Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Kapitel 42: Bohrende Ungewissheit --------------------------------- Als ich mit Baila auf den Gang trat, bemerkte ich, dass auch alle anderen bereits aus ihrem Zimmer gekommen waren, um nachzusehen, was los war. Jatzieta stand in der Tür von Zetsus Zimmer, die Armer vor dem Körper verschränkt und das Gesicht überraschend ernst – ich wusste allerdings nicht, was sie hier um diese Zeit noch tat, immerhin war es bereits Zeit für die Spätschicht und sie trug auch keine Schwesterntracht mehr. Mein Innerstes zog sich zusammen, während ich hörte, wie in Zetsus Zimmer eifrig rumort wurde. „Jatzieta, was ist los?“ Zuerst schien sie mich aufgrund der noch immer tönenden Glocke nicht zu hören, doch dann wandte sie mir den Kopf zu. „Nun... es sieht aus als hätte Zetsu akute Probleme mit dem Herzen.“ „Ist es sehr schlimm?“, fragte Thalia von der anderen Seite. Jatzieta wandte sich ihr zu und nickte stumm zur Antwort. Im nächsten Moment trat sie bereits beiseite, eine Trage wurde aus dem Zimmer gefahren. Als mein Blick auf Zetsu fiel, wurde mir geradezu übel. Er war inzwischen derart blass, dass ich ihn kaum von dem aufgelegten Laken auf der Trage unterscheiden konnte. Allerdings blieb mir auch nicht viel Zeit, ihn zu betrachten, da die begleitenden Pfleger die Trage hastig weiterschoben in Richtung des Aufzugs, der dank Nelia bereits auf sie wartete. Ein Arzt wisperte Jatzieta noch etwas zu, dann folgte er ihnen und huschte ebenfalls in den Aufzug, ehe dieser sich schloss. Fast gleichzeitig erstarb das Schrillen der Glocke. „Was hat er gesagt?“, fragte Sorluska. Wir versammelten uns alle um sie herum, sogar Narukana war zu sehen, allerdings wirkte sie nicht sonderlich besorgt, es schien eher als würde sie einfach nur dasein, weil auch alle anderen auf dem Gang standen. Jatzieta bemühte sich zu lächeln, aber man sah deutlich, dass es ihr schwerfiel. „Er meinte, Zetsu hätte das Bewusstsein verloren und die Vitalsignale wären sehr schwach, aber sie würden sich alle Mühe geben, ihm zu helfen.“ Wir alle sogen überrascht und erschrocken die Luft ein, lediglich Nozomu ließ sich nichts anmerken – aber seine vor der Brust verschränkten Arme wirkten steifer als sonst und ich bekam den Eindruck, dass er leicht zitterte. „Ist heute irgendetwas vorgefallen?“, fragte Nelia, als sie sich ebenfalls zu uns stellte. „Irgendetwas, was ihm derart zugesetzt hat?“ Die anderen warfen sich Blicke zu, aber offensichtlich wusste keiner etwas. Lediglich ich nickte zustimmend. „Seine Eltern unterhielten sich heute über etwas und er glaubt, dass sie sich scheiden lassen wollen, aber sie haben noch nichts dazu gesagt.“ „Ich verstehe.“ Nelia sah zu Jatzieta hinüber. „Ich werde seine Familie anrufen. Kannst du dich solange um die Patienten kümmern?“ Nach einer kurzen Bestätigung ging Nelia wieder ins Schwesternzimmer und schloss die Tür hinter sich. Jatzieta dagegen ging mit uns in den Gruppenraum. Sogar Narukana kam mit uns, doch während wir uns an den Tisch setzten, nahm sie auf einem der Sessel Platz, um ein wenig Distanz zu uns zu demonstrieren – zumindest stellte ich mir das so vor. „Er hat gesagt, dass er uns anrufen wird, sobald er uns mehr über Zetsus Zustand sagen kann“, erklärte Jatzieta. So ganz begriff ich aber noch nicht, was geschehen war. Ich starrte auf den leeren Stuhl mir gegenüber und erwartete jeden Moment, einen gut gelaunten Zetsu dort zu sehen, doch blieb der Platz unbesetzt, was etwas sehr Wichtiges fehlen ließ. „Ist alles in Ordnung, Nozomu?“ Als ich zu ihm hinübersah bemerkte ich, dass er immer noch zitterte, nun aber deutlicher als zuvor. Dennoch verzog er nicht einmal die Mundwinkel. „Natürlich.“ Die neben ihm sitzende Thalia verpasste ihm eine Kopfnuss. „Idiot! Ich dachte, du würdest hier in der Therapie lernen, über deine Probleme zu sprechen!?