Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Kapitel 24: Bailas Geschichte ----------------------------- Ich gebe gern zu, dass ich am nächsten Tag alles andere als gut drauf war. Schon als ich aufwachte glaubte ich, eine drohende Migräne zu spüren – immerhin hatte Baila aber irgendwann offenbar das Fenster geschlossen. Einen Zug konnte ich daher ausschließen. Für einen Moment kam es mir vor als wäre das belauschte Gespräch der letzten Nacht nur ein Traum gewesen – doch das drückende Gefühl in meiner Brust, das mir die Luft abschnürte sagte mir, dass es durchaus der Wahrheit entsprach. Ich bedeutete ihm nichts. Der Person, die mein Leben, meine Gefühle, komplett durcheinandergewirbelt hatte, war ich egal, genau wie meinen Eltern – nur dass diese im Gegensatz zu ihm sich nie die Mühe gemacht hatten, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Meine Depressionen hatten gerade einen neuen Anstoß erfahren, weswegen ich eigentlich gar nicht aufstehen wollte. Am Liebsten hätte ich den ganzen Tag nur an die Decke gestarrt und mich gefragt, wie ich es nur hatte zulassen können, dass sich jemand wie Zetsu mein Herz krallt, um damit zu spielen. Dummerweise geht es einfach nie nach meinem Kopf und so kam es, dass ich plötzlich spürte, wie jemand sanft nach meiner Schulter griff. Mir war gar nicht aufgefallen, dass Baila offenbar bereits eine Weile neben meinem Bett gestanden haben musste, ohne von mir bemerkt zu werden. Schlecht gelaunt wandte ich ihr den Kopf zu. „Was ist los?“ Schon im nächsten Moment tat es mir Leid, ihre Mimik sagte mir, dass sie sich nur Sorgen um mich gemacht hatte und sich von meiner Abweisung verletzt fühlte. Ich entschuldigte mich seufzend und setzte mich auf. Pünktlich mit meiner Migräne begannen auch die Schmerzen in meinem Fuß wieder einzusetzen – aber es war mir egal. Das verletzte Gefühl in meiner Brust, wenn ich an Zetsus Worte dachte, verdrängte den körperlichen Schmerz. Zur Antwort auf meine vorige Frage hielt sie mir ihre Blockseite mit der Aufschrift Guten Morgen entgegen. „Morgen“, erwiderte ich, ließ das Guten aber gezielt weg. Besorgt neigte sie den Kopf und blätterte in ihrem Block, bis sie die gewünschte Seite gefunden hatte und mir diese wieder zeigte: Bedrückt dich etwas? Ich fand es fast schon unglaublich süß, diese Worte, in Kombination mit ihrer Mimik. Ich konnte ihr gegenüber meine schlechte Laune nicht aufrecht erhalten – aber ich konnte ihr auch unmöglich sagen, was es war, das mich so bedrückte. „Es geht schon“, erwiderte ich daher nur. Aber mit irgendwem musste ich auch sprechen und ich wollte nicht, dass es ein Teil des Personals war, auch wenn diese dafür immerhin bezahlt wurden. „Kann ich dich etwas fragen?“ Sie nickte knapp, ich fuhr fort, um die Frage zu stellen: „Hattest du es schon mal, dass du glaubtest, jemand mag dich und du hast dich darüber gefreut und dann stellte sich heraus, dass es doch nicht so war?“ Ich war mir nicht sicher, ob sie verstanden hatte, was ich damit sagen wollte, denn für einen Moment sah sie mich vollkommen ausdruckslos an. Ich hoffte, sie dachte über die Frage nach und war sich nur noch nicht sicher, was sie antworten sollte. Vollkommen unvorbereitet, wandte sie sich plötzlich von mir ab und kehrte wieder zu ihrem Bett zurück, wo sie im Nachttisch zu wühlen begann. Da sie mir ohnehin nicht antworten konnte, schluckte ich die Frage, was sie denn suchen würde, hinunter. Außerdem förderte sie in der Zeit, in der ich diese hätte stellen können, bereits etwas zutage, das nach mehreren, eng beschriebenen Blättern aussah. Sie reichte mir diese, allerdings ohne zu lächeln. Ein trauriges Glitzern war in ihren Augen zu sehen, so intensiv, dass ich sie am Liebsten in den Arm genommen hätte, um sie zu trösten. Doch stattdessen nahm ich ihr einfach die Blätter ab, um diese zu lesen, während sie sich neben mich setzte. Schon nach den ersten Sätzen wusste ich, worum es sich hier handelte. Dr. Salles musste sie irgendwann dazu aufgefordert haben, ihre Geschichte und das, was sie hergeführt hatte, aufzuschreiben – und das in meinen Händen war das Ergebnis davon. Ich will nicht vollständig wiedergeben, was darin stand, aber zumindest die wichtigsten Dinge. Natürlich war Bailas ungewöhnliches Aussehen schon immer Teil von ihr gewesen, doch die meisten Leute hatten wohl so reagiert wie ich anfangs – mit Befremden. Im besten Fall war sie ignoriert worden, im schlimmsten Fall hatte man sich über sie lustig gemacht, sie beschimpft und offenbar sogar geschlagen. Sie hatte all das mit einer bewundernswerten Ruhe ertragen und über sich ergehen lassen, ohne sich auch nur im Mindesten zu beklagen. Offenbar war sie ein freundlicher und fröhlicher Mensch geblieben, auch wenn sie sich bereits in jungen Jahren oftmals gewünscht hatte, einfach