Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Kapitel 30: Die Stimme der Vernunft ----------------------------------- Es musste lange her gewesen sein, seit Zetsu zuletzt eine normale Wohnung und nicht mehr nur ein Krankenhauszimmer gesehen hatte, so kam es mir jedenfalls vor, als er äußerst neugierig alles mögliche betrachtete, kaum dass ich ihn in unsere Wohnung gebracht hatte. Während ich ihm dabei zusah, fragte ich mich, was ich nun mit ihm machen sollte. Sollte ich ihm etwas zu essen anbieten? Etwas zu trinken? Sollte ich im Krankenhaus anrufen, um zu sagen, dass sie nicht nach ihm suchen mussten? Oder vielleicht bei seinen Eltern? Irgendjemand musste sich doch Sorgen um ihn machen, oder? Ihn schien das aber nicht weiter zu kümmern, als er sich schließlich vor das Regal kniete, um auch die Bücher in der untersten Reihe zu betrachten. In dem Moment kam er mir wirklich wie ein Kind vor. Ein sehr großes Kind, das irgendwann vergessen hatte, erwachsen zu werden... Ob Zetsu wohl Peter Pan mochte? Er war noch immer in seine Betrachtung vertieft, bei der ich ihn beobachtete, als die Tür geöffnet wurde und Isolde hereinkam. Ihre Begrüßung an mich blieb ihr geradewegs im Hals stecken, als sie Zetsu erblickte, der den Kopf hob und ihr freundlich zulächelte. Höflich wie er war, grüßte er sie natürlich, was von ihr sofort erwidert wurde. „Besuch, Leana?“ Sie sah mich mit anerkennend gehobener Braue an, worauf ich am Liebsten im Boden versunken wäre vor Scham, doch Zetsu schien sich nicht darum zu kümmern. Ich stellte ihn ihr vor und wiederholte die Prozedur auch, um sie ihm vorzustellen. Beide nickten sich zu, dann wandte Isolde sich an mich: „Kann ich dich mal sprechen?“ Ich bat Zetsu, weiterhin zu warten und sich irgendwas anzusehen, ehe ich mit ihr in die Küche ging. Ihr ernster Blick passte eigentlich gar nicht zu ihr, wenn man mich fragte, aber er erfüllte seinen Zweck, das musste ich ihm lassen. „Ich habe ja nichts dagegen, wenn du ehemalige Mitpatienten hierher einlädtst, aber mir drängt sich die Frage auf, ob er offiziell hier ist.“ Schuldbewusst blickte ich zu Boden. „Nein, eigentlich nicht – aber er wird ja nicht ewig hier bleiben, keine Sorge.“ „Also weiß niemand, dass er hier ist?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und erklärte Isolde die Situation in knappen Worten, dass er weggelaufen war und dass ich ihn nicht auf der Straße schlafen lassen wollte und ihn deswegen eingeladen hatte. Ich erwartete, dass sie wütend werden und mir erklären würde, was für ein unvernünftiger Mensch ich doch wäre und dass wir ihn sofort zurückbringen mussten. Doch sie reagierte vollkommen anders als ich gedacht hätte. Zu meiner Überraschung lachte sie, statt wütend zu werden, eben typisch Isolde. „Was ist so komisch?“ Es dauerte eine Weile, ehe sie sich wieder genug beruhigte, um mir antworten zu können: „Andere bringen streunende Hunde oder Katzen mit sich – du bringst mir gleich einen Jungen mit... Aber immerhin einen gutaussehenden.“ Bei diesen Worten blinzelte sie mir zu, ich dagegen rollte mit den Augen. „Du verstehst da etwas ganz eindeutig falsch.“ Glücklicherweise beschloss sie, nicht weiter mit mir zu diskutieren, sondern sich lieber wieder einem etwas anderen Thema zu widmen: „Auch wenn er nur eine Nacht bleibt, du musst im Krankenhaus anrufen, damit sie wissen, dass er hier ist.“ „Kannst du das nicht übernehmen?