“ Doch bevor er etwas darauf erwidern konnte, hellte Jatzietas Gesicht sich auf. „Soll ich Cynard anrufen, damit er vorbeikommt?“ Nozomu rollte mit den Augen. „Nein, bloß nicht. Das letzte Mal, als wir ihn anriefen, damit er nachts auftaucht, war er schlecht gelaunt.“ „Ist so etwas denn schon einmal passiert?“, fragte ich besorgt. Die anderen blickten zu mir, als würden sie erst in diesem Moment bemerken, dass ich noch da war. Glücklicherweise fing Subaru sich schnell genug wieder, um mir zu antworten: „Das letzte Mal war es nicht Zetsu. Eine andere Patientin hat versucht, sich das Leben zu nehmen und weder Dr. Breen noch Dr. Cworcs waren zu erreichen. Also hat Nelia bei Cynard angerufen und es drei ganze Minuten klingeln lassen. Als er dann kam, war er sehr schlecht gelaunt und kaum war die Patientin fort, hat er sich ein eines der leeren Betten gelegt und geschlafen.“ Ich war doch ziemlich überrascht, das zu hören. So hätte ich diesen Therapeut mit Sicherheit nicht eingeschätzt, im Gegenteil, ich wäre jede Wette eingegangen, dass er als Erstes wie ein Engel eingetroffen wäre, um den gefährdeten Patienten zu retten. „Also sollten wir lieber darauf verzichten“, schloss Nozomu für Subaru. „Außerdem will doch hier mit Sicherheit ohnehin keiner über Zetsu sprechen.“ Schlagartig kehrte die angespannte Atmosphäre zurück, mein Magen zog sich derart schmerzhaft zusammen, dass ich glaubte, er würde sich um die Hälfte verkleinern. Der Gedanke an Zetsu, der gerade mit dem Tod rang – oder diesen möglicherweise sogar gerade dazu breitzuschlagen versuchte, dass er ihn mitnahm – weckte in mir erstmals die Furcht, jemanden zu verlieren, der mir viel bedeutete. Heute denke ich, einer der Gründe, warum ich nie Freunde haben wollte, war nicht nur die Tatsache, dass ich viele Menschen für einfach bescheuert halte, sondern, dass ich befürchtete, sie wieder zu verlieren, wenn ich sie erst einmal zu sehr mochte. Heute erkenne ich erst die Ironie darin, dass es tatsächlich zu einer solchen Situation kam, gerade als ich das erste Mal verliebt war. Aber zurück zu jener Nacht: Ich war offenbar nicht die einzige, die nicht darüber nachdenken wollte, denn auch Sorluska wechselte wieder das Thema: „Yo, Jatzieta, wie kommt es eigentlich, dass du noch hier bist. Hast du nicht mal Feierabend oder so?“ „Bist du etwa um meine Gesundheit besorgt?“, fragte sie schmunzelnd. Ihr anzüglicher Tonfall ließ ihn das Gesicht verziehen, was ich nur zu gut nachvollziehen konnte. „Nee, aber sonst seh ich dich hier nachts nicht und dann gerade heute...“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jatzieta irgendetwas getan hatte, das Zetsu in diesen Zustand versetzte – aber andererseits... Ich schielte zu ihr hinüber, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen, nicht im Mindesten. „Oh, ich habe nur Nelia besucht. Das mache ich öfter mal, wenn ich gerade in der Gegend bin.“ Wir blickten sie alle ähnlich verwundert an. „Musst du morgens nicht früh raus?“, fragte Subaru. „Und dann wieder hierher kommen?“, fügte Thalia hinzu. „Was machst du dann auch noch nachts in der Gegend?“, beendete Nozomu die Runde. Über all diese Aufmerksamkeit vergnügt, lächelte sie. „Oh, ich schlafe ziemlich schlecht, da kommt es öfter vor, dass ich noch lange unterwegs bin – und dann schaue ich schon mal nach meinen Schäfchen.“ Bei diesen Worten legte sie einen Arm um die neben ihr sitzende Baila, die das sehr zu freuen schien. Gut, das war geklärt – ich war mir ziemlich sicher, dass Jatzieta selbst auch recht depressiv war und irgendwas nahm, um immer so gut drauf zu sein, deswegen allerdings nicht schlafen konnte. Oder auch nicht, aber was kümmerten mich ihre Probleme? „Wegen Zetsu...