscheinlich sollte ich eher froh sein, dass keine von ihnen an Zetsu interessiert war. Wie gesagt, nur weil ich beschlossen hatte, mich nicht mehr für ihn zu interessieren, bedeutete das nicht, dass ich mitansehen wollte, wie eine andere sich an ihn heranschmiss – vor allem weil ich nicht wusste, wie ich reagieren würde, wenn ich eifersüchtig war. Satsuki wandte sich ebenfalls wieder Narukana zu. „Dann komm endlich mit, es wird Zeit für deine Medikamente.“ Sie bekam mehrmals am Tag welche? Da schienen sie aber nicht sonderlich gut anzuschlagen – und warum das so war, erfuhren wir auch sofort: „Ich nehme diese Dinger doch nicht! Damit wollt ihr mich nur davon abhalten, mein Siegel zu suchen!“ Narukanas Stimme klang dermaßen überzeugt, dass ich es sogar geglaubt hätte, wenn ich sie bislang nicht schon länger miterleben müsste. Noch ehe jemand von uns etwas dazu sagen konnte, rauschte Narukana mit wehenden Haaren davon. Ich musste zugeben, dass es ein äußerst cooler Anblick war, es fehlte nur noch ein passender Spruch und die Musik dazu und die Szene wäre perfekt gewesen – wenn man die Kamera danach nicht direkt auf uns Verbliebene gerichtet hätte, die ihr augenrollend hinterherblickten. Ich wandte mich an Satsuki, die seufzend mit dem Kopf schüttelte: „Seid ihr sicher, dass sie nicht eher paranoid oder schizophren ist?“ Die Rothaarige sah mich erschöpft lächelnd an. „Ich wünschte, das wäre so. Mit solchen Patienten kennt man sich hier immerhin aus. Narukana dagegen ist eher... so ein Sonderfall. Wenn hier nicht fast alles nach Dr. Salles laufen würde, wäre sie auch schon längst nicht mehr hier.“ „Huh? Weswegen?“ Ich war davon überzeugt, dass sie mir nicht antworten würde, doch zu meiner Überraschung tat sie das doch: „Dr. Salles ist immer ganz begeistert von außergewöhnlichen Fällen und den von Narukana findet er besonders toll. Du solltest sehen, wie seine Augen leuchten, wenn er anfängt, über ihre Symptome und den Krankheitsverlauf zu sprechen.“ Sie unterbrach sich selbst, um leise zu seufzen, ehe sie fortfuhr: „Jedenfalls hat Dr. Breen schon ganz oft vorgeschlagen, sie woanders hinzuschicken, aber Dr. Salles war immer dagegen~“ Ich hätte wirklich in eine andere Klinik gehen sollen... Ich verlor mich für einen Moment in der Überlegung, wie mein Leben nun aussehen würde, wenn ich tatsächlich in ein anderes Krankenhaus gegangen wäre. Zu gut erinnerte ich mich an die zahlreichen Broschüren, die zu Hause auf meinem Schreibtisch lagen – oder hatten, ich wusste immerhin nicht, was meine Eltern damit getan hatten. Einige dieser Kliniken glichen, ausgehend von den Bildern, eher Urlaubspensionen. Einen Aufenthalt dort hätte ich mir nie leisten können, aber es gab auch noch andere Krankenhäuser. Aber wenn ich ehrlich zu mir war, wollte ich gar nicht woanders sein. Ja, Narukana raubte mir den letzten Nerv, ich zweifelte an der Kompetenz des Personals und ich hasste Nozomu – aber hier gab es immerhin auch Zetsu und Baila, das Mädchen, das mir immer mehr ans Herz wuchs und es war nie langweilig, wenn man es mal von dieser Seite betrachtete. Satsuki seufzte schließlich. „Ich fürchte, du wirst selbst aufräumen müssen – oder soll ich dir helfen?“ „Nein, das geht schon, danke.“ Die Rothaarige nickte nur knapp und ging davon. Erst als sich die Tür hinter ihr schloss, stellte ich dummerweise fest, dass ich ja immer noch verletzt war. Vor lauter Müdigkeit hatte ich vollkommen vergessen, dass ich Narukana eines mit der Krücke hätte überziehen können. Egal, ob Dr. Salles das gefiel oder nicht, ich würde mir nicht alles von ihr gefallen lassen, niemals. Aber bevor ich mir einen Racheplan überlegte, war es möglicherweise wirklich besser, hier erst einmal aufzuräumen. Irgendwie würde ich das schon hinkriegen, so wie den Rest meines Lebens. Kapitel 22: Wenn ein Chefarzt wütend wird ----------------------------------------- Der Donnerstag verging überraschend schnell. Morgens saß ich auf dem Balkon und beobachtete die anderen beim freiwilligen Morgensport – wobei mir wieder auffiel, dass Zetsu sich nicht daran beteiligte, sondern nur desinteressiert, mit den Händen in den Hosentaschen, den anderen zusah. Erneut fragte ich mich, warum er nichts tat, obwohl er auf den ersten Blick durchaus in der Lage zu sein schien. Doch als ich schließlich meine Tabletten bekam, fühlte ich mich wieder wesentlich besser, schon allein weil ich mein Zeitgefühl verlor und auch meine Gedanken sich nicht mehr nur beständig um Zetsu drehten. Die Wut, die ich verspürte, wenn ich Narukana sah, konnte von den Medikamenten aber nicht im Mindesten unterdrückt werden. Immer schlich sie um mich herum; war ich auf dem Gang, streckte sie den Kopf aus der Tür des Gruppenraums, befand ich mich in diesem, beobachtete sie mich durch die Glasscheibe, darauf bedacht, den Kopf möglichst weit unten zu halten – doch zwei ihrer Strähnen, die sich partout der Schwerkraft widersetzten und einen Bogen nach oben beschrieben, verrieten sie stets wieder. Anfangs hatte ich stets einen der anderen darauf hingewiesen, doch erstaunlicherweise war sie spurlos verschwunden, sobald ich das gemacht hatte. Langsam kam ich mir selbst schon paranoid vor. Das ging den ganzen Donnerstag über, bis ich schließlich ins Bett ging – mit einer Krücke im Arm, nur für den Fall, dass ich sie wieder gegen Narukana einsetzen müsste. Baila runzelte fragend ihre Stirn, als sie mich am nächsten Morgen weckte. Sie sagte natürlich nichts, aber ich wusste, was sie fragen wollte, weswegen ich direkt darauf antwortete: „Ich wollte nur sichergehen, dass ich sie habe, wenn ich wieder aufwache. Wenn ich nachts wach werde, bin ich manchmal ein wenig verwirrt und vergesslich.“ Ihr Gesicht hellte sich auf, also hatte sie wohl verstanden. In den letzten Tagen waren wir uns recht nahe gekommen, so dass ich sie auch verstand, ohne dass sie etwas sagte. Ähnlich wie Subaru wohl. Aber ich hatte mich noch immer nicht getraut, sie zu fragen, warum sie nicht mehr sprach. Ich nahm mir vor, das so bald wie möglich nachzuholen – aber zuerst stand eine Auseinandersetzung mit Narukana an, das spürte ich regelrecht. Quasi betäubt von meinen Medikamenten, saß ich zusammengesunken auf einem der Sessel im Gruppenraum. Wenigstens schmerzte mein Fuß nicht mehr, wenn auch nur durch die Tabletten. Jeden Morgen – also eigentlich nur Donnerstag und Freitag bislang – glaubte ich erst, alles wäre wieder gut, aber nach ein paar Sekunden kehrten die Schmerzen zurück, breiteten sich wie ein Feuer aus und erinnerten mich stetig daran, dass die Wunden noch da waren. Es war kurz vor der Chefarztvisite, als ich Narukana wieder durch die Scheibe in den Raum spicken sah. Der Ärger über ihr Verhalten übermannte mich wieder und gab mir sogar genug Kraft, mich wieder einigermaßen aufzurichten. „Ignorier sie einfach“, murmelte Thalia, die auf dem Sessel neben mir saß und wieder einmal mit Stricken beschäftigt war. Ich hatte sie dabei beobachtet, wie sie das Gestrickte um Sorluskas Nacken gelegt hat, also sollte es wohl ein Schal für ihn werden, obwohl ich bei ihm immer den Eindruck bekam, dass er genug Hitze in seinem Inneren besaß, um problemlos über den ganzen Winter zu kommen, ohne auch nur zu frösteln. „Wenn das nur so einfach wäre...“ Ich wollte Narukana ja ignorieren, aber sie drängte sich einfach immer wieder in meine Gedanken und in mein Sichtfeld. Um mit Thalia zu sprechen, hatte ich den Kopf von der Scheibe abgewandt – und aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Narukana sich langsam näher an mich heranschlich. „Sie gibt nicht auf“, murmelte Thalia, ohne von ihrer Handarbeit aufzublicken. Verärgert sah ich Narukana an. „Was willst du!?“ Sie hielt inne. Für einen kurzen Moment befürchtete ich, sie würde denselben Trick wie am Vortag noch einmal versuchen, aber stattdessen schnaubte sie. „Du weißt, was ich will!“ Thalia rollte mit den Augen, ich dagegen wurde wieder wütend. „Lass den Schwachsinn endlich! Das ist langsam nicht mehr komisch!“ „Es ist mein voller Ernst!“, erwiderte Narukana und holte zu einem Angriff aus. Dieses Mal war ich auf so etwas vorbereitet, weswegen ich ihrer Faust ausweichen konnte und sie sogleich Bekanntschaft mit meiner machte. Narukana taumelte zurück, fing sich jedoch sofort wieder und sah erneut mich an. Wilde Entschlossenheit brannte in ihren Augen, ich konnte direkt spüren, wie die Luft um sie herum zu knistern begann. Ja, für einen kurzen Augenblick war selbst ich wirklich überzeugt, dass sie über irgendwelche übernatürlichen Fähigkeiten verfügte. „Du hast einen großen Fehler gemacht.“ Ihre Stimme hörte sich plötzlich vollkommen anders an. Sie war nicht mehr die überhebliche Narukana, die ich bislang kannte, in diesem Moment war ihre Stimme frei von jeder Emotion welcher Art auch immer. Alles, was ich heraushören konnte, war Wut, die so unbändig war, dass ihre Stimme nur noch von Kälte zeugte. Ich war nicht die einzige, die das bemerkte. Thalia hielt im Stricken inne und hob den Blick, Subaru und Baila, die am Tisch saßen, taten es ihr nach. Ich schluckte ein wenig, versuchte, mir den Respekt – nicht Furcht, nein, nein – nicht anmerken zu lassen. „Und was hast du jetzt vor?“ Ein wenig enttäuscht war ich schon, als sie mich an meinen Haaren vom Sessel zog und auf den Boden warf, wie schon zwei Tage zuvor. Muss ich wirklich noch einmal erzählen, wie der Kampf ablief? Jedenfalls war es erneut ich, die sich die Oberhand im Kampf gesichert hatte – und wieder spürte ich einen stechenden Blick in meinem Rücken. Erst wollte ich das Gefühl beiseite schieben und Narukana ihren verdienten Schlag verpassen, aber ich wusste genau, dass es dieses Mal nicht Alona war – und das wurde mir auch sofort bestätigt. „Oh ja, du hast deine Patienten wirklich sehr gut im Griff“, hörte ich die spöttische Stimme dieses Arztes, der meinen Fuß behandelt hatte. Mit wem sprach der Depp da? Ich wandte den Kopf, um es mir anzusehen. Dr. Hanto – so hatte Zetsu ihn genannt – stand neben Dr. Cworcs und schmunzelte spöttisch. Offenbar hatte er auf dem Weg etwas mit Dr. Cworcs diskutiert und sah sich nun vollkommen im Recht, als er uns so in dieser Position erblickte. Ich sah zum Chefarzt hinüber, in der Erwartung, dass er wütend wäre und auch so aussehen würde. Dass er wütend war, konnte ich deutlich spüren, aber er sah nicht wirklich danach aus. Selbst seine zitternden Hände, die zu Fäusten geballt waren, konnte ich erst bei genauerem Hinsehen erkennen. Er atmete tief durch, aber seine Worte und die gepresste Stimme verrieten, dass er sich bemühen musste, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten, langsam wäre es mir lieber gewesen, wenn er geschrien hätte. „Narukana... Leana... ins Behandlungszimmer. Sofort.“ Seine Stimme war gefährlich leise, weswegen weder sie noch ich es wagten, zu widersprechen. Hastig richtete ich mich auf, nahm die Krücken und humpelte ohne diese zu benutzen in Richtung des Behandlungszimmers. Dr. Hantos abschätziger Blick dabei zeigte mir, dass er nicht sonderlich begeistert davon war, wie ich meinen verletzten Fuß behandelte. Aber im Moment kümmerte mich das nicht weiter – was wollte der überhaupt hier? Schweigend saßen Narukana und ich im Behandlungszimmer. Ich hab keine Ahnung, wie ich aussah, aber sie machte keinen sonderlich guten Eindruck. Ihr Haar war komplett zerzaust, ihre Kleidung schmutzig und zerknittert und in ihrem Gesicht war ein Kratzer zu sehen. In jenem Moment, in dem wir da so nebeneinander saßen, spürte ich aber keinerlei Feindseligkeit mehr von ihrer Seite. Entweder dadurch, dass wir nun dabei waren, Ärger zu bekommen oder weil sie erkannt hatte, dass ich ihr selbst mit einer Verletzung haushoch überlegen war. Der genaue Grund war mir vollkommen egal, Hauptsache, sie ließ mich in Ruhe. Schließlich betrat Dr. Cworcs das Zimmer, die Miene nach wie vor wie versteinert. Schweigend setzte er sich uns gegenüber und blickte uns an. Oh, ich hatte mich geirrt. Auf seiner Stirn war eindeutig eine Zornesfalte zu sehen, so versteinert war sein Gesicht also doch noch nicht. Ich erwartete, dass er nun endlich anfangen würde zu schreien, doch noch immer sagte er keinen Ton. So schwer wie er aber immer wieder Luft holte, merkte ich, dass er damit beschäftigt war, sich erst einmal wieder unter Kontrolle zu bringen, um uns eben nicht anzuschreien. Wobei ich mich fragte, was ihn mehr ärgerte. Dass wir uns geprügelt oder dass wir ihn unabsichtlich vor Dr. Hanto bloßgestellt hatten? Und warum schrie er nicht einfach und brachte es hinter sich? Mein Vater hatte damit nie ein Problem gehabt. Ich schielte zu Narukana hinüber, die keinen Ton von sich gab. Stattdessen presste sie die Lippen aufeinander und wartete genau wie ich auf ihre Standpauke. Aber immerhin schien sie einen gewissen Respekt vor Dr. Cworcs zu haben. Schließlich schien er sich genug gefasst zu haben. „Was habt ihr euch dabei eigentlich gedacht?“ Bei jedem anderen hätte ich gefragt, ob er das genauer definieren könnte, aber bei ihm senkte ich den Blick ein wenig, so dass ich nicht mehr dauernd in sein Gesicht sehen müsste. Seine Augen erzeugten in mir nämlich ein schlechtes Gewissen – und das musste ja nun wirklich nicht sein. Ich konnte spüren, wie Narukana schnaubte, sie sagte aber nichts. Warum hielt sie sich bei ihm so sehr unter Kontrolle? Es folgte wieder eine lange Pause, ehe Dr. Cworcs fortfuhr: „Ein derartiges Verhalten ist für Patienten auf meiner Station nicht angemessen.“ War das nun etwa die Eröffnung zu einem Rauswurf? „Ich erwarte nicht, dass ihr beiden beste Freundinnen werdet“, sprach er weiter. „Das würde ich sogar über alle Maßen unheimlich finden. Aber ich darf doch davon ausgehen, dass ihr eure Konflikte nicht auf derart primitive Weise lösen müsst.“ Ich warf einen Blick zu Narukana, damit sie endlich sagte, dass es ganz allein ihre Schuld war, doch sie presste stur die Lippen aufeinander und sah woanders hin. Dr. Cworcs entging allerdings weder mein Blick noch ihre Reaktion darauf. Er seufzte entnervt. „Narukana... erinnerst du dich an unser Gespräch, bevor du wieder auf die normale Station kamst?“ Sie nickte schweigend. „Ich musste bereits eine andere Patientin wegschicken und dich auf die geschützte Station verlegen lassen, weil du als Gefahr für dich und andere galtst.“ Ob diese andere Patientin wohl Alona war? Oder möglicherweise waren noch mehr Leute von Narukana verscheucht worden? „Das war nicht meine Schuld!“, verteidigte Narukana sich sofort. „Diese Hexe hat... sie hat...“ Unter Dr. Cworcs Blick verstummte sie wieder. Bestimmt hatten sie dieses Gespräch schon öfter geführt, weswegen sie selbst es inzwischen als aussichtslos betrachtete. Es war nicht so, dass er sie gar heilen würde, sie merkte nur, dass er genervt von ihr war und schwieg deswegen. Doch plötzlich gab es einen Umschwung in Dr. Cworcs Wesen. Er schmunzelte leicht, was ich als spöttisch, sie neben mir wohl aber als beruhigend empfand. „Narukana, ich verspreche dir, dass ich niemanden, der dir etwas antun will, auf diese Station, nein sogar in dieses Krankenhaus, lassen würde.“ Ich wollte über seine Worte lachen, doch seine Strategie schien wirklich aufzugehen. Sie lächelte deutlich erleichtert. „Vielen Dank, Dr. Salles.“ Ungläubig blickte ich zu ihr hinüber. Kaufte sie ihm das etwa ab? Der Kerl konnte niemals so viel Einfluss haben, dass er im ganzen Krankenhaus Bestimmungen für die Personaleinstellungen oder Patientenaufnahmen treffen durfte. Aber Narukana glaubte ihm das tatsächlich. War das nicht kontraproduktiv? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es ihrer Heilung zuträglich wäre, wenn er sie im Glauben ließ, eine Göttin zu sein und er sie quasi beschützte. Andererseits war das vielleicht aber auch seine Masche, um sich ihr Vertrauen zu erschleichen und ihr somit zu helfen. Wenn ja... war das sicherlich nicht unintelligent. „Also lässt du Leana ab sofort in Ruhe?“ Sie nickte lächelnd, aber immer noch mit deutlich sichtbarem Widerwillen. Tss, ich glaubte da noch nicht so recht daran, aber vielleicht hielt sie sich ja mal ausnahmsweise an etwas, was sie versprach. Als Dr. Cworcs mich ansah, war das Lächeln wieder aus seinem Gesicht verschwunden, dafür war die Zornesfalte auf seiner Stirn zurückgekehrt. „Und du, Leana...“ Ich schluckte unwillkürlich, als er mich ansprach. Was wollte er überhaupt von mir, ich hatte mich doch nur gewehrt? „Ich hätte eigentlich gedacht, dass du intelligent genug wärst, deinen Konflikt mit Narukana auf andere Art und Weise zu bereinigen.“ „Manchmal hilft reden eben nicht“, versuchte ich, mich zu verteidigen. „Sie wollte einfach nicht zuhören, egal, was ich gesagt habe! Soll ich sie etwa mich einfach schlagen lassen?“ Wenn er in dem Moment mit diesem altbekannten „Halt die andere Wange hin“-Spruch gekommen wäre, hätte ich ihn umgebracht, echt jetzt! Aber stattdessen sah er wieder zu Narukana hinüber. „Du hast sie zuerst geschlagen?“ Sie senkte den Kopf und murmelte eine Entschuldigung, die ich ihr natürlich nicht im Mindesten abkaufte. „Wenn das noch einmal vorkommt, Narukana, werde ich zu Konsequenzen greifen müssen, das ist dir bewusst, oder?“ Sie nickte. Ich fragte mich, worin diese Konsequenzen wohl bestehen würden, wollte aber auch nicht fragen. „Du kannst jetzt gehen, Narukana – aber sag Dr. Hanto bitte, dass er in drei Minuten reinkommen soll.“ Sie nickte noch einmal, dann sprang sie auf und verließ fluchtartig den Raum. Warum sollte sie diesem Griesgram sagen, dass er...? Oh, Moment. Wahrscheinlich war er hier, um sich meinen Fuß anzusehen und deswegen sollte sie ihn reinschicken. Kaum waren wir allein, seufzte Dr. Cworcs leise. „Sie ist manchmal ziemlich anstrengend.“ „Nervtötend trifft es eher“, bemerkte ich trocken. Er schmunzelte. „Ja, könnte man sagen. Sie ist seit zwei Jahren hier, aber von einem Fortschritt merke ich nicht sonderlich viel.“ Als er sich durch das Haar fuhr, sah er für einen Moment tatsächlich müde und frustriert aus. Doch seine Mimik wandelte sich sofort wieder der mir bekannten professionellen zu. „Möchtest du wegen Narukana vielleicht lieber in ein anderes Krankenhaus?“ Für einen ganz kurzen Augenblick überlegte ich tatsächlich, das Angebot anzunehmen, aber wieder kamen mir Zetsu und Baila in den Sinn, so dass ich ablehnte. „Nein, es ist schon okay. Ich werde versuchen, mich zusammenzureißen.“ Er schien diese Antwort erhofft zu haben, ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Gut. Ich habe schon befürchtet, dass mir all meine Patienten weglaufen. Dabei hätte ich wirklich Verständnis in deiner Situation gehabt. Nicht alle hier sind so umgänglich wie Baila. Zetsu, zum Beispiel...“ Als er bemerkte, dass er gerade im Begriff war, zu viel zu sagen, verstummte er sofort, so dass ich mich nur wieder ärgern konnte. Aber so einfach würde ich nicht aufgeben. „Mir kommt Zetsu ziemlich umgänglich vor.“ „Ja... vermutlich weil du ein Mädchen bist. Aber gut, lass uns nicht über Zetsu sprechen.“ Ich sprach aber ziemlich gern über Zetsu... nun gut, das musste er ja nicht wissen. „Dr. Hanto wollte sich dann noch deinen Fuß ansehen... Gibt es vorher noch etwas, über das wir reden sollten?“ Mir fiel beim besten Willen nichts ein. Die Sache mit Narukana war nun besprochen, ich war noch nicht rausgeflogen und über Zetsu wollte er nicht reden. Also gab es nichts. Ich schüttelte mit dem Kopf, worauf er wieder lächelte. „Ich wünschte, all meine Patienten wären so unkompliziert wie du. Die anderen reden entweder so schnell, dass ich kaum ein Wort verstehe oder sie reden gar nicht. Und damit meine ich nicht Baila. Zetsu sitzt immer nur hier und starrt mich vorwurfsvoll an, als wäre ich derjenige, der ihn hierher gebracht hat.“ Im Moment hatte ich das Gefühl, dass Dr. Cworcs ebenfalls einen Psychiater bräuchte, so redebedürftig wie er da gerade war. „Weswegen ist er denn hier?“ Ich glaube, er wollte mir tatsächlich antworten, er öffnete schon den Mund, um es zu tun – und genau in dem Moment kam Dr. Hanto herein. Am Liebsten hätte ich ihn aus dem Fenster geworfen. Dr. Cworcs stand auf. „Ah, da bist du ja. Du kannst sie jetzt untersuchen.“ Der griesgrämige Arzt schmunzelte zufrieden, er würde den Vorfall zwischen mir und Narukana bestimmt öfter noch als Beispiel dafür heranziehen, dass Dr. Cworcs sich irrte. Aber ich hoffte, dass er dabei immer meinen Namen herauslassen würde – nicht dass ich eines Tages irgendwo als die Irre, die anderen Irren eins mit der Krücke überzog, bekannt werden würde. Dr. Cworcs nickte uns beiden zu und verließ den Raum, als Dr. Hanto mit der üblichen genervten Stimme mit meiner Untersuchung begann. Kapitel 23: Ein nächtliches Gespräch ------------------------------------ Bis zum Abend ließ Narukana mich glücklicherweise in Ruhe. Offenbar hatte Dr. Cworcs' kleine Rede ihre Wirkung getan. Ich hätte nie gedacht, dass sie vor jemandem dermaßen viel Respekt haben würde, Dr. Cworcs musste wirklich wahre Wunder wirken bei ihr. Seitdem fragte ich mich aber ständig, was er mit diesen Worten gemeint hatte... „Ja... vermutlich weil du ein Mädchen bist.“ Was sollte mir das nur sagen? Und warum war Zetsu überhaupt hier? Argh, das würde mich wohl noch bis zum Ende meines eigenen Aufenthalts quälen. Ich versuchte, die einzelnen Teile so gut wie möglich zusammenzusetzen. Diese Hexe hatte erwähnt, dass Zetsu lieber in der Kardiologie liegen sollte, er selbst hatte einmal gesagt, dass er nicht freiwillig hier war und Dr. Cworcs sagte, dass er keineswegs umgänglich war... Er musste also etwas am Herzen haben, war deswegen depressiv und gegen seinen Willen hierher gebracht worden. Ich beglückwünschte mich selbst zu meinen Kombinationsfähigkeiten, die denen von Columbo und Monk alle Ehre machte... ja, ich weiß, der war schlecht. Ich lag auf dem Bett und versuchte, einzuschlafen, obwohl es gerade einmal neun Uhr war. Aber es gab einfach nichts anderes zu tun und ich wollte auch nicht dauernd hin- und herhumpeln, um bei den anderen zu sein, wo ich ja ohnehin nicht sein wollte. Die Stimmen der anderen kamen durch die geschlossene Tür undeutlich bei mir an, doch durch die Geräusche, die durch das offene Fenster kamen, konnte ich nichts verstehen. Da ich das aber auch ohnehin nicht wollte, kümmerte mich das nicht weiter – und dann hörte ich plötzlich zwei mir sehr bekannte Stimmen, die von draußen kamen. „Du siehst heute nicht gut aus“, hörte ich Nozomu sagen. Für einen kurzen Moment kam es mir vor als würde er mit mir sprechen, aber dafür war die Stimme zu undeutlich und kam aus einer zu großen Entfernung. Er stand wohl eher auf dem Balkon und sprach dort mit jemandem, doch bevor ich mich fragen konnte, wer dieser Jemand war, erklang auch schon eine spöttische Antwort: „Was bist du heute wieder charmant~ Hast du noch etwas vor mit mir?“ Mein Herz schlug augenblicklich schneller, als ich Zetsu sprechen hörte. Ich stellte mir seinen amüsierten Gesichtsausdruck und im Gegenzug den empörten von Nozomu auf diese Erwiderung vor. Beides stimmte mich irgendwie... zufrieden. „Ich mache keine Scherze“, erwiderte Nozomu. „Ich mache mir nur Sorgen um dich. Oder ist das verboten?“ „Wenn es nach mir ginge, wäre es verboten.“ Plötzlich klang Zetsus Stimme kalt und unnachgiebig, so sehr, dass es mir einen Schauer über den Rücken jagte. Ich schlang die Decke fester um meinen Körper, damit das Frösteln endete. „Ich hasse es, wenn ihr dauernd meint, euch Sorgen um mich machen zu müssen. Ich glaube euch das ohnehin nicht. Sonst würdet ihr mich hier nicht einsperren.“ Nozomu stöhnte genervt. „Das tun wir bestimmt nicht, weil es uns Spaß macht. Es ist nur zu deiner Sicherheit...“ „Und meinem Besten und meiner Gesundheit, bla bla bla, ich weiß.“ Diese kalte, fast schon abweisende Art von Zetsu war so neu und ungewohnt, nicht einmal bei Alona hatte er diese angewandt, warum richtete er sie nun gegen seinen besten Freund? „Schon mal auf den Gedanken gekommen, dass ich meine letzten Lebensjahre nicht hier verbringen will? Ich will hier raus, etwas erleben, selbst wenn es mich umbringt.“ Sämtliche Wärme schien aus meinem Körper zu verschwinden, Kälte erfüllte diesen dafür. Doch ehe ich mich vollkommen der Sorge hingeben konnte, dass Zetsu möglicherweise bald sterben würde, erwiderte Nozomu etwas darauf: „Sei kein Idiot. Salles hat gesagt, dass du wieder ganz gesund werden kannst – wenn du es willst.“ Ich war ein wenig überrascht, dass er den Doktortitel einfach wegließ, aber immerhin war er schon um einiges länger in der Klinik, da hatten die beiden sich möglicherweise sogar einmal darauf geeinigt, dass dies besser oder praktischer wäre. Oder aber er nannte ihn nur in seiner Abwesenheit so. „Er sagt viel, wenn der Tag lang ist. Das heißt nicht, dass es auch stimmt.“ Ich konnte hören wie Nozomu seufzte. Es klang entnervt, resignierend, ähnlich wie ich nach wiederholten Auseinandersetzungen mit meinen Eltern. Doch im Gegensatz zu mir gab er nicht auf, sondern machte tatsächlich weiter: „Ich weiß, dass Nanashis Tod dir zugesetzt hat, mehr sogar noch als deinen Eltern – aber selbst du solltest langsam einsehen, dass es Zeit wird, weiterzuleben. Mit Sicherheit würde ihr das gar nicht gefallen, was du hier veranstaltest.“ Die Art, wie er von ihr sprach und dabei Zetsus Eltern in das Gespräch einflechtete, verriet mir, dass es sich bei Nanashi um die Schwester des Silberhaarigen handeln musste – oder besser, gehandelt haben, immerhin war sie offenbar tot und das begründete Zetsus Zustand. Stellte sich für mich nur noch die Frage, was das alles mit seinem Herzen zu tun hatte... oder ob das überhaupt damit in Zusammenhang stand. Während ich darüber nachdachte, schienen beide zu schweigen. Erneut versuchte ich mir vorzustellen, wie sie sich gegenüberstanden. Nozomus Blick entschlossen, die Arme vor der Brust verschränkt, das Gesicht so ernst wie eh und je; Zetsu mit den Händen in den Hosentaschen, ein unterkühlter, gelangweilter Blick und eine desinteressierte Mimik, die anzeigte, wie egal ihm dieses Gespräch war. Doch ob ich mich da nicht vielleicht täuschte? Immerhin war es doch sein bester Freund, der da mit ihm sprach, der sich Sorgen um ihn machte. Konnte es Zetsu da wirklich so egal sein? „Woher willst du das wissen? Vielleicht ist das hier genau das, was sie will.“ Selbst ich dachte mir in dem Moment, was das doch für ein Unsinn war. Wer würde ernsthaft wollen, dass die Hinterbliebenen so sehr litten? Ich würde das nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen – wobei ich zugeben musste, dass ich solche nicht hatte, vielleicht dachte man ja doch anders darüber, wenn es Feinde gab. „Du machst dich echt lächerlich“, erwiderte Nozomu. „Mit Sicherheit hätte sie das nicht gewollt – denn wenn doch, dann wäre sie 'ne echt miese Schwester gewesen.“ Ich konnte den Schlag fast schon selbst spüren, konnte mir die Schadenfreude allerdings nicht verkneifen, als ich mir vorstellte, wie Nozomu diesen abbekam. Er murmelte eine Entschuldigung, worauf Zetsu sich wieder zu beruhigen schien. „Du weißt, dass du nicht so über sie reden sollst. Das ändert nichts an meinen Entscheidungen. Ich werde bald 18 – und dann werde ich hier verschwinden.“ Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie die Klinik ohne Zetsu sein würde. Nozomu schwieg für einen Moment, offenbar überlegte er, was er darauf erwidern sollte und fand auch schon bald eine entsprechende Replik: „Wirst du hier niemanden vermissen?“ Angespannt wartete ich auf eine Antwort. Immerhin war ich auch Jemand in diesem Krankenhaus und er verbrachte viel Zeit mit mir, wenn ich es zuließ. Dies war der Moment, in dem ich endlich erfahren könnte, ob er mich wirklich mochte oder nicht – auch wenn ich nicht wusste, was ich dann mit diesem Wissen anfangen sollte. „Du meinst außer dir? Eigentlich nicht.