“ Bittend blickte ich sie an. Ich versuchte, denselben Gesichtsausdruck zu verwenden, den sie mir gegenüber nutzte, wenn ich ihr einen Gefallen tun sollte. Ich wollte nur äußerst ungern dort anrufen, möglicherweise sogar noch Jatzieta am anderen Ende der Leitung erwischen. Nein, danke, darauf konnte ich wirklich verzichten. Zu meiner Erleichterung ging Isolde darauf ein. „Gut, ich mache das. Du kümmerst dich aber solange um deinen Freund, verstanden?“ Argh, warum musste sie dieses Wort so sehr betonen? So klang es wirklich als ob sie meinte, er wäre mein fester Freund. Dabei waren wir davon doch weit entfernt... also, wirklich, wirklich weit. Gut, vielleicht nicht ganz so weit- Warum dachte ich eigentlich darüber nach? Statt noch etwas zu sagen, um sie weiter zu amüsieren, nickte ich nur und ging wieder in Isoldes Zimmer zurück, wo Zetsu sich bereits eines der Bücher aus dem Regal gegriffen hatte und nun interessiert darin blätterte. Kaum bemerkte er, dass ich wieder da war, stellte er das Buch hastig zurück. „Worüber habt ihr gesprochen?“ „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du es mitbekommen hast.“ Immerhin waren die Türen offen gewesen und die Küche lag direkt nebenan. Sein Gesicht verdüsterte sich entsprechend. „Ja, habe ich. Aber du weißt hoffentlich, dass mir das nicht sonderlich gefällt, oder?“ Ich konnte nichts darauf erwidern, da in diesem Moment Isolde hinter mir den Raum betrat und es mir abnahm: „Du weißt aber bestimmt, dass ich kein Interesse daran habe, dass meine Schwester und ich uns hier strafbar machen, oder?“ „Tut ihr das denn?“ Ja, er war stellenweise tatsächlich ein Kind, so schien es mir. Allerdings war ich mir in dem Moment auch nicht sonderlich sicher, was das anging, weswegen ich Isolde ebenfalls fragend ansah. Sie lachte spöttisch auf. „Aber natürlich. Okay, ich kann dir weder den genauen Straftatbestand noch den entsprechenden Paragraphen nennen, aber es ist illegal, vertrau mir.“ Zetsu warf mir einen Blick zu, ich konnte aber nur mit den Schultern zucken und ein Gesicht machen, das ihm sagen sollte, dass wir ihr besser mal glauben sollten. Ich war wirklich erstaunt, dass er es verstand und zustimmend nickte. Vielleicht waren wir ja gar kein schlechtes Team. „So, während ich dann mal für Zetsus Verfehlungen geradestehe, könnt ihr euch mal um das Abendessen kümmern, ich verhungere fast.“ „Oh, gute Idee“, stimmte er zu. Mir war der Appetit eigentlich schon lange vergangen, ich schloss mich allerdings beiden an und bedeutete Zetsu, mir zu folgen, was er auch sofort tat. Hinter uns schloss Isolde die Tür, um ungestört zu telefonieren. Während ich überlegte, was wir kochen sollten, lehnte Zetsu sich gegen die Arbeitsplatte. „Deine Schwester ist eine ziemlich vernünftige Person, was?“ „Ich muss ehrlich sagen, dass ich davon ziemlich überrascht bin“, erwiderte ich, während ich nebenbei darüber nachdachte, ob Ravioli aus der Dose eine gute Idee wären. „Ist sie sonst nicht so?“ „Früher nicht, da hat sie immer ziemlich in den Tag hineingelebt und sich selten darum geschert, was richtig oder falsch ist.“ Nein, Ravioli waren eine schlechte Idee, auch wenn sie schnell und einfach zu machen waren, aber ich mochte die nicht so sehr. „Aber da waren unsere Eltern noch vernünftig – erst als die beiden ihr nacheiferten, schien sie mit Vernunft rebellieren zu wollen. Sie musste eben plötzlich an ihrer Stelle erwachsen sein.