Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Kapitel 29: Eine unerwartete Begegnung -------------------------------------- „Was machst du hier?“ Immerhin hatte ich es dieses Mal geschafft, nicht in Ohnmacht zu fallen, das war ein Fortschritt. Aber ich war zu baff, um seine Begrüßung zu erwidern, auch wenn er absolut nichts von seinem Charme verloren hatte, wie ich feststellte. Ohne zu antworten wandte er den Blick ab, ich bohrte dennoch weiter: „Solltest du nicht in der Klinik sein?“ Er fixierte etwas mit seinen Augen, dann griff er plötzlich nach meiner Hand und zog mich mit sich. „Lass uns woanders darüber sprechen. Ich lad dich ein.“ Mit diesen Worten zog er mich in ein kleines Café, wo wir uns gemeinsam an einen Tisch setzten. Ohne mich zu fragen, bestellte er mir ein Wasser und sich selbst eine Cola – ich war erstaunt, dass er sich noch daran erinnerte, dass ich ungern süße Getränke trank, ich hätte mir so etwas nicht gemerkt, muss ich ehrlich zugeben. Während wir auf die Bestellung warteten, sprachen wir kein Wort miteinander, ich sah ihn nicht einmal an, konnte aber spüren, dass sein Blick auf mir ruhte. So musste er sich wohl gefühlt haben, als ich ihn im Krankenhaus dauernd angestarrt hatte. Kein sehr angenehmes Gefühl. Zetsu bedankte sich höflich bei der Bedienung, als sie uns die Getränke brachte und wandte sich dann sofort wieder mir zu: „Also, zu deiner Frage vorhin...“ Gespannt sah ich ihn an, erwartete irgendeine sinnvolle Erklärung, dass er zum Beispiel, plötzlich wieder genesen wäre oder er so todkrank war, dass man ihn für die letzten Wochen entlassen hatte oder von mir aus auch, dass er in den letzten fünf Tagen volljährig geworden war, doch das, was er dann sagte, sorgte dafür, dass ich ihm am Liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte: „Ich bin weggelaufen.“ Wortlos sah ich ihn an, wartete darauf, dass er zu lachen anfing und mir sagte, dass er nur einen Scherz gemacht hätte. Doch stattdessen nahm er nur einen Schluck Cola. Konnte das wirklich wahr sein? Warum tat er so etwas? Bislang hatte ich ihn als einen eher vernünftigen, ruhigen Menschen kennen gelernt – und weglaufen war doch etwas, was nur Kinder taten – also warum hatte er das getan? „Ich weiß, das passt nicht zu mir. Aber ich konnte einfach nicht anders. Ich wollte nicht mehr dort bleiben.“ „Warum nicht?“ Da er nicht wusste, dass ich das Gespräch mitangehört hatte, beschloss ich, mich unwissend zu geben. Er neigte den Kopf, überlegte offenbar, ob und was genau er mir erzählen sollte, dann seufzte er leise. „Ach, was soll's. Ich werde sterben.“ Dass ich auf diese Offenbarung so ruhig blieb, hatte ich sie doch schon einmal gehört, schien ihn ein wenig zu enttäuschen, doch nichtsdestotrotz fuhr er fort: „Ich habe ein Problem mit dem Herzen...“ Erneut zögerte er, ich konnte mir vorstellen, dass er darüber nachdachte, ob er mir den medizinischen oder den umgangssprachlichen Begriff nennen sollte oder ob ich diesen als lächerlich einstufen würde – was ich mit Sicherheit getan hätte, wenn ich nicht diese Episode gesehen hätte. Es verwunderte mich heute noch, dass ich einer Fernsehserie geglaubt hatte. „Das Gebrochene-Herz-Syndrom?“, half ich ihm nach. Seinen verblüfften Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen, doch gleich schon wurde er wieder so neutral wie eh und je. „Hat Satsuki dir das gesagt?“ „Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Ich war ihr zu gemein, sie wollte es mir nicht verraten.“ Er schmunzelte verstehend. „Dann hat es dir einer der anderen gesagt?“ Ich schüttelte mit dem Kopf, was ihn ratlos die Stirn runzeln ließ. „Woher weißt du es dann?“ „Ich habe gut geraten.“ Natürlich glaubte er mir das nicht nicht, aber er stellte auch keine weiteren Fragen, sondern gab sich offenbar damit zufrieden, dass er nichts erfahren würde. „Jedenfalls sieht es nicht sonderlich gut aus, es gibt keine richtigen Therapien dagegen und normalerweise hält dieses Syndrom nur einige Wochen an – bei mir sind es bereits zwei Jahre.“ Ich hätte einige Vermutungen äußern können, warum das so war, beließ es aber dabei, dass ich nur verstehend nickte, immerhin brachte es niemandem etwas, wenn ich jetzt anfangen würde, mit ihm zu streiten, in derselben Art und Weise, wie auch Nozomu es offenbar oft tat. „Und deswegen denkst du, dass du bald sterben wirst?