“ Ich seufzte enttäuscht und war froh, dass niemand da war, um es zu hören – zumindest hoffte ich, dass man es auch nicht auf dem Balkon hören könnte oder die beiden dem Laut zumindest keine Bedeutung beimessen würde. Eigentlich hatte ich mir ja geschworen, dass ich keinerlei Interesse an Zetsu haben und diese Phase nur aussitzen würde – aber irgendwie hatte ich dennoch gehofft, dass er mir nichts vorspielte und er mich wirklich mochte und das auch so sehr, wie es immer den Anschein erweckt hatte. Zu hören, dass dem offensichtlich aber doch nicht so war, enttäuschte mich doch – immerhin war er ja meine erste große Liebe. Das war ja fast so als hätte Edward Bella verlassen... Moment, wenn ich die Reviews richtig im Kopf hatte, war das in mindestens einem der späteren Bände sogar geschehen. Mein Leben musste ein schlechter Twilight-Abklatsch sein – würde für mich auch noch ein Werwolf in Reserve stehen? Besser, ich dachte nicht zu viel darüber nach, ich hatte Wichtigeres zu tun. Dem Gespräch weiter zuhören, zum Beispiel, denn ich bekam gerade Nozomus nächste Frage mit: „Wirklich niemanden?“ Ich fragte mich, welche Antwort er von Zetsu erwartete. Hoffte er vielleicht darauf, dass er ihm noch einmal bestätigte, dass es niemanden gab? Oder wollte er tatsächlich einen Namen – möglicherweise sogar meinen – hören? Vielleicht hasste er mich doch nicht so sehr, wie ich bislang angenommen hatte, vielleicht war er nur nicht gut darin, mit anderen Menschen umzugehen. Wieder schlug mein Herz schneller, als ich auf Zetsus Antwort wartete, obwohl ich mir keine großen Hoffnungen machte. Immerhin zeigte ich ihm nur allzugern die kalte Schulter und hatte mir Mühe gegeben, ihm deutlich zu zeigen, dass ich keinerlei Interesse an ihm hegte. Das könnte mir möglicherweise an dieser Stelle das Genick brechen – und ich sollte recht behalten. „Absolut niemanden. Ich bin froh, wenn ich keinen hier jemals wiedersehen muss.“ Kapitel 24: Bailas Geschichte ----------------------------- Ich gebe gern zu, dass ich am nächsten Tag alles andere als gut drauf war. Schon als ich aufwachte glaubte ich, eine drohende Migräne zu spüren – immerhin hatte Baila aber irgendwann offenbar das Fenster geschlossen. Einen Zug konnte ich daher ausschließen. Für einen Moment kam es mir vor als wäre das belauschte Gespräch der letzten Nacht nur ein Traum gewesen – doch das drückende Gefühl in meiner Brust, das mir die Luft abschnürte sagte mir, dass es durchaus der Wahrheit entsprach. Ich bedeutete ihm nichts. Der Person, die mein Leben, meine Gefühle, komplett durcheinandergewirbelt hatte, war ich egal, genau wie meinen Eltern – nur dass diese im Gegensatz zu ihm sich nie die Mühe gemacht hatten, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Meine Depressionen hatten gerade einen neuen Anstoß erfahren, weswegen ich eigentlich gar nicht aufstehen wollte. Am Liebsten hätte ich den ganzen Tag nur an die Decke gestarrt und mich gefragt, wie ich es nur hatte zulassen können, dass sich jemand wie Zetsu mein Herz krallt, um damit zu spielen. Dummerweise geht es einfach nie nach meinem Kopf und so kam es, dass ich plötzlich spürte, wie jemand sanft nach meiner Schulter griff. Mir war gar nicht aufgefallen, dass Baila offenbar bereits eine Weile neben meinem Bett gestanden haben musste, ohne von mir bemerkt zu werden. Schlecht gelaunt wandte ich ihr den Kopf zu. „Was ist los?“ Schon im nächsten Moment tat es mir Leid, ihre Mimik sagte mir, dass sie sich nur Sorgen um mich gemacht hatte und sich von meiner Abweisung verletzt fühlte. Ich entschuldigte mich seufzend und setzte mich auf. Pünktlich mit meiner Migräne begannen auch die Schmerzen in meinem Fuß wieder einzusetzen – aber es war mir egal. Das verletzte Gefühl in meiner Brust, wenn ich an Zetsus Worte dachte, verdrängte den körperlichen Schmerz. Zur Antwort auf meine vorige Frage hielt sie mir ihre Blockseite mit der Aufschrift Guten Morgen entgegen. „Morgen“, erwiderte ich, ließ das Guten aber gezielt weg. Besorgt neigte sie den Kopf und blätterte in ihrem Block, bis sie die gewünschte Seite gefunden hatte und mir diese wieder zeigte: Bedrückt dich etwas? Ich fand es fast schon unglaublich süß, diese Worte, in Kombination mit ihrer Mimik. Ich konnte ihr gegenüber meine schlechte Laune nicht aufrecht erhalten – aber ich konnte ihr auch unmöglich sagen, was es war, das mich so bedrückte. „Es geht schon“, erwiderte ich daher nur. Aber mit irgendwem musste ich auch sprechen und ich wollte nicht, dass es ein Teil des Personals war, auch wenn diese dafür immerhin bezahlt wurden. „Kann ich dich etwas fragen?“ Sie nickte knapp, ich fuhr fort, um die Frage zu stellen: „Hattest du es schon mal, dass du glaubtest, jemand mag dich und du hast dich darüber gefreut und dann stellte sich heraus, dass es doch nicht so war?“ Ich war mir nicht sicher, ob sie verstanden hatte, was ich damit sagen wollte, denn für einen Moment sah sie mich vollkommen ausdruckslos an. Ich hoffte, sie dachte über die Frage nach und war sich nur noch nicht sicher, was sie antworten sollte. Vollkommen unvorbereitet, wandte sie sich plötzlich von mir ab und kehrte wieder zu ihrem Bett zurück, wo sie im Nachttisch zu wühlen begann. Da sie mir ohnehin nicht antworten konnte, schluckte ich die Frage, was sie denn suchen würde, hinunter. Außerdem förderte sie in der Zeit, in der ich diese hätte stellen können, bereits etwas zutage, das nach mehreren, eng beschriebenen Blättern aussah. Sie reichte mir diese, allerdings ohne zu lächeln. Ein trauriges Glitzern war in ihren Augen zu sehen, so intensiv, dass ich sie am Liebsten in den Arm genommen hätte, um sie zu trösten. Doch stattdessen nahm ich ihr einfach die Blätter ab, um diese zu lesen, während sie sich neben mich setzte. Schon nach den ersten Sätzen wusste ich, worum es sich hier handelte. Dr. Salles musste sie irgendwann dazu aufgefordert haben, ihre Geschichte und das, was sie hergeführt hatte, aufzuschreiben – und das in meinen Händen war das Ergebnis davon. Ich will nicht vollständig wiedergeben, was darin stand, aber zumindest die wichtigsten Dinge. Natürlich war Bailas ungewöhnliches Aussehen schon immer Teil von ihr gewesen, doch die meisten Leute hatten wohl so reagiert wie ich anfangs – mit Befremden. Im besten Fall war sie ignoriert worden, im schlimmsten Fall hatte man sich über sie lustig gemacht, sie beschimpft und offenbar sogar geschlagen. Sie hatte all das mit einer bewundernswerten Ruhe ertragen und über sich ergehen lassen, ohne sich auch nur im Mindesten zu beklagen. Offenbar war sie ein freundlicher und fröhlicher Mensch geblieben, auch wenn sie sich bereits in jungen Jahren oftmals gewünscht hatte, einfach nicht mehr aufzuwachen. Ich muss zugeben, dass der Gedanke, dass ein Kind nicht mehr leben wollte, etwas Bedrückendes hatte. Wenn ich da eine Kindheit zurückdachte, wo ich zwar oft genervt, aber in gewisser Weise noch glücklich gewesen war... da lagen Welten dazwischen. Baila hatte oft, viel zu oft, mit sich selbst gehadert, sich selbst die Schuld gegeben, dass sie so anders war und ihren Eltern – über die sie erstaunlich wenig in diesem Bericht schrieb – damit Kummer bereitete. Etwas, was sie sich anscheinend nicht verzeihen konnte, obwohl nichts davon durch ihr eigenes Verschulden geschehen war. Dann, als Baila gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen war, hatte es eine bedeutsame Veränderung in ihrem Leben gegeben: Eine ihrer Mitschülerinnen, die sie früher stetig ignoriert hatten, begann Interesse an Baila zu zeigen und schien sich mit ihr anfreunden zu wollen. Emotional ausgezehrt, sehnte sie sich selbstverständlicherweise nach diesem Kontakt und ließ es zu, dass diese Person sich mit ihr anfreundete und in ihre Geheimnisse eingeweiht wurde. Baila fasste neuen Lebensmut, begann, sich selbst zu vergeben und war sich sicher, dass alles gut werden würde – bis zum dreizehnten Geburtstag dieser vermeintlichen Freundin. An jenem Tag, an dem sich alle Mitschüler der beiden trafen, teilweise auch Schüler aus den anderen Stufen ihrer Schule, lernte Baila, dass zu viel Vertrauen und zu viel Redseligkeit nur zu Demütigung führte. Diese Freundschaft war von Anfang eine abgekartete Sache gewesen, um Baila zu hintergehen und sie so tief wie nur irgendwie möglich zu verletzen. Es war ihnen nicht mehr nur genug gewesen, sie körperlich zu verletzen, sondern sie emotional bloßzustellen, vor möglichst vielen Leuten und ihr klarzumachen, dass ein Freak wie sie niemals Freunde haben würde. Im Gegensatz zu ihr war es mir immer egal gewesen, dass niemand mich mochte oder je mögen würde, aber ich konnte mir vorstellen, wie tief es dieses Mädchen, das eigentlich nur geliebt werden wollte, doch getroffen haben musste. Und fortan hatte niemand mehr Baila je sprechen gehört. Sie hatte beschlossen, zu schweigen, damit so etwas nie wieder geschehen würde. Zwar war sie weiterhin zur Schule gegangen als ob nichts wäre und hatte nach außen nicht gezeigt, dass sie verletzt war, doch verlor sie kein einziges Wort mehr, kein Ton kam über ihre Lippen, so dass es selbst ihren Mitschülern schließlich zu langweilig geworden war, sie zu ärgern und man sie fortan in Ruhe ließ. Nicht, dass es Baila noch großartig gekümmert hätte, sie... existierte nur noch, mehr war da nicht mehr. Sie schlief, wenn sie müde war; aß, wenn ihr Magen knurrte und trank, wenn der Durst übermächtig wurde. Nichts davon tat sie mehr mit Genuss. Ihr Schulpsychologe, anscheinend ein Freund von Dr. Breen, verwies sie schließlich mit dreizehn an diese Klinik – das war vor zwei Jahren gewesen und sie hatte immer noch nicht gesprochen. Nun selbst sprachlos, blickte ich von dem Geschriebenen wieder auf und sah sie an. Ich überlegte, was ich ihr sagen, wie ich sie trösten sollte – doch stattdessen fiel mir etwas anderes auf. Im Gegensatz zu früher war sie fröhlich. Sie lächelte mich an, so sanft wie eh und je, ich wusste, dass sie Subaru sehr mochte, also fasste sie auch wieder Vertrauen und inzwischen wusste ich auch sehr genau, dass sie mit Vorliebe Vanillepudding aß – alles war wieder da, sie war quasi gesund, nur dass sie eben immer noch nicht sprach. „Es geht dir jetzt besser, nicht wahr?“ Sie musste nicht lange überlegen, sie nickte sofort. Ich war mir sicher, dass, hätte sie gesprochen, sie mir nun etwas von Subaru erzählt hätte, mit dem sie immerhin fast ihre gesamte Freizeit hier verbrachte. Er war mit Sicherheit ein Grund, warum es ihr besser ging und sie war im Gegenzug ein Grund für ihn, sich besser zu fühlen. Warum konnte ich das nicht für Zetsu sein? Im Gegensatz zu sonst wollte ich mich dieses Mal nicht für den Gedanken schlagen, ich meinte ihn vollkommen ernst und war mir dessen bewusst. Aber genauso war mir auch bewusst, dass der Gedanke bescheuert war, denn dieser Fall würde niemals eintreten. Ich war ihm egal und ich war in gewisser Weise glücklich, dass es mir rechtzeitig klar gemacht geworden war. Zögernd legte sie ihre Arme um mich, worauf ich auch einen Arm um ihre Schulter legte. Bailas Geschichte zu kennen, gab mir das Gefühl, ihr noch näher gekommen zu sein und für sie wie für eine kleine Schwester empfinden zu können. Für sie war alles gut geworden, weil sie es geschafft hatte, sich von diesem Ereignis nicht unterkriegen zu lassen. Bestimmt würde für mich auch alles gut werden und ich würde irgendwann Personen finden, die mein Vertrauen wert waren – und die nicht Zetsu Akatsuki hießen. Kapitel 25: Das Ende -------------------- Am darauf folgenden Freitag fühlte ich mich körperlich gesehen wieder besser. Mein Fuß schmerzte nicht mehr allein vom Wachsein her und ich konnte endlich wieder auftreten, solange ich vorsichtig war. Ich brauchte also glücklicherweise keine Krücken mehr – und da ich Narukana keine mehr überziehen musste, da sie mich seit Salles' Rede in Ruhe ließ, brauchte ich auch dafür keine Hilfsmittel mehr. Aber innerlich fühlte ich mich immer noch... leer. Ich sah Zetsu jeden Tag, er lächelte immer noch so warm wie zuvor, doch wurde mir endlich bewusst, dass seine Augen dabei kalt wie Eis waren. Zwar schlug mein Herz im ersten Augenblick immer noch schneller, aber gleich darauf wurde mir erneut bewusst, was er in jener Nacht auf dem Balkon gesagt hatte und es kam mir wieder vor als würde etwas in meinem Inneren sterben. Wie hatte ich nur jemals auf ihn hereinfallen können? Mit jedem Tag wurde der Drang, darüber zu sprechen, stärker und ich war froh, dass mir endlich die Sprechstunde bei Dr. Cworcs bevorstand. Diesem stets gelassenen und distanzierten Mann würde ich bestimmt davon erzählen können. Dr. Breen mochte ich zwar in gewisser Weise auch, aber er erzählte meiner Meinung nach zu gerne Geschichten, ich wusste inzwischen schon fast alles über seine Kindheit oder seine Schwester und auf noch mehr Stories war ich echt nicht erpicht. Außerdem lächelte er immer so verständnisvoll und das ging mir auf die Nerven. Dr. Cworcs wäre aber perfekt. Demzufolge erleichtert war ich, als ich ihn endlich die Station betreten sah. Er ging zu Jatzieta ins Schwesternzimmer, wo er sich wie üblich erst einmal mit ihr unterhielt. Einmal hatte ich das Gespräch mitangehört, daher wusste ich inzwischen, dass sie neben den aktuellen Patientenbelangen auch über einige private Dinge plauderten. So hatte ich erfahren, dass D. Cworcs, Dr. Breen und Dr. Hanto sich so gut kannten, weil sie während ihres Studiums gemeinsam in einer Wohngemeinschaft gelebt hatten. Außerdem gab es offenbar einen Menschen, der nicht von Dr. Cworcs gelangweilt war und sich tatsächlich auch privat mit ihm traf. Ungeduldig wartete ich darauf, dass er für heute wieder mit dem Geschwätz fertig wurde – als etwas im Treppenhaus meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Jemand kam die Treppe herauf und da wir alle versammelt im Gruppenraum saßen, konnte es keiner von uns sein. Eigentlich wollte ich dieser Person auch keine weitere Aufmerksamkeit widmen – doch als sie durch die Tür kam und dann im Gang stehenblieb, sog ich überrascht die Luft ein. Ich hätte nie erwartet, sie wiederzusehen und schon gar nicht hier, weswegen ich es im ersten Moment gar nicht glauben konnte. Ich sank tiefer auf dem Sessel, damit sie mich nicht sehen würde und hoffte, dass keiner der anderen sie bemerkte, was natürlich vergebens war. Alle blickten neugierig durch die Scheibe und betrachteten die schwarzhaarige, blasse Frau jenseits davon, während sie sich umsah und dann schnurstracks ins Schwesternzimmer lief. „Oh, bitte nicht“, murmelte ich. „Kennst du die?“, fragte Sorluska mich, da er direkt neben mir saß. Ich verzichtete auf eine Antwort, sondern fragte mich stattdessen, woher sie wusste, dass ich hier war. Hatten meine Eltern sich wirklich gemerkt, wo ich hingehen wollte? Und hatte sie diese wirklich danach gefragt? Vielleicht war ich ja doch nicht jedem egal. Ich war mir nicht sicher, was davon mich mehr überraschte. Aber es bestand auch die Möglichkeit, dass sie nur sichergehen wollte, dass ich hier gut aufgehoben war. Ich musste das unbedingt herausfinden. Hastig stand ich auf und huschte zur Tür hinüber, um näher am Schwesternzimmer zu sein und dem Gespräch mit gekrümmten Rücken lauschen zu können. „Dürfte ich erst einmal wissen, wer Sie sind?“, fragte Dr. Cworcs gerade. „Isolde Vartanian“, kam die überraschend knappe Antwort, worauf ich am Liebsten im Boden versunken wäre. „Ist sie verwandt mit dir?“, fragte Sorluska, der gemeinsam mit mir zur Tür gekommen war. Ich antwortete nicht, aber das war auch überflüssig, denn Isolde übernahm das für mich im Schwesternzimmer: „Ich bin die ältere Schwester von Leana.“ Von meiner neuen Position aus konnte ich nicht in das Zimmer hineinsehen, aber ich konnte mir Jatzietas verstehendes Gesicht richtiggehend vorstellen, genau wie die erstaunt gehobenen Augenbrauen von Dr. Cworcs. Sorluska dagegen blickte mich überrascht an. „Du hast 'ne Schwester?“ „Wie du siehst...“ Was sollte ich sonst sagen? Ich war doch niemandem hier Rechenschaft schuldig oder wäre ich verpflichtet gewesen, allen einen Lebenslauf und einen Stammbaum vorzulegen? „Krass~“ Ich warf Sorluska einen genervten Blick zu, den er glücklicherweise sogar verstand. Sein Grinsen erlosch, aber er ging trotzdem nicht weg – was wohl daran lag, dass auch alle anderen sich inzwischen an der Tür versammelt hatten, um sein Schweigen zu kompensieren. „Was will sie denn hier?“, fragte Nozomu. Zur Antwort rollte ich mit den Augen, glücklicherweise war es erneut Isolde, die eine allgemein verständliche Antwort formulierte: „Es muss ein Irrtum sein, dass Leana hier ist – ich bin gekommen, um sie wieder abzuholen.“ Die Versammelten sogen überrascht die Luft ein, ich neigte den Kopf. „Das kommt ein wenig überraschend“, erwiderte Dr. Cworcs. „Leana erzählte mir, dass sie keinerlei Kontakt mit ihrer Schwester hätte.“ „Das ist richtig. Ich habe auch nur durch Zufall hiervon erfahren.“ Wie solch ein Zufall wohl aussah? Hatte sie unsere Mutter etwa im Supermarkt getroffen? Oder vor dem Treffpunkt der Anonymen Alkoholiker? ... Nein, das war zu lächerlich, da würde meine Mutter bestimmt nie hingehen. Es erschreckte mich, dass ich genau wusste, dass Dr. Cworcs und Jatzieta sich nun einen Blick zuwarfen und dabei gleichermaßen die Stirn runzelten. Ich war wohl wirklich schon viel zu lange hier. Schließlich räusperte der Arzt sich. „Nun, Leana ist volljährig, das heißt, sie kann selbst entscheiden, ob sie hier bleiben will oder nicht. Das müssen Sie also mit ihr klären.“ „Und wo ist sie?“ „Gleich gegenüber im Gruppenraum.“ Unwillkürlich stellte ich mich aufrecht hin. Eigentlich wollte ich Isolde entgegenlächeln, als sie aus dem Schwesternzimmer kam, doch erstens hätte das nicht zu mir gepasst und zweitens war mir nach dieser Woche nicht sonderlich nach Lächeln. Stattdessen fragte ich mich bereits, ob ich wirklich einfach gehen könnte – außerdem stellte ich mir vor, dass es wohl blöd aussehen würde, wenn ich lächelnd zwischen all diesen neugierigen Leuten stehen würde. Obwohl ich gleich feststellte, dass alle anderen bereits wieder fortgehuscht waren, um eben keinen allzu neugierigen Eindruck zu machen. Isolde kam auf mich zu und blieb direkt vor mir stehen. Sie musterte mich einen Moment – immerhin war es ein paar Jahre her seit unserer letzten Begegnung – dann begrüßte sie mich lächelnd. „Schön dich zu sehen. Es ist eine Weile her, nicht wahr?“ „So könnte man es sagen.“ Ich ließ mir nichts anmerken, setzte meine neutrale Maske wieder auf, die ich noch von früher perfekt beherrschte und verschränkte die Arme vor meiner Brust. „Also, kommst du mit?“ Es war typisch Isolde, dass sie die Frage so stellte, ich wollte aber nicht so schnell nachgeben. „Wohin denn?“ „Na zu mir. Ich hätte dich gar nicht bei unseren Eltern lassen dürfen, aber als du noch minderjährig warst, ging das ja nicht anders.“ Minderjährig... ich war erst vor kurzem achtzehn geworden, kurz bevor sie aus den USA zurückgekehrt war, vielleicht war sie deswegen bei unseren Eltern gewesen und hatte erfahren, dass ich hier war. Mit ein wenig mehr Durchhaltevermögen wäre ich möglicherweise also auch ohne diese Klinik von meinen Eltern weggekommen und hätte bei Isolde einen Neuanfang starten können. Aber genaugenommen war es dafür auch jetzt noch nicht zu spät und es würde bedeuten, dass ich fortkam von Zetsu, dass ich wieder normal leben könnte, ohne diesen verdammten Schönling, ohne Narukanas ständige Beobachtung, ohne Nozomus Nervereien und vor allem ohne diese ganzen Ärzte, Pfleger und Therapeuten. Ich würde jemanden haben, dem ich tatsächlich etwas bedeutete und die extra hergekommen war, um mich zu holen, statt mit den Schultern zu zucken und sich um ihre eigenen Dinge zu kümmern. Es klang fast zu schön, um wahr zu sein. „Ich muss nur schnell packen.“ Die Worte kamen schneller über meine Lippen als ich darüber nachdenken konnte, schon im nächsten Moment sprintete ich in mein Zimmer zurück, um mich um mein Gepäck zu kümmern. Es dauerte nicht lange und ich kehrte mit meinem immer noch viel zu schwerem Koffer zurück. In der Zwischenzeit hatte sich scheinbar die gesamte Station auf dem Gang versammelt und blickte mich irritiert an. „G-gehst du wirklich?“, fragte Subaru. Mir schien Trauer in seiner Stimme mitzuschwingen, auch wenn mich das ebenfalls irritierte. War er wirklich traurig, dass ich ging? Ich sah zu Dr. Cworcs, der nur die Schultern hob. „Wenn du das willst, kannst du das natürlich. Du bist immerhin volljährig und freiwillig hier.“ Ich sagte nichts mehr, ließ aber den Koffer los, damit Isolde ihn nehmen und schon einmal vorgehen konnte – zumindest gab sie mir das zu verstehen. Offenbar wollte sie meiner Verabschiedung nicht im Weg stehen. Ich umarmte Baila, in deren Augen bereits wieder Tränen glitzerten. „Mach's gut“, murmelte ich leise, ehe ich sie wieder losließ. Sie rieb sich über die Augen, dann wandte ich mich den anderen zu. Sogar Narukana war da, die Arme in die Hüften gestützt, aber offenbar nicht daran interessiert, mich aufzuhalten. Vermutlich glaubte sie, es würde ihr leichter fallen, ihr Siegel zu suchen, wenn ich nicht mehr da war. Zu meiner Überraschung konnte ich aber in allen anderen Gesichtern, sogar dem von Nozomu etwas wie Trauer erkennen. Anscheinend waren sie tatsächlich alle bestürzt darüber, dass ich ging – außer Zetsu. Von dem Silberhaarigen sah ich tatsächlich absolut gar nichts, auch im Gruppenraum nicht als ob er sich in Luft aufgelöst hätte. Nun, er hatte mir ja bereits gesagt, dass er kein Interesse an mir oder sonst jemandem hier hatte, also was erwartete ich da? Aber enttäuscht war ich dennoch ein wenig. Als ich die Hand hob, um mich von allen zu verabschieden, spürte ich, wie meine Brust sich zusammenzog. Ich hatte das erste Mal so etwas wie Freunde und einen Ort gefunden, an dem ich recht gerne war und nun ließ ich das alles wieder hinter mir, ohne die Aussicht, es je wiederzusehen. Ja, ich war tatsächlich ein wenig traurig deswegen, aber ich würde den Entschluss nicht mehr rückgängig machen. Immerhin ließ ich damit auch Zetsu zurück und die verwirrenden Emotionen, alles würde wie früher werden und daran war ich immerhin gewöhnt. Als ich die Treppe hinunterging, konnte ich sehen, wie die anderen an der Tür standen und mir hinterhersahen, Tränen liefen über Bailas Gesicht und ließen es mich tatsächlich bereuen, aber ich wollte nicht mehr dorthin zurück – und als ich sah, wer am Fuß der Treppe stand, war auch dieser Gedanke wieder vergessen. Neben Zetsu blieb ich wieder stehen. Ich glaubte in seinen Augen einmal mehr zu sehen als nur Kälte, aber es war auch gut möglich, dass ich mir das nur einbildete, weil ich es sehen wollte. „Du gehst?“, fragte er tonlos. Am Liebsten hätte ich geblafft, dass es ihm doch ganz recht sein konnte, wenn ich nicht mehr da war, doch stattdessen nickte ich. „Ja, tue ich.“ Seine Mundwinkel sanken tiefer. „Ich nehme an, du kommst dann nicht wieder.“ „Sieht so aus.“ Es kam mir vor als wollte er noch etwas sagen, besann sich aber anders und trat einen Schritt beiseite. „Dann mach es gut...“ „Du auch.“ Ich nickte ihm zu und ging an ihm vorbei zur Tür. Ehe ich hindurch ging, wandte ich mich ihm noch einmal zu. Er stand immer noch da, am Fuß der Treppe und sah mir hinterher wie ein Hund, der gerade an einen Baum gebunden worden war und seinem Besitzer vertrauensvoll hinterherblickte, während dieser ohne schlechtes Gewissen davonging. Ich muss zugeben, in diesem Moment fühlte ich ein wenig Befriedigung in meinem Inneren, als ich mich von seinem Zauber losriss und durch die Tür ging – ohne jemals zurückkehren zu wollen. Kapitel 26: Pizza mit Isolde ---------------------------- Noch am selben Abend erschienen mir die Ereignisse aus der Klinik bereits wie ein ferner Traum. Frisch gebadet, mit noch nassem Haar und bereits im Pyjama, saß ich mit Isolde zusammen in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung, in der ein Raum für mich eingerichtet worden war. Sogar all meine Kleidung und all meine liebsten Gegenstände von zu Hause, waren von meiner Schwester hergebracht worden, ehe sie mich geholt hatte – und ich liebte diese Wohnung und die Wärme, die dieser innewohnte vom ersten Moment an. Wir saßen auf dem Bett in Isoldes Zimmer, eine geöffnete Pizzaschachtel zwischen uns, deren Inhalt wir gierig vertilgten, während wir uns nebenher unterhielten. Das Essen in der Klinik war sehr gut gewesen, aber eine Pizza vom Lieferservice war eben doch wieder eine ganz eigene Kategorie. Es erinnerte mich vor allem an frühere, gute Zeiten, in denen Isolde und ich oft mit Freunden von ihr zusammengesessen hatten, um uns eine Pizza zu teilen. „Ich bin ja froh, dass ich meine Freunde dabei hatte“, bekundete Isolde zwischen zwei Bissen. „Als unsere Eltern mir sagten, dass du nicht mehr da bist, wäre ich ihnen fast an die Kehle gesprungen.“ Ich konnte mir die Szene regelrecht vorstellen. Unsere Eltern, desinteressiert und gelangweilt und Isolde, die vor Wut überschäumte und von anderen davon abgehalten werden musste, auf die beiden loszugehen. Bei dieser Vorstellung musste ich lächeln, weil mir dabei erneut bewusst wurde, dass es jemanden gab, der sich um mich kümmerte und sich um mich sorgte. Warum konnte Zetsu nicht auch so sein? Argh, warum war es nur so schwer, ihn zu vergessen? „Ich habe mir extra eine Zwei-Zimmer-Wohnung gesucht, damit ich dich zu mir holen kann, sobald du volljährig bist, bevor du bei den beiden wahnsinnig wirst.“ „Da kamst du wohl ein wenig zu spät“, erwiderte ich schmunzelnd. Mir lag die Frage auf der Zunge, warum sie mir nie etwas davon gesagt hatte... aber mir fiel auch gleich darauf wieder ein, wie überstürzt sie von zu Hause verschwunden war – und ich war immerhin diejenige gewesen, die all ihre Mails ignoriert hatte. „Ach komm~ So verrückt bist du auch nicht, du wirst schon sehen, bei mir wird es dir bald besser gehen.“ Ich zweifelte nicht daran. Ich war hier weit weg von meinen Eltern, denen ich egal gewesen war, ich war in meinem Zuhause angekommen und ich wusste einfach, dass alles gut werden würde. „Jedenfalls haben wir dann deine Sachen aus dem Keller geholt und ich hab so oft nachgefragt, bis sie mir schließlich einen Zettel gegeben haben, auf dem die Adresse der Klinik stand – der Rest war nur noch eine Sache von Suchen und Finden der richtigen Station.“ „Warum hast du nicht an der Information nachgefragt?“ Nachdenklich neigte sie den Kopf, dann grinste sie verschmitzt. „Das wäre doch zu einfach geworden.“ „Stimmt, wie die Rolltreppe zum Mount Everest.“ Als wir noch jünger gewesen waren, hatten Freunde von ihr uns zu einer Wanderung eingeladen. Isolde war der normale Weg allerdings zu langweilig geworden, weswegen sie sich irgendwann quer durch das Unterholz geschlagen hatte und erst weit nach uns am Grillplatz angekommen war. Einem ihrer Freunde war daraufhin der Spruch „Isolde würde den Mount Everest selbst dann erklettern, wenn eine Rolltreppe hinaufführen würde“ eingefallen und seitdem benutzten alle, die sie kannten, die Rolltreppe als Metapher, um aufzuzeigen, dass sie es sich gern extra schwer machte. Isolde betrachtete es offenbar als Kompliment und ließ keine Gelegenheit aus, um uns zu zeigen, dass sie immer noch nach dieser Maxime lebte – ich wartete nur darauf, dass sie wirklich mit dem Bergsteigen anfangen würde. Isolde lachte. „Du erinnerst dich noch daran, was?“ „Das werde ich nie vergessen.“ Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich mich selbst noch im hohen Alter daran erinnern würde. Besser ich dachte nicht daran, dass ich vielleicht irgendwann... okay, Schluss damit, ich sollte nicht so negativ denken. „Was haben unsere Eltern denn mit meinem Zimmer gemacht?“ Die Frage beschäftigte mich schon einige Wochen, allerdings hatte ich nicht vorgehabt, jemals wieder dorthin zurückzukehren, um es mir selbst anzusehen. „Was denkst du denn?“ „Raucherzimmer?“ Isolde lachte amüsiert. „Denkst du wirklich, sie würden das Rauchen auf einen einzigen Raum im Haus beschränken? Sie würden an Entzugserscheinungen eingehen, bevor sie dort ankommen würden.