“ Eine einfache Suppe hätte mir auch gereicht, aber wenn Zetsu und Isolde schon knapp vor dem Verhungern standen, brauchten sie möglicherweise doch eher etwas Habhafteres – und Gemüse für die Suppe zu kaufen, es zu schneiden und es dann zu kochen, damit es habhafter wurde, hätte auch zu viel Zeit in Anspruch genommen. „Eure Eltern sind wohl nicht sonderlich toll.“ „Das kannst du laut sagen.“ Die Spaghetti und das Glas Tomatensoße aus dem Kühlschrank sahen eigentlich nicht schlecht aus und es wäre bestimmt auch schnell gemacht. Da Zetsu nichts mehr sagte, während ich beides auf die Arbeitsplatte legte und dann Wasser aufzusetzen begann, beschloss ich, einfach ihn etwas zu fragen: „Was ist mit deinen Eltern so?“ Im Krankenhaus war er privaten Fragen stets aus dem Weg gegangen oder hatte einfach gesagt, dass mich die Antworten nichts angingen. Zumindest Letzteres konnte er hier immerhin auch tun, doch stattdessen antwortete er tatsächlich: „Ich liebe meine Eltern. Sie sind wunderbare Menschen – auch wenn ich es hasse, dass sie mich in dieses Krankenhaus gebracht haben.“ Bitterkeit huschte über sein Gesicht, wurde aber sofort wieder von einem sanften Lächeln abgelöst. „Ansonsten sind sie aber wirklich großartig, genau wie mein Onkel oder meine Tante. Eigentlich ist es fast schon zu schön, um wahr zu sein, wie perfekt meine Familie ist.“ Prüfend blickte ich ihn an, nachdem ich die Töpfe auf den Herd gestellt hatte. „Ist das echt wahr?“ Er nickte zustimmend. „Gut, dann... warum sprichst du nicht einfach mit ihnen und fragst sie, ob du die Klinik nicht verlassen darfst?“ „Das habe ich schon – erfolglos. Sie wollen mein Bestes, ich verstehe das schon, aber es ist auch ziemlich nervig.“ „Kann ich mir vorstellen.“ Ich war immerhin freiwillig in der Klinik gewesen. Beim Gedanken, dass irgendjemand mich möglicherweise dazu hätte zwingen können, wurde mir auch ganz anders. Die Tür zum Nebenraum wurde geöffnet, im nächsten Moment kam Isolde in die Küche. „Ich habe alles geklärt. Dr. Breen bedankt sich für den Anruf, hofft, dass mit Zetsu alles in Ordnung ist und wünscht, dass er spätestens am Montag wieder im Krankenhaus ist.“ „Dann wäre er ja noch vier Tage bei uns“, entfuhr es mir. Zetsu blickte mich lächelnd an. „Ist das ein Problem für dich?“ In gewisser Weise ja, denn ich würde immerhin einige Zeit allein mit ihm sein müssen, während Isolde arbeiten war. Andererseits aber hatte der Gedanke auch etwas für sich. „Nein, natürlich nicht. Bleib ruhig.“ „Solltet ihr nicht auch mich fragen?“, meldete Isolde sich. Wir wandten uns beide ihr zu, Zetsu trug bereits wieder seinen Welpen-Ausdruck auf dem Gesicht. Dem konnte man doch einfach nicht widerstehen. Aber mir war auch klar, dass Isolde ihre Entscheidung ohnehin schon lange getroffen hatte, sonst wäre sie mit ganz anderen Worten in die Küche gekommen. „Natürlich kann er bis Montag bleiben“, sagte sie lächelnd. „Fühl dich hier ganz wie zu Hause, Zetsu.“ „Vielen Dank, Ms. Vartanian“, kam es von Zetsu. Isolde grinste. „Oh bitte, da kling ich ja richtig alt. Nenn mich lieber Isolde, ich bin immerhin nicht deine Lehrerin.“ „Einverstanden.“ Oh ja, ich sah Zetsu schon richtig als Teil unserer Familie, eigentlich ein angenehmer Gedanke... den ich mir besser wieder aus dem Kopf schlagen sollte. Am Montag würde er wieder in die Klinik zurückkehren und dann würde ich ihn wirklich nie wiedersehen – zumindest dachte ich das in diesem Moment noch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)