“ „Ich bin davon überzeugt“, entgegnete er mir. Es war zwecklos, dagegen zu argumentieren, so viel war mir bewusst, das verriet mir allein schon sein entschlossener Tonfall. „Und deswegen bist du weggelaufen? Weil du die letzten Jahre nicht mehr eingesperrt sein willst?“ Er lächelte vergnügt, als ich das sagte, es gefiel ihm offensichtlich, dass ich ihn verstehen konnte – auch wenn er nicht wusste, dass mir das nur möglich war, weil ich sein Gespräch mit Nozomu belauscht hatte. Andererseits muss ich aber zugeben, dass ich seine Haltung durchaus nachvollziehen konnte, ich würde meine letzten Tage oder Wochen auch nicht in einem Krankenhaus verbringen wollen. „Wie kommt es eigentlich, dass du hier gelandet bist?“ „Der pure Zufall.“ Er nahm einen weiteren Schluck seiner Cola, ehe er auf meinen Wunsch hin ausführlicher wurde: „Nach der Medikamentenvergabe habe ich gesagt, dass ich nochmal frische Luft schnappen will und bin nach draußen – dann war es nicht mehr schwer, ich bin zum nächsten Bahnhof, hab mir eine Fahrkarte gekauft, bin in die nächste Bahn eingestiegen und dann bin ich einfach wieder da ausgestiegen, wo es sich gut anfühlte. Das war zufällig die Gegend hier. Ich wusste ja nicht, dass du auch hier wärst, ich hab erst gar nicht geglaubt, dass das wirklich du bist.“ „So ging es mir auch bei dir“, erwiderte ich. „Ich habe so viel an dich gedacht, dass ich im ersten Moment sicher war, dass ich mir das nur einbilden würde.“ Schon im nächsten Moment bereute ich, das gesagt zu haben. Er lächelte schelmisch. „Du hast also an mich gedacht, hm?“ „Lenk nicht ab“, wies ich ihn zurecht. Ich fühlte mich wie eine Mutter, die mit ihrem Kind schimpfte, ohne wirklich wütend auf es zu sein. „Sag mir lieber, was du jetzt vorhast. Was wolltest du tun, nachdem du weggelaufen bist?“ Unzählige Fragezeichen erschienen geradezu auf seinem Gesicht – also hatte er sich absolut keine Gedanken darüber gemacht. Das warf ein völlig neues Licht auf Zetsu, aber zu meinem Leidwesen muss ich sagen, dass es kein negatives war. Seine unüberlegte Hilflosigkeit sorgte eher dafür, dass er mir noch sympathischer wurde. Was war ich nur für ein seltsamer Mensch? „Na ja... ich habe mir da keine großen Gedanken gemacht. Nach Hause kann ich jedenfalls nicht, meine Eltern würden mich sofort wieder ins Krankenhaus bringen...“ „Hast du noch andere Verwandte?“ Er nickte lächelnd, wurde aber direkt wieder ernst. „Aber mein Onkel und meine Tante wohnen im selben Haus wie meine Eltern.“ Es kam überraschend für mich, dass er doch so viele Verwandte hatte, immerhin war während meiner ganzen Anwesenheit nie Besuch für ihn gekommen – aber auch für niemand anderen. Vielleicht hatte ich das aber auch nur nie mitbekommen oder aber häufige Besuche sind bei einem so langen Krankenhausaufenthalt nicht mehr angebracht. „Was willst du dann tun?“ „Wie gesagt... darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber vielleicht schlafe ich einfach auf der Straße... oder gibt es hier kein Obdachlosenheim oder sowas?“ Allein die Vorstellung brach mir fast das Herz. Zetsu in irgendeiner Gosse, im besten Fall auf einer schmutzigen Decke, wo er in nur wenigen Tagen wirklich tot sein würde, wenn sein Herz schließlich tatsächlich für immer aussetzen würde. Oder gar Zetsu in einem Obdachlosenheim, in einem kahlen Zimmer mit einem billigen Bett und wer-weiß-was für Menschen in den Zimmern nebenan? Mit Sicherheit würde es ihm nicht schwer fallen, selbst dort Kontakte zu knüpfen – aber ich war mir sicher, dass er das nicht verdient hatte, in keiner Weise. Deswegen kamen die folgenden Worte noch bevor ich wirklich darüber hatte nachdenken können: „So weit kommt es noch – du kannst eine Nacht mal bei uns bleiben.“ Im ersten Moment wirkten wir gleichermaßen überrascht, doch schon gleich darauf fing er sich wieder und nickte lächelnd. „Oh, da sage ich nicht Nein, vielen Dank für das Angebot.“ Ich war mir nicht sicher, ob Isolde davon genauso begeistert wäre wie er, aber ich konnte es auch schlecht wieder zurücknehmen. Außerdem war es mir lieber, er war bei uns und ich wusste, wo er sich aufhielt als dass er eben irgendwo in der Gosse lag, wo ich mir jeden Tag Sorgen machen würde, ob er noch lebte und wo er gerade steckte. Doch, ich glaube, das war die beste Entscheidung, die ich in diesem Moment treffen konnte – und dass er so sehr lächelte, dass sogar seine Augen dabei leuchteten, was sie noch nie zuvor getan hatten, bestätigte mich darin. Ich würde nichts hiervon bereuen, gar nichts. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)