“ „Also doch ein Hobbyraum?“, fragte ich weiter. Sie lachte erneut, bei genauerer Betrachtung fand ich das auch recht unwahrscheinlich. Ich glaube, sie würden nicht einmal laufen, wenn sie nicht ab und zu noch aus dem Haus müssten. „Aber was ist es denn nun?“ „Eine Abstellkammer. Dafür ist das Wohnzimmer jetzt schön sauber.“ Ein Zustand, den ich seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nach dem Auszug von Isolde war auch ihr Zimmer zu einer Abstellkammer geworden, damit der Flur frei geworden war. Also hätte ich mir doch eigentlich denken können, dass sie das auch bei meinem Zimmer tun würden. Wie konnte man auch nur so viel Schrott ansammeln? Isolde nahm sich ein weiteres Stück. „Aber erzähl mal, bist du wirklich freiwillig in die Klinik gegangen?“ „Sicher. Mir war egal, wo ich sein würde, Hauptsache, ich war nicht mehr bei unseren Eltern und mein Arzt hat mich bei einer Einweisung in das Krankenhaus unterstützt, nachdem ich einen ziemlichen Nervenzusammenbruch im Supermarkt hatte.“ Während ich das im Plauderton erzählte, kam es mir nicht mehr wie mein Leben vor, sondern wie der Inhalt einer schlechten Seifenoper. Rechnete man noch das Drama und Zetsu dazu, machte es das zu einer noch viel schlechteren Telenovela. Mir fehlte nur noch der kitschige Titelsong mit dem peinlichen Opening. „Die Leute dort schienen dich ja wirklich zu mögen“, sagte sie. Gedankenverloren kaute ich auf meinem Stück Pizza. Ich bereute es immer noch ein wenig, Baila einfach zurückgelassen zu haben – am Liebsten hätte ich sie einfach mitgenommen. Die anderen dagegen vermisste ich nicht, vor allem nicht Narukana. „Ja, das kann gut sein. Man verbringt ja wahnsinnig viel Zeit miteinander, wenn man in so einem Krankenhaus ist, da wächst man zusammen.“ „Weißt du, was mich brennend interessieren würde?“ Während ich sie fragend ansah, nahm ich noch einen Bissen von meinem Pizzastück, das tatsächlich immer noch mein Erstes war. Ich glaube, ich aß viel zu wenig... aber ich konnte einfach nicht anders, ich hatte einfach nicht viel Hunger. Sie schmunzelte. „Dieser gutaussehende Silberhaarige war doch auch ein Patient, oder?“ Mein Magen zog sich augenblicklich zusammen und mein Hals wurde eng, so dass ich es nicht schaffte, runterzuschlucken. Zum Nicken musste ich glücklicherweise aber nicht sprechen. „Was wollte er noch von dir, als er unten auf dich gewartet hat?“ Ich wusste nicht, was er wirklich gewollt hatte, ich wusste nur, was meine nicht-erfüllte Erwartung gewesen war. Deswegen zuckte ich mit den Schultern. „Weiß nicht“, antwortete ich mit vollem Mund, „vielleicht sichergehen, dass ich auch wirklich gehe.“ „Er sah echt gut aus“, sagte Isolde. Ich nickte nur darauf. Ich wusste, dass sie mehr hören wollte, einen Namen möglicherweise oder sogar die ganze Geschichte, die mich mit ihm verband. Aber ich wollte nicht über ihn reden, ich wollte nicht an ihn denken. Die Erinnerungen an meine gemeinsame Zeit mit Zetsu gehörten mir allein, auch wenn sie durch seine Worte auf dem Balkon getrübt worden waren. Ich wollte sie mit niemandem teilen, auch nicht mit meiner Schwester. Die Erinnerungen würden für immer mir allein gehören – auch damit sie mir eine Lehre waren, nicht mehr auf den Zauber eines anderen hereinzufallen. „Willst du nicht darüber reden?“ Ich nickte bestätigend noch einmal. Isoldes Gesicht verzog sich enttäuscht, aber sie akzeptierte es offenbar und ermunterte mich stattdessen, mir noch ein Stück Pizza zu nehmen. „Wenn ich das alles allein esse, kannst du mich bald durch die Wohnung rollen“, scherzte sie. „Genug Platz wäre hier ja“, erwiderte ich schmunzelnd. Damit wechselten wir das Thema, wofür ich wirklich dankbar war. Mein Leben war ab sofort keine Telenovela mehr und ich wollte auch nicht mehr an diesen Abschnitt denken, solange er noch nicht lange genug her war. Irgendwann, davon war ich überzeugt, würde ich darauf zurückblicken und lachen – aber noch deprimierten die Erinnerungen mich und ich konnte nur hoffen, dass sich das irgendwann einmal ändern würde. Kapitel 27: „Mein Dr. House“ ---------------------------- Am Montag begann Isoldes Arbeit wieder, weswegen ich allein war, als ich aufwachte. Die Stille, die mich in der Wohnung begrüßte und mir keinen guten Morgen wünschte war inzwischen so ungewohnt, dass es schon fast unheimlich war. Barfuß tappte ich durch die ganze Wohnung, genoss die Einsamkeit und das Bewusstsein, im Pyjama herumzulaufen und ein Brot zu essen, ohne mich beeilen zu müssen, weil ich bald zum Frühsport musste. Meine Gedanken schweiften zur Klinik zurück. Um diese Zeit waren sie wohl gerade mit den ersten Therapien beschäftigt, während ich auf Isoldes Bett saß, in ihre Decke gewickelt, mein Brot kauend und ziellos durch das Fernsehen schaltend. Ich fragte mich, was Zetsu wohl tat und ob er vielleicht auch ein wenig an mich dachte, aber gleichzeitig war ich mir sicher, dass er sich nur darüber amüsierte, dass er mich so leicht hatte hereinlegen können. Dann ärgerte ich mich auch wieder darüber, dass ich nie dahintergekommen wäre, wenn ich das Gespräch auf dem Balkon nicht mitbekommen hätte... Argh, verdammt! Selbst meine Gedanken wiederholten sich schon wie das Fernsehprogramm. Schon früher hatte ich nie viel ferngesehen und mir wurde auch wieder bewusst, weswegen – das Programm war einfach furchtbar. Pseudo-Dokusoaps, Talkshow-Wiederholungen und irgendwelche ach-so-informative-Nachrichtensendungen, furchtbar. Allerdings hatte ich kurz nach dem Aufstehen auch keine Lust, nach meinen Büchern zu suchen oder diese gar zu lesen. Also musste ein wenig hirnlose Unterhaltung her. Unvermittelt hielt ich auf einem bestimmten Programm inne. Im ersten Moment nur weil es eine Krankenhausserie war und ich sofort wieder an die Klinik denken musste. Doch kaum hörte ich die Stimme der Hauptfigur wurde mir bewusst, dass ich diese Serie schon einmal gesehen hatte – und das auch noch mit Zetsu. Wie hatte er sie genannt? Ich glaube, es war... ach, ich weiß den Titel nicht mehr, aber auf jeden Fall eine Serie über irgendeinen Arzt, der über Minderwertigkeitskomplexe verfügte oder so etwas. Zumindest war es mir bei dieser einen Folge so vorgekommen. ... Wow und ich dachte, ich hätte währenddessen nur Zetsu beobachtet. Da! Er war schon wieder in meinen Gedanken! Aber vielleicht würde ich ja verstehen, was an dieser Serie so toll war, wenn ich mir zumindest eine Folge mal ganz und vor allem konzentriert ansehen würde, ohne Schönling, der mich ablenken könnte. Also betrachtete ich minder interessiert, wie die einzig sympathische Figur für mich – mit dem Namen Dr. K- oder C-irgendwas – es sich selbst zur Aufgabe machte, einige knifflige, medizinische Fälle zu lösen. Mir gefiel seine pessimistische Einstellung und sein trockener Sarkasmus, hätte es einen solchen Arzt im Krankenhaus gegeben, wäre ich mit Sicherheit geblieben. Was ich allerdings nicht verstand, war sein Geschwätz über diesen Dr. House. Angeblich war es eine Serie, aber ob es sie nur in diesem Serienuniversum oder auch in echt gab, wusste ich natürlich nicht. Vielleicht sollte ich Isolde danach fragen – ich konnte mir vorstellen, dass sie besser Bescheid wusste. Immerhin kaufte man einen solchen Fernseher wie den ihren doch bestimmt nur, weil man ihn oft benutzte und nicht, weil er so schön aussah... oder? Nun gut, Isolde würde ich so etwas tatsächlich zutrauen und immerhin hatte sie ihn das ganze Wochenende über nicht angemacht, sondern mir stattdessen beim Einrichten meines Zimmers geholfen. Das hieß aber natürlich nichts, immerhin wusste sie auch von meiner Abneigung, vielleicht hatte sie für meine Eingewöhnung deswegen extra darauf verzichtet – oder es war einfach nichts gelaufen, was sie interessierte. Nun gut, zurück zu Dr. Irgendwas, der zwei ganz besondere medizinische Fälle bearbeitete – und auch zwei zwischenmenschliche, aber wen kümmerte das? Ein Mann, dessen Haut orange war und eine junge, eigentlich sehr gesunde Frau, die unter einem empfindlichen Herzen litt, ohne dass ein körperlicher Grund zu erkennen war. Das war der Moment, in dem ich richtig aufmerksam wurde. Sofort dachte ich wieder an Zetsu und die Aussage, dass er in die Kardiologie gehörte. Natürlich wäre der Zufall viel zu groß, aber vielleicht gab es ja doch etwas wie Schicksal, das mich dazu verleitet hatte, gerade diese Episode einzuschalten und daran hängenzubleiben – oder es war einfach mein Unterbewusstsein, das nicht wollte, dass ich mit Zetsu abschloss. Konnte man mit seiner ersten Liebe überhaupt je wirklich abschließen? Ich stellte mir bereits vor, wie ich irgendwann meinen Kindern gegenübersitzen, ihnen erzählen, wie ich ihren Vater traf und dabei – aus welchem Grund auch immer – auf Zetsu zu sprechen kommen würde. Oh mein Gott, ich würde meine eigenen Kinder bemitleiden. Blieb nur zu hoffen, dass ich nie welche bekommen würde, denen ich davon erzählen könnte. Aber bislang hatte ich ja auch noch keinen potenziellen Vater... warum dachte ich darüber überhaupt nach? Zum wiederholten Male konzentrierte ich mich auf Dr. Irgendwas, der bereits erste Fortschritte erzielte. Der nette Herr mit der orange-farbenen Haut trank einfach die falschen Säfte – und die Frau mit dem schwachen Herzen hatte vor kurzem ihren Ehemann verloren, was zu einer derart emotionalen Reaktion geführt hatte, dass ihr Körper, ihr Herz genau genommen, davon beeinflusst worden war. Den genauen medizinischen Fachausdruck verstand ich nicht – aber dafür die Bezeichnung, die wirklich jeder Mensch verstehen konnte: Gebrochenes-Herz-Syndrom. Ich hatte noch nie zuvor davon gehört und zweifelte im ersten Moment sogar, dass es dieses Syndrom wirklich gab. Dieses ganze Gerede von gebrochenen Herzen war doch eigentlich nur eine Metapher für Leute, die naturgemäß von dem, in den sie verliebt gewesen waren, enttäuscht worden waren. Aber möglicherweise gab es das ja doch... zumindest hoffte ich es, denn in dem Moment begann alles Sinn zu machen. Zetsus Schwester Nanashi, die er mit Sicherheit sehr geliebt hatte, war gestorben – aus welchem Grund auch immer – und dieser Verlust hatte Zetsu so sehr geschmerzt, dass sein Herz gebrochen war. Der Schmerz musste noch immer so tief sitzen, dass der Bruch nicht verheilen konnte und er somit immer noch zwischen Leben und Tod stand, überzeugt davon, früh zu sterben. Kein Wunder, dass er mir nie davon erzählen wollte, wann immer ich ihn nach dem Grund seines Aufenthalts gefragt hatte und dass er immer so kalt war. Das wäre zumindest eine Erklärung, die mir gefallen würde, denn so außergewöhnlich wie sie war, erschien sie mir perfekt zu Zetsu zu passen. Vielleicht sollte ich aber einmal mit ihm sprechen und ihn fragen... oder jemanden, der ihm nahestand. Ich vergaß den Rest der Episode vorerst, ließ den Fernseher aber an und ging in mein Zimmer, wo ich den Zettel hervorkramte, auf dem die Telefonnummer der Station aufgeschrieben war. Damit kehrte ich in Isoldes Zimmer zurück, wo immerhin das Telefon stand. Mein Herz schlug fast schon schmerzhaft schnell, als ich mich neben den kleinen Tisch setzte, den Zettel in meiner zitternden Hand, ich auf das Telefon starrend. Es war eigentlich ganz einfach. Man hob den Hörer ab und wählte die Nummer, am besten fehlerfrei, wenn man es hinbekam. Aber ich konnte nicht einmal meine Hand dazu bringen, danach zu greifen, um zumindest dem Freizeichen zu lauschen. Ich sehnte mich geradezu danach, Zetsus Stimme wieder zu hören, seinem Zauber wieder ausgesetzt zu werden und zu prüfen, ob dieser auch durch das Telefon wirkte. Aber da war noch dieser logische Teil in meinem Inneren, der mir sagte, wie schwachsinnig das wäre. Was sollte ich denn sagen, wenn jemand dort abhob? He, hier ist Leana, die vor ein paar Tagen so schnell abgehauen ist, dass sie Baila zum Weinen gebracht hat. Ich wollte nur schnell mal was wegen Zetsu fragen. Kann es sein, dass sein Herz gebrochen ist? Ja, die Idee hab ich aus dieser Serie genau. Die einzig vernünftige Reaktion darauf wäre wohl, dass die Person am anderen Ende der Leitung wortlos wieder auflegte – oder mir schadenfreudig erzählte, wie schön alles ohne mich war und dass man hoffte, dass ich nie zurückkommen würde. Der Gedanke entmutigte mich und sorgte dafür, dass ich auch weiterhin das Telefon nur anstarren konnte, während die Episode im Hintergrund auslief. Noch heute denke ich, – auch wenn es lächerlich ist – dass es eine Fügung des Schicksals gewesen sein muss, dass ich gerade an diesem Morgen dazu gekommen war, diese Serie zu sehen, die ich sonst eigentlich nicht einmal beachtet hätte, um damit das Mysterium Zetsu zu lüften. Und ich denke auch, dass es eine Fügung war, dass ich mich, im Gegensatz zu sonst, einmal nicht traute, etwas so Simples wie einen Telefonanruf zu tätigen – denn sonst hätte ich wenige Tage später niemals diese besondere Begegnung erlebt. Kapitel 28: Auf der Straße -------------------------- Selbst zwei Tage später hatte ich nicht den Mut aufgebracht, diesen Anruf zu tätigen. Es wäre so lächerlich einfach gewesen, aber etwas hielt mich davon ab, etwas, was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau benennen konnte – und selbst heute, wo ich daran glaube, dass es Bestimmung war, kann ich mir immer noch nicht helfen, mich selbst als feige zu sehen. Wer, außer mir, traute sich sonst nicht, zu telefonieren? Ansonsten überraschte mich, dass Isolde dermaßen viel Geduld mit mir hatte. Gut, ich war erst seit ein paar Tagen aus der Klinik draußen – aber wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich von mir selbst dennoch verlangt, dass ich endlich anfing, mir eine Beschäftigung zu suchen, um Geld in die Haushaltskasse zu spülen. Nein, in Wahrheit wollte ich das selbst einfach nur deswegen, weil ich hoffte, es würde mich von meinen Gedanken ablenken. Mit Isolde hatte ich bislang noch nicht darüber gesprochen, aber dennoch beschloss ich, mich mal in der Gegend umzusehen – nicht nur, um mir anzusehen, wo ich zukünftig wohnen würde, sondern auch, weil ich hoffte, dass irgendjemand vielleicht zumindest eine Aushilfe suchte. Ein wenig Arbeit würde schon nicht schaden. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich mir bis zu diesem Zeitpunkt nie Gedanken um meine Zukunft gemacht hatte. Arbeit oder Studium oder sonst irgendwas... all das hatte mich nie interessiert. Nicht, weil ich faul war – ich war mir nur immer sicher gewesen, dass ich es ohnehin nie brauchen und dass ich für immer in einem Krankenhaus feststecken würde. Immerhin hatte ich nicht ahnen können, dass Isolde mich dort herausholen würde. Aber nun, da es soweit war, musste ich zusehen, dass mein Leben weiterging, am besten so bald wie möglich. Also verließ ich die Wohnung nur ein wenig nach Isolde und prägte mir draußen gut das Haus und die dazugehörige Nummer ein, damit ich wieder zurückfinden würde, notfalls indem ich jemanden fragte. Mein Weg führte mich durch einen Park gegenüber des Hauses. Obwohl es früh am Morgen war, befanden sich bereits mehrere Mütter darin. Während die Frauen die neuesten Gerüchte austauschten, spielten die zu ihnen gehörenden Kinder vergnügt auf dem Klettergerüst. Für einen Moment blieb ich stehen, um das zu beobachten. Kaum jemand wusste es – und ich redete eigentlich auch nie darüber – aber ich habe eine Schwäche für kleine Kinder. ... Nein, nicht so wie man es denken könnte, niemals, ich mochte Kinder einfach. Sie waren fröhlich, unbeschwert und irgendwie überkam mich immer der Wunsch, sie zu beschützen, wenn ich sie sah. Ich glaube, das war auch ein Grund gewesen, warum ich Baila sofort gemocht hatte. Vom Verhalten hatte sie mich einfach immer an ein Kind erinnert. Aber das passte nicht zu mir, deswegen redete ich nicht darüber – außerdem war es eine offensichtliche Schwäche, die sollte niemand ausnutzen dürfen, noch ein Grund, darüber zu schweigen. Als ich sie an diesem Morgen allerdings beobachtete, verspürte ich nur den Wunsch, selbst wieder ein Kind zu sein. Damals als noch alles in Ordnung gewesen war... und wo ich keinen Zetsu gekannt hatte. Ach, warum musste er sich nur immer in meine Gedanken schleichen? Wieso musste er nur so verdammt außergewöhnlich sein? Schließlich setzte ich aber meinen Weg fort, um endlich zu den Läden zu kommen... zumindest hoffte ich, dass ich in die richtige Richtung lief. Immerhin war ich hier noch nie einkaufen gewesen und als Isolde mich hergebracht hatte, war ich nicht sonderlich aufmerksam gewesen. Ich kam an vielen Wohnhäusern vorbei, eines sogar mit Portier, wo ich interessiert für einige Minuten stehenblieb, um diesen zu beobachten. Ich hatte noch nie ein Wohnhaus mit einem Empfang gesehen – aber nach kurzer Zeit lief ich weiter. Der Portier schien bemerkt zu haben, dass ich ihn beobachtete und das ließ ihn misstrauisch werden, was ich zu gut verstehen konnte, weswegen ich meinen Weg fortsetzte. Eine Stunde später hatte ich zumindest eines gelernt: Die Richtung war eindeutig die Falsche gewesen, denn irgendwann war ich in einen Komplex mit Bürogebäuden gekommen. Dort fragte ich nach keinem Job, sondern machte lieber auf dem Absatz kehrt und ging in wieder in die andere Richtung. Mein Orientierungssinn war auch einmal besser gewesen, stellte ich auf dem Rückweg fest. Aber auch das musste ein Teil der Bestimmung gewesen sein, denn wenn ich mich nicht erst verlaufen hätte... dazu komme ich noch. Schließlich kam ich aber wieder in eine Straße, die nicht weit von unserer Wohnung entfernt lag und tatsächlich mit allerlei Geschäften und auch kleineren Tavernen gespickt war. Hier bestand immerhin die Hoffnung, dass ich irgendwas zu tun finden würde – und wenn es nur das Auffüllen von Regalen wäre, das versprach immerhin zumindest für ein paar Stunden eine entsprechende Abwechslung. Ich ging mit viel Selbstbewusstsein daran – aber ein paar Stunden später stellte sich heraus, dass es wohl doch mehr brauchte, selbst um einen kleinen Aushilfsjob zu bekommen. All die Fragen, die mir gestellt wurden und noch dazu diese abschätzigen Blicke, das war ja noch schlimmer als in der Klinik – da wünschte ich mir fast Dr. Hanto zurück, dem konnte ich immerhin Paroli bieten. Bei diesen Supermarktleitern war es um einiges schwerer. Die waren nicht nur potenzielle Chefs, die trugen eine ganz eigene Art von Arroganz mit sich, auf die man einfach nichts erwidern konnte. Ich bereute es, die Schule geschmissen zu haben – ohne einen solchen Abschluss schien es mir wohl kaum möglich, irgendeinen Job zu bekommen, egal wie stumpf und stupide er doch war. Und sobald diese Supermarktleiter erfuhren, dass ich keinen Abschluss besaß, wurden ihre Blicke noch um einiges abfälliger und ihre Gesichter noch arroganter. Ziellos lief ich weiter durch die Straßen, ich wusste inzwischen nicht einmal mehr, wo genau ich eigentlich war, aber immerhin gab es immer noch Geschäfte – wobei ich mich wunderte, wie viele es davon gab. Wie konnten die sich alle in direkter Nachbarschaft zueinander halten? Missgelaunt und leicht deprimiert trugen mich meine Füße die Straße entlang, irgendwohin. Ich betrat nicht einmal mehr die Geschäfte, weil es ja ohnehin aussichtslos war. Wer stellte schon ein depressives, leicht ungehobeltes Mädchen ohne Abschluss ein, egal für welche Tätigkeit? Vor einem Schaufenster blieb ich schließlich stehen. Ohne großes Interesse betrachtete ich die Kleidung jenseits der Scheibe und überlegte dabei, wie der Tag gelaufen war. Eigentlich war der ganze bisherige Tag, so wie die letzten Wochen, ein Sinnbild für mein ganzes Leben gewesen: Ich lief in Sackgassen, weil ich falsche Entscheidungen traf und musste dann im Kreis herumirren, ohne die Aussicht, jemals irgendwo anzukommen. Ich glaube, das lag auch daran, weil ich zu selten innehielt, um darüber nachzudenken, was ich tun sollte, sondern immer direkt das tat, was mir als erstes in den Sinn kam. Der Klinikaufenthalt war auch so ein Beispiel. Um von meinen Eltern wegzukommen, hätte es in meinem Alter auch andere Möglichkeiten gegeben, aber ich wählte diese – und traf dort auf Zetsu, der dafür sorgte, dass es nun meine Gedanken waren, die sich im Kreis drehten, immer rund um ihn herum, ohne die Aussicht, dass es bald wieder einmal aufhören würde. So intensiv wie ich an ihn dachte, glaubte ich im ersten Moment, dass die Spiegelung in der Scheibe nur meiner Einbildung entsprang. Es war einfach unmöglich, dass er auch hier war – und in Filmen fuhren die Protagonisten in dem Moment immer erschrocken herum, nur um festzustellen, dass die gewünschte Person nicht da war. Ich machte es ein wenig... cooler und fuhr betont kühl herum – nur um wirklich zusammenzuzucken, als ich ihn entdeckte. Er wirkte genauso überrascht wie ich, die Augen geweitet wie nie zuvor, die Augenbrauen so hoch gezogen, dass sie mitten auf seiner Stirn zu sitzen schienen. Für einen Moment konnte ich ihn nur anstarren, während er meinen Blick genauso erwiderte. Ich war immer noch davon überzeugt, dass er lediglich meiner Einbildung entsprang, weil ich einfach nicht mit ihm abschließen konnte, denn wie sollte es möglich sein, dass er sich hier befand? Selbst wenn er nicht mehr in der Klinik wäre, konnte er unmöglich hier sein, ein solcher Zufall wäre doch viel zu verrückt und hollywoodreif, um real zu sein. Und er würde doch kaum meinem Blutgeruch gefolgt sein, er war immerhin kein Vampir und auch kein Moomba... wie kam ich jetzt auf dieses Wesen? Ich verwarf den Gedanken wieder, ehe ich am Ende erneut im Kreis dachte und konzentrierte mich wieder auf meinen Gegenüber, der entgegen meiner Erwartungen immer noch vor mir stand. Also war er wohl doch echt, so erstaunlich es sein mochte. Warum nur konnte ich nichts sagen? Schließlich öffnete er seinen Mund und sagte mit einer überirdisch melodischen Stimme nur ein Wort: „Hallo.“ Kapitel 29: Eine unerwartete Begegnung -------------------------------------- „Was machst du hier?“ Immerhin hatte ich es dieses Mal geschafft, nicht in Ohnmacht zu fallen, das war ein Fortschritt. Aber ich war zu baff, um seine Begrüßung zu erwidern, auch wenn er absolut nichts von seinem Charme verloren hatte, wie ich feststellte. Ohne zu antworten wandte er den Blick ab, ich bohrte dennoch weiter: „Solltest du nicht in der Klinik sein?“ Er fixierte etwas mit seinen Augen, dann griff er plötzlich nach meiner Hand und zog mich mit sich. „Lass uns woanders darüber sprechen. Ich lad dich ein.“ Mit diesen Worten zog er mich in ein kleines Café, wo wir uns gemeinsam an einen Tisch setzten. Ohne mich zu fragen, bestellte er mir ein Wasser und sich selbst eine Cola – ich war erstaunt, dass er sich noch daran erinnerte, dass ich ungern süße Getränke trank, ich hätte mir so etwas nicht gemerkt, muss ich ehrlich zugeben. Während wir auf die Bestellung warteten, sprachen wir kein Wort miteinander, ich sah ihn nicht einmal an, konnte aber spüren, dass sein Blick auf mir ruhte. So musste er sich wohl gefühlt haben, als ich ihn im Krankenhaus dauernd angestarrt hatte. Kein sehr angenehmes Gefühl. Zetsu bedankte sich höflich bei der Bedienung, als sie uns die Getränke brachte und wandte sich dann sofort wieder mir zu: „Also, zu deiner Frage vorhin...“ Gespannt sah ich ihn an, erwartete irgendeine sinnvolle Erklärung, dass er zum Beispiel, plötzlich wieder genesen wäre oder er so todkrank war, dass man ihn für die letzten Wochen entlassen hatte oder von mir aus auch, dass er in den letzten fünf Tagen volljährig geworden war, doch das, was er dann sagte, sorgte dafür, dass ich ihm am Liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte: „Ich bin weggelaufen.“ Wortlos sah ich ihn an, wartete darauf, dass er zu lachen anfing und mir sagte, dass er nur einen Scherz gemacht hätte. Doch stattdessen nahm er nur einen Schluck Cola. Konnte das wirklich wahr sein? Warum tat er so etwas? Bislang hatte ich ihn als einen eher vernünftigen, ruhigen Menschen kennen gelernt – und weglaufen war doch etwas, was nur Kinder taten – also warum hatte er das getan? „Ich weiß, das passt nicht zu mir. Aber ich konnte einfach nicht anders. Ich wollte nicht mehr dort bleiben.“ „Warum nicht?“ Da er nicht wusste, dass ich das Gespräch mitangehört hatte, beschloss ich, mich unwissend zu geben. Er neigte den Kopf, überlegte offenbar, ob und was genau er mir erzählen sollte, dann seufzte er leise. „Ach, was soll's. Ich werde sterben.“ Dass ich auf diese Offenbarung so ruhig blieb, hatte ich sie doch schon einmal gehört, schien ihn ein wenig zu enttäuschen, doch nichtsdestotrotz fuhr er fort: „Ich habe ein Problem mit dem Herzen...“ Erneut zögerte er, ich konnte mir vorstellen, dass er darüber nachdachte, ob er mir den medizinischen oder den umgangssprachlichen Begriff nennen sollte oder ob ich diesen als lächerlich einstufen würde – was ich mit Sicherheit getan hätte, wenn ich nicht diese Episode gesehen hätte. Es verwunderte mich heute noch, dass ich einer Fernsehserie geglaubt hatte. „Das Gebrochene-Herz-Syndrom?“, half ich ihm nach. Seinen verblüfften Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen, doch gleich schon wurde er wieder so neutral wie eh und je. „Hat Satsuki dir das gesagt?“ „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ich war ihr zu gemein, sie wollte es mir nicht verraten.“ Er schmunzelte verstehend. „Dann hat es dir einer der anderen gesagt?“ Ich schüttelte mit dem Kopf, was ihn ratlos die Stirn runzeln ließ. „Woher weißt du es dann?“ „Ich habe gut geraten.“ Natürlich glaubte er mir das nicht nicht, aber er stellte auch keine weiteren Fragen, sondern gab sich offenbar damit zufrieden, dass er nichts erfahren würde. „Jedenfalls sieht es nicht sonderlich gut aus, es gibt keine richtigen Therapien dagegen und normalerweise hält dieses Syndrom nur einige Wochen an – bei mir sind es bereits zwei Jahre.“ Ich hätte einige Vermutungen äußern können, warum das so war, beließ es aber dabei, dass ich nur verstehend nickte, immerhin brachte es niemandem etwas, wenn ich jetzt anfangen würde, mit ihm zu streiten, in derselben Art und Weise, wie auch Nozomu es offenbar oft tat. „Und deswegen denkst du, dass du bald sterben wirst?“ „Ich bin davon überzeugt“, entgegnete er mir. Es war zwecklos, dagegen zu argumentieren, so viel war mir bewusst, das verriet mir allein schon sein entschlossener Tonfall. „Und deswegen bist du weggelaufen? Weil du die letzten Jahre nicht mehr eingesperrt sein willst?“ Er lächelte vergnügt, als ich das sagte, es gefiel ihm offensichtlich, dass ich ihn verstehen konnte – auch wenn er nicht wusste, dass mir das nur möglich war, weil ich sein Gespräch mit Nozomu belauscht hatte. Andererseits muss ich aber zugeben, dass ich seine Haltung durchaus nachvollziehen konnte, ich würde meine letzten Tage oder Wochen auch nicht in einem Krankenhaus verbringen wollen. „Wie kommt es eigentlich, dass du hier gelandet bist?“ „Der pure Zufall.“ Er nahm einen weiteren Schluck seiner Cola, ehe er auf meinen Wunsch hin ausführlicher wurde: „Nach der Medikamentenvergabe habe ich gesagt, dass ich nochmal frische Luft schnappen will und bin nach draußen – dann war es nicht mehr schwer, ich bin zum nächsten Bahnhof, hab mir eine Fahrkarte gekauft, bin in die nächste Bahn eingestiegen und dann bin ich einfach wieder da ausgestiegen, wo es sich gut anfühlte. Das war zufällig die Gegend hier. Ich wusste ja nicht, dass du auch hier wärst, ich hab erst gar nicht geglaubt, dass das wirklich du bist.“ „So ging es mir auch bei dir“, erwiderte ich. „Ich habe so viel an dich gedacht, dass ich im ersten Moment sicher war, dass ich mir das nur einbilden würde.“ Schon im nächsten Moment bereute ich, das gesagt zu haben. Er lächelte schelmisch. „Du hast also an mich gedacht, hm?“ „Lenk nicht ab“, wies ich ihn zurecht. Ich fühlte mich wie eine Mutter, die mit ihrem Kind schimpfte, ohne wirklich wütend auf es zu sein. „Sag mir lieber, was du jetzt vorhast. Was wolltest du tun, nachdem du weggelaufen bist?