nicht mehr aufzuwachen. Ich muss zugeben, dass der Gedanke, dass ein Kind nicht mehr leben wollte, etwas Bedrückendes hatte. Wenn ich da eine Kindheit zurückdachte, wo ich zwar oft genervt, aber in gewisser Weise noch glücklich gewesen war... da lagen Welten dazwischen. Baila hatte oft, viel zu oft, mit sich selbst gehadert, sich selbst die Schuld gegeben, dass sie so anders war und ihren Eltern – über die sie erstaunlich wenig in diesem Bericht schrieb – damit Kummer bereitete. Etwas, was sie sich anscheinend nicht verzeihen konnte, obwohl nichts davon durch ihr eigenes Verschulden geschehen war. Dann, als Baila gerade einmal zwölf Jahre alt gewesen war, hatte es eine bedeutsame Veränderung in ihrem Leben gegeben: Eine ihrer Mitschülerinnen, die sie früher stetig ignoriert hatten, begann Interesse an Baila zu zeigen und schien sich mit ihr anfreunden zu wollen. Emotional ausgezehrt, sehnte sie sich selbstverständlicherweise nach diesem Kontakt und ließ es zu, dass diese Person sich mit ihr anfreundete und in ihre Geheimnisse eingeweiht wurde. Baila fasste neuen Lebensmut, begann, sich selbst zu vergeben und war sich sicher, dass alles gut werden würde – bis zum dreizehnten Geburtstag dieser vermeintlichen Freundin. An jenem Tag, an dem sich alle Mitschüler der beiden trafen, teilweise auch Schüler aus den anderen Stufen ihrer Schule, lernte Baila, dass zu viel Vertrauen und zu viel Redseligkeit nur zu Demütigung führte. Diese Freundschaft war von Anfang eine abgekartete Sache gewesen, um Baila zu hintergehen und sie so tief wie nur irgendwie möglich zu verletzen. Es war ihnen nicht mehr nur genug gewesen, sie körperlich zu verletzen, sondern sie emotional bloßzustellen, vor möglichst vielen Leuten und ihr klarzumachen, dass ein Freak wie sie niemals Freunde haben würde. Im Gegensatz zu ihr war es mir immer egal gewesen, dass niemand mich mochte oder je mögen würde, aber ich konnte mir vorstellen, wie tief es dieses Mädchen, das eigentlich nur geliebt werden wollte, doch getroffen haben musste. Und fortan hatte niemand mehr Baila je sprechen gehört. Sie hatte beschlossen, zu schweigen, damit so etwas nie wieder geschehen würde. Zwar war sie weiterhin zur Schule gegangen als ob nichts wäre und hatte nach außen nicht gezeigt, dass sie verletzt war, doch verlor sie kein einziges Wort mehr, kein Ton kam über ihre Lippen, so dass es selbst ihren Mitschülern schließlich zu langweilig geworden war, sie zu ärgern und man sie fortan in Ruhe ließ. Nicht, dass es Baila noch großartig gekümmert hätte, sie... existierte nur noch, mehr war da nicht mehr. Sie schlief, wenn sie müde war; aß, wenn ihr Magen knurrte und trank, wenn der Durst übermächtig wurde. Nichts davon tat sie mehr mit Genuss. Ihr Schulpsychologe, anscheinend ein Freund von Dr. Breen, verwies sie schließlich mit dreizehn an diese Klinik – das war vor zwei Jahren gewesen und sie hatte immer noch nicht gesprochen. Nun selbst sprachlos, blickte ich von dem Geschriebenen wieder auf und sah sie an. Ich überlegte, was ich ihr sagen, wie ich sie trösten sollte – doch stattdessen fiel mir etwas anderes auf. Im Gegensatz zu früher war sie fröhlich. Sie lächelte mich an, so sanft wie eh und je, ich wusste, dass sie Subaru sehr mochte, also fasste sie auch wieder Vertrauen und inzwischen wusste ich auch sehr genau, dass sie mit Vorliebe Vanillepudding aß – alles war wieder da, sie war quasi gesund, nur dass sie eben immer noch nicht sprach. „Es geht dir jetzt besser, nicht wahr?“ Sie musste nicht lange überlegen, sie nickte sofort. Ich war mir sicher, dass, hätte sie gesprochen, sie mir nun etwas von Subaru erzählt hätte, mit dem sie immerhin fast ihre gesamte Freizeit hier verbrachte. Er war mit Sicherheit ein Grund, warum es ihr besser ging und sie war im Gegenzug ein Grund für ihn, sich besser zu fühlen. Warum konnte ich das nicht für Zetsu sein? Im Gegensatz zu sonst wollte ich mich dieses Mal nicht für den Gedanken schlagen, ich meinte ihn vollkommen ernst und war mir dessen bewusst. Aber genauso war mir auch bewusst, dass der Gedanke bescheuert war, denn dieser Fall würde niemals eintreten. Ich war ihm egal und ich war in gewisser Weise glücklich, dass es mir rechtzeitig klar gemacht geworden war. Zögernd legte sie ihre Arme um mich, worauf ich auch einen Arm um ihre Schulter legte. Bailas Geschichte zu kennen, gab mir das Gefühl, ihr noch näher gekommen zu sein und für sie wie für eine kleine Schwester empfinden zu können. Für sie war alles gut geworden, weil sie es geschafft hatte, sich von diesem Ereignis nicht unterkriegen zu lassen. Bestimmt würde für mich auch alles gut werden und ich würde irgendwann Personen finden, die mein Vertrauen wert waren – und die nicht Zetsu Akatsuki hießen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)