Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Kapitel 34: Auf der Karte ------------------------- Die Tage vergingen und der Samstag kam überraschend schnell. Während Isolde arbeiten war, verbrachten Zetsu und ich die Zeit entweder im Park vor dem Haus oder vor dem Fernseher. Je länger wir zusammen waren desto weniger verspürte ich den Drang, ihn unaufhörlich anzustarren und wir schafften es, uns ungezwungen zu unterhalten. Auch über seine Familie, von der ich nun offenbar schon die Hälfte kennen gelernt hatte. Bis auf seine Eltern, so wie seinen Onkel und seine Tante besaß er keine Familienmitglieder mehr. Also in etwa wie bei mir, nur dass ich meine Erzeuger nicht mehr als Familie sah. In jedem einzelnen Wort, das Zetsu verlor, konnte ich die Liebe zu seiner Familie spüren, es machte mich schon regelrecht neidisch, ich wünschte, sie könnten meine Verwandten sein. Aber immerhin hatte ich noch meine Schwester, um die mich ja Zetsu beneidete, was mich wieder ein wenig versöhnlicher stimmte. Am Samstag war Isolde den ganzen Tag da, weswegen wir dann zwar nicht allein waren – aber es war eine sehr interessante Erfahrung, dass wir zu dritt auf ihrem Bett herumlagen, um von dort fernzusehen. Mein Verdacht, dass Isolde dieser Freizeitbeschäftigung äußerst gern nachging, bestätigte sich auch direkt, da sie sich mit Zetsu angeregt über das Programm unterhielt. Da ich keinerlei Erfahrung diesbezüglich hatte, schwieg ich und hörte ihnen lediglich zu und freute mich, dass er sich offenbar wirklich wie ein Teil der Familie fühlte – genau wie ich mich bei seinem Vater und seiner Tante. Auch wenn sich mir bei diesem Gedanke die Frage stellte, welchen Eindruck sie wohl bekommen hatten, wie ich zu Zetsu stand. Andererseits verstörte mich dieser Gedanke ein wenig, immerhin wusste ich noch nicht einmal genau, wie Zetsu selbst zu mir stand, ich wusste nur, dass er mich mochte, aber das konnte viel heißen. Vielleicht sah er mich als Schwester, vielleicht als gute Freundin oder vielleicht doch als etwas mehr. Jedenfalls mochte er mich und das war doch immerhin etwas wert. Aber ein wenig mehr Bestätigung... na ja, wie auch immer. Ich wurde erst wieder auf das Gespräch zwischen den beiden aufmerksam, als Isolde plötzlich „Bald ist ja wieder Montag“ sagte. Dabei schmunzelte sie seltsamerweise, fast schon als würde sie sich freuen, Zetsu wieder loszuwerden. Zumindest kam es mir so vor und ihm offenbar auch, sein Gesicht verfinsterte sich immerhin plötzlich. „Das ist richtig.“ „Freust du dich schon wieder darauf?“ Ich bedachte Isolde mit einem finsteren Blick, der allerdings keine Wirkung auf sie zu haben schien. Möglicherweise hatte er seine Wirkung verloren oder aber da war nie eine gewesen. Zetsu wandte demonstrativ das Gesicht ab. „Wie mans nimmt.“ Mit Sicherheit freute er sich auf sein Wiedersehen mit Nozomu, aber trotzdem zeigte sich kein bisschen Begeisterung in seiner Mimik. An seiner Stelle wäre es mir genauso gegangen, aber da ich inzwischen der Überzeugung war, dass er dort hingehörte, würde ich nicht mehr dafür sorgen, dass er nicht zurückgehen musste. Besonders nach der Begegnung mit seiner sympathischen Familie würde ich diesen nicht in den Rücken fallen. Sein Vater sorgte sich wirklich um ihn, was wäre ich für ein Mensch, wenn ich diese Sorge nähren statt sie entlasten würde? Für den Rest des Tages war Zetsu abweisend und wortkarg, am Abend zog er sich sogar in mein Zimmer zurück, wo ich ihn schließlich aufsuchte, um ihn zum Essen abzuholen. Ich hoffte, er wäre endlich wieder so unbeschwert wie zuvor, immerhin stand uns noch ein gemeinsamer Tag bevor. Zu meiner Überraschung saß er auf meinem Bett, eine Karte darauf ausgebreitet, die er... wo auch immer herhatte. Möglicherweise war sie irgendwo im Zimmer gewesen oder Isolde hatte- ach, was überlege ich da eigentlich? Die Karte, auf die er jedenfalls starrte, zeigte offenbar das Nahverkehrsnetz der Stadt. „Was tust du da?“, fragte ich neugierig. Er blickte nicht auf, als er mir antwortete: „Erinnerst du dich an die Bahnstation, von der ich dir erzählt habe?“ Als er das erwähnte, fiel mir wieder ein, dass er versprochen hatte, dass wir noch dorthin fahren würden. Wir hatten so viel Zeit mit Nichtstun und Reden verbracht, dass mir das vollkommen entfallen war. „Ich schaue gerade, wo sie ist und wie wir dorthin kommen.