“ Unzählige Fragezeichen erschienen geradezu auf seinem Gesicht – also hatte er sich absolut keine Gedanken darüber gemacht. Das warf ein völlig neues Licht auf Zetsu, aber zu meinem Leidwesen muss ich sagen, dass es kein negatives war. Seine unüberlegte Hilflosigkeit sorgte eher dafür, dass er mir noch sympathischer wurde. Was war ich nur für ein seltsamer Mensch? „Na ja... ich habe mir da keine großen Gedanken gemacht. Nach Hause kann ich jedenfalls nicht, meine Eltern würden mich sofort wieder ins Krankenhaus bringen...“ „Hast du noch andere Verwandte?“ Er nickte lächelnd, wurde aber direkt wieder ernst. „Aber mein Onkel und meine Tante wohnen im selben Haus wie meine Eltern.“ Es kam überraschend für mich, dass er doch so viele Verwandte hatte, immerhin war während meiner ganzen Anwesenheit nie Besuch für ihn gekommen – aber auch für niemand anderen. Vielleicht hatte ich das aber auch nur nie mitbekommen oder aber häufige Besuche sind bei einem so langen Krankenhausaufenthalt nicht mehr angebracht. „Was willst du dann tun?“ „Wie gesagt... darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber vielleicht schlafe ich einfach auf der Straße... oder gibt es hier kein Obdachlosenheim oder sowas?“ Allein die Vorstellung brach mir fast das Herz. Zetsu in irgendeiner Gosse, im besten Fall auf einer schmutzigen Decke, wo er in nur wenigen Tagen wirklich tot sein würde, wenn sein Herz schließlich tatsächlich für immer aussetzen würde. Oder gar Zetsu in einem Obdachlosenheim, in einem kahlen Zimmer mit einem billigen Bett und wer-weiß-was für Menschen in den Zimmern nebenan? Mit Sicherheit würde es ihm nicht schwer fallen, selbst dort Kontakte zu knüpfen – aber ich war mir sicher, dass er das nicht verdient hatte, in keiner Weise. Deswegen kamen die folgenden Worte noch bevor ich wirklich darüber hatte nachdenken können: „So weit kommt es noch – du kannst eine Nacht mal bei uns bleiben.“ Im ersten Moment wirkten wir gleichermaßen überrascht, doch schon gleich darauf fing er sich wieder und nickte lächelnd. „Oh, da sage ich nicht Nein, vielen Dank für das Angebot.“ Ich war mir nicht sicher, ob Isolde davon genauso begeistert wäre wie er, aber ich konnte es auch schlecht wieder zurücknehmen. Außerdem war es mir lieber, er war bei uns und ich wusste, wo er sich aufhielt als dass er eben irgendwo in der Gosse lag, wo ich mir jeden Tag Sorgen machen würde, ob er noch lebte und wo er gerade steckte. Doch, ich glaube, das war die beste Entscheidung, die ich in diesem Moment treffen konnte – und dass er so sehr lächelte, dass sogar seine Augen dabei leuchteten, was sie noch nie zuvor getan hatten, bestätigte mich darin. Ich würde nichts hiervon bereuen, gar nichts. Kapitel 30: Die Stimme der Vernunft ----------------------------------- Es musste lange her gewesen sein, seit Zetsu zuletzt eine normale Wohnung und nicht mehr nur ein Krankenhauszimmer gesehen hatte, so kam es mir jedenfalls vor, als er äußerst neugierig alles mögliche betrachtete, kaum dass ich ihn in unsere Wohnung gebracht hatte. Während ich ihm dabei zusah, fragte ich mich, was ich nun mit ihm machen sollte. Sollte ich ihm etwas zu essen anbieten? Etwas zu trinken? Sollte ich im Krankenhaus anrufen, um zu sagen, dass sie nicht nach ihm suchen mussten? Oder vielleicht bei seinen Eltern? Irgendjemand musste sich doch Sorgen um ihn machen, oder? Ihn schien das aber nicht weiter zu kümmern, als er sich schließlich vor das Regal kniete, um auch die Bücher in der untersten Reihe zu betrachten. In dem Moment kam er mir wirklich wie ein Kind vor. Ein sehr großes Kind, das irgendwann vergessen hatte, erwachsen zu werden... Ob Zetsu wohl Peter Pan mochte? Er war noch immer in seine Betrachtung vertieft, bei der ich ihn beobachtete, als die Tür geöffnet wurde und Isolde hereinkam. Ihre Begrüßung an mich blieb ihr geradewegs im Hals stecken, als sie Zetsu erblickte, der den Kopf hob und ihr freundlich zulächelte. Höflich wie er war, grüßte er sie natürlich, was von ihr sofort erwidert wurde. „Besuch, Leana?“ Sie sah mich mit anerkennend gehobener Braue an, worauf ich am Liebsten im Boden versunken wäre vor Scham, doch Zetsu schien sich nicht darum zu kümmern. Ich stellte ihn ihr vor und wiederholte die Prozedur auch, um sie ihm vorzustellen. Beide nickten sich zu, dann wandte Isolde sich an mich: „Kann ich dich mal sprechen?“ Ich bat Zetsu, weiterhin zu warten und sich irgendwas anzusehen, ehe ich mit ihr in die Küche ging. Ihr ernster Blick passte eigentlich gar nicht zu ihr, wenn man mich fragte, aber er erfüllte seinen Zweck, das musste ich ihm lassen. „Ich habe ja nichts dagegen, wenn du ehemalige Mitpatienten hierher einlädtst, aber mir drängt sich die Frage auf, ob er offiziell hier ist.“ Schuldbewusst blickte ich zu Boden. „Nein, eigentlich nicht – aber er wird ja nicht ewig hier bleiben, keine Sorge.“ „Also weiß niemand, dass er hier ist?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und erklärte Isolde die Situation in knappen Worten, dass er weggelaufen war und dass ich ihn nicht auf der Straße schlafen lassen wollte und ihn deswegen eingeladen hatte. Ich erwartete, dass sie wütend werden und mir erklären würde, was für ein unvernünftiger Mensch ich doch wäre und dass wir ihn sofort zurückbringen mussten. Doch sie reagierte vollkommen anders als ich gedacht hätte. Zu meiner Überraschung lachte sie, statt wütend zu werden, eben typisch Isolde. „Was ist so komisch?“ Es dauerte eine Weile, ehe sie sich wieder genug beruhigte, um mir antworten zu können: „Andere bringen streunende Hunde oder Katzen mit sich – du bringst mir gleich einen Jungen mit... Aber immerhin einen gutaussehenden.“ Bei diesen Worten blinzelte sie mir zu, ich dagegen rollte mit den Augen. „Du verstehst da etwas ganz eindeutig falsch.“ Glücklicherweise beschloss sie, nicht weiter mit mir zu diskutieren, sondern sich lieber wieder einem etwas anderen Thema zu widmen: „Auch wenn er nur eine Nacht bleibt, du musst im Krankenhaus anrufen, damit sie wissen, dass er hier ist.“ „Kannst du das nicht übernehmen?“ Bittend blickte ich sie an. Ich versuchte, denselben Gesichtsausdruck zu verwenden, den sie mir gegenüber nutzte, wenn ich ihr einen Gefallen tun sollte. Ich wollte nur äußerst ungern dort anrufen, möglicherweise sogar noch Jatzieta am anderen Ende der Leitung erwischen. Nein, danke, darauf konnte ich wirklich verzichten. Zu meiner Erleichterung ging Isolde darauf ein. „Gut, ich mache das. Du kümmerst dich aber solange um deinen Freund, verstanden?“ Argh, warum musste sie dieses Wort so sehr betonen? So klang es wirklich als ob sie meinte, er wäre mein fester Freund. Dabei waren wir davon doch weit entfernt... also, wirklich, wirklich weit. Gut, vielleicht nicht ganz so weit- Warum dachte ich eigentlich darüber nach? Statt noch etwas zu sagen, um sie weiter zu amüsieren, nickte ich nur und ging wieder in Isoldes Zimmer zurück, wo Zetsu sich bereits eines der Bücher aus dem Regal gegriffen hatte und nun interessiert darin blätterte. Kaum bemerkte er, dass ich wieder da war, stellte er das Buch hastig zurück. „Worüber habt ihr gesprochen?“ „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du es mitbekommen hast.“ Immerhin waren die Türen offen gewesen und die Küche lag direkt nebenan. Sein Gesicht verdüsterte sich entsprechend. „Ja, habe ich. Aber du weißt hoffentlich, dass mir das nicht sonderlich gefällt, oder?“ Ich konnte nichts darauf erwidern, da in diesem Moment Isolde hinter mir den Raum betrat und es mir abnahm: „Du weißt aber bestimmt, dass ich kein Interesse daran habe, dass meine Schwester und ich uns hier strafbar machen, oder?“ „Tut ihr das denn?“ Ja, er war stellenweise tatsächlich ein Kind, so schien es mir. Allerdings war ich mir in dem Moment auch nicht sonderlich sicher, was das anging, weswegen ich Isolde ebenfalls fragend ansah. Sie lachte spöttisch auf. „Aber natürlich. Okay, ich kann dir weder den genauen Straftatbestand noch den entsprechenden Paragraphen nennen, aber es ist illegal, vertrau mir.“ Zetsu warf mir einen Blick zu, ich konnte aber nur mit den Schultern zucken und ein Gesicht machen, das ihm sagen sollte, dass wir ihr besser mal glauben sollten. Ich war wirklich erstaunt, dass er es verstand und zustimmend nickte. Vielleicht waren wir ja gar kein schlechtes Team. „So, während ich dann mal für Zetsus Verfehlungen geradestehe, könnt ihr euch mal um das Abendessen kümmern, ich verhungere fast.“ „Oh, gute Idee“, stimmte er zu. Mir war der Appetit eigentlich schon lange vergangen, ich schloss mich allerdings beiden an und bedeutete Zetsu, mir zu folgen, was er auch sofort tat. Hinter uns schloss Isolde die Tür, um ungestört zu telefonieren. Während ich überlegte, was wir kochen sollten, lehnte Zetsu sich gegen die Arbeitsplatte. „Deine Schwester ist eine ziemlich vernünftige Person, was?“ „Ich muss ehrlich sagen, dass ich davon ziemlich überrascht bin“, erwiderte ich, während ich nebenbei darüber nachdachte, ob Ravioli aus der Dose eine gute Idee wären. „Ist sie sonst nicht so?“ „Früher nicht, da hat sie immer ziemlich in den Tag hineingelebt und sich selten darum geschert, was richtig oder falsch ist.“ Nein, Ravioli waren eine schlechte Idee, auch wenn sie schnell und einfach zu machen waren, aber ich mochte die nicht so sehr. „Aber da waren unsere Eltern noch vernünftig – erst als die beiden ihr nacheiferten, schien sie mit Vernunft rebellieren zu wollen. Sie musste eben plötzlich an ihrer Stelle erwachsen sein.“ Eine einfache Suppe hätte mir auch gereicht, aber wenn Zetsu und Isolde schon knapp vor dem Verhungern standen, brauchten sie möglicherweise doch eher etwas Habhafteres – und Gemüse für die Suppe zu kaufen, es zu schneiden und es dann zu kochen, damit es habhafter wurde, hätte auch zu viel Zeit in Anspruch genommen. „Eure Eltern sind wohl nicht sonderlich toll.“ „Das kannst du laut sagen.“ Die Spaghetti und das Glas Tomatensoße aus dem Kühlschrank sahen eigentlich nicht schlecht aus und es wäre bestimmt auch schnell gemacht. Da Zetsu nichts mehr sagte, während ich beides auf die Arbeitsplatte legte und dann Wasser aufzusetzen begann, beschloss ich, einfach ihn etwas zu fragen: „Was ist mit deinen Eltern so?“ Im Krankenhaus war er privaten Fragen stets aus dem Weg gegangen oder hatte einfach gesagt, dass mich die Antworten nichts angingen. Zumindest Letzteres konnte er hier immerhin auch tun, doch stattdessen antwortete er tatsächlich: „Ich liebe meine Eltern. Sie sind wunderbare Menschen – auch wenn ich es hasse, dass sie mich in dieses Krankenhaus gebracht haben.“ Bitterkeit huschte über sein Gesicht, wurde aber sofort wieder von einem sanften Lächeln abgelöst. „Ansonsten sind sie aber wirklich großartig, genau wie mein Onkel oder meine Tante. Eigentlich ist es fast schon zu schön, um wahr zu sein, wie perfekt meine Familie ist.“ Prüfend blickte ich ihn an, nachdem ich die Töpfe auf den Herd gestellt hatte. „Ist das echt wahr?“ Er nickte zustimmend. „Gut, dann... warum sprichst du nicht einfach mit ihnen und fragst sie, ob du die Klinik nicht verlassen darfst?“ „Das habe ich schon – erfolglos. Sie wollen mein Bestes, ich verstehe das schon, aber es ist auch ziemlich nervig.“ „Kann ich mir vorstellen.“ Ich war immerhin freiwillig in der Klinik gewesen. Beim Gedanken, dass irgendjemand mich möglicherweise dazu hätte zwingen können, wurde mir auch ganz anders. Die Tür zum Nebenraum wurde geöffnet, im nächsten Moment kam Isolde in die Küche. „Ich habe alles geklärt. Dr. Breen bedankt sich für den Anruf, hofft, dass mit Zetsu alles in Ordnung ist und wünscht, dass er spätestens am Montag wieder im Krankenhaus ist.“ „Dann wäre er ja noch vier Tage bei uns“, entfuhr es mir. Zetsu blickte mich lächelnd an. „Ist das ein Problem für dich?“ In gewisser Weise ja, denn ich würde immerhin einige Zeit allein mit ihm sein müssen, während Isolde arbeiten war. Andererseits aber hatte der Gedanke auch etwas für sich. „Nein, natürlich nicht. Bleib ruhig.“ „Solltet ihr nicht auch mich fragen?“, meldete Isolde sich. Wir wandten uns beide ihr zu, Zetsu trug bereits wieder seinen Welpen-Ausdruck auf dem Gesicht. Dem konnte man doch einfach nicht widerstehen. Aber mir war auch klar, dass Isolde ihre Entscheidung ohnehin schon lange getroffen hatte, sonst wäre sie mit ganz anderen Worten in die Küche gekommen. „Natürlich kann er bis Montag bleiben“, sagte sie lächelnd. „Fühl dich hier ganz wie zu Hause, Zetsu.“ „Vielen Dank, Ms. Vartanian“, kam es von Zetsu. Isolde grinste. „Oh bitte, da kling ich ja richtig alt. Nenn mich lieber Isolde, ich bin immerhin nicht deine Lehrerin.“ „Einverstanden.“ Oh ja, ich sah Zetsu schon richtig als Teil unserer Familie, eigentlich ein angenehmer Gedanke... den ich mir besser wieder aus dem Kopf schlagen sollte. Am Montag würde er wieder in die Klinik zurückkehren und dann würde ich ihn wirklich nie wiedersehen – zumindest dachte ich das in diesem Moment noch. Kapitel 31: Albträume --------------------- Ich fand es erstaunlich, wie schwer es mir fiel, in Isoldes Zimmer zu schlafen. Die ganze Zeit wälzte ich mich von einer Seite auf die andere und fiel dabei beinahe aus dem Bett, das ich mit meiner Schwester für die Zeit von Zetsus Aufenthalt teilte. Ich hatte nie zuvor gewusst, dass Isolde sich so heftig bewegte nachts, ich war sogar davon überzeugt, dass sie manchmal morgens mit den Füßen auf dem Kissen aufwachte bei ihrer Bewegungsfrequenz. Ich bereute es, Zetsus Aufenthalt zugestimmt zu haben, immerhin musste ich solange auf mein Bett und mein eigenes Zimmer verzichten. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, für die Dauer wieder ins Krankenhaus zurückzukehren, da es mit Baila im Zimmer wesentlich angenehmer zu schlafen war. Da es mir offenbar nicht möglich war, vernünftig zu schlafen, stand ich schließlich auf, um in die Küche zu gehen – in der Hoffnung, dass eine warme Milch mit Honig mir helfen würde. Irgendwann hatte ich einmal gehört, dass so etwas helfen sollte, dies wäre aber der erste Versuch am eigenen Leib. Während ich in der Küche stand und der Tasse in der Mikrowelle beim Drehen zusah, vermied ich jeden Blick auf die Uhr. Es war ohnehin egal, wann ich schlafen würde, ich musste ja nicht früh raus. Außer wenn Zetsu ein Frühaufsteher war, aber ich glaubte, mich daran zu erinnern, dass er mindestens einmal ebenfalls angemerkt hatte, dass er gern lange schlief. Obwohl das auch relativ war. Als ich noch in der Schule gewesen war, waren bei mir Leute in der Klasse gewesen, die bis ein Uhr mittags schlafen konnten. Für Baila dagegen war lang schon spätestens acht Uhr. Wie lange Zetsu das wohl konnte? Die Mikrowelle riss mich aus meinen Gedanken, als sie mir schließlich verkündete, dass meine Milch fertig war. Ich nahm die Tasse heraus – und ließ sie erschrocken fallen, als ich plötzlich einen Schrei hörte. Sie zersprang mit einem erstaunlich dumpfen Klirren und verteilte die Milch auf dem Boden. Im ersten Moment wollte ich ein Tuch holen, um es aufzuwischen, doch leise Geräusche, die aus meinem Zimmer kamen, sorgten dafür, dass ich stattdessen doch lieber in diese Richtung ging. So vorsichtig wie möglich öffnete ich die Tür, um einen Blick hineinzuwerfen. Zetsu lag scheinbar schlafend auf dem Rücken, leise murmelnd warf er immer wieder den Kopf hin und her. Auch wenn ich selbst noch nie zuvor Zeuge von so etwas geworden war, war ich mir sofort sicher, dass er einen Albtraum hatte. Das war wieder einer der Momente, in denen ich mich nicht fragte, was ich tun sollte, sondern direkt handelte, indem ich zum Bett hinüberging und ihn an der Schulter berührte. „He, Zetsu. Wach auf.“ Es dauerte einen Moment, bis er die Augen aufschlug und sich verwirrt umsah. „Nana... shi?“ „Du hast geträumt“, erklärte ich ihm, als er mich schließlich fragend ansah. Er seufzte leise. „Schon wieder.“ Also kam das öfter vor bei ihm, genau wie bei Nozomu und Subaru. Ich kniete mich neben das Bett, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. „Was hast du denn geträumt?“ Er drehte sich auf die Seite, um mich weiterhin anblicken zu können, auch wenn er mit Sicherheit im Dunkeln nicht viel sehen konnte. „Interessiert dich das wirklich?“ Ich wusste nicht, was diese Gegenfrage sollte. Eigentlich sollte er wissen, dass es mich interessierte, wenn ich schon nachfragte, sonst hätte ich das nicht getan. Aber statt ihm das zu sagen, nickte ich nur. „Ich habe dir bislang nicht erzählt, warum ich an diesem Syndrom leide, oder?“ „Nein, hast du nicht.“ Ich wusste immerhin auch nur aus Nozomus Sätzen in jener Nacht, dass es etwas mit dem Tod von Zetsus Schwester zu tun hatte. Aber die genauen Umstände kannte ich nicht. Er streckte die Hand unter der Bettdecke hervor und griff nach einer meiner Hände. Ich war froh, dass es dunkel war, denn mein glühendes Gesicht verriet mir, dass es mit Sicherheit knallrot war. Man muss sich immerhin mal die Atmosphäre vorstellen, in der das alles geschah – in meinem Zimmer, mitten in der Nacht und... nein, nein, nein, ich sollte aufhören, darüber nachzudenken, was interessierte es mich auch, was er gerade trug, während er unter der Bettdecke lag? „Ich hatte früher eine kleine Schwester namens Nanashi.“ Ich nickte verstehend, er zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr: „Vor zwei Jahren waren wir gemeinsam mit unserer Familie auf einer Bergwanderung. Es hatte geregnet, der Weg war glitschig gewesen...“ Für einen kurzen Moment verstummte er, aber ich konnte mir ohnehin denken, was geschehen war, man brauchte nicht viel Fantasie, um es sich zusammenzureimen. „Eigentlich hätte ich es der Bergwacht überlassen sollen, nach ihr zu suchen, aber ich dachte, vielleicht hat sie überlebt und hätte Angst und...“ Er zuckte mit den Schultern. „Du hast sie dann gefunden?“, fragte ich, um ihn in seinen Gedanken und Vorstellungen nicht allein zu lassen – immerhin wusste ich genau, wie sich so etwas anfühlte und für ihn musste es noch eine ganze Ecke schlimmer sein. „Sie trieb im Fluss am Fuß des Gebirges. Die Ärzte sagten, sie wäre während des Sturzes mindestens einmal gegen die Klippe geprallt und dadurch gestorben – sie musste also nicht leiden.“ Ich fragte mich, wie oft er sich darüber schon Gedanken gemacht und es sich vor seinem geistigen Auge abgespielt hatte. Ehrlich gesagt hätte ich nicht damit gerechnet, dass er ein so schlimmes Schicksal mit sich herumtrug. Bei seinem ewig-charmanten Lächeln und seiner guten Laune war ich ohnehin immer verwundert gewesen, warum er sich in der Klinik befand. Eigentlich war ich sogar überzeugt gewesen, dass er draußen besser aufgehoben wäre und mit dem Wochenende bei uns hätte ich das auch seinen Eltern beweisen können, um ihn noch vor seiner Volljährigkeit wieder herauszuholen. Seine kindliche Attitüde war meiner Meinung nach ohnehin nur das Ergebnis der Abschottung gewesen und das Syndrom würde mit der Zeit bestimmt auch ausheilen... Doch mit jeder Information, die ich erhielt, wurde es mir um einiges klarer – er war in der Klinik wirklich hervorragend aufgehoben und ich würde ihn dort am Montag ohne schlechtes Gedächtnis wieder hinbringen. Er müsste nur endlich lernen, dass er sich dort auch helfen lassen sollte, statt nur zu schweigen, wie Dr. Cworcs es mir erzählt und ich es bei der Gruppensitzung erlebt hatte. Aber war ich wirklich die beste Lehrerin dafür? Immerhin war ich selbst ebenfalls aus dem Krankenhaus geflohen, kaum dass sich mir die richtige Gelegenheit geboten hatte. Zetsus Händedruck holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Gerade rechtzeitig, dass ich mitbekam, wie er weitersprach: „Kurz danach begannen die Schmerzen und das Syndrom wurde festgestellt. Ich lag erst einige Monate im Krankenhaus, bevor ich schließlich in die Klinik für Psychiatrie- und Psychotherapie überwiesen wurde. Die Ärzte meinten, ich könnte gar nicht genesen, solange ich dieses Trauma mit mir herumschleppen würde.“ „Warum redest du dann nie mit den Ärzten?“, fragte ich. „Ich weiß nicht... Vielleicht hatte ich Angst... oder habe es immer noch. Meinst du nicht auch, dass es ein Zeichen für Schwäche ist, wenn man ein Trauma hat?“ Ich rollte mit den Augen. „Du klingst genau wie mein Vater. Aber Dr. Cworcs sagte, dass es ein Zeichen von Stärke ist, wenn man Hilfe akzeptiert.“ Ich konnte seinen fragenden Blick auf mir spüren. „Hat er dir das denn nie gesagt?“ „Kann sein, ich hab ihm nicht immer zugehört.“ Das war ja typisch, eigentlich hätte ich mir die Frage schenken können. „Was denkst du? Wie wird es weitergehen?“ „Wie geplant. Ich werde die Klinik wieder verlassen, sobald ich volljährig bin.“ Hätte er im Moment nicht im Bett gelegen und hätte ich nicht auf dem Boden gekniet, dann wäre er von mir getreten worden – am besten in die Kniekehle, das hatte früher immer Wunder gewirkt. „Du bist echt ein Idiot.“ Er lachte nur leise, statt sich darüber aufzuregen. „Ja, vielleicht. Aber kannst du trotzdem hier bei mir bleiben?“ Da ich nichts sagte, erklärte er mir, dass er nach einem solchen Traum immer Probleme damit hatte, wieder einzuschlafen, aber es würde gehen, sofern ich weiterhin seine Hand halten würde. Zwar klang das nach einer sehr ungemütlichen Nacht, aber bei Isolde würde es wohl auch nicht besser laufen, wenn sie tatsächlich immer so unruhig schlief. Also stimmte ich seufzend zu. „Danke, Leana.“ Er schloss die Augen und war erstaunlich schnell wieder eingeschlafen, ohne meine Hand loszulassen. Ich konnte nicht anders und musste lächeln, während ich auf unsere Hände hinabsah, sämtliche Gedanken waren in dieser traumgleichen Situation aus meinem Gehirn verschwunden und so bemerkte ich nicht, dass ich trotz dieser unbequemen Haltung tatsächlich irgendwann einschlief. Kapitel 32: Gemeinsam mit Zetsu ------------------------------- Wie erwartet schmerzte mein Rücken am nächsten Morgen. Aber so richtig ärgern konnte ich mich nicht darüber, denn als ich aufwachte, blickte ich direkt in Zetsus noch schlafendes Gesicht. Es wirkte so friedlich und gelöst, dass ich davon überzeugt war, dass er etwas Schönes träumte. Meine Hand hatte er dabei nicht ein einziges Mal losgelassen wie mir schien – und ich freute mich, dass ich ihm offenbar genug Sicherheit gab, dass er schlafen konnte. Trotzdem fand ich, dass es langsam Zeit wurde, aufzustehen, auch ohne dass ich wusste, wie spät es war. Außerdem waren meine Beine eingeschlafen und das war ein äußerst unangenehmes Gefühl, wie man sich denken kann. Vorsichtig löste ich meine Hand aus der von Zetsu. Zwar wachte er dadurch glücklicherweise nicht auf, doch drehte er sich leise murmelnd auf die andere Seite. Ich glaubte, so etwas wie „Nur noch fünf Minuten, Nelia“ herauszuhören, war mir aber nicht sicher, ob ich mir das nicht doch nur einbildete. Es konnte doch unmöglich so wie in all den Filmen und Büchern sein, dass die Leute wirklich so etwas murmelten, wenn sie aufwachten, sich aber noch im Halbschlaf befanden. Ungelenk stolperte ich aus dem Zimmer in die Küche. Als ich auf den Boden sah, bemerkte ich, dass die zerbrochene Tasse und die Milch fehlten. Isolde musste aufgeräumt und gewischt haben. Ich stellte mir vor, wie sie dabei verärgert gewesen war – nur um dann vergnügt zu kichern, als sie mich neben Zetsus Bett hatte knien sehen. Zumindest schätzte ich sie so ein – und ich fühlte mich darin bestätigt, als mein Blick auf einen Zettel fiel, der auf dem Küchentisch lag. In Isoldes unverkennbarer Handschrift, die jedem Apotheker das Blut hätte in den Adern gefrieren lassen, bat sie mich, für das Essen einkaufen zu gehen und das nächste Mal gleich aufzuräumen und sie riet mir – und dafür würde ich sie später noch schlagen – doch bitte vorsichtig zu sein, wenn ich mit Zetsu intim werden wollte. Gut, das waren nicht ihre genauen Worte, aber die werde ich nun nicht wiederholen. Ich zerknüllte den Zettel hastig und warf ihn weg, ehe Zetsu doch noch einen Blick darauf werfen könnte. Einkaufszettel und Geld hatte Isolde separat beigelegt, allerdings konnte ich allein anhand der Zutaten nicht auf unser nächstes Essen schließen. Ich würde mich wohl überraschen lassen müssen. Wie schon die Tage zuvor suchte ich Brot – und dieses Mal auch Marmelade für Zetsu – heraus, um zu frühstücken, als ich weitere Schritte hören konnte, gefolgt von einem „Guten Morgen“. Ohne weiter nachzudenken wandte ich mich ihm zu, um die Begrüßung zu erwidern – erst als ich bemerkte, dass er komplett angezogen war, wurde mir bewusst, dass ich eigentlich erwartet hatte, ihn in Unterwäsche vor mir zu sehen. Bei dem Gedanken wurde ich augenblicklich rot – und er bemerkte das natürlich, obwohl er noch komplett verschlafen war. „Alles okay?“ „N-natürlich!“, erwiderte ich hastig und wandte mich wieder Brot und Marmelade zu. Ich konnte es nicht sehen, aber ich war mir sicher, dass er schelmisch grinste. „Soll ich was helfen?“ „Nein, das geht schon. Setz dich einfach.“ Während wir zusammen frühstückten, erklärte ich ihm, dass wir im Anschluss einkaufen gehen würden, was er mit einem zufriedenen Lächeln zur Kenntnis nahm. Ihn freute dieses normale Leben sicherlich, war bei mir doch am Anfang genauso gewesen und er hatte immerhin wesentlich mehr Zeit im Krankenhaus verbracht als ich. „Sag mal, stört es dich nicht, dass du hier quasi bei Fremden bist?“, fragte ich schließlich irgendwann. Die Frage brachte ihn kein bisschen aus der Ruhe. „Warum sollte es? Du bist mir nicht sonderlich fremd und deine Schwester gefällt mir. Ich wünschte, sie wäre meine ältere Schwester.“ Das Grinsen auf seinem Gesicht bereitete mich bereits auf das vor, was kommen würde: „Wir sollten heiraten, damit sie meine Schwägerin wird.“ Trotz der Vorbereitung verschluckte ich mich an meinem Brot und hustete mehrmals, während er amüsiert lachte. „Das war doch nur ein Scherz, nimm mich nicht so ernst.“ „Ich fand das jedenfalls nicht sonderlich komisch.“ Ich gab mein Bestes, beleidigt zu klingen, aber er lachte nur wieder. „Tut mir Leid, ich konnte einfach nicht widerstehen.“ „Wie kommt es, dass du mich eigentlich immer als Quelle deiner Unterhaltung missbrauchen musst?“ „Das ist nur ein Zufall – und aktuell ist außer uns ja niemand hier.“ Leider. Während ich mich anzog hoffte ich, dass er ein anderes Ziel für seinen Spott finden würde. Bei anderen würde man sagen „was sich liebt, das neckt sich“, aber ich war mir bei Zetsu da nicht so sicher. Immerhin verspottete er auch liebend gern Narukana und die mochte er mit Sicherheit nicht. Andererseits fühlte er sich bei mir auch sicher, also... Ich machte mir einfach viel zu viele Gedanken darum, selbst als Zetsu und ich schließlich die Wohnung verließen. Im ersten Moment wäre ich beinahe wieder in die falsche Richtung gelaufen, doch Zetsu hielt mich rasch davon ab und zog mich mit sich. „Wie kommt es, dass du dich hier so gut auskennst?“ Er nickte zum Park hinüber. „Nanashi und ich haben früher öfter hier gespielt. Meine Tante und mein Onkel wohnten gar nicht weit entfernt und da waren wir oft in der Gegend. Das fiel mir wieder ein, als du mich in die Wohnung brachtest.“ „Wohnen sie jetzt woanders?“ „Ja. Nach der Beerdigung wollten meine Eltern, dass ständig jemand auf mich achten kann, darum baten sie meinen Onkel und meine Tante, bei ihnen einzuziehen. Genug Platz hatten wir ja.“ Wie bitter musste es für seine Eltern gewesen sein, als sie die Befürchtung geteilt hatten, dass er sich etwas antun würde? Ich mochte mir das gar nicht vorstellen – aber ich beneidete ihn auch fast schon darum, meinen Eltern wäre das immerhin egal gewesen. Obwohl... Zetsu war eine ganz andere Art von Mensch, bei ihm wären vielleicht sogar mal meine Eltern besorgt gewesen. „Du wohnst noch nicht lange hier, nicht?“ Ich nickte bestätigend und sah wieder zu ihm hinüber. Er lächelte leicht. „Nanashi und ich waren oft auf dem Spielplatz hier... aber in der Nähe gibt es auch eine alte U-Bahn-Station. Dort waren wir auch sehr oft. Wir sollten vielleicht mal dort vorbeigehen.“ Dieses Angebot überraschte mich. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass er dort nicht hingehen wollte, da es schmerzhafte Erinnerungen hervorrufen könnte, aber möglicherweise glaubte er, ich könnte ihm tatsächlich eine Stütze sein. Ich konnte nicht anders und musste lächeln, als mir dieser Gedanke kam. „Klar, gern.“ Noch dazu war ich noch nie bei einer stillgelegten U-Bahn-Station gewesen, das würde mit Sicherheit mal aufregend werden. „Danke, Leana.“ Bei diesen Worten, das von einem überraschend warmherzigen Lächeln begleitet wurde, spürte ich ein angenehm warmes Gefühl in meinem Inneren. Das war mit Sicherheit keines seiner gestellten Lächeln, mit denen er sonst um sich schmiss. Es war so... einfach unbeschreiblich. Man nehme das Lächeln von Johnny Depp, Brad Pitt und... wer auch immer sonst angesagt ist, mischt es einmal gut durch, packt noch ungefähr zehnmal Umwerfend dazu und schon hat man die Mimik von Zetsu, die mein Herz selbst heute noch beim bloßen Gedanken daran, schneller schlagen lässt. Während meine Gedanken sich noch immer allein um ihn drehten, spürte ich plötzlich, wie meine Knie den Boden berührten und etwas anderes, viel Weicheres sich um meine Hüfte geschlungen hatte. Ich musste mehrmals blinzeln, bis ich begriff, dass ich offenbar wieder umgefallen war. Langsam wurde das wirklich peinlich – doch ich konnte mich nicht lange mit meiner Scham aufhalten, da ich bereits Zetsus besorgte Stimme hören konnte: „Alles okay?“ Ich nickte langsam und bemerkte dabei, dass Zetsu offenbar versucht hatte, meinen Sturz abzufangen, es waren seine Arme, die ich um meine Hüfte spüren konnte. Er lächelte erleichtert. „Oh, gut. Hast du oft solche Schwächeanfälle?“ Im Gegensatz zu sonst wirkte er ehrlich besorgt, keinerlei Spott schwang in seiner Stimme mit und genau das verunsicherte mich in dieser Situation mehr als alles andere. „Uhm... nein, ich glaube nicht.“ „Dann kommt die umwerfende Wirkung von mir?“ Lachend zwinkerte er mir zu und half mir wieder nach oben. „Du bist gemein“, brummte ich und löste mich von ihm. „Tut mir Leid, aber...“ – er zögerte einen kurzen Moment – „ich konnte einfach nicht widerstehen.“ Doch sein Blick sagte mir da etwas anderes. Mit einem Mal begriff ich, warum er sich mir gegenüber so verhielt – zumindest glaubte ich, dass ich es verstand und meine Version gefiel mir äußerst gut. Zetsu mochte mich – wie sehr konnte ich damals natürlich nicht sagen – aber ihm fehlte die Erfahrung, wie er damit umgehen oder es mir gar vermitteln sollte. Also flüchtete er sich in die einzige Möglichkeit, die er kannte: Spott und Sarkasmus oder was er eben dafür hielt. Doch schon im nächsten Moment wandelte sich seine Stimmung wieder. „Soll ich deine Hand nehmen, falls du noch einmal umfällst?“ Er grinste nicht mehr, seine Mimik war so sanft, dass es mich sprachlos machte und ich nur nicken konnte. Lächelnd ergriff er meine Hand ehe wir weiterliefen. Inzwischen war ich dieses Gefühl, das dabei in mir freigesetzt wurde, schon gewöhnt, aber dennoch war es immer wieder eine wahre Explosion von Endorphinen, die mich glücklicher machte als jedes Antidepressivum es in meinem Leben je hatte schaffen können. Zum ersten Mal fühlte ich mich wirklich glücklich, so wie es in all diesen kitschigen Büchern und Filmen immer erzählt wurde und ich war entschlossen, alles zu tun, damit Zetsu dasselbe irgendwann auch sagen könnte – ich müsste nur noch herausfinden, wie ich das am besten anstellen sollte. Kapitel 33: Familie ------------------- Mit Zetsu schien alles, selbst die normalsten Dinge, aufregend und ungewöhnlich zu werden. Selbst das Einkaufen. Mit einem leicht verträumten Lächeln hing er mit dem Oberkörper über dem Einkaufswagen, dessen Lenkung er übernommen hatte. In dem Moment erschien er mir erneut wie ein Kind. Zum Glück hatte er auch Augenblicke, in denen er reif wirkte, sonst müsste ich mir Gedanken machen, was ich eigentlich an ihm fand – abgesehen von seinem Aussehen. Das war auch der Grund, warum viele Leute im Supermarkt ihm hinterhersahen. Teilweise war es mir peinlich, aber andererseits war es auch ziemlich interessant, da ich mich damit auch im Mittelpunkt des Interesses befand, immerhin stand Zetsu die ganze Zeit hindurch auffallend dicht neben mir. Zumindest bis es darum ging, Nudeln zu holen. Ich wies Zetsu an, einen Gang weiter nach Spülmittel zu suchen, während ich die richtigen Nudeln heraussuchte. Isolde war da erstaunlich anspruchsvoll, im Gegensatz zu vielen anderen Dingen, wie zum Beispiel ihrem Spülmittel. Zetsu nickte zustimmend und tat, wie ihm geheißen, während ich mich in den Gang mit den Nudeln begab. Eine junge Frau stand bereits ebenfalls vor dem Regal und betrachtete es tief in Gedanken vertieft mit gerunzelter Stirn. Ich beachtete sie erst einmal nicht weiter – bis sie plötzlich leise zu murmeln begann: „Mah, ich geh nie wieder für Yorulein einkaufen... warum kann sie nicht einfach Reis essen, wie vernünftige Leute auch?“ „Ja, das Problem kenne ich“, entfuhr es mir mit einem Seufzen. Natürlich war es nicht mein Problem, aber Isolde gab immerhin jede Menge Geld für diese ganz tollen Markennudeln aus. Bei Gelegenheit musste ich wirklich herausfinden, was sie eigentlich verdiente und ob sie nicht möglicherweise weit über ihre Verhältnisse lebte. Nur weil sie so erwachsen wirkte, hieß das ja nicht, dass sie es auch war. Die Frau zuckte zusammen und blickte mich entschuldigend an. Dabei lächelte sie, was fast schon kindlich süß aussah. „Manche Leute sind einfach übermäßig anspruchsvoll, nicht wahr?“ In einer verlegenen Geste warf sie ihr schwarzes Haar zurück und lachte leise. „Aber manchmal sollte man nicht meckern, nicht? Ich wünschte nur, ich würde nicht immer alles vergessen.“ Mit diesen Worten legte sie einen Finger an ihr Kinn und blickte nachdenklich wieder auf das Regal. Ich fand es fast schon lustig, dass ich mir denken konnte, dass sie nicht nur die Nudelmarke, sondern auch ihren Einkaufszettel vergessen hatte – und so ratlos wie ihr Blick von oben nach unten und wieder unten nach oben wanderte, wusste sie offenbar nicht einmal mehr was für Nudeln genau es waren, die sie suchte. Wer immer diese Yorulein war, sie würde mit Sicherheit das vollkommen Falsche bekommen. „Warum vergesse ich auch immer mein Handy?“, seufzte sie leise. Ich war so fasziniert von dieser Frau, dass ich Zetsu erst bemerkte, als er direkt neben mir etwas sagte: „Das, was Isolde an Spülmittel einspart, gibt sie für ihre Nudeln aus, kann das sein?“ Gerade als ich ihm lachend zustimmen wollte, wandte die Frau sich ihm mit leuchtenden blauen Augen zu, was mich wieder aus dem Konzept brachte. Es wirkte nicht so als ob sie ihn das erste Mal sehen würde, sondern eher als ob sie ihn wiedererkannte – das wusste ich spätestens, als sie ihn ansprach: „Oh, Zetsu. Gut, dass ich dich hier treffe. Wie heißen diese Nudeln nochmal, die deine Mutter so gern isst?“ Er zuckte augenblicklich zusammen und wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu. Bislang hatte er ihr offenbar keine Beachtung geschenkt, was mir ziemlich schmeichelte. Aber im nächsten Moment wurde mir auch bewusst, warum er so erschrocken war: Wenn diese Person ihn kannte und offenbar für seine Mutter einkaufte, müsste sie auch wissen, dass er eigentlich nicht hier sein dürfte – und ihr wurde das ebenfalls bewusst. Sie neigte den Kopf. „Was machst du eigentlich hier? Geht euer Krankenhaus nun schon mit euch einkaufen?“ „Nicht wirklich“, antwortete er ausweichend. Sie sah wieder mich an und lächelte unvermindert. Ich musste zugeben, dass sie mir recht sympathisch war, zumindest auf den ersten Blick. „Und wer bist du?“, fragte sie. Zetsu ließ mich gar nicht zum Antworten kommen: „Du solltest dir endlich merken, Einkaufszettel mitzunehmen. Leg sie doch neben deine Schlüssel.“ Die Frau hob einen Mundwinkel, was wohl sagen sollte, dass sie nicht einmal an ihre Schlüssel gedacht hatte – zumindest seufzte Zetsu. „Tante Hinome... wie soll das nur mit dir weitergehen?“ Vor Erstaunen weiteten sich meine Augen. Diese Frau war also... aber sie dürfte doch gar nicht mehr in der Gegend wohnen. Oder hatte er noch mehr Tanten? Statt ihm zu antworten, wies sie ihn schmunzelnd zurecht: „Du hast verhindert, dass dieses Mädchen mir eine Antwort geben konnte.“ Trotzig blickte er zur Seite, während ich ihr meinen Namen nannte. „Zetsu wohnt für ein paar Tage bei mir und meiner Schwester.“ „Weiß das Krankenhaus davon?“, fragte Hinome nachdenklich. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass man dort bei seiner Familie angerufen hätte – aber offenbar wollte man Ärger lieber aus dem Weg gehen und hatte es vermieden, ihnen etwas zu sagen. Zetsu nickte. „Leanas Schwester hat dort angerufen.“ „Und du kamst nicht auf die Idee, bei deiner dich liebenden Familie Bescheid zu sagen?“ Hinome klang äußerst verletzt, weswegen es mir schon fast wieder Leid tat, dass ich auch nicht daran gedacht hatte. Zetsu traf es ebenfalls. Zerknirscht senkte er den Blick. „Aber ihr hättet mich nur gleich wieder ins Krankenhaus geschickt. Deswegen darfst du Papa nichts davon sagen.“ „Das muss sie auch nicht.“ Wir zuckten gleichermaßen zusammen und fuhren herum. Als ich den Mann erblickte, der da stand, blieb mir erneut die Luft weg. Das weißsilberne lange Haar und das fein geschnittene Gesicht sagte mir deutlich, mit wem er verwandt war und die honigfarbenen Augen blickten genauso prüfend wie jene von Zetsu, der neben mir gerade zu schrumpfen schien. „Papa...“ Ich sog die Luft ein. Bis gerade eben war das hier noch ein normaler Einkauf gewesen und nun traf ich hier nicht nur auf Zetsus Tante, sondern auch auf seinen Vater. Mein Leben mit ihm war wirklich eine Telenovela. Es fehlten nur noch die intriganten Gegenspieler, die dramatische Musik und die Cliffhanger am Ende einer Episode. „Ah, Hidaka“, sagte Hinome erfreut. „Du hast mit Sicherheit meinen Einkaufszettel und meinen Schlüssel, oder?“ Er lief an uns vorbei, wobei ich den dezenten Geruch seines Deodorants mitbekam. Er erinnerte mich an Zetsu, der diesen Duft offenbar in sein Inneres aufgenommen hatte und ihn nun nach und nach, in angenehm kleinen Dosierungen, wieder abgab. Neben Hinome angekommen, griff Hidaka in seine Tasche und zog mehrere Dinge heraus. „Und dein Handy auch. Mal wirklich, nur weil du bei uns wohnst, heißt das nicht, dass du deine Gehirntätigkeiten einstellen musst.“ Erst als sie sich reumütig entschuldigt hatte, wandte er sich wieder Zetsu zu. „Und du... mit dir hätte ich hier nicht gerechnet.“ Ich hätte mit keinem von beiden gerechnet. Hatte er nicht erwähnt, dass seine Tante und sein Onkel weggezogen waren? Warum trafen wir dann hier auf seine Tante und seinen Vater? „Ich auch nicht mit dir.“ Trotz der oberflächlichen Kälte in ihren Worten, konnte ich spüren, dass beide sehr an dem anderen hingen – ich hatte immerhin Erfahrung in echter Kälte bei meinen Eltern. Hidaka lächelte ein wenig und genau wie bei seinem Sohn wäre ich am Liebsten dahingeschmolzen. „Aber es ist schön, dich zu sehen – gerade wenn es so unerwartet kommt.“ Zetsu erwiderte das Lächeln. „Ja, finde ich auch. Aber was macht ihr hier?“ „Ich geh lieber hier einkaufen“, antwortete Hinome. „Gekkyu arbeitet noch immer um die Ecke, da kann ich ihn später während seiner Pause besuchen.“ „Und ich bin ihr gefolgt, weil sie wieder alles vergessen hat“, erklärte Zetsus Vater. „Außerdem habe ich in der Gegend noch einen Termin bei meinem Anwalt.“ Ich fragte mich, was er wohl bei diesem wollte, aber Zetsu schien es nicht weiter zu interessieren. Der Blick des Mannes richtete sich auf mich. „Du bist Leana, ja?“ Ich nickte sofort wortlos, da es mir absolut die Sprache verschlagen hatte – ungewöhnlich für mich, ja. „Vielen Dank, dass du dich für ein paar Tage um meinen Sohn kümmerst. Tut mir Leid für die Umstände, die er dir bereitet.“ „O-oh nein“, erwiderte ich hastig. „Das sind keine Umstände.“ „Du wirst sichergehen, dass er am Montag wieder ins Krankenhaus geht, ja?“ Ich nickte zustimmend, worauf er zufrieden lächelte. „Gut, dann ist ja alles bestens.“ Zetsu atmete sichtlich erleichtert auf. Offenbar hatte er befürchtet, dass sein Vater ihn schnappen und wieder ins Krankenhaus zurückbringen würde – aber stattdessen war er damit einverstanden, dass er bei uns bleiben durfte. Ja, er war wirklich mit Zetsu verwandt, eindeutig. Hidaka warf einen Blick in den Einkaufswagen, den sein Sohn vor sich herschob, dann hob er wieder den Kopf. „Darf ich dafür euren Einkauf bezahlen?“ Er bemerkte, dass ich abwehren wollte, doch ließ er das erst gar nicht zu. „Ich will mich nicht aufdrängen, aber es wäre mir wirklich eine Freude.“ Na ja, es war nicht mein Geld, das ich hier unbedingt ausgeben wollte, also warum sollte ich es nicht einfach annehmen? Ich legte die von Isolde verlangten Nudeln noch in den Wagen, dann nickte ich. „In Ordnung, vielen Dank.“ Hidaka bat Zetsu und Hinome zur Kasse vorzugehen, was diese auch sofort taten. Beide plauderten dabei vergnügt als wäre die Begegnung zu Anfang nicht unangenehm gewesen. „Leana...“ Erschrocken sah ich wieder Hidaka an. Er war überraschend ernst geworden. „Du kennst ihn aus dem Krankenhaus, nicht?“ „Ja, genau. Sind Sie... nicht sauer, dass er Ihnen nicht Bescheid gesagt hat?“ „Das sollte ich vielleicht sein. Aber... eigentlich freut es mich eher.“ Irritiert neigte ich den Kopf, er lächelte wieder. „Dass du ihn bei dir wohnen lässt heißt wohl, dass du ihn in irgendeiner Art und Weise magst. Zetsu war nie gut darin, Freundschaften zu schließen. Nozomu und Satsuki waren bislang die einzigen. Darum freut es mich umso mehr, dass er nun eine weitere Person hat, die auch ein wenig auf ihn achtet.“ Ein wenig verlegen senkte ich den Blick, worauf er mir auf die Schulter klopfte. „Ich persönlich vertraue auf Zetsus Einschätzung, wem er vertrauen kann – und wenn er das bei dir kann, tue ich es auch.“ „Uhm, danke...“ Ich war regelrecht gerührt. Dieser mir absolut fremde Mann vertraute mir, in einem solchen Maß, dass er sogar das Leben seines Sohnes quasi in meine Hände legte. Er schien mir mehr verwandt zu sein als meine eigenen Eltern, die mir nicht mal die Aufsicht über ihr Haus anvertrauen wollten. „Dann komm, folgen wir ihnen lieber. So wie ich meinen Sohn kenne, zahle ich sonst ein Vermögen für Schokolade.“ Lächelnd lief ich mit Hidaka los, um die anderen beiden wieder einzuholen – und da war auch bei mir das unangenehme Gefühl vom Anfang verflogen, stattdessen fühlte ich mich eher als würde ich gerade mit einem eigenen Verwandten den Gang entlanglaufen. Kapitel 34: Auf der Karte ------------------------- Die Tage vergingen und der Samstag kam überraschend schnell. Während Isolde arbeiten war, verbrachten Zetsu und ich die Zeit entweder im Park vor dem Haus oder vor dem Fernseher. Je länger wir zusammen waren desto weniger verspürte ich den Drang, ihn unaufhörlich anzustarren und wir schafften es, uns ungezwungen zu unterhalten. Auch über seine Familie, von der ich nun offenbar schon die Hälfte kennen gelernt hatte. Bis auf seine Eltern, so wie seinen Onkel und seine Tante besaß er keine Familienmitglieder mehr. Also in etwa wie bei mir, nur dass ich meine Erzeuger nicht mehr als Familie sah. In jedem einzelnen Wort, das Zetsu verlor, konnte ich die Liebe zu seiner Familie spüren, es machte mich schon regelrecht neidisch, ich wünschte, sie könnten meine Verwandten sein. Aber immerhin hatte ich noch meine Schwester, um die mich ja Zetsu beneidete, was mich wieder ein wenig versöhnlicher stimmte. Am Samstag war Isolde den ganzen Tag da, weswegen wir dann zwar nicht allein waren – aber es war eine sehr interessante Erfahrung, dass wir zu dritt auf ihrem Bett herumlagen, um von dort fernzusehen. Mein Verdacht, dass Isolde dieser Freizeitbeschäftigung äußerst gern nachging, bestätigte sich auch direkt, da sie sich mit Zetsu angeregt über das Programm unterhielt. Da ich keinerlei Erfahrung diesbezüglich hatte, schwieg ich und hörte ihnen lediglich zu und freute mich, dass er sich offenbar wirklich wie ein Teil der Familie fühlte – genau wie ich mich bei seinem Vater und seiner Tante. Auch wenn sich mir bei diesem Gedanke die Frage stellte, welchen Eindruck sie wohl bekommen hatten, wie ich zu Zetsu stand. Andererseits verstörte mich dieser Gedanke ein wenig, immerhin wusste ich noch nicht einmal genau, wie Zetsu selbst zu mir stand, ich wusste nur, dass er mich mochte, aber das konnte viel heißen. Vielleicht sah er mich als Schwester, vielleicht als gute Freundin oder vielleicht doch als etwas mehr. Jedenfalls mochte er mich und das war doch immerhin etwas wert. Aber ein wenig mehr Bestätigung... na ja, wie auch immer. Ich wurde erst wieder auf das Gespräch zwischen den beiden aufmerksam, als Isolde plötzlich „Bald ist ja wieder Montag“ sagte. Dabei schmunzelte sie seltsamerweise, fast schon als würde sie sich freuen, Zetsu wieder loszuwerden. Zumindest kam es mir so vor und ihm offenbar auch, sein Gesicht verfinsterte sich immerhin plötzlich. „Das ist richtig.“ „Freust du dich schon wieder darauf?“ Ich bedachte Isolde mit einem finsteren Blick, der allerdings keine Wirkung auf sie zu haben schien. Möglicherweise hatte er seine Wirkung verloren oder aber da war nie eine gewesen. Zetsu wandte demonstrativ das Gesicht ab. „Wie mans nimmt.“ Mit Sicherheit freute er sich auf sein Wiedersehen mit Nozomu, aber trotzdem zeigte sich kein bisschen Begeisterung in seiner Mimik. An seiner Stelle wäre es mir genauso gegangen, aber da ich inzwischen der Überzeugung war, dass er dort hingehörte, würde ich nicht mehr dafür sorgen, dass er nicht zurückgehen musste. Besonders nach der Begegnung mit seiner sympathischen Familie würde ich diesen nicht in den Rücken fallen. Sein Vater sorgte sich wirklich um ihn, was wäre ich für ein Mensch, wenn ich diese Sorge nähren statt sie entlasten würde? Für den Rest des Tages war Zetsu abweisend und wortkarg, am Abend zog er sich sogar in mein Zimmer zurück, wo ich ihn schließlich aufsuchte, um ihn zum Essen abzuholen. Ich hoffte, er wäre endlich wieder so unbeschwert wie zuvor, immerhin stand uns noch ein gemeinsamer Tag bevor. Zu meiner Überraschung saß er auf meinem Bett, eine Karte darauf ausgebreitet, die er... wo auch immer herhatte. Möglicherweise war sie irgendwo im Zimmer gewesen oder Isolde hatte- ach, was überlege ich da eigentlich? Die Karte, auf die er jedenfalls starrte, zeigte offenbar das Nahverkehrsnetz der Stadt. „Was tust du da?“, fragte ich neugierig. Er blickte nicht auf, als er mir antwortete: „Erinnerst du dich an die Bahnstation, von der ich dir erzählt habe?“ Als er das erwähnte, fiel mir wieder ein, dass er versprochen hatte, dass wir noch dorthin fahren würden. Wir hatten so viel Zeit mit Nichtstun und Reden verbracht, dass mir das vollkommen entfallen war. „Ich schaue gerade, wo sie ist und wie wir dorthin kommen.“ Interessiert setzte ich mich neben ihn aufs Bett und blickte ebenfalls auf die Karte. All die Namen und Stationen und verschiedene Farben der einzelnen Linien verwirrten mich im ersten Moment, es dauerte, bis ich ein wenig besser durchblicken konnte – allerdings half mir das nicht weiter, da ich nicht wusste, wie die nächste Haltestelle von hier aus gesehen überhaupt hieß. Glücklicherweise lenkte Zetsu mich ab, als er endlich die von ihm gesuchte Station gefunden hatte. Er deutete auf einen Punkt in der Nähe des Flusses, wo zumindest inzwischen nichts mehr zu sehen war. „Es war eindeutig hier.“ „Was macht dich so sicher?“ Ich konnte nichts sehen, meiner Meinung nach war das nur ein weiterer Punkt am Fluss von vielen. Er hätte auch genauso gut irgendwo anders hindeuten können, das wäre für mich auf dasselbe herausgekommen. Zetsus Finger wanderte zu einer anderen, noch existierenden, Station. „Hier sind wir immer ausgestiegen, diese Haltestelle gibt es noch.“ Bedächtig fuhr er die Bahnlinie nach, um den Weg zu uns zurückzuverfolgen. Ich folgte der Bahn seines Fingers und merkte mir dabei unbewusst die einzelnen Stationen auf dem Weg. Wenn ich hier weiterhin wohnen würde, wäre es immerhin angebracht, sich ein wenig auszukennen. Schließlich hielt er wieder inne. „Hier sind wir. Es ist gar nicht so weit weg, siehst du?“ „Und ihr seid immer so weit gefahren damals?“ Es waren immerhin zehn Stationen – und in meinen Augen war das schon ziemlich weit weg, aber immerhin musste man nicht umsteigen. „Mir kam das nie weit vor. Aber man denkt da auch nicht groß darüber nach, wenn man noch jung ist, nicht?“ „Möglich.“ Ich verdrängte die meisten meiner Kindheitserinnerungen, womöglich auch eine, die das beinhaltete. Oder ich wollte einfach nicht darüber nachdenken. Wieder lächelnd faltete er die Karte zusammen. Allerdings schaffte dieses Lächeln es nicht, mich zu beruhigen, im Gegenteil. Es war jenes, das ich noch allzugut aus dem Krankenhaus kannte, dieses falsche, aufgesetzte Lächeln, das mir nun den Schauer über den Rücken laufen ließ. „Wir sollten wirklich noch hinfahren“, sagte ich leise, um mich davon abzulenken und auch ihn – aber seine Mimik änderte sich kein bisschen. Er nickte dennoch. „Ja, das sollten wir machen.“ Es war eine Lüge und es erschreckte mich, dass ich ihn inzwischen gut genug kannte, um das zu bemerken. Dennoch widersprach ich nicht, ich hatte ihn immerhin erlebt, als Nozomu ihm widersprochen hatte – und sein Vater vertraute mir, dass ich auf ihn achtete. „Das Essen ist übrigens fertig. Kommst du?“ Mit einem Nicken erhob er sich und folgte mir in die Küche. Den Rest des Abends verhielt er sich so wie zuvor, doch mich konnte er nicht mehr täuschen und das zeigte ich ihm deutlich mit meinem Blick. Ich weiß nicht, ob er mich gut genug kannte, um das auch zu erkennen, aber ich tat, was ich konnte. Dennoch schlief ich in der Nacht wieder äußerst schlecht, was ausnahmsweise nicht an Isolde lag, an deren Schlafgewohnheiten ich mich bereits gewöhnt hatte. Immer wieder döste ich ein, nur um einen Moment später wieder aufzuwachen und dann erneut wegzudösen. Deswegen dachte ich mir nichts weiter dabei, als ich irgendwann, als der Morgen draußen bereits graute, das leise Geräusch eines Schlüssels hörte, gefolgt von einer Tür, die erst geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Da glaubte ich noch, dass ich mir das nur im Halbschlaf einbildete. Das geschah mir häufiger, wenn ich ein wenig weggetreten, aber durch irgendetwas wach geworden war. Im Krankenhaus hatte ich mir oft eingebildet, dass Narukana ins Zimmer hereinkam... gut, das war vielleicht mehr als nur Einbildung gewesen, aber mein Punkt bleibt bestehen, es kommt bei mir häufiger vor. Darum ignorierte ich es einfach. Kurz danach musste ich wirklich eingeschlafen sein, denn ich bekam nicht mit, wie Isolde aufstand und bereits in der Wohnung rumorte. Zumindest glaube ich, dass sie das tat, ich schlief immerhin – und das so lange, bis ich an der Schulter gerüttelt wurde. Ich war immer noch müde, weswegen ich nur leise murrte und versuchte, den Störfaktor mit einer halbherzigen Handbewegung zu verscheuchen. Doch sie ließ nicht locker und im nächsten Moment hörte ich bereits Isoldes Stimme. Das, was sie sagte, schaffte es schließlich schlagartig, mich wachzubekommen, ungeachtet meiner bisherigen Müdigkeit: „Leana, wach auf! Zetsu ist weg!“ Kapitel 35: Unter Wasser ------------------------ Es erschien mir wie eine Ewigkeit, dass ich zuletzt Bahn gefahren war. Noch immer ein wenig müde, aber unter Strom lehnte ich gegen eine der Stangen und wartete darauf, dass ich endlich an der ersehnten Station ankommen würde. Dabei schickte ich Stoßgebete an alle Gottheiten, die es gab – und ein paar, die ich gerade erst erfand – dass er wirklich dort war, wo ich ihn suchen wollte. Er musste einfach dort sein, es gab keine andere Möglichkeit! Und wenn er nicht dort war, würde ich ihn finden und ihm dafür eine reinhauen, dass ich ihn erst suchen musste. Was dachte er sich auch dabei, einfach zu verschwinden? Verdammt, was, wenn er sich wirklich etwas antun würde? Sicher, es dauerte wohl nicht mehr lange, bis er 18 wurde und selbst entscheiden durfte, was er tun wollte – aber er wusste genauso gut wie ich, dass er möglicherweise trotzdem keine Wahl haben würde. Wenn er die Therapie abbrach und das Krankenhaus verließ, wäre das ein Zeichen, dass er sich selbst aufgab und das würde alle enttäuschen, die ihn lieben. Also gab es keinen Ort, zu dem er zurückkehren könnte. Weder bei seiner Familie, noch bei uns, noch sonst irgendwo. In seinen Augen hatte er also nichts mehr zu verlieren. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht so negativ dachte wie ich. An der Station angekommen sprang ich schließlich aus der Bahn, kaum, dass sich die Türen geöffnet hatten und lief los. Glücklicherweise besaß ich ein recht gutes Gedächtnis, so dass ich ohne nachzudenken einfach von dem erhöhten Plateau der Haltestelle hinunterklettern und quer über die am frühen Morgen unbelebte Straße hasten konnte. Der Fluss glitzerte friedlich im Sonnenlicht, allerdings brachte das keinerlei Linderung meiner Panik mit sich. Leider. Ich wünschte, ich wäre nicht mehr so nervös und aufgewühlt gewesen, ich wünschte, in meinem Inneren hätten sich nicht dauernd die Bilder wiederholt, was sich Zetsu wohl inzwischen alles angetan haben mochte. Stattdessen versuchte ich, mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Offenbar kümmerte sich in der Gegend niemand sonderlich um diese, überall lag noch Bauschutt herum oder halbfertige Gebäude. Was auch immer passiert war... es war ein trauriger Anblick. Die gesuchte, verlassene U-Bahn-Station lag direkt neben dem Wasser, ich konnte mir bereits denken, warum sie aufgegeben worden war – und möglicherweise war das auch der Grund gewesen, warum alle anderen Bauarbeiten hier stillgelegt worden waren. Ich ging die halb verfallenen Stufen hinunter in eine verlassene Halle, in der noch alte, zerstörte Automaten herumstanden, genau wie ein verlassener Kiosk. Alles hier erschien mir wie ein perfekter Abenteuerspielplatz, kein Wunder, dass er früher gern hier gewesen war. Da ich ihn in der Halle nicht entdecken konnte, wollte ich die nächste Treppe hinuntergehen – allerdings musste ich schon nach wenigen Schritten wieder innehalten. Hier zeigte sich, dass mein Verdacht richtig gewesen war: Wasser war durch die Wand gebrochen und hatte die Station überflutet. Es war ein ziemlich interessanter Anblick, wie man ihn sonst nur aus diesen Endzeit-Filmen kannte, nachdem die halbe Menschheit bereits ausgelöscht worden war und der Protagonist sich nur noch mit einer handvoll Überlebenden durch zerstörte Städte schlug, um einen sicheren Ort zu finden. Eigentlich fehlten nur noch diese seltsamen Mutanten... Aus irgendeinem Grund fiel mir in dem Moment wieder Zetsu ein, den ich ja gerade suchte. Ich wandte meinen Blick nach links und erschrak für einen kurzen Moment, als ich dort eine Gestalt ausmachen konnte. Doch mein Puls normalisierte sich rasch wieder. Vorsichtig ging ich auf ihn zu. Zetsu blickte nicht einmal auf, auch nicht als ich mich neben ihn setzte. Aber ich konnte sehen, dass er ein wenig zu lächeln begann. Ich sagte nichts, aber er fühlte sich offenbar dazu berufen, es zu tun. „Du hast mich also gefunden. Gut gemacht.“ „Wir haben erst gestern darüber gesprochen. Natürlich habe ich es mir da gemerkt.“ „Ich hätte nicht erwartet, dass du mich suchen kommst.“ Seufzend schüttelte ich mit dem Kopf. „Du solltest langsam wissen, dass ich mir Sorgen um dich mache – auch wenn ich das ungern zugebe.“ Entgegen meiner Befürchtung, dass er nun genau wie bei seinem Gespräch mit Nozomu die Nerven verlieren würde, lachte er leise. „Ja und es scheint wohl tatsächlich zu stimmen. Danke, Leana.“ Mein Gesicht wurde rot, verlegen wandte ich den Blick ein wenig ab und sah lieber wieder aufs Wasser. Im klaren Nass konnte ich einen Fisch schwimmen sehen, der uns für einen Moment zu beäugen schien und dann zwischen den Säulen verschwand – nur um kurz darauf mit noch mehr von seiner Sorte zurückzukommen. Doch während ich darüber lächeln musste, trübte sich Zetsus Ausdruck. „Früher stand das hier nicht unter Wasser.