“, begann ich vorsichtig, das anzusprechen, was mich schon mehr interessierte. „Was ist denn genau passiert?“ Wie von mir erwartet, blickte Jatzieta zu Nozomu, damit er weitererzählte. „Zetsu hat mich geweckt, weil ihm schlecht war. Er wollte, dass ich ihn ins Bad begleite – aber kaum dass er das Bett verlassen hatte, ist er zusammengebrochen. Ich bin dann ins Schwesternzimmer und die haben im Hauptgebäude einen Arzt gerufen.“ „Nozomu war so ruhig“, schaltete Jatzieta sich ein. „Ich hätte nicht gedacht, dass es wirklich etwas Ernstes ist. Aber offensichtlich war es ja doch so.“ Wieder kehrte Schweigen ein, keiner wollte mehr etwas dazu sagen, am Allerwenigsten ich. Ich hoffte nur noch, dass Zetsu wirklich kämpfte und nicht einfach aufgab. Während ich diesem Gedanken nachhing, sah ich die anderen an – und in jedem Gesicht, selbst dem von Narukana, entdeckte ich dieselbe Hoffnung. In diesem Moment erkannte ich, dass wir alle unmerklich tatsächlich zu einer Gemeinschaft verschmolzen waren. Zumindest mir war es nicht aufgefallen und ich hätte wetten können, dass auch die anderen nicht im Mindesten darauf geachtet hatten. Da ich keinerlei Erfahrung mit Freundschaften besaß, wusste ich nicht, ob das normal war – aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass man sich wirklich mit Vorsatz anfreundete. Isolde hatte mir gegenüber einmal erwähnt, dass es einfach so geschah und sie bei vielen ihrer Freunde anfangs nie mit engen Freundschaften gerechnet hätte – aber irgendwann, ehe sie sich versehen hatte, waren sie bereits beste Freunde gewesen. Das musste hier ebenfalls geschehen sein, selbst mit Narukana. Das Geräusch einer sich öffnenden Tür unterbrach meine Gedanken. Nelia trat aus dem Schwesternzimmer, zu dem wir alle gleichzeitig sahen, allesamt mit der Furcht einer schlechten behaftet. Doch Nelia schüttelte leicht den Kopf. „Es hat noch niemand angerufen, ich habe nur mit seinen Eltern telefoniert. Sie sind auf dem Weg auf die Intensivstation – und im Übrigen ist keine Scheidung geplant.“ „Was denn dann?“ Sie zuckte mit den Schultern, offenbar war es ihr nicht gesagt worden, aber das wunderte mich nicht weiter. Wenn sie es schon nicht ihrem Sohn erzählten... und möglicherweise hatten sie Nelia auch nur angelogen, ich konnte es nicht sagen. Statt sich zu setzen, blieb sie in der Tür des Gruppenraums stehen, jederzeit bereit, ans Telefon zu gehen, sollte es klingeln. „Worüber sprecht ihr?“, wollte sie wissen. „Nozomu hat uns gerade erzählt, wie er zu uns ins Schwesternzimmer kam. Jetzt schweigen wir allerdings – als wäre unser aller Liebling schon tot.“ Nelia griff sich seufzend an die Stirn. „Lass das, Jatzieta. Wenn er wirklich stirbt, wird dir das noch Leid tun.“ „Sei doch nicht so pessimistisch.“ Die beiden unterhielten sich noch eine Weile in dieser Manier weiter, aber mich kümmerte das nicht mehr, so dass ich mit den Gedanken wieder fortschweifen konnte. Das Verhalten der beiden in einer solchen Situation kam mir viel zu gekünstelt und surreal vor als dass ich es hätte ernstnehmen können. Es war wie in einer dieser Komödien, die ich so hasste, in denen man selbst in den ernsten Moment noch krampfhaft einen Witz unterbringen musste. Statt mich auf diese Witze zu konzentrieren, versank ich lieber in Erinnerungen an Zetsu, auch wenn man das eigentlich erst tat, wenn eine Person wirklich tot war. Aber ich hoffte, dass, wenn ich nur fest genug an ihn dachte, er das spüren und ihm das Kraft geben würde – im Nachhinein klingt das wirklich verdammt schnulzig. Ich dachte wieder an meinen ersten Tag zurück, als ich ihn das allererste Mal gesehen und sofort von seinen blauen Augen und dem silbernen Haar fasziniert gewesen war. Ein wenig beschämt erinnerte ich mich, wie ich nach seinem ersten Wort zu mir in Ohnmacht gefallen war. Aber dafür erfüllte mich der Gedanke an die Wärme in seiner Nähe wieder mit einem ungeheuren Glücksgefühl, das nur noch dadurch gesteigert wurde, dass ich in seinen Armen geschlafen und er mir meinen ersten Kuss gegeben hatte. Ich war ohne jede Hoffnung in diese Klinik gekommen, aber Zetsu hatte mir wieder neuen Mut gegeben und ich war in der Lage gewesen, Freunde zu finden, das erste Mal in meinem Leben. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass ein Mensch allein nicht leben konnte, er existierte, aber er lebte erst, wenn es jemanden gab, mit dem man Erinnerungen erschaffen konnte, denn – und davon bin ich auch heute noch überzeugt – es sind die Erinnerungen, diese ganz besonderen Momente, die man nie mehr vergisst und die man sich mit Freuden immer wieder ins Gedächtnis rief, die das Leben erst ausmachen. Wenn man es so betrachtete, waren Fotoalben also nicht nur bunte Staubfänger, sondern Schatztruhen unzähliger Leben – und ich wollte unbedingt und mit jeder Faser meines Herzens ebenfalls einen solchen Schatz anlegen und das mit Zetsu und allen anderen. Ich spüre noch heute, wie ich in diesem Moment am Liebsten vor Rührung in Tränen ausgebrochen wäre, doch ich hielt mich zurück. Meine Augen schwammen aber offenbar bereits darin, denn die anderen sahen plötzlich mich besorgt an. „Alles in Ordnung, Leana?“, fragte Subaru. Ich fuhr mir hastig mit dem Arm über die Augen. „Ja, natürlich, ich bin nur müde.“ Allerdings quittierte ich die Frage, ob ich wieder ins Bett gehen wollte, mit keiner Antwort. „Sieht wohl nicht so aus“, meinte Nozomu. Thalia sah zu Narukana. „Na ja, sie ist auch noch da, also kein Wunder.“ Sie warf ihr schwarzes Haar zurück und schnaubte dabei. „Ich bin immer da, wo ich sein will.“ „Solange sie keinen Ärger macht, geht es ja“, bemerkte Sorluska. Sie sah keineswegs so aus als würde sie das machen wollen, stattdessen wirkte sie sogar überraschend sanft, ganz anders als sonst. Sie hatte noch nicht einmal irgendwas über ihre Götterkräfte gesagt. Im Moment wirkten wir auf Außenstehende wohl alle wie eine ganz normale Gruppe von Freunden. Zu traurig, dass es erst ein solches Ereignis brauchte, um uns so zusammenzubringen. Ich weiß nicht, wie lange wir so zusammensaßen, ich weiß auch nicht mehr, worüber wir genau sprachen, nur dass wir Erinnerungen über Zetsu austauschten. Nozomu besaß natürlich besonders viele, da sie sich schon Jahre vor der Klinik gekannt hatten. Ich genoss die Erzählungen über einen fröhlichen Zetsu, der hochmotiviert in die Schule ging, nur um sich dort in der Bewunderung seines Fanclubs zu sonnen oder die über einen Zetsu, der mountainbiken ging oder jene über den Zetsu, der sich tatsächlich den ganzen Tag auf einem Flughafen aufhalten konnte, nur um Flugzeuge zu beobachten oder Videospiele in der Wartehalle zu spielen. Als Patient war er anders gewesen, aber nicht gänzlich, immerhin sehnte er sich immer noch Freiheit und liebte Videospiele und genoss jegliche Bewunderung, die er bekommen konnte. Es mussten bereits Stunden vergangen sein, der Morgen graute schon in der Entfernung und wir alle waren doch noch müde geworden – als ein lautes Klingeln aus dem Schwesternzimmer uns alle schlagartig wieder hellwach werden ließ. Wir blickten hinüber und folgten Nelia hastig, als sie das Zimmer betrat, um das Telefon zu beantworten. Mit angehaltenem Atem drängten wir uns in die Tür, um direkt mitzubekommen, was gesprochen wurde. Nelia warf uns einen mahnenden Blick zu, damit wir ruhig waren und hob dann den Hörer ab. In einem äußerst professionellen Ton, den ich bei ihr so sehr liebe, begrüßte sie die Person am anderen Ende: „Offene Station der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Sie sprechen mit Schwester Attwater.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)