“ Interessiert setzte ich mich neben ihn aufs Bett und blickte ebenfalls auf die Karte. All die Namen und Stationen und verschiedene Farben der einzelnen Linien verwirrten mich im ersten Moment, es dauerte, bis ich ein wenig besser durchblicken konnte – allerdings half mir das nicht weiter, da ich nicht wusste, wie die nächste Haltestelle von hier aus gesehen überhaupt hieß. Glücklicherweise lenkte Zetsu mich ab, als er endlich die von ihm gesuchte Station gefunden hatte. Er deutete auf einen Punkt in der Nähe des Flusses, wo zumindest inzwischen nichts mehr zu sehen war. „Es war eindeutig hier.“ „Was macht dich so sicher?“ Ich konnte nichts sehen, meiner Meinung nach war das nur ein weiterer Punkt am Fluss von vielen. Er hätte auch genauso gut irgendwo anders hindeuten können, das wäre für mich auf dasselbe herausgekommen. Zetsus Finger wanderte zu einer anderen, noch existierenden, Station. „Hier sind wir immer ausgestiegen, diese Haltestelle gibt es noch.“ Bedächtig fuhr er die Bahnlinie nach, um den Weg zu uns zurückzuverfolgen. Ich folgte der Bahn seines Fingers und merkte mir dabei unbewusst die einzelnen Stationen auf dem Weg. Wenn ich hier weiterhin wohnen würde, wäre es immerhin angebracht, sich ein wenig auszukennen. Schließlich hielt er wieder inne. „Hier sind wir. Es ist gar nicht so weit weg, siehst du?“ „Und ihr seid immer so weit gefahren damals?“ Es waren immerhin zehn Stationen – und in meinen Augen war das schon ziemlich weit weg, aber immerhin musste man nicht umsteigen. „Mir kam das nie weit vor. Aber man denkt da auch nicht groß darüber nach, wenn man noch jung ist, nicht?“ „Möglich.“ Ich verdrängte die meisten meiner Kindheitserinnerungen, womöglich auch eine, die das beinhaltete. Oder ich wollte einfach nicht darüber nachdenken. Wieder lächelnd faltete er die Karte zusammen. Allerdings schaffte dieses Lächeln es nicht, mich zu beruhigen, im Gegenteil. Es war jenes, das ich noch allzugut aus dem Krankenhaus kannte, dieses falsche, aufgesetzte Lächeln, das mir nun den Schauer über den Rücken laufen ließ. „Wir sollten wirklich noch hinfahren“, sagte ich leise, um mich davon abzulenken und auch ihn – aber seine Mimik änderte sich kein bisschen. Er nickte dennoch. „Ja, das sollten wir machen.“ Es war eine Lüge und es erschreckte mich, dass ich ihn inzwischen gut genug kannte, um das zu bemerken. Dennoch widersprach ich nicht, ich hatte ihn immerhin erlebt, als Nozomu ihm widersprochen hatte – und sein Vater vertraute mir, dass ich auf ihn achtete. „Das Essen ist übrigens fertig. Kommst du?“ Mit einem Nicken erhob er sich und folgte mir in die Küche. Den Rest des Abends verhielt er sich so wie zuvor, doch mich konnte er nicht mehr täuschen und das zeigte ich ihm deutlich mit meinem Blick. Ich weiß nicht, ob er mich gut genug kannte, um das auch zu erkennen, aber ich tat, was ich konnte. Dennoch schlief ich in der Nacht wieder äußerst schlecht, was ausnahmsweise nicht an Isolde lag, an deren Schlafgewohnheiten ich mich bereits gewöhnt hatte. Immer wieder döste ich ein, nur um einen Moment später wieder aufzuwachen und dann erneut wegzudösen. Deswegen dachte ich mir nichts weiter dabei, als ich irgendwann, als der Morgen draußen bereits graute, das leise Geräusch eines Schlüssels hörte, gefolgt von einer Tür, die erst geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Da glaubte ich noch, dass ich mir das nur im Halbschlaf einbildete. Das geschah mir häufiger, wenn ich ein wenig weggetreten, aber durch irgendetwas wach geworden war. Im Krankenhaus hatte ich mir oft eingebildet, dass Narukana ins Zimmer hereinkam... gut, das war vielleicht mehr als nur Einbildung gewesen, aber mein Punkt bleibt bestehen, es kommt bei mir häufiger vor. Darum ignorierte ich es einfach. Kurz danach musste ich wirklich eingeschlafen sein, denn ich bekam nicht mit, wie Isolde aufstand und bereits in der Wohnung rumorte. Zumindest glaube ich, dass sie das tat, ich schlief immerhin – und das so lange, bis ich an der Schulter gerüttelt wurde. Ich war immer noch müde, weswegen ich nur leise murrte und versuchte, den Störfaktor mit einer halbherzigen Handbewegung zu verscheuchen. Doch sie ließ nicht locker und im nächsten Moment hörte ich bereits Isoldes Stimme. Das, was sie sagte, schaffte es schließlich schlagartig, mich wachzubekommen, ungeachtet meiner bisherigen Müdigkeit: „Leana, wach auf! Zetsu ist weg!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)