“ „Die Zeit hat wohl ziemlich an diesem Ort genagt.“ Als die Station verlassen wurde, hatte man wohl bereits von der Gefahr gewusst, die von dem nahegelegenen Fluss ausging und Zetsu und Nanashi hatten immer nur Glück gehabt, dass bei ihren Besuchen nichts geschehen war. „Früher waren wir immer hier, bis wir von Arbeitern der angrenzenden Baustellen verjagt wurden. Jetzt könnten wir uns gar nicht mehr verstecken...“ Ich verzichtete, ihn darauf hinzuweisen, dass die Baustellen auch verwaist waren – glücklicherweise, denn im Nachhinhein fällt mir auf, dass sonntags eher selten gearbeitet wird, das wäre ziemlich... peinlich geworden. Als ich neulich mal wieder vorbeiging, wurde dort nämlich tatsächlich wieder gearbeitet, also war meine erste Einschätzung falsch gewesen. Aber immerhin war ich in Panik gewesen, da konnte man solche Fakten schon einmal ausblenden. „Das Wasser zerstört meine Vergangenheit...“ „Aber nicht deine Erinnerungen“, sagte ich überzeugt. Endlich wandte er den Blick vom Wasser ab und sah stattdessen mich an. Seine gerunzelte Stirn ließ mich fortfahren: „Deine Schwester wird nicht wiederkommen, egal wie sehr du dich an eure gemeinsame Zeit klammerst. Ich kann verstehen, dass du diese Zeit zurückhaben willst, aber das wird nicht funktionieren. Alles ändert sich einmal. Dieser Ort, ich und auch du – zumindest solltest du das.“ Ich schwieg einen Moment, in dem ich ihn das verarbeiten ließ, was ich eben gesagt hatte. Hinter seiner Stirn arbeitete es sichtlich angestrengt, ich wartete, bis er wieder ein wenig entspannter schaute, dann fuhr ich fort, ehe er etwas erwidern konnte: „Das heißt nicht, dass du sie vergessen sollst, nein, du sollst die Erinnerungen in dir behalten, aber dich dennoch weiterentwickeln. Du wirst dich verändern, so wie dieser Ort, aber du wirst dich immer noch an deine Schwester erinnern.“ Schweigend sah er mich an, als ich wieder verstummte. Da ich in seiner Mimik nichts mehr ablesen konnte, glaubte ich, dass er im nächsten Moment aufstehen und wieder abhauen würde. Ich wollte schon vorsichtshalber nach seinem Arm greifen, doch plötzlich begann er schallend zu lachen. Meine Sorge wandelte sich erst in Verwirrung und dann in Ärger. Mit meinem Wutausbruch wartete ich allerdings bis er sich wieder beruhigt hatte. Doch kaum war das geschehen, lächelte er so warmherzig, dass sämtlicher Ärger in meinem Inneren schmolz. „Du hast wohl zuviel mit Dr. Breen geredet, was?“ Fragend neigte ich den Kopf, worauf er mir erklärte, dass der Arzt ihm genau dasselbe erzählt hatte, damals als er noch tatsächlich mit dem Personal gesprochen hatte. Deswegen hatte er schließlich beschlossen, nichts mehr zu sagen, er wollte einfach nicht mehr solch einen Unsinn hören. „Dann hab ich dir diesen Vortrag jetzt umsonst gehalten?“, hakte ich unzufrieden nach. Er blickte wieder aufs Wasser. „Weißt du, es ist etwas anderes, wenn man das von jemandem hört, der auch depressiv und kein Arzt ist.“ „Ich bin nicht depressiv“, erwiderte ich brummend, doch er antwortete nicht darauf. Stattdessen sog er tief in die Luft ein – ich tat ihm das nach, bereute es allerdings sofort, als die abgestandene, leicht faulige Luft meine Atemwege erfüllte. „Jetzt sind wir tatsächlich doch noch gemeinsam hier gewesen“, sagte er. Ich merkte sofort, dass er das Thema mit seinen Erinnerungen und seiner Schwester nicht mehr anfassen wollte und da ich mich nicht wirklich wie eine Therapeutin fühlte, war ich auch ganz froh darum. Immerhin war er nun nicht mehr so abweisend wie zuvor und auch sein Lächeln war wieder das echte, das in meinem Körper ein aufgeregtes Kribbeln auslöste. „Weißt du, was hier noch fehlt?“ Romantische Beleuchtung, ein Orchester, ein Teller Spaghetti und...? Ich wurde augenblicklich rot, als ich weiter an diese Filmszene dachte, aber ihm schien das gar nicht aufzufallen. Und falls doch, so verstand er es blendend, das zu überspielen und er war nett genug, darüber hinwegzusehen. „Nein, was fehlt noch?“, fragte ich mit brüchiger Stimme. „Unterwasserbeleuchtung“, antwortete er mit funkelnden Augen. „Stell dir vor, wenn dieses Becken noch von innen heraus leuchten würde, das wäre doch der Wahnsinn.“ Ich lachte leise über seinen kindischen Enthusiasmus und auch darüber, dass wir zumindest einen ähnlichen Gedanken geteilt hatten. „Du würdest hier mit Sicherheit bestimmt auch noch schwimmen gehen.“ „Ein Tauchgang“, bestätigte er. „Das wäre doch mit Sicherheit aufregend.“ Das sah ihm so ähnlich, aber diese Stimmung gefiel mir wesentlich besser als die bedrückte vom Tag zuvor. „Wenn du gesund bist, gehen wir mal wirklich tauchen.“ Warum genau ich das sagte, wusste ich selbst nicht, aber allein die Vorstellung, dass wir beide gemeinsam möglicherweise einmal irgendwohin fahren würden, erfüllte mich mit einer ungeahnten Vorfreude, die ich noch nie zuvor verspürt hatte. Ich erwartete, dass er abwehren und mich wieder daran erinnern würde, dass er sterben würde, doch stattdessen sah er wieder mich an und nickte. „Ja, lass uns das machen.“ Ich sagte nichts mehr darauf, lächelte aber, damit er sah, dass ich es ernst meinte. Für einen ewig langen Moment sahen wir uns nur gegenseitig an, ich speicherte sämtliche Details seines Gesichts, insbesondere seiner Augen, in meinem Gedächtnis ab, damit ich das hier nie vergessen würde. In kitschigen Filmen und Serien küssten die Protagonisten sich in diesem Moment und sahen dann ihrem Happy End entgegen – doch wir dagegen blickten schließlich wieder gemeinsam auf das Wasser. Wir unterhielten uns nicht, sondern saßen nur schweigend nebeneinander und doch genoss ich diesen Moment fast mehr als jeden anderen zuvor – und ich hoffte, ihm war der Augenblick genauso wichtig wie mir. Kapitel 36: Die Vereinbarung ---------------------------- Isolde erwartete uns bereits an der Tür, das Telefon in der Hand, aber offenbar ohne Gesprächspartner am anderen Ende. Laut ihren eigenen Worten hatte sie kurz davor gestanden, erst im Krankenhaus und dann bei der Polizei anzurufen. Zetsu entschuldigte sich charmant, worauf Isolde sich wieder ein wenig versöhnlicher zeigte, aber ich merkte noch den Rest des Tages, dass sie äußerst angefressen von seinem Verhalten war. Ich konnte es vollauf nachvollziehen. Nichtsdestotrotz saß ich in der Nacht dann gemeinsam mit Zetsu auf meinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Ich wollte sichergehen, dass er nicht wieder heimlich verschwand, ihm zeigen, dass ich ihm beistand – und außerdem wollte ich noch so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen, ehe ich ihn wieder im Krankenhaus abliefern musste. Leise lachend unterhielten wir uns über Dinge, die wir an diesem Tag gesehen und erlebt hatten. Mich ließ allerdings das Gefühl nicht los, dass wir beide nur versuchten, ein bestimmtes Thema auszublenden und nicht anzutasten – und damit meinte ich nicht das Krankenhaus. Plötzlich schmunzelte Zetsu und ich wusste genau, woran er wieder dachte. „Es ist nicht mehr lange, bis ich achtzehn werde...“ „Was hast du vor, wenn du es bist?“ Ich hoffte immer noch, dass er es sich inzwischen anders überlegt hatte, doch wie so oft wurde ich enttäuscht: „Ich werde das Krankenhaus verlassen – und irgendetwas Aufregendes machen. Tauchen gehen, zum Beispiel.“ Er zwinkerte mir zu, wurde jedoch sofort enttäuscht, da ich nicht darauf einging, sondern ihn nur ernst ansah. „Was ist los?“ „Zetsu, ich mache mir Sorgen um dich“, erwiderte ich wahrheitsgemäß und bemerkte dabei, dass ich mich wie eine Mutter anhörte – oder wie Nozomu in der Nacht auf dem Balkon; wir waren uns wohl doch ähnlicher als ich dachte. „Warum tut ihr das?“, fragte er, mit einer Verständnislosigkeit, die mir das Herz brechen wollte. „Jeder stirbt einmal.“ Das sagte ja genau der Richtige. Allerdings sagte ich ihm das nicht, was hätte das auch an dieser Situation, diesem Moment der Anspannung, geändert? „Gerade du solltest doch wissen, dass es nicht so leicht ist für die Leute, die du zurücklässt“, kam es stattdessen von mir. „Wir würden dich alle vermissen und um dich trauern.“ „Du klingst wie Nozomu.“ Autsch! Es klang noch viel verletzender, wenn Zetsu das sagte als wenn ich das dachte. Aber ich konnte ihm nicht lange böse sein, denn schon im nächsten Augenblick lächelte er. „Aber bei dir klingt es irgendwie... viel besser.“ Ich glaubte bereits, mich am Ziel – ihn dazu zu bringen, in Behandlung zu bleiben – als er fortfuhr: „Trotzdem werde ich gehen, wenn ich achtzehn bin.“ Ich wollte ihn an den Schultern packen und so lange schütteln, bis seine Gehirnzellen endlich beschlossen, wieder vernünftig zu werden. Nach allem, was er mir erzählt hatte, war seine Krankheit durchaus heilbar, er müsste nur diese verdammte Therapie durchziehen. „Ich werde nie wieder mit dir reden, wenn du das tust“, brummte ich. Sein Lächeln erlosch, als er den Kopf neigte. „Du bist eine ziemliche Heuchlerin, weißt du das?“ Die Worte brauchten einen Moment, ehe sie mein Gehirn erreichten, wo ich sie verarbeiten konnte. Doch kaum war das geschehen, schnaubte ich wütend. „Wie kommst du denn darauf?“ „Du bist abgehauen, als du die erste Gelegenheit hattest und hast deine Therapie abgebrochen, obwohl du krank bist. Mir sagst du aber, ich soll das nicht tun.“ Ich wollte ihn darauf hinweisen, dass meine Krankheit nicht tödlich verlaufen würde – sofern ich nicht nachhalf – und es mir weit weg von meinen Eltern schon besser ging und er außerdem gar nicht wissen konnte, ob ich nicht bereits eine ambulante Therapie geplant hatte. Aber stattdessen sah ich ihn nur schweigend an, weil ich zugeben musste, dass er recht hatte. „Aber ich bin nicht krank.“ Meine Erwiderung sorgte dafür, dass er mir den Kopf tätschelte – etwas, was ich abgrundtief hasste, doch ich sagte nichts dagegen, sondern ließ ihn einfach machen. Erst als er wieder aufhörte, sagte ich erneut etwas: „Okay, vielleicht hast du recht und ich bin krank. Aber mir geht es bereits ohne meine Eltern viel besser. Ich muss nicht unbedingt eine Therapie machen.“ „Vielleicht wird es mir ohne Therapie auch besser gehen.“ So wie ich ihn bislang kennen gelernt hatte, zweifelte ich daran, aber ich wollte nicht einfach aufgeben. „Gibt es denn absolut nichts, was dich davon überzeugen kann, wieder ins Krankenhaus zu gehen und auch dort zu bleiben, bis du wieder einigermaßen gesund bist?“ Immerhin dachte er offensichtlich darüber nach, nachdenklich runzelte er seine Stirn und blickte zur Decke. Ich hoffte, er würde sich nicht irgendwas total Bescheuertes einfallen lassen, wie zum Beispiel... äh, bei seinen abgefahrenen Gedankengängen fiel mir einfach nichts ein, was ihm in den Sinn kommen könnte. Außer vielleicht, dass er etwas von mir erwartete, wie zum Beispiel einen Kuss oder... argh, warum fiel mir so etwas ein? So etwas würde er bestimmt nie sagen, immerhin war das eine von meinen seltsamen Fantasien. Aber es ist ja auch meine Gedankenwelt und nicht seine... die wäre aber mit Sicherheit auch einmal interessant gewesen. Irgendwann, so nahm ich mir da vor, würde ich ihn einmal danach fragen, sobald ein wenig Zeit vergangen war natürlich. Da würde er mit Sicherheit auch die Wahrheit sagen – in jenem Moment wäre wohl nur irgendwas dabei herausgekommen, was er lustig fand. „Ah, ich weiß was.“ Gespannt sah ich ihn an, er lächelte wieder, doch konnte ich einen Hintergedanken spüren. Das flaue Gefühl in meinem Magen bestätigte mir das auch noch einmal. „Ich will, dass du auch wieder ins Krankenhaus gehst, gemeinsam mit mir.“ Ich musste mich verhört haben. „Was?“ Doch er wiederholte genau das, was ich wirklich gehört hatte. „Du sagst, du machst dir Sorgen um mich“, erklärte er. „Und ich sorge mich um dich. Auch wenn du keine körperliche Krankheit hast, solltest du deine Depressionen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich bin schon eine Weile im Krankenhaus, da kommt man mit einigen Depressiven in Kontakt – und der ein oder andere wurde davon regelrecht zerstört. Das soll mit dir nicht passieren.“ Ich stand nah davor, ihn aus Dankbarkeit für diese Worte zu umarmen, riss mich aber wie üblich zusammen. „Zetsu...“ Wieder lächelte er mir zu. „Also, wenn du mitkommst und bleibst, werde ich auch bleiben.“ So kindisch eine solche Vereinbarung mir auch schien, es würde doch uns beiden helfen, nicht? Und so schlimm war der Aufenthalt dort immerhin auch nicht gewesen, wenn man von Narukana und der Langeweile absah. Solange man mich nicht operieren und ich bei dieser Verrückten vorsichtig sein würde, könnte ich es dort bestimmt auch aushalten. Außerdem musste ich an Zetsu denken, der unbedingt eine stationäre Behandlung brauchte, ehe er möglicherweise wirklich noch sterben würde. „Also gut, dann machen wir es so.“ „Hand drauf.“ Ich schüttelte seine Hand, um diese Abmachung zu besiegeln – für einen kurzen Moment hatte ich erneut das Gefühl, dass wir uns eigentlich küssen müssten, doch noch ehe ich dem lange nachhängen konnte, löste er seine Hand wieder aus meiner und begann über etwas anderes zu sprechen. Heute weiß ich nicht mehr, worüber wir in jener Nacht noch gesprochen haben oder wie lange wir so nebeneinander saßen. Irgendwann hatte die Müdigkeit mich schließlich besiegt, mein Oberkörper war dem von Zetsu immer näher gekommen, bis ich schließlich meinen Kopf auf seine Schulter gelegt hatte, so erschöpft, dass ich kaum noch meine Augen offen halten konnte und diese schließlich tatsächlich schloss. Bevor ich einschlief, spürte ich, wie Arme sich um meine Schultern legten. Diese lösten ein wunderbar warmes Gefühl in meinem Inneren aus, das mich schließlich sanft mit einem Lächeln einschlafen ließ. Kapitel 37: Vor den Türen ------------------------- Isolde hinter dem Steuer war immer noch ein ungewöhnlicher Anblick, auch wenn sie mich vor etwas mehr als einer Woche bereits mit dem Auto vom Krankenhaus abgeholt hatte. An diesem Morgen dagegen brachte sie Zetsu und mich wieder dorthin zurück. Er ohne jede Tasche, ich dagegen erneut mit meinem Koffer. Sonderlich begeistert schien Isolde nicht gewesen zu sein, als ich ihr erzählte, dass ich wieder zurückgehen würde, aber ich hatte so ein wenig das Gefühl, dass es bereits von ihr erwartet worden war. Wahrscheinlich fand sie es ebenso schwer, sich von Zetsu zu trennen wie ich – zumindest kam es mir so vor, als wir schließlich, am Krankenhaus angekommen, ausgestiegen waren und uns von ihr verabschiedeten. „Und du bist ganz sicher, Leana?“ Ich nickte zum unzähligsten Male. „Absolut.“ Immerhin war es für Zetsu und möglicherweise hatte er recht und es war besser, wenn ich zuließ, dass sich jemand um meine Depressionen kümmerte. Was konnte es schon schaden? Immerhin würde ich auf diese Weise weiterhin bei Zetsu bleiben können. Und dann war da noch Baila... ja, zumindest für den Moment gehörte ich eindeutig hierher. „In Ordnung. Ich werde euch ab und zu besuchen kommen.“ Während ich meine Tasche aus dem Auto nahm, konnte ich aus dem Augenwinkel beobachten, wie Isolde ihren Arm um Zetsus Schulter legte und ihm etwas zuflüsterte. Für den Augenblick ignorierte ich das und verabschiedete mich von meiner Schwester. Dieses Mal sah ich ihr mit einem wesentlich besseren Gefühl hinterher als damals, als sie aus dem Haus unserer Eltern gestürmt und nie zurückgekehrt war. Dieses Mal würde sie wiederkommen, denn sie hatte nun für mich eine Heimat erschaffen. Galanterweise nahm Zetsu mir eine meiner Taschen ab, während wir auf das Krankenhaus zugingen. Wir hatten den ganzen Morgen kein Wort miteinander gewechselt, nicht einmal, als ich, immer noch gegen seine Schulter gelehnt, aufgewacht war. Stattdessen hatte ich mich verlegen von ihm gelöst und angefangen, meine Sachen zu packen. Seine neutrale Miene verriet mir nicht, was er fühlte oder was durch seinen Kopf ging. Ich befürchtete schon, dass er wütend wegen meiner Reaktion am Morgen wäre, traute mich aber auch nicht zu fragen. Vor der Tür ins Krankenhaus blieb er stehen. Missmutig blickte er durch das Glas, entdeckte jenseits davon die Treppe und mit ihr kamen möglicherweise auch finstere Erinnerungen zurück, die er schon vergessen geglaubt hatte. „Alles okay?“ Er wandte mir seinen Blick zu und nickte. „Natürlich.“ Gerade, als ich glaubte, er wäre tatsächlich sauer, lächelte er wieder. „Ich bin ja nicht allein hier.“ Bevor ich ebenfalls lächeln konnte, hob er meine Tasche ein wenig. „Ohne das wirst du ja bestimmt nicht von hier abhauen, oder?“ „Ich hasse dich“, erwiderte ich gespielt beleidigt. „Was kann ich tun, damit du mich wieder magst?“ Ich ergriff die Gelegenheit sofort und ohne lange darüber nachzudenken: „Sag mir, was Isolde dir eben zugeflüstert hat.“ „Ah, das hast du gesehen?“ Bei dem amüsierten Tonfall seiner Stimme musste ich spontan an die Manga denken, auf die meine Mitschüler damals so abgefahren waren und in die ich zwangsweise ab und an reingelesen hatte, wenn mir wieder einer in die Hand gedrückt worden war. Jedenfalls stellte ich mir vor, dass es dieser Tonfall war, bei dem Musiknoten neben dem Sprechenden abgebildet waren, um zu verdeutlichen, was für eine hübsche Stimme die Person doch besaß. Das brauchte Zetsu auf jeden Fall auch. Und Musiknoten gingen ja noch – er durfte nur nicht anfangen zu funkeln. „Ja, habe ich. Also?“ Ich hoffte, dass mein Tonfall und mein strenger Blick, genug waren, um ihn darauf zu bringen, dass er mir gegenüber besser nicht schweigen sollte. „Es interessiert dich wirklich, was?“ Oh ja und wie! Das zeigte ich ihm auch überdeutlich – noch deutlicher ging es schon gar nicht mehr. Mit einem tiefen, theatralischen Seufzen stellte er meine Tasche wieder ab. „Gut, ich sag es dir.“ Ich lächelte erwartungsvoll und äußerst zufrieden mit mir selbst, hatte ich es doch gerade geschafft, Zetsu Akatsuki endlich einmal dazu zu bringen, etwas zu tun. Als er allerdings seine Hände auf meine Schultern legte, war ich eher perplex. „Vielleicht zeige ich es dir aber auch besser.“ Noch ehe ich ihn fragen konnte, was er mir zeigen wollte, spürte ich etwas auf meinen Lippen – und stellte erst nach einem kurzen Schreckmoment fest, dass es die Lippen von Zetsu waren, die meine verschlossen. Darauf folgte ein weiterer Moment des Schreckens, denn immerhin war das mein erster Kuss und er entsprach nicht im Mindesten den üblichen Klischees. Wir hatten uns davor nicht stundenlang angestarrt, unsere Gesichter waren sich nicht zentimeterweise nähergekommen und vor allem hatten wir noch nicht einmal ein Rendezvous! All die Hollywood-Filme hatten also eine vollkommen falsche Erwartung in meinem Inneren aufgebaut – das gefiel mir wiederum äußerst gut. Ich war ohnehin nicht der kitschige Typ und mir war im Kino bei diesen Filmen immer schlecht geworden. Ich glaube, das war der beste erste Kuss, den jemand wie ich hätte bekommen können. Aber warum dachte ich so etwas überhaupt in diesem Moment? Ich tat es Zetsu nach und schloss die Augen, um das Kribbeln, das in meinem Inneren ausgelöst wurde, zu genießen. Es waren nicht mehr nur Schmetterlinge, die da in meinem Bauch kreisten, das waren schon regelrecht Flugzeuge oder Raumschiffe. Schauer liefen gleichzeitig über meinen Rücken, doch sie waren nicht kalt, sie waren angenehm als ob ich an einem Sommertag im willkommenen Regen stehen würde. Ich konnte trotzdem nicht anders und musste mich in diesem Augenblick fragen, ob das auch für Zetsu sein erster Kuss war, so wie Satsuki es mir damals erzählt hatte – ich war überrascht, dass ich mich noch daran erinnerte. Und auch, dass ich überhaupt noch denken konnte. Nach all den Büchern und Geschichten, hatte ich immer angenommen, dass in solchen Momenten das Gehirn aussetzte und sich nur noch auf lebenserhaltende Maßnahmen konzentrierte. Stattdessen jagten mir aber Dutzende von Gedanken durch den Kopf, an vorderster Front natürlich jener, dass seine Lippen überraschend weich waren – und wie sehr ich doch in ihn verliebt war. Meine geplante Strategie, das auszusitzen, war soeben geplatzt und hatte sich in Luft aufgelöst. Aber ich bereute es nicht im Mindesten, nicht bei Zetsu. Erst als er sich wieder von mir löste, beruhigten sich meine Gedanken, so dass ich sie wieder einzeln erfassen und mich länger mit ihnen befassen konnte. Doch statt das zu tun, blickte ich ihn nur sprachlos an, sein sanftes Lächeln und das zufriedene Glitzern in seinen Augen musternd. Wenn das hier nur ein Scherz gewesen wäre, hätte ich das in seinem Gesicht sehen können – doch das, was ich ablesen konnte, verriet mir, dass der Kuss sein voller Ernst gewesen war. Wieder fuhr mir ein Schauer über den Rücken, als mir der Gedanke kam, dass ich diese besondere Person war, von der Satsuki damals gesprochen hatte, die auf die Zetsu wartete. Super, da wurden meine eigenen Gedanken schon kitschig. Liebe tat wohl nicht sonderlich gut. „Zufrieden?“, fragte er. „Hat... Isolde dir das wirklich gesagt?“, erwiderte ich mit einer Gegenfrage. Er ließ meine Schultern wieder los. „So in etwa. Ihre genauen Worte waren, dass ich die Initiative ergreifen muss, weil du niemals den ersten Schritt machen würdest.“ Gut, da musste ich Isolde recht geben. Immerhin hatte ich das alles ja aussitzen wollen, statt nachzugeben. Hätte ich vorher gewusst, was das für ein erhebendes Gefühl war, hätte ich allerdings früher selbst den ersten Schritt gewagt – auch wenn mir inzwischen natürlich klar ist, dass ihn das eher verscheucht hätte. Meine Ablehnung war Nahrung für seinen Ehrgeiz gewesen und das hier nun die längst fällige Belohnung. Zumindest erklärte er es kurz darauf in diesen Worten. „Belohnung?“ „Wie in einem Videospiel“, fügte er lächelnd hinzu. „Nicht, dass ich dich als Spiel sehen würde. Aber du weißt, was ich meine.“ Tatsächlich war es mir inzwischen klar, weswegen ich zustimmend nickte. „Ja, ich weiß es.“ Er legte die Arme um meine Schultern und drückte mich an sich. Ein wenig ungelenk erwiderte ich diese Umarmung. Ich war bislang nicht sonderlich oft umarmt worden und schon gar nicht von jemandem, der nicht zu meiner Familie gehörte. Seine Umarmung, als er mich aus dem Keller befreit hatte, zählte ich großzügigerweise einmal dazu. Doch dieses Mal war es immerhin nicht, um mich zu trösten, sondern als Ausdruck seiner Zuneigung und ich war dazu nicht noch immer in Panik, sondern... glücklich. Ein Zustand, den ich an Zetsus Seite überraschend oft erlebte. Möglicherweise gehörten wir zusammen, wie es in all diesen Filmen immer auf kitschigste Art und Weise präsentiert wurde – erstmals kam es mir so vor als könnte da wirklich etwas dran sein. Ich bedauerte fast, dass er mich wieder losließ. „Dann lass uns mal reingehen. Bestimmt wartet man schon auf mich.“ Kein Ich liebe dich, kein Willst du mich heiraten. Die Situation war einfach perfekt, er war perfekt. Was konnte ich mir mehr wünschen? Außer vielleicht einer Erklärung, warum er sich ausgerechnet in mich verliebt hatte. Allerdings war so etwas wohl nicht mit Rationalität zu erklären, genau wie Isolde früher immer gesagt hatte. Also musste ich ihn erst gar nicht fragen, zumindest nicht im Moment. Er nahm meine Tasche wieder in eine Hand und reichte mir dann seine andere. Lächelnd ergriff ich diese. Als wir schließlich gemeinsam durch die Tür schritten, kam es mir tatsächlich so vor als würden wir gerade in ein neues Leben treten – auch wenn wir das Krankenhaus betraten, statt es zu verlassen, wie es für meinen Gedankengang eigentlich angebrachter wäre. Kapitel 38: Wieder zurück ------------------------- Die Station lag ruhig und verlassen da, als wir sie betraten. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, stellte ich fest, dass gerade irgendeine Therapie stattfinden musste, so dass wir zumindest vorerst unsere Ruhe vor den anderen haben würden – doch schon im nächsten Moment wünschte ich mir, die anderen wären doch hier. Jatzietas Lachen hallte durch den Gang, eines der Dinge, das ich jedenfalls nicht vermisst hatte, kein bisschen. Dennoch blieb uns nichts anderes übrig als sie nun aufzusuchen. Immerhin war sie aber nicht allein, Dr. Breen war ebenfalls da. Er sah uns lächelnd und nicht im Mindesten überrascht entgegen, als wir in der Tür standen. „Willkommen zurück.“ Jatzieta dagegen wirkte doch ein wenig verwirrt. „Zetsu, Schatz, ich hatte schon gedacht, du würdest heute nicht mehr kommen. Weißt du, wie erschrocken wir waren, als du plötzlich einfach verschwunden bist?“ Er entschuldigte sich sofort, ohne es auch wirklich so zu meinen, doch der Krankenschwester schien das gar nicht weiter aufzufallen. Stattdessen wandte sich ihr Blick mir zu. „Und was führt dich her, Liebes? Wolltest du sichergehen, dass er auch wieder zurückkommt?“ Ich schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Ich wollte meine Therapie fortsetzen.“ Dr. Breen blickte lächelnd zu Jatzieta. „Scheint, du schuldest mir Geld, Jatzi.“ Wenn man sich diesen Spitznamen so anhörte, klang es als würde er sie Schatzi nennen – ich hoffte, das war nur meine Einbildung. Jatzieta seufzte enttäuscht. „Oww, das tut weh.“ „Wieso schuldet er dir was?“, fragte Zetsu in einem vertrauten Ton, der mir wieder einmal zeigte, wie lang er bereits in diesem Krankenhaus war. „Wir haben gewettet, ob Leana wiederkommt oder nicht. Ich habe Nein gesagt, aber Ciar und Salles meinten, du würdest – deswegen bist du noch im System und dein Bett ist auch noch bereit für dich.“ Nun fiel mir wieder ein, warum ich eigentlich gegangen war. Aber ein Seitenblick von mir zu Zetsu, erinnerte mich auch wieder daran, warum ich zurückgekommen war. „Also bin ich noch mit Baila im Zimmer?“ Jatzieta nickte zustimmend. „Die Kleine freut sich bestimmt, wenn du wieder da bist. Sie hat letzte Woche lauter Bilder von dir gemalt.“ Baila war wirklich unheimlich süß, das musste ich schon sagen. Ich hoffte auch, dass sie sich wirklich freuen und nicht nachtragend sein würde. Da ich keinerlei Unterlagen ausfüllen musste, konnte ich mich direkt wieder in meinem Zimmer einrichten, während Zetsu ein lang angekündigtes Bad nahm und die Kleidung wechselte. Als spontaner Ausreißer hatte er natürlich kein Gepäck dabeigehabt. Ein Freund von Isolde hatte uns glücklicherweise zumindest ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln geliehen, aber für heute hatte er wieder das angezogen, was er schon auf seiner Flucht und auch größtenteils am Vortag getragen hatte. Ich war gerade noch mit dem Auspacken beschäftigt, als die Tür aufging. Da ich mit Jatzieta oder Satsuki rechnete, drehte ich mich erst um, als ich ein leises Geräusch hörte. Tatsächlich war es Baila, die da vor mir stand. Es erschien mir wie eine Ewigkeit, dass wir uns zuletzt gesehen hatten, dabei war nur etwas mehr als eine Woche vergangen – und glücklicherweise konnte ich sehen, dass sie sich genauso sehr freute mich zu sehen, wie ich sie, sich aber nicht traute, etwas zu machen. Um ihr das abzunehmen, stand ich auf und breitete die Arme aus, worauf sie sich vergnügt hineinstürzte und mich umarmte. Lächelnd strich ich ihr durch das Haar und über den Rücken. „Na, hast du mich vermisst?“ Sie nickte bestätigend. „Ich habe dich auch vermisst.“ Lächelnd ließ sie mich wieder los und nahm meine Hand, um mich nach draußen zu ziehen. Im Gruppenraum wurde ich Zeugin davon, wie Zetsu gerade von den anderen begrüßt wurde. Ich konnte auf den ersten Blick sehen, dass niemand Neues dazugekommen war, alles war wie zuvor – und seltsamerweise freute ich mich sogar darüber, sie alle zu sehen. Außer Narukana, die ein wenig abseits stand, auf die hätte ich gut und gern verzichten können. Aber nun gut, ein Opfer musste man immer bringen, nicht wahr? Baila zog mich in den Raum, so dass die Aufmerksamkeit der anderen auf mich gelenkt wurde. Nozomu und Sorluska musterten mich fassungslos, während Thalia und Subaru sich zu freuen schienen – und Narukana genervt schnaubte. „Was machst du wieder hier?“, fragte Nozomu. „Ich dachte, wir wären dich los.“ Sein erleichterter Tonfall entsprach nicht im Mindesten seinen gemeinen Worten, möglicherweise hatte er mich auch vermisst. Nicht, dass ich sagen wollte, dass er mir gefehlt hatte... okay, vielleicht ein bisschen. Jetzt erwartete er aber eine gute Erwiderung... oh Mann. „Mir hat euer gutes Essen gefehlt – und die niveauvollen Unterhaltungen.“ Ich schmunzelte, was er mir sofort nachmachte. Wahrscheinlich aber nur, weil meine Erwiderung alles andere als gut gewesen war. „Warum seid ihr zusammen zurückgekommen?“, fragte Sorluska. Verdammt, woher wusste er das!? Thalia schnaubte. „Wusstest du nicht, dass Zetsu die letzten Tage bei ihr war?“ „Ist das wahr?“, fragte Subaru überrascht. Am Liebsten wäre ich im Boden versunken. Woher wusste Thalia denn davon, wenn es den anderen offensichtlich nicht bekannt war? „Satsuki hat es mir erzählt“, bestätigte Thalia und beantwortete damit meine unausgesprochene Frage. „Und sie hat es von Jatzieta, die es wiederum von Dr. Breen hat.“ Bei allem Ärger musste ich zugeben, dass das Gerüchtenetzwerk hier einwandfrei zu funktionieren schien, jedenfalls bei dem weiblichen Teil der Anwesenden. Die Jungen wussten offenbar nichts davon, weswegen Nozomu seinen besten Freund schockiert wie noch nie zuvor ansah. „Du warst die ganze Zeit über bei Leana?“ „Und ihrer Schwester?“, fügte Sorluska hinzu. Offenbar hatte Isolde einen starken Eindruck auf ihn hinterlassen, so wie eigentlich auf jeden, dem sie jemals begegnet war. Zetsu nickte lachend. „Das ist richtig. Und es war sehr interessant. Wir haben viel fern gesehen, viel gegessen und viel gelacht.“ Und wir haben seinen Vater getroffen und seine Tante und dann ist er noch einmal weggelaufen. Aber gut, wir wollten ja keinen Wochenendbericht abliefern. „Läuft da jetzt was zwischen euch?“, fragte Sorluska. Warum nur konnte sich nicht die Erde auftun und mich verschlingen? Ich war sogar zu perplex, um zu widersprechen oder mich empört über diese Frage zu äußern. Stattdessen spürte ich, wie mir die Röte den Nacken hinaufkroch und drohte, mich zu überführen, während mein Hals staubtrocken war. Zum Glück übernahm Zetsu die Antwort mit einem sanften Lächeln: „Nein, natürlich nicht.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, der mir sagen sollte, dass ich besser still war. Es war keine stille Drohung, eher eine Bitte. So ganz verstand ich diese Entscheidung zwar nicht, aber ich würde ihn einfach bei Gelegenheit fragen, was das sollte. „Ich dachte schon“, kam es erleichtert von Nozomu, während Thalia eher enttäuscht wirkte. Baila drückte auch meine Hand und lächelte mir zu, was offenbar als Aufmunterung gedacht war. War es für sie so offensichtlich, was ich empfand? Seltsamerweise fühlte ich mich aber von Zetsus Worten nicht verletzt, sondern eher erleichtert. Ich wusste ja noch nicht einmal, ob wir eine Beziehung hatten, darüber hatten wir nach dem Kuss immerhin nicht gesprochen. Aber selbst wenn, diese Beziehung war etwas, das ich unter allen Umständen nicht mit einem der anderen teilen wollte. Das hier gehörte nur uns beiden, ihm und mir und niemandem sonst. Vielleicht dachte er ja dasselbe oder er wusste, dass ich diese Bedenken hegte. Ich lächelte unwillkürlich, während er bereits wieder mit den anderen zu reden begann. Ich hörte nicht einmal zu, worüber sie sprachen, sondern sah ihn wieder nur an. Genauso hingerissen und begeistert von seinem Wesen wie schon ganz zu Beginn unseres Kennenlernens. Doch es war nun ein vollkommen anderes Gefühl als damals. Ich war immer noch fasziniert, aber inzwischen erfüllte mich etwas dabei, das weit abseits von all dem lag, was ich einst bei diesem Anblick verspürte. Und auch, wenn ich es noch nie zuvor gefühlt hatte, wusste ich einfach, dass es Liebe war. Etwas derart starkes und intensives, das mich am Liebsten immer vor Freude seufzen lassen würde, musste einfach dieses sagenumwobene Gefühl sein, über das so viele Bücher geschrieben, Lieder gesungen und Filme gedreht wurden – und ich verstand vollkommen, warum das so war. Kapitel 39: Alles auf Anfang? ----------------------------- Schon früher war es recht schwer für mich gewesen, die Station mit Zetsu zu teilen – aber nun da wir seit einer Woche ein heimliches Paar waren, schien es mir regelrecht unmöglich. Mir fehlten unsere ungestörten Momente zu Zweit, unsere absolut sinnlosen Gespräche und die Tatsache, dass ich mich nicht dauernd beobachtet fühlte. Zu Hause hatte ich alles getan, wonach mir war, selbst Zetsu entzückt zu beobachten – aber auf dieser Station achtete ich ständig darauf, was ich tat, damit niemand auf den falschen (oder eher richtigen) Gedanken kommen könnte. Worauf ich aber immer noch keine Antwort hatte, war die Frage, weswegen Zetsu nicht gewollt hatte, dass ich den anderen etwas verriet. Aber es dauerte, bis ich allein mit ihm sprechen konnte. Mir war vorher nie aufgefallen, wie sehr Nozomu geradezu an Zetsu klebte, es schien mir fast als wären die beiden siamesische Zwillinge. Obwohl nein, ich würde Nozomu lieber mit einem Hund vergleichen, einem, der seinem Herrchen auf Schritt und Tritt verfolgt. Das passte um einiges besser. Wobei mir da auffiel, dass ich auch Zetsu bereits mit einem Hund verglichen hatte... vielleicht tauschten sie ja manchmal die Rollen, damit es nicht zu eintönig wurde? Aber was auch immer, jedenfalls dauerte es drei Tage, bis ich Zetsu dann tatsächlich einmal allein erwischte – und das auch nur, weil er gerade telefonierte. Die Beine lässig über eine der Lehnen geschwungen, lümmelte er auf dem Sessel unterhalb des an der Wand befestigten Telefons. Er lächelte gezwungen, während er der Stimme am anderen Ende lauschte. Ich hätte zu gern gewusst, mit wem er telefonierte, während ich ihn von meinem Platz schräg gegenüber beobachtete und er mich nicht einmal zu bemerken oder zu beachten schien. Mir schienen Stunden zu vergehen, in denen er einfach so dasaß, hin und wieder nickte als ob sein Gesprächspartner das sehen könnte, dabei ein zustimmendes Geräusch von sich gab und in Wahrheit immer mal wieder mit den Augen rollte. Selbst bei diesem Anblick konnte ich nicht anders als vollkommen entzückt und hingerissen von ihm zu sein. Egal, was er tat, alles war von einem unsichtbaren Zauber umgeben. Leider rannen die Sekunden dahin, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ich fürchtete schon, dass einer der anderen auftauchen würde – die waren glücklicherweise alle draußen, um das schöne Wetter zu genießen, sogar Narukana – und meine Chance mir so aus den Fingern gleiten würde. Doch gerade als ich schon nicht mehr daran glaubte, schwang Zetsu die Beine von der Lehne und setzte sich aufrecht hin, was mir unwillkürlich das Gefühl gab, dass er das Gespräch nun beenden würde, was offenbar auch stimmte, als ich seine nächsten Worte hörte: „Tut mir ja Leid, dass ich dich jetzt abwürge, aber einer der anderen will auch mal telefonieren. Ja, genau, die ist auch hier. Ja, ich werde hier einen Gruß sagen. Ja, natürlich freue ich mich auf euren Besuch. Bis dann.“ Zwischen jedem einzelnen Satz machte er eine lange Pause, offenbar war die andere Person äußerst gesprächig und er traute sich nicht, sie zu unterbrechen. Mit einem erleichterten Seufzen legte er schließlich den Hörer auf, ehe er sich wieder in den Sessel sinken ließ. „Ich hab das Gefühl, meine Tante hört sich gern selbst reden.“ Wenn es dieselbe Frau war wie jene im Supermarkt, die dort mit sich selbst gesprochen hatte, dann würde ich ihm da unumwunden zustimmen. Seltsamerweise wusste ich in dem Moment gar nicht, ob er nicht vielleicht doch noch andere Tanten hatte. „Ich soll dir viele Grüße von ihr sagen.“ Zumindest die am Telefon war also dieselbe wie im Supermarkt gewesen, doch die nächsten Worte ließen meine Ohren heiß werden: „Sie sagt, du bist süß.“ „Lass den Unsinn!“, erwiderte ich knurrend, doch er beharrte darauf, dass es genau ihre Worte waren. „Wie auch immer“, lenkte er selbst ein, ehe ich noch etwas erwidern konnte. „Am Wochenende kommt meine ganze Familie vorbei, dann kannst du auch meine Mutter und meinen Onkel kennenlernen.“ Sofort liefen mir unangenehme Schauer über den Rücken, mein Innerstes zog sich zusammen. Mich überkam das Gefühl, dass alles viel zu schnell ablief. Hatte das nicht einen Hauch von Begegnung mit den Schwiegereltern? ... Super, wir waren ein paar Tage zusammen und schon dachte ich von seiner Familie als zukünftige Schwiegereltern. Was war nur aus mir geworden? Ich musste äußerst blass ausgesehen haben, denn plötzlich lächelte er zuversichtlich. „Nur keine Sorge, die beiden werden dich nicht auffressen.“ Was für ein bescheuerter Satz! Als ob irgendjemand jemals befürchtet hätte, von einem anderen aufgefressen zu werden – selbst die Opfer von Hannibal Lector rechneten mit Sicherheit nie mit so etwas... gut, das waren ohnehin nur Filmcharaktere, die rechneten aus Prinzip nie mit etwas. Aber den Gedanken nun weiter auszuführen, würde nur zu einer ellenlangen Liste über Horrorfilmklischees führen, deswegen wandte ich meinen Gedanken wieder etwas anderem zu. „Ich mache mir keine Gedanken deswegen“, erwiderte ich. „Ich lasse es einfach auf mich zukommen. Mich kümmert eher was anderes.“ Er musste ja nicht wissen, dass ich wirklich ein wenig Furcht verspürte, außerdem musste ich diese Zeit nutzen, in der wir allein waren. „Warum wolltest du nicht, dass ich den anderen von uns erzähle?“ Einen kurzen Moment, in dem er nichts sagte, fürchtete ich, dass er sich gar nicht mehr daran erinnern oder ich sein Zeichen fehlinterpretiert hatte, aber schließlich holte er tief Luft. „Oh ja, genau.“ Dennoch antwortete er nicht sofort, sondern ließ sich wieder Zeit. Ich sah seiner gerunzelten Stirn an, dass er darüber nachdachte, wie er das am besten formulieren sollte. Seine Mimik war in einem solchen Moment ein klein wenig anders als wenn er über etwas anderes nachdachte, eigentlich war der Unterschied kaum zu sehen – und möglicherweise bildete ich mir das sogar nur ein, weil ich unbedingt wollte, dass ich ihn besser verstand als alle anderen und deswegen selbst in so kleine Dinge zu viel hineininterpretierte. Im Nachhinein betrachtet schäme ich mich fast für dieses fürchterlich verliebte Verhalten – aber nur fast. Schließlich lachte er nervös. „Nun, wie erkläre ich das am besten? Ich fand den Gedanken, dass alle anderen wissen, dass wir zusammen sind, solange wir hier sind. Das würde nur zu dummen Sprüchen und allerlei Gerüchten führen.“ Da musste ich ihm Recht geben. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was allein Sorluska dauernd sagen würde, wenn er das wüsste. Oder Subarus überaus erfreutes Lächeln, das zwar nett gemeint, aber für mich dennoch irgendwie nervig war. Über die Reaktionen der anderen wollte ich erst gar nicht nachdenken, vor allem von Seiten des Personals. Allein beim Gedanken, dass Jatzieta irgendetwas dazu sagen könnte schauderte es mir. Meine Gedanken und Befürchtungen zeigten sich offenbar derart deutlich auf meinem Gesicht, dass Zetsu zustimmend nickte, ohne dass ich etwas sagen musste. „Genau, das ist nämlich auch mein Problem. Ich kenne alle hier seit einiger Zeit, ich konnte mir schon denken, wie sie reagieren würden. Außerdem geht das doch niemanden was an außer uns, oder?“ Ich lächelte. „Genau mein Gedanke.“ „Schön, dass wir uns einig sind.“ Er wirkte sichtlich erfreut, was mich wiederum auch sehr freute. Ja, so unterschiedlich wir sonst auch waren, manchmal waren wir uns auch überaus ähnlich und in solchen Momenten liebte ich ihn fast noch mehr als sonst. Da das nun geklärt war, konnte ich das Thema erneut wechseln, wieder zurück zu seiner Familie: „Glaubst du wirklich, dass deine Mutter mich mögen wird?“ „Ja, aber sicher. Warum sollte sie denn nicht?“ Erfahrungsgemäß – zugegeben, nur aus Büchern und Filmen – waren Väter immer gegen die Freunde ihrer Töchter und Mütter gegen die Freundinnen ihrer Söhne. Ich war eigentlich nicht erpicht darauf, ebenfalls in einer durchschnittlichen, romantischen Komödie zu enden. „Also mach dir keine Sorgen“, fuhr er fort, als ich auf seine Worte nur schwieg. „Alles wird mit Sicherheit gut werden.“ So zuversichtlich wie es mir möglich war, nickte ich ihm zu, während ich bereits hörte, wie unten die Tür geöffnet wurde und die anderen wieder hereinkamen, offenbar in eine handfeste Diskussion vertieft, die sich um Narukana und Hexen drehte. Zetsu setzte wieder dieses charmante und dennoch kalte Lächeln auf, das er immer nutzte, sobald wir nicht mehr allein waren, also genau wie ganz am Anfang. Ich freute mich allerdings bereits wieder auf den Moment, an dem ich erneut sein ehrliches Lächeln sehen würde, ganz allein für mich. In diesem Augenblick konnte ich noch nicht ahnen, dass unser Glück an einem seidenen Faden hing – und der Grund dafür war nicht nur seine Mutter. Kapitel 40: Grund zum Feiern ---------------------------- Es war fast äußerst anstrengend, nicht einfach zu lachen anzufangen, während ich Sorluska und Nozomu dabei beobachtete, wie sie erfolglos versuchten, die Grillkohle anzuzünden. Beide kamen immer wieder abwechselnd mit neuen Ideen, nur um sich gleich darauf über den jeweils anderen zu beschweren, da es nicht funktionierte. Jatzieta verschränkte mit einem tiefen Seufzen die Arme vor der Brust. „Da bekommen wir tatsächlich die Erlaubnis, auf dem Krankenhausgelände zu grillen und keiner bekommt ein Feuer hin. Was ist nur aus der Männerwelt geworden?“ „Sie waren wohl nie bei den Pfadfindern“, kommentierte ich trocken. Thalia schmunzelte daraufhin tatsächlich. „Ich könnte mir die beiden auch nicht in einer Pfadfinder-Uniform vorstellen.“ „Oder bei ihrer täglichen guten Tat“, ergänzte Jatzieta. Sie und Thalia lachten einstimmig, was ein äußerst seltsamer Anblick war, wenn man mich fragte. Es wurde Zeit, dass ich das unterbrach: „Was genau machen wir hier eigentlich?“ Ohne jede Erklärung waren mir kurz zuvor Pappteller und Plastikgeschirr in die Hand gedrückt worden, mit der Bitte, das alles nach draußen zu bringen, ich würde den Grill schon finden. Seitdem saß ich dort, beobachtete die beiden Jungs und wartete darauf, dass jemand mir sagte, was das eigentlich alles sollte. Glücklicherweise antwortete mir Jatzieta nun tatsächlich: „Oh, Liebes, weißt du das denn wirklich nicht? Wir feiern heute Geburtstag.“ „Wessen?“, hakte ich nach, als keine weitere Erklärung kam. Thalia blies Luft durch ihre geschlossenen Lippen. „Das ist ja typisch für ihn, er hat dir gar nichts gesagt?“ Ich wandte ihr meinen Blick zu und wollte gerade weiter auf eine vernünftige Antwort drängen, als sie auch schon von selbst kam: „Zetsus Geburtstag natürlich, er wird heute 18“ Die Aussage traf mich hart, ähnlich wie ein Amboss in einem dieser unzähligen Cartoons. Ich hatte gewusst, dass er demnächst volljährig werden würde, aber nicht, dass das an diesem Tag sein sollte. Davon hatte er tatsächlich absolut nichts erwähnt – aber ich machte ihm da keinen wirklichen Vorwurf, immerhin sprachen wir eher selten in den letzten Tagen. Nein, meine Vorwürfe galten den anderen, denn von denen hatte mir auch keiner etwas gesagt. Wann hatten sie das alles nur geplant, ohne dass ich etwas mitbekam? „Wo ist Zetsu eigentlich?“ Bislang war er nicht anwesend, genausowenig wie Subaru, Baila oder Narukana... gut, auf die Letztgenannte hätte ich auch verzichten können. Aber wie das Glück so spielte kam diese da gerade aus dem Gebäude heraus, wie eh und je mit hoch erhobenem Kopf. Schnurstracks ging sie an uns vorbei auf den Grill zu und verscheuchte die beiden selbsternannten Grillmeister. Zu meiner großen Überraschung zog sie einen Grillanzünder hervor und platzierte diesen zwischen Kohle und Holz, drapierte noch dazu alles schön mit dem bereitgelegten Zeitungspapier und zog zuletzt ein Feuerzeug aus einer Tasche – das allerdings so geschickt, dass es wohl kaum jemand außer mir sehen konnte. Ich war erstaunt wie routiniert sie mit all diesen Utensilien ein Feuer entzündete, behauptete, dass wir das ihren göttlichen Kräften zu verdanken hätten, den beiden dann noch Anweisungen gab, wie sie nun zu verfahren hätten und sich dann auf eine der Bänke zurückzog, von der aus sie alles beobachtete. Also schien sie in manchen Instanzen doch zu wissen, dass sie über keine göttlichen Kräfte verfügte, wollte die anderen aber im Glauben darüber lassen. Vielleicht war es einfach ihre Masche geworden und sie merkte das nicht einmal mehr selbst. „Sie ist ja doch zu was zu gebrauchen“, kommentierte Thalia. Jatzieta kicherte daraufhin. „Vielleicht sollten wir sie in einer Grilltherapie unterbringen, das sollte ich mal Salles vorschlagen.“ Wenn er wirklich so schlau war, wie ich ihn bislang einschätzte, würde er bei einem solchen Vorschlag lediglich mit dem Kopf schütteln und sich nicht einmal die Mühe machen, eine verbale Antwort zu geben. Ehe ich noch einmal nach Zetsu fragen konnte, erschienen Subaru und Baila ebenfalls. Die Einkaufstüten in ihren Händen ließen darauf schließen, dass sie alle nötigen Nahrungsmittel für das Grillen eingekauft hatten – und direkt hinter ihnen folgte Dr. Breen, ohne Arztkittel. Nach einem kurzen Lauschen hörte ich heraus, dass er die beiden zum Einkaufen begleitet hatte. Eigentlich fehlten nur noch vier Personen, damit wir vollständig waren – und ohne große Überraschung stellte ich fest, dass Dr. Cworcs da gerade mit Satsuki und Zetsu ebenfalls aus dem Gebäude kamen. Das Timing war fast so perfekt wie in einem Film... oder einem Buch. Oder einer Telenovela, da war der Vergleich wieder. Satsuki lief ein wenig voraus und stellte sich vor uns. „Ta daa! Überraschung, Zetsu!“ Mit gehobener Augenbraue musterte er alles. Ihm war deutlich anzusehen, dass er keine Ahnung hatte, was eigentlich los war. „Überraschung?“ Sie nickte heftig. „Mh-hm! Alles Gute zum Geburtstag!“ Nun wirkte er tatsächlich überrascht, fast so als hätte er vergessen, dass es bereits Zeit dafür war. Noch vor wenigen Wochen hatte er diesen Tag herbeigesehnt und nun schien er ihm wirklich entfallen zu sein. Ich fragte mich, ob das mir zu verdanken war – oder ob ich mir da zu viel Bedeutung einräumte. Dr. Cworcs schob lächelnd seine Brille zurecht – ich war geneigt, ihm zu raten, sich eine neue zu besorgen, die besser passte – und sah dann erst zu Zetsu hinüber. „Ich bin erstaunt, dass du das so einfach vergessen hast. Die letzten Monate hast du in unseren Sitzungen von nichts anderem gesprochen.“ „Ja...“, erwiderte Zetsu gedehnt. „Ich hatte wohl andere Dinge im Sinn.“ Er sah nicht zu mir, so dass ich nicht sagen konnte, ob ich gemeint war. Aber ich redete mir das einfach mal ein, um mich ein wenig besser zu fühlen... und vielleicht stimmte es ja. Zetsus Aufmerksamkeit galt aber bereits etwas anderem. Er ging zu Nozomu und Sorluska hinüber. „Woah, habt ihr es ganz allein geschafft, ein Feuer zu entzünden?“ Ich bekam nicht mehr mit, was die beiden antworteten, dafür aber Narukanas empörte Reaktion, dass niemand anderes ihren Ruhm einstreichen sollte. Alles sah nach einem interessanten Tag aus. Noch vor wenigen Wochen wäre ich bei dem Anblick dieser Szene schreiend weggerannt, aber nun freute ich mich tatsächlich darauf, Teil von alldem zu sein – und ich fand den Gedanken nicht einmal erschreckend... Als wir schließlich wieder alles zusammenzupacken begannen, war die Sonne bereits untergegangen. Lediglich die karg verteilten Straßenlampen im Krankenhauspark spendeten ein wenig Licht, so dass wir gerade so sehen konnten, was wir eigentlich taten – was Narukana aber nicht davon abhielt, sich darüber zu beschweren, dass irgendjemand ihr immer wieder etwas wegnahm. Mit einem Lächeln erinnerte ich mich wieder an den kurzen Besuch Dr. Hantos, der offenbar etwas von dem Ereignis mitbekommen hatte, aber bald darauf wieder verschwunden war, als Satsuki ihn stets mit Bel-Bel angesprochen hatte; ich erinnerte mich an Jatzietas kleine Anekdote von einem noch jungen Salles Cworcs, der an seinem ersten Arbeitstag zu spät kam, da er die Klinik nicht gefunden hatte und ich erinnerte mich an Narukanas erfolglosen Versuch, das Feuer im Grill mittels ihrer Kräfte zu löschen. Ich war erstaunt, dass wir am Ende mehr Sachen zu Wegwerfen und Wegräumen hatten als wir überhaupt mit zum Grillen gebracht hatten. Das war wie dieser Mythos des Urlaubskoffers, der auf der Heimreise stets schwerer als auf der Urlaubsfahrt war. Das waren Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, als ich den letzten Müll wegbrachte, in einen der wenigen aufgestellten Eimer. Auch das war offenbar mit der Krankenhausleitung abgesprochen worden, zumindest hatte Dr. Cworcs das so gesagt – in Anbetracht dessen war ich doch sehr über seinen Einfluss erstaunt. Er schien doch mehr zu sagen zu haben, als ich dachte. Wobei es mich gar nicht mehr wundern würde, wenn die Krankenhausleitung mit ihm befreundet wäre. Als ich wieder zur Grillstelle zurückkehrte, war diese bereits verlassen, vermutlich hatte Nelia, die gegen Ende dazugekommen war, alle bereits hineingescheucht. Lediglich eine Gestalt saß noch auf einer der Banken und ich brauchte nicht lange, um ihn zu erkennen. „Willst du nicht auch reingehen, Zetsu?“ Lächelnd wandte er mir den Kopf zu und bedeutete mir, dass ich mich zu ihm setzen sollte, was ich auch sofort tat. Ich konnte gut und gern darauf verzichten, ihn wieder mit allen anderen zu teilen. „Du ärgerst dich bestimmt, dass ich dir nicht gesagt habe, dass ich heute Geburtstag habe.“ „Mhm, anfangs schon ein wenig... Aber du scheinst es ja selbst vergessen zu haben.“ Sein leises Lachen sorgte dafür, dass mir das Blut ins Gesicht schoss. Es war einfach ein sehr... schöner Klang, da konnte man sagen, was man wollte. „Ja, meine Gedanken waren wirklich ganz woanders gewesen in den letzten Tagen und da wir nicht auf der Station waren, habe ich wohl auch den Anruf meiner Familie verpasst.“ Das weckte eine Frage in mir: „Wo waren deine Gedanken denn?“ „Dass du das noch fragen musst.“ Wieder wirkte er äußerst amüsiert, genau wie ich ihn am Liebsten hatte. Fragend sah ich ihn an, er lächelte nach wie vor. „Meine Gedanken waren stets bei dir.“ Es war unheimlich kitschig, fast schon ekelhaft – und doch ließ es mich geradezu dahinschmelzen. Immerhin sagte er das zu mir und ich las es nicht nur oder sah es in irgendeiner romantischen Komödie mit ihren austauschbaren Protagonisten. In der Realität empfand man vieles wohl ganz anders als wenn man nur ein unbeteiligter Zuschauer war. Mir fehlten die Worte, um etwas darauf zu erwidern, aber offenbar war das auch unnötig. Immer noch lächelnd zog er mich zu sich und schloss die Augen, ehe er seine Lippen auf meine legte. Wie beim ersten Mal konnte ich erst gar nicht reagieren, doch als das paralysierende Gefühl der Überraschung verflogen war, legte ich die Arme um ihn und schloss ebenfalls die Augen, um diesen Moment, der nur uns beiden gehörte, zu genießen. Hätte ich damals nur gewusst, was in den nächsten Tagen geschehen würde, ich wäre mit Sicherheit nicht so ruhig und gelassen gewesen wie in jenem Moment. Kapitel 41: Familientreffen --------------------------- Die Station war am Wochenende erstaunlich ruhig. Satsuki arbeitete nicht, Thalia und Sorluska hatten Erlaubnis, sich in der Stadt aufzuhalten, was sie auch voll auskosteten und Nozomu befand sich mit Subaru und Baila mal wieder draußen im Park. Offenbar verbrachten die drei im Sommer oft ihre Zeit draußen. Narukana dagegen schien sich in ihrem Zimmer verkrochen zu haben. Mir konnte es nur recht sein, immerhin war ich so allein mit Zetsu – und das auch noch an dem Tag an dem seine gesamte Familie kommen wollte. Eigentlich hatte ich ihn da auch alleinlassen und in meinem Zimmer lesen wollen, doch Zetsu war hereingekommen, um mich zu bitten, dabeizusein, auch wenn ich nicht wusste, weswegen. Aber offenbar waren seine Tante und sein Vater recht angetan von mir und hatten zu Hause schon von mir erzählt, weswegen man nun wahnsinnig gespannt auf mich war. Mich machte das aber nur nervös, denn immerhin weckte das Erwartungen an mich, die ich möglicherweise nicht würde erfüllen können. So saß ich, immer wieder schluckend, auf einem der Sessel im Gruppenraum und wartete darauf, dass seine Familie kam. Zetsu saß neben mir und versuchte, mich ein wenig zu beruhigen, auch wenn ich das als ein wenig irritierend empfand. Das alles kam mir vor als wären wir bei einem Arzt und warteten darauf, eine ganz schlimme Diagnose zu bekommen – was lächerlich war, da man ja vorher nie wusste, ob man eine schlimme oder eine gute Diagnose bekam. Jedenfalls dauerte es nicht lange, bis irgendwann Stimmen von unten zu hören waren. Die Nervosität in meinem Inneren steigerte sich noch einmal ins schier Unermessliche. Erleichtert stellte ich fest, dass ich zumindest die erste Person, die den oberen Treppenabsatz erreichte und hereinkam bereits kannte. Hinome umarmte Zetsu und wünschte ihm alles Gute nachträglich zu seinem Geburtstag, wofür er sich bedankte. Im Anschluss begrüßte sie mich mit einem Lächeln, das einfach ansteckend war und mich gleichzeitig auch beruhigte. Als nächstes folgte ein Mann, den ich nicht kannte. Seine goldenen Augen, die mich durch Brillengläser anfunkelten, erinnerten mich frappierend an Zetsus Vater. Lediglich die schwarzen Haare waren anders, ich vermutete allerdings, dass dieser Mann Zetsus Onkel war – was sich gleich darauf auch als wahr herausstellte, als er sich als Hidakas Bruder Gekkyu vorstellte. „Ich bin der Ehemann von Hinome.“ Dabei blinzelte er ihr zu, was diese offenbar zu freuen schien. Langsam bekam ich ein Gefühl dafür, woher Zetsu sein einnehmendes Wesen und seinen Charme herhatte. Auch wenn Gekkyu sich vom Aussehen her von Hidaka unterschied, so gab es doch etwas an ihnen, das dafür sorgte, dass man sie einfach sofort mögen musste und dass man von ihnen gemocht werden wollte, egal was kam – so viel konnte ich bereits nach kurzer Zeit feststellen. Wesentlich kühler wurde der Empfang allerdings, als zwei weitere Personen die Treppe hochkam. Den Mann erkannte ich sofort als Hidaka wieder. Die Frau neben ihm war mir zwar gänzlich unbekannt, aber ihre blauen Augen und das lange silberne Haar wiesen eindeutig darauf hin, dass sie Zetsus Mutter war. Von ihr hatte er ganz offenbar das Aussehen, sogar ihr schmal geschnittenes Gesicht war dasselbe wie seines. Ich war sofort... fasziniert von ihr. Allerdings lag eine immense Traurigkeit in ihrem Blick, ich konnte mir nicht mal ausmalen, wie furchtbar es sein musste, ein Kind zu verlieren – und dann zusehen zu müssen, wie das andere seinen Lebenswillen verlor. Aber diese Traurigkeit ließ es mich fast schon einschätzen. Hidaka lächelte mir zu. „Yoruna, das ist Leana, das Mädchen, von dem wir dir erzählt haben.“ Sie zog ihre Mundwinkel nach oben, aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. „Es freut mich.“ „M-mich auch.“ Es war vielleicht lächerlich, in einer solchen Situation zu stottern anzufangen, aber ich fand es geradezu wahnsinnig, ihr gegenüberzustehen. Zetsu schien wirklich ihr... männliches Gegenstück zu sein und das verunsicherte mich ein wenig. Statt sich weiter um mich zu kümmern, umarmte sie Zetsu und beglückwünschte ihn ebenfalls nachträglich zum Geburtstag. Am Tag zuvor war wohl niemand dazu gekommen, ihn anzurufen, ehe wir beim Grillen gewesen waren. Wir setzten uns an den Tisch und unterhielten uns über allerlei Dinge, auch wenn ich mir eher wie das fünfte Rad am Wagen vorkam. Immerhin kannten die anderen Fünf sich schon ewig und hatten daher ihre ganz besonderen Insider-Jokes und diesen ganzen Kram, den man nur mit Familie und Freunden hat und die ich daher nicht im Mindesten verstand. Dennoch lauschte ich und versuchte, so viel wie möglich zu verstehen, allein aus dem Wunsch heraus, ebenfalls dazuzugehören. Zumindest so lange, bis Yoruna Zetsu und mich plötzlich ansah. „Zetsu, Lieber, könntest du mir etwas zu trinken holen? Und könntest du ihn begleiten, Leana?“ Offenbar fand nicht nur ich die Frage ungewöhnlich, Zetsu zog seine Brauen zusammen, entschied sich dann aber dafür, nichts weiter zu sagen und nickte mir zu, damit ich ebenfalls aufstand. Erst als wir in der kleinen Küche standen und ihr etwas einschenkten, wagte ich es, wieder etwas zu sagen: „Deine Mutter ist ein wenig...“ Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich sie seltsam fand, aber glücklicherweise nahm er mir das bereits ab: „Eigenartig, ich weiß. Das ist sie in der letzten Zeit ziemlich oft... ich weiß nicht, warum.“ Das klang nicht sonderlich positiv, wenn man mich fragte. Immerhin hieß das, sie war früher einmal anders gewesen und sie hatte sich nicht durch Nanashis Tod verändert. Aber was war es dann, was sie gerade so sehr mitnahm? Noch in Gedanken versunken hörte ich plötzlich, wie die Stimmen von Yoruna und Hidaka im Gruppenraum lauter wurden. Zetsu wurde ebenfalls aufmerksam, doch als ich hinübergehen wollte, um nachzusehen, was los war, hielt er mich eilig davon ab. Stumm schüttelte er den Kopf und gab mir zu verstehen, dass ich still sein sollte. Offenbar wollte er hören, was es so lautstark zu besprechen gab. „Wie lange willst du ihn noch im Unklaren lassen?“, konnte ich die erboste Stimme von Yoruna hören. Da erst nichts weiter kam, glaubte ich, die anderen würden flüstern, um ihre Lautstärke auszugleichen, doch dann war deutlich ein überraschend ruhiger Hidaka zu vernehmen: „Ich finde, wir sollten warten, bis alles durch ist. Sonst machen wir möglicherweise unnötig die Pferde scheu.“ „Glaubst du etwa, es wird nicht funktionieren?“ Sie klang verärgert, ich fragte mich, was sie wohl so wütend machte. „Es fehlt noch meine Unterschrift“, erinnerte Hidaka sie. Ich konnte ihren stechenden Blick, der ihn durchbohrte, geradezu vor mir sehen – es musste derselbe sein, den Zetsu auch beherrschte. Ihre gezischte Antwort konnte ich nicht richtig verstehen, aber es klang für mich so als ob sie ihm raten würde, sich nicht querzustellen und endlich zu unterschreiben. Natürlich wusste ich nicht, worüber genau eigentlich gesprochen wurde, aber was ich mir da zusammenreimte gefiel mir nicht sonderlich – und ein Blick zur Seite sagte mir, dass Zetsu genau denselben Schluss zog. Er war noch blasser als sonst und blickte ein wenig betrübt. Ob er bereits irgendwann im Vorfeld so etwas hatte kommen sehen? Oder kam das für ihn genauso überraschend wie für mich? Ich konnte ihn in diesem Zustand einfach nicht ansehen, deswegen wollte ich nach seinem Arm greifen und ihn trösten, doch erneut schüttelte er den Kopf und gab mir zu verstehen, dass er im Moment nicht darüber sprechen wollte. Ohne mich weiter zu beachten, lief er mit dem Glas Wasser an mir vorbei, um zu seiner Familie zurückzukehren. Ich folgte ihm, auch wenn die bedrückte Stimmung im Gruppenraum, die sofort von allen mit einem Lächeln überspielt zu werden versuchte, beinahe dafür gesorgt hätte, dass ich am Liebsten gleich wieder umgedreht wäre. Doch stattdessen setzte ich mich neben Zetsu und wohnte dem restlichen Gespräch bei, das sich nur um Kleinigkeiten drehte. Keiner erwähnte das, was Hidaka unterschreiben sollte, nicht einmal Zetsu. Sie alle umgingen dieses Thema als würde es gar nicht existieren – und obwohl mir das so vertraut war von früher, kam es mir in diesem Moment doch sehr seltsam vor. Ich wagte aber nicht, etwas zu sagen, sondern beobachtete die Unterhaltung nur weiterhin, obwohl diese Atmosphäre es mir eiskalt den Rücken hinunterlaufen ließ. Sie blieben bis zum Abend und auch wenn Gekkyu und Hinome ihr Möglichstes taten, um die Stimmung wieder aufzulockern, blieb dieses unangenehme Gefühl, dass ich mitten in eine Familienkrise hineingeraten war – und Zetsu tat auch nichts, um das verschwinden zu lassen, stattdessen behielt er sein künstliches Lächeln und die leicht unterkühlte Stimme, aber keinen schien es zu stören. Erst als sie wieder gingen, fiel auch Zetsus abwehrende Haltung wieder von ihm ab, so dass ich endlich mit ihm darüber sprechen könnte: „Alles in Ordnung?“ „Sicher...“ Statt abweisend und unterkühlt, klang er nun gedanklich abwesend, was mir auch nicht sonderlich besser gefiel. In einem solchen Zustand wirkte er als ob er im nächsten Moment einfach verschwinden würde. „Deine Familie ist... nett.“ Selbst darauf reagierte er nicht wirklich. Er nickte nur knapp, ich seufzte innerlich. „Was denkst du, worüber deine Eltern gesprochen haben?“ Obwohl ich sicher war, dass wir zum selben Schluss gekommen waren, wollte ich es von ihm hören. Immerhin bestand auch die Möglichkeit, dass ich, da mir die Vorgeschichte fehlte, etwas vollkommen Falsches dachte. Doch als er zu mir sah, wusste ich, dass ich mich nicht irrte. „Worüber sollen sie schon gesprochen haben? Sie wollen sich scheiden lassen.“ „Seit wann weißt du das?“ So wie er es sagte, klang es nicht so als wäre es neu für ihn, aber vielleicht lag das auch nur daran, weil er im Moment so gedanklich abwesend wirkte, er war immer noch besorgniserregend blass. „Ich habe heute das erste Mal davon gehört. Bislang hat mir keiner etwas davon gesagt.“ Also war er wirklich ins kalte Wasser gefallen damit. „Warum hast du sie nicht darauf angesprochen?“ „Wenn sie es mir hätten sagen wollen, wäre das schon früher geschehen.“ Ehe ich noch eine Frage stellen oder ihm sagen konnte, wie Leid mir das tat, stand er auf. „Ich werde ins Bett gehen, ich bin müde.“ Bei seinem derzeitigen Zustand war mir das auch lieber. Daher wünschte ich ihm eine gute Nacht – und hing den restlichen Abend mit meinen Gedanken bei ihm. Selbst als die anderen wieder zurückkehrten und die Station mit Leben erfüllten und auch als ich bereits im Bett lag, kam mir immer wieder Zetsus bedrücktes Gesicht in Erinnerung. Doch irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn mit einem Mal schreckte ich auf und bemerkte erst nach mehreren Bruchteilen einer Sekunde, was mich so erschrocken hatte: Der unbekannte, schrille Klang einer Glocke hallte durch den Gang – und das verhieß nie etwas Gutes. Für einen kurzen, vergänglichen Augenblick redete ich mir ein, dass es nichts Schlimmes, sondern nur ein falscher Alarm war. Doch eine mir inzwischen wohlbekannte Stimme, die sich auf dem Gang in das Schrillen der Glocke mischte, verriet, dass all das wirklich ein Ernstfall war: „Es ist Zetsu!“ Kapitel 42: Bohrende Ungewissheit --------------------------------- Als ich mit Baila auf den Gang trat, bemerkte ich, dass auch alle anderen bereits aus ihrem Zimmer gekommen waren, um nachzusehen, was los war. Jatzieta stand in der Tür von Zetsus Zimmer, die Armer vor dem Körper verschränkt und das Gesicht überraschend ernst – ich wusste allerdings nicht, was sie hier um diese Zeit noch tat, immerhin war es bereits Zeit für die Spätschicht und sie trug auch keine Schwesterntracht mehr. Mein Innerstes zog sich zusammen, während ich hörte, wie in Zetsus Zimmer eifrig rumort wurde. „Jatzieta, was ist los?“ Zuerst schien sie mich aufgrund der noch immer tönenden Glocke nicht zu hören, doch dann wandte sie mir den Kopf zu. „Nun... es sieht aus als hätte Zetsu akute Probleme mit dem Herzen.“ „Ist es sehr schlimm?“, fragte Thalia von der anderen Seite. Jatzieta wandte sich ihr zu und nickte stumm zur Antwort. Im nächsten Moment trat sie bereits beiseite, eine Trage wurde aus dem Zimmer gefahren. Als mein Blick auf Zetsu fiel, wurde mir geradezu übel. Er war inzwischen derart blass, dass ich ihn kaum von dem aufgelegten Laken auf der Trage unterscheiden konnte. Allerdings blieb mir auch nicht viel Zeit, ihn zu betrachten, da die begleitenden Pfleger die Trage hastig weiterschoben in Richtung des Aufzugs, der dank Nelia bereits auf sie wartete. Ein Arzt wisperte Jatzieta noch etwas zu, dann folgte er ihnen und huschte ebenfalls in den Aufzug, ehe dieser sich schloss. Fast gleichzeitig erstarb das Schrillen der Glocke. „Was hat er gesagt?“, fragte Sorluska. Wir versammelten uns alle um sie herum, sogar Narukana war zu sehen, allerdings wirkte sie nicht sonderlich besorgt, es schien eher als würde sie einfach nur dasein, weil auch alle anderen auf dem Gang standen. Jatzieta bemühte sich zu lächeln, aber man sah deutlich, dass es ihr schwerfiel. „Er meinte, Zetsu hätte das Bewusstsein verloren und die Vitalsignale wären sehr schwach, aber sie würden sich alle Mühe geben, ihm zu helfen.“ Wir alle sogen überrascht und erschrocken die Luft ein, lediglich Nozomu ließ sich nichts anmerken – aber seine vor der Brust verschränkten Arme wirkten steifer als sonst und ich bekam den Eindruck, dass er leicht zitterte. „Ist heute irgendetwas vorgefallen?“, fragte Nelia, als sie sich ebenfalls zu uns stellte. „Irgendetwas, was ihm derart zugesetzt hat?“ Die anderen warfen sich Blicke zu, aber offensichtlich wusste keiner etwas. Lediglich ich nickte zustimmend. „Seine Eltern unterhielten sich heute über etwas und er glaubt, dass sie sich scheiden lassen wollen, aber sie haben noch nichts dazu gesagt.“ „Ich verstehe.“ Nelia sah zu Jatzieta hinüber. „Ich werde seine Familie anrufen. Kannst du dich solange um die Patienten kümmern?“ Nach einer kurzen Bestätigung ging Nelia wieder ins Schwesternzimmer und schloss die Tür hinter sich. Jatzieta dagegen ging mit uns in den Gruppenraum. Sogar Narukana kam mit uns, doch während wir uns an den Tisch setzten, nahm sie auf einem der Sessel Platz, um ein wenig Distanz zu uns zu demonstrieren – zumindest stellte ich mir das so vor. „Er hat gesagt, dass er uns anrufen wird, sobald er uns mehr über Zetsus Zustand sagen kann“, erklärte Jatzieta. So ganz begriff ich aber noch nicht, was geschehen war. Ich starrte auf den leeren Stuhl mir gegenüber und erwartete jeden Moment, einen gut gelaunten Zetsu dort zu sehen, doch blieb der Platz unbesetzt, was etwas sehr Wichtiges fehlen ließ. „Ist alles in Ordnung, Nozomu?“ Als ich zu ihm hinübersah bemerkte ich, dass er immer noch zitterte, nun aber deutlicher als zuvor. Dennoch verzog er nicht einmal die Mundwinkel. „Natürlich.“ Die neben ihm sitzende Thalia verpasste ihm eine Kopfnuss. „Idiot! Ich dachte, du würdest hier in der Therapie lernen, über deine Probleme zu sprechen!?“ Doch bevor er etwas darauf erwidern konnte, hellte Jatzietas Gesicht sich auf. „Soll ich Cynard anrufen, damit er vorbeikommt?“ Nozomu rollte mit den Augen. „Nein, bloß nicht. Das letzte Mal, als wir ihn anriefen, damit er nachts auftaucht, war er schlecht gelaunt.“ „Ist so etwas denn schon einmal passiert?“, fragte ich besorgt. Die anderen blickten zu mir, als würden sie erst in diesem Moment bemerken, dass ich noch da war. Glücklicherweise fing Subaru sich schnell genug wieder, um mir zu antworten: „Das letzte Mal war es nicht Zetsu. Eine andere Patientin hat versucht, sich das Leben zu nehmen und weder Dr. Breen noch Dr. Cworcs waren zu erreichen. Also hat Nelia bei Cynard angerufen und es drei ganze Minuten klingeln lassen. Als er dann kam, war er sehr schlecht gelaunt und kaum war die Patientin fort, hat er sich ein eines der leeren Betten gelegt und geschlafen.“ Ich war doch ziemlich überrascht, das zu hören. So hätte ich diesen Therapeut mit Sicherheit nicht eingeschätzt, im Gegenteil, ich wäre jede Wette eingegangen, dass er als Erstes wie ein Engel eingetroffen wäre, um den gefährdeten Patienten zu retten. „Also sollten wir lieber darauf verzichten“, schloss Nozomu für Subaru. „Außerdem will doch hier mit Sicherheit ohnehin keiner über Zetsu sprechen.“ Schlagartig kehrte die angespannte Atmosphäre zurück, mein Magen zog sich derart schmerzhaft zusammen, dass ich glaubte, er würde sich um die Hälfte verkleinern. Der Gedanke an Zetsu, der gerade mit dem Tod rang – oder diesen möglicherweise sogar gerade dazu breitzuschlagen versuchte, dass er ihn mitnahm – weckte in mir erstmals die Furcht, jemanden zu verlieren, der mir viel bedeutete. Heute denke ich, einer der Gründe, warum ich nie Freunde haben wollte, war nicht nur die Tatsache, dass ich viele Menschen für einfach bescheuert halte, sondern, dass ich befürchtete, sie wieder zu verlieren, wenn ich sie erst einmal zu sehr mochte. Heute erkenne ich erst die Ironie darin, dass es tatsächlich zu einer solchen Situation kam, gerade als ich das erste Mal verliebt war. Aber zurück zu jener Nacht: Ich war offenbar nicht die einzige, die nicht darüber nachdenken wollte, denn auch Sorluska wechselte wieder das Thema: „Yo, Jatzieta, wie kommt es eigentlich, dass du noch hier bist. Hast du nicht mal Feierabend oder so?“ „Bist du etwa um meine Gesundheit besorgt?“, fragte sie schmunzelnd. Ihr anzüglicher Tonfall ließ ihn das Gesicht verziehen, was ich nur zu gut nachvollziehen konnte. „Nee, aber sonst seh ich dich hier nachts nicht und dann gerade heute...“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jatzieta irgendetwas getan hatte, das Zetsu in diesen Zustand versetzte – aber andererseits... Ich schielte zu ihr hinüber, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen, nicht im Mindesten. „Oh, ich habe nur Nelia besucht. Das mache ich öfter mal, wenn ich gerade in der Gegend bin.“ Wir blickten sie alle ähnlich verwundert an. „Musst du morgens nicht früh raus?“, fragte Subaru. „Und dann wieder hierher kommen?“, fügte Thalia hinzu. „Was machst du dann auch noch nachts in der Gegend?“, beendete Nozomu die Runde. Über all diese Aufmerksamkeit vergnügt, lächelte sie. „Oh, ich schlafe ziemlich schlecht, da kommt es öfter vor, dass ich noch lange unterwegs bin – und dann schaue ich schon mal nach meinen Schäfchen.“ Bei diesen Worten legte sie einen Arm um die neben ihr sitzende Baila, die das sehr zu freuen schien. Gut, das war geklärt – ich war mir ziemlich sicher, dass Jatzieta selbst auch recht depressiv war und irgendwas nahm, um immer so gut drauf zu sein, deswegen allerdings nicht schlafen konnte. Oder auch nicht, aber was kümmerten mich ihre Probleme? „Wegen Zetsu...“, begann ich vorsichtig, das anzusprechen, was mich schon mehr interessierte. „Was ist denn genau passiert?“ Wie von mir erwartet, blickte Jatzieta zu Nozomu, damit er weitererzählte. „Zetsu hat mich geweckt, weil ihm schlecht war. Er wollte, dass ich ihn ins Bad begleite – aber kaum dass er das Bett verlassen hatte, ist er zusammengebrochen. Ich bin dann ins Schwesternzimmer und die haben im Hauptgebäude einen Arzt gerufen.“ „Nozomu war so ruhig“, schaltete Jatzieta sich ein. „Ich hätte nicht gedacht, dass es wirklich etwas Ernstes ist. Aber offensichtlich war es ja doch so.“ Wieder kehrte Schweigen ein, keiner wollte mehr etwas dazu sagen, am Allerwenigsten ich. Ich hoffte nur noch, dass Zetsu wirklich kämpfte und nicht einfach aufgab. Während ich diesem Gedanken nachhing, sah ich die anderen an – und in jedem Gesicht, selbst dem von Narukana, entdeckte ich dieselbe Hoffnung. In diesem Moment erkannte ich, dass wir alle unmerklich tatsächlich zu einer Gemeinschaft verschmolzen waren. Zumindest mir war es nicht aufgefallen und ich hätte wetten können, dass auch die anderen nicht im Mindesten darauf geachtet hatten. Da ich keinerlei Erfahrung mit Freundschaften besaß, wusste ich nicht, ob das normal war – aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass man sich wirklich mit Vorsatz anfreundete. Isolde hatte mir gegenüber einmal erwähnt, dass es einfach so geschah und sie bei vielen ihrer Freunde anfangs nie mit engen Freundschaften gerechnet hätte – aber irgendwann, ehe sie sich versehen hatte, waren sie bereits beste Freunde gewesen. Das musste hier ebenfalls geschehen sein, selbst mit Narukana. Das Geräusch einer sich öffnenden Tür unterbrach meine Gedanken. Nelia trat aus dem Schwesternzimmer, zu dem wir alle gleichzeitig sahen, allesamt mit der Furcht einer schlechten behaftet. Doch Nelia schüttelte leicht den Kopf. „Es hat noch niemand angerufen, ich habe nur mit seinen Eltern telefoniert. Sie sind auf dem Weg auf die Intensivstation – und im Übrigen ist keine Scheidung geplant.“ „Was denn dann?“ Sie zuckte mit den Schultern, offenbar war es ihr nicht gesagt worden, aber das wunderte mich nicht weiter. Wenn sie es schon nicht ihrem Sohn erzählten... und möglicherweise hatten sie Nelia auch nur angelogen, ich konnte es nicht sagen. Statt sich zu setzen, blieb sie in der Tür des Gruppenraums stehen, jederzeit bereit, ans Telefon zu gehen, sollte es klingeln. „Worüber sprecht ihr?“, wollte sie wissen. „Nozomu hat uns gerade erzählt, wie er zu uns ins Schwesternzimmer kam. Jetzt schweigen wir allerdings – als wäre unser aller Liebling schon tot.“ Nelia griff sich seufzend an die Stirn. „Lass das, Jatzieta. Wenn er wirklich stirbt, wird dir das noch Leid tun.“ „Sei doch nicht so pessimistisch.“ Die beiden unterhielten sich noch eine Weile in dieser Manier weiter, aber mich kümmerte das nicht mehr, so dass ich mit den Gedanken wieder fortschweifen konnte. Das Verhalten der beiden in einer solchen Situation kam mir viel zu gekünstelt und surreal vor als dass ich es hätte ernstnehmen können. Es war wie in einer dieser Komödien, die ich so hasste, in denen man selbst in den ernsten Moment noch krampfhaft einen Witz unterbringen musste. Statt mich auf diese Witze zu konzentrieren, versank ich lieber in Erinnerungen an Zetsu, auch wenn man das eigentlich erst tat, wenn eine Person wirklich tot war. Aber ich hoffte, dass, wenn ich nur fest genug an ihn dachte, er das spüren und ihm das Kraft geben würde – im Nachhinein klingt das wirklich verdammt schnulzig. Ich dachte wieder an meinen ersten Tag zurück, als ich ihn das allererste Mal gesehen und sofort von seinen blauen Augen und dem silbernen Haar fasziniert gewesen war. Ein wenig beschämt erinnerte ich mich, wie ich nach seinem ersten Wort zu mir in Ohnmacht gefallen war. Aber dafür erfüllte mich der Gedanke an die Wärme in seiner Nähe wieder mit einem ungeheuren Glücksgefühl, das nur noch dadurch gesteigert wurde, dass ich in seinen Armen geschlafen und er mir meinen ersten Kuss gegeben hatte. Ich war ohne jede Hoffnung in diese Klinik gekommen, aber Zetsu hatte mir wieder neuen Mut gegeben und ich war in der Lage gewesen, Freunde zu finden, das erste Mal in meinem Leben. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ein Mensch allein nicht leben konnte, er existierte, aber er lebte erst, wenn es jemanden gab, mit dem man Erinnerungen erschaffen konnte, denn – und davon bin ich auch heute noch überzeugt – es sind die Erinnerungen, diese ganz besonderen Momente, die man nie mehr vergisst und die man sich mit Freuden immer wieder ins Gedächtnis rief, die das Leben erst ausmachen. Wenn man es so betrachtete, waren Fotoalben also nicht nur bunte Staubfänger, sondern Schatztruhen unzähliger Leben – und ich wollte unbedingt und mit jeder Faser meines Herzens ebenfalls einen solchen Schatz anlegen und das mit Zetsu und allen anderen. Ich spüre noch heute, wie ich in diesem Moment am Liebsten vor Rührung in Tränen ausgebrochen wäre, doch ich hielt mich zurück. Meine Augen schwammen aber offenbar bereits darin, denn die anderen sahen plötzlich mich besorgt an. „Alles in Ordnung, Leana?“, fragte Subaru. Ich fuhr mir hastig mit dem Arm über die Augen. „Ja, natürlich, ich bin nur müde.“ Allerdings quittierte ich die Frage, ob ich wieder ins Bett gehen wollte, mit keiner Antwort. „Sieht wohl nicht so aus“, meinte Nozomu. Thalia sah zu Narukana. „Na ja, sie ist auch noch da, also kein Wunder.“ Sie warf ihr schwarzes Haar zurück und schnaubte dabei. „Ich bin immer da, wo ich sein will.“ „Solange sie keinen Ärger macht, geht es ja“, bemerkte Sorluska. Sie sah keineswegs so aus als würde sie das machen wollen, stattdessen wirkte sie sogar überraschend sanft, ganz anders als sonst. Sie hatte noch nicht einmal irgendwas über ihre Götterkräfte gesagt. Im Moment wirkten wir auf Außenstehende wohl alle wie eine ganz normale Gruppe von Freunden. Zu traurig, dass es erst ein solches Ereignis brauchte, um uns so zusammenzubringen. Ich weiß nicht, wie lange wir so zusammensaßen, ich weiß auch nicht mehr, worüber wir genau sprachen, nur dass wir Erinnerungen über Zetsu austauschten. Nozomu besaß natürlich besonders viele, da sie sich schon Jahre vor der Klinik gekannt hatten. Ich genoss die Erzählungen über einen fröhlichen Zetsu, der hochmotiviert in die Schule ging, nur um sich dort in der Bewunderung seines Fanclubs zu sonnen oder die über einen Zetsu, der mountainbiken ging oder jene über den Zetsu, der sich tatsächlich den ganzen Tag auf einem Flughafen aufhalten konnte, nur um Flugzeuge zu beobachten oder Videospiele in der Wartehalle zu spielen. Als Patient war er anders gewesen, aber nicht gänzlich, immerhin sehnte er sich immer noch Freiheit und liebte Videospiele und genoss jegliche Bewunderung, die er bekommen konnte. Es mussten bereits Stunden vergangen sein, der Morgen graute schon in der Entfernung und wir alle waren doch noch müde geworden – als ein lautes Klingeln aus dem Schwesternzimmer uns alle schlagartig wieder hellwach werden ließ. Wir blickten hinüber und folgten Nelia hastig, als sie das Zimmer betrat, um das Telefon zu beantworten. Mit angehaltenem Atem drängten wir uns in die Tür, um direkt mitzubekommen, was gesprochen wurde. Nelia warf uns einen mahnenden Blick zu, damit wir ruhig waren und hob dann den Hörer ab. In einem äußerst professionellen Ton, den ich bei ihr so sehr liebe, begrüßte sie die Person am anderen Ende: „Offene Station der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Sie sprechen mit Schwester Attwater.“ Epilog: Ende und Anfang ----------------------- „Deine Zeit hier war ziemlich aufregend, was?“ Ich lächle leicht, als ich Nozomu nickend zustimme und dabei durch das Fotoalbum blättere, das er mir gemeinsam mit den anderen eben erst schenkte. Das allererste Bild zeigte uns alle an diesem einen schicksalsträchtigen Tag von Zetsus Anfall (Jatzieta war eine Kamera in die Hände gefallen, die unbedingt ausprobiert werden musste und nachdem uns diese Nacht so zusammenschweißte, empfand sie das als guten Anlass, auch wenn wir alle müde aussahen), aber mir war sofort wieder die gesamte Geschichte in den Kopf gekommen. „Wer hätte gedacht, dass ich gerade hier so viel erleben würde?“ Der Rest des Fotoalbums besteht aus Bildern, die auf meinen Wunsch im Anschluss aufgenommen wurden. Jedes einzelne beinhaltet seine ganz eigene Geschichte, sei es der Geburtstag von Nozomu bald darauf oder Bailas erstes Wort nach Jahren oder Narukanas Versuch, das Wasser zu kontrollieren, nach welchem die Station überflutet war. Aber keine dieser Erinnerungen ist derart voll mit Emotionen wie jene, die ich mit Zetsu erlebte und von denen ich keinerlei Bilder besitze – außer jene in meinem Herzen, wie Cynard immer sagt. „Die sechs Monate gingen ziemlich schnell vorbei“, stimmt Thalia zu. Sie wirkt genauso wenig erfreut über meine Entlassung wie Baila, die neben ihr steht und mich betrübt ansieht. „Du kommst uns doch besuchen, oder?“ „Selbstverständlich.“ Es ist etwas mehr als zwei Monate seit ihrem ersten Wort her und obwohl sie anfangs noch unbeholfen sprach, war es rasch besser geworden und nun ist nichts mehr davon zu bemerken, dass sie jahrelang keinen Ton gesagt hat. „Kaum zu glauben, dass du noch vor uns allen rauskommst.“ Seine Worte klingen zwar nicht sonderlich begeistert, aber das Grinsen in Sorluskas Gesicht verrät sofort, dass er sich dennoch für mich freut – auch wenn es ihm wohl lieber wäre, wenn er auch endlich gehen dürfte. „Also, dass du vor Narukana rauskommst, dürfte ja niemanden wundern.“ Satsuki schmunzelt und streicht sich eine Strähne zurück. Narukana dagegen wirft nur schnaubend ihr Haar zurück, ehe sie mir einen kurzen Blick zuwirft, der mir sagen soll, dass ich ihr wohl fehlen werde. Unsere Rivalität war nie wieder so stark aufgeflammt wie am Anfang unseres Kennenlernens, sondern bewegte sich in eher vernünftigen Bahnen, so dass ich tatsächlich sagen kann, dass sie mir ein wenig fehlen wird. Subaru lächelt wie üblich. „Und vergiss uns nicht.“ Meine Verabschiedung von Nelia ist bereits am Abend zuvor gewesen, die Therapeuten und Ärzten sagten auch schon gestern schmunzelnd, dass sie mich nie wiedersehen wollen, so bleibt mir nur noch Jatzieta, die glücklicherweise auf so etwas verzichtet und mich überraschend ernst ansieht. „Dann pass gut auf dich auf, Leana. Du wirst mir hier bestimmt nicht fehlen.“ „Du mir auch nicht.“ Dabei ist sie mir doch ein wenig sympathisch geworden. Wenn man sie erst einmal ein wenig kannte und ihre nervige Stimme ignoriert, dann ist sie eigentlich ganz okay... zumindest rede ich mir das immer gern ein, damit alles erträglicher wird. Aber fortan ist das nicht mehr nötig. Eine kurze weitere Verabschiedung später, verbunden mit dem Versprechen, bald wiederzukommen, nehme ich meine Tasche und gehe die Treppe hinunter. Jede Stufe führt mich damit weg von dem Ort, mit dem ich so gut wie all meine Erinnerungen betreffend Zetsu verbinde. Das ist der Grund, warum ich die Klinik nur ungern verlasse. Ich fürchte, dass die Bilder in meinem Inneren verblassen, sobald ich durch die Tür schreite und sie nie wiederkommen werden. Was bleibt mir denn noch, wenn das passieren sollte? Aber als ich nach kurzem Zögern doch durch die Tür gehe, weiß ich, was mir bleibt. „Na, endlich fertig?“ Mein Blick zur Seite lässt mich lächeln, als ich denjenigen sehe, der da lässig an der Wand lehnt. Zetsus sanftes Lächeln verdrängt meine düsteren Gedanken von eben. „Ja, es hat länger gedauert, ich glaube, ich werde sie doch alle vermissen.“ „Wenn du sie besuchen gehst, begleite ich dich, sonst vergessen sie noch, dass ich lebe.“ „Du hättest auch eben hochkommen können.“ Er schüttelt allerdings nur den Kopf. „Nein, nein, ich wollte dir deinen Abschied nicht vermasseln. Das war dein großer Tag. Außerdem wäre es für ihn zu viel geworden.“ Damit deutet er zu der Person hinüber, die indirekt und eher unfreiwillig für seinen damaligen Anfall verantwortlich war. Tatsächlich ließen seine Eltern sich nicht scheiden, bei diesen fraglichen Dokumenten handelte es sich stattdessen eher um Adoptionspapiere für einen kleinen Jungen mit blauem Haar, Asake. Ich lernte ihn kennen, nur wenige Tage nachdem Zetsus Anfall glücklicherweise glimpflich verlaufen war und schloss ihn sofort in mein Herz. Er passt einfach perfekt zu der restlichen sympathischen Familie Akatsuki, niemand kommt auf den Gedanken, dass er lediglich adoptiert ist. Ach ja, nach dem Anfall erholte Zetsu sich schnell – und nur ein paar Wochen danach konnte er das Krankenhaus verlassen. Seine Familie meint heute noch, dass es nicht nur an Asake, sondern auch an mir lag, dass Zetsu nun fast wieder gesund ist. Er besucht noch immer eine Tagesklinik wegen seiner Depressionen und Schuldgefühle, aber es besteht nicht mehr die Gefahr, dass er einfach umkippt. Er hat einen Teil seiner Freiheit zurückbekommen und er genießt das sichtlich. Das Lächeln auf seinem Gesicht war seitdem nie mehr falsch gewesen. „Leana!“ Asake kommt herüber und lächelt mich an. „Kannst du jetzt nach Hause?“ „Ja. Es war auch lange genug, wenn man mich fragt.“ „Dann kannst du ja jetzt öfter zu uns kommen!“ Wie man sieht, hängt er auch an mir, er sieht mich sicherlich schon als große Schwester – und mir gefällt das gut. „Wollen wir dann erstmal los?“ Ohne zu fragen, nimmt Zetsu mir die Tasche ab und deutet auf die wartende Isolde. Asake nimmt meine nun frei gewordene Hand und zieht mich bereits mit sich – und obwohl ich weiß, dass man eigentlich keinen Blick zurückwerfen soll, wende ich trotzdem den Kopf und sehe zur Klinik zurück, um mich stumm davon zu verabschieden. Und selbst in diesem Moment wird mir wieder bewusst, wie ironisch es war, gerade hier Freunde und zum allerersten (und meiner Ansicht nach letztem Mal, da er einfach perfekt ist) Liebe gefunden zu haben. Lächelnd sehe ich wieder nach vorne, einem neuen Leben mit so vielen tollen Menschen entgegen. Ja, ich habe mein Glück gefunden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)