Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Kapitel 2: Schweigen -------------------- Als ich aufwachte, spürte ich wie meine Nackenhaare sich aufgerichtete hatten. Ein sicheres Zeichen dafür, dass mich jemand beobachtete. Aber wer sollte das tun? Vorsichtig drehte ich mich auf den Rücken und öffnete langsam die Augen. Erst verschwommen, aber schnell immer schärfer werdend, konnte ich ein Gesicht erkennen – das Gesicht eines Mädchens, das mich interessiert zu mustern schien. Für einen Moment betrachteten wir uns gegenseitig, bis - „Argh! Geh weg von mir, du Mutant!“ Mit einem heftigen Stoß warf ich das Mädchen zu Boden und setzte mich auf. Kein Laut entfuhr ihr, als sie auf dem Boden aufschlug. Ihre großen roten Augen füllten sich nur mit Tränen, ihr weißes Haar hing ihr ins Gesicht. Was zum Teufel war sie? Noch nie zuvor hatte ich einen solchen Menschen gesehen! Selbst als die Tränen über ihr Gesicht liefen sagte sie immer noch keinen Ton. Dafür überkam mich Mitleid. Sie sah so schwach und kindlich aus, ich hätte das nicht tun sollen. Vorsichtig kniete ich mich vor sie. „He, das tut mir Leid. Ich war nur ziemlich erschrocken. Ich wollte dir nicht wehtun und dich auch nicht beleidigen.“ Sie schniefte leise, war ansonsten aber immer noch still. Plötzlich ergriff sie meine Hand. „H-he! Was soll das? Was machst du da?“ Vorsichtig legte sie meine Hand auf ihren Kopf. Ich konnte nur mutmaßen, aber es sah aus als sollte ich ihr den Kopf tätscheln, möglicherweise um ihr zu zeigen, dass ich es nicht so gemeint hatte. Ihr Verhalten kam mir zwar seltsam vor, aber ich folgte ihrem Wunsch, was sie glücklich zu machen schien. Lächelnd wischte sie sich die Tränen weg, dann sah sie mich wieder an. „Wer... bist du?“ Sie hatte mir ihren Namen immer noch nicht gesagt und schien auch sonst nicht sonderlich gesprächig zu sein. Sogar auf meine Frage antwortete sie nicht, sondern angelte mit ihrer Hand nach einem Block und einem Stift auf ihrem Tisch. Hastig schlug sie den Block auf und schrieb etwas auf das Papier, bevor sie es mir hinhielt. Sogar einen solchen Namen hatte ich noch nie gehört. Baila Vays. „So heißt du?“, hakte ich vorsichtshalber nach. Sie nickte lächelnd. Irgendwie war sie ja richtig süß, so aus der Nähe betrachtet, wenngleich ziemlich ungewöhnlich. Andererseits hatte ich in meinem Leben schon viel Ungewöhnliches gesehen, da machte sie auch keinen Unterschied mehr. „Wohnst du in diesem Zimmer?“ Sie nickte noch einmal und zeigte auf mich. Ihre Gestik erinnerte mich an die eines kleinen Kindes – und warum sprach sie kein Wort? „Ich bin Leana Vartanian. Seit heute wohne ich auch hier.“ Ihre Augen leuchteten wieder, noch einmal gab sie mir zu verstehen, dass ich sie tätscheln sollte. Innerlich atmete ich erleichtert aus. Sicherlich hätte ich es um einiges schlimmer treffen können. Meine Zimmergenossin hätte zum Beispiel eine ständig heulende, selbstmordgefährdete Labertasche sein können oder eine nervige Emo-Zicke. Ein kleines schweigsames Mädchen, das offensichtlich nur gern gehabt werden möchte dagegen... das würde sicher richtig angenehm werden. „Bist du schon lange hier?“ Diesmal nickte sie, lächelte dabei aber traurig. Warum sie wohl hier war? Ihr trauriger Blick brachte mich automatisch dazu, ihr wieder den Kopf zu tätscheln. „Sei nicht traurig, Baila.“ Der Name rollte geschmeidig über meine Zunge. Bei Gelegenheit sollte ich jemanden fragen, woher dieser Name kam und was es mit dem Mädchen auf sich hatte. Ich stand auf und half Baila hoch. Sie legte eine Hand auf ihr Herz und deutete eine Verbeugung an; eine Geste, die wohl soviel wie „Danke“ bedeuten sollte. Das Mädchen brachte mich wirklich zum Lächeln. Wieder einmal ergriff sie meiner Hand und zog mich aus dem Zimmer. Geduldig folgte ich ihr. Baila führte mich in den Gruppenraum, der genau gegenüber der Tür zum Treppenhaus lag. Durch die verglaste Front hatte ich bereits einen Blick hineingeworfen, aber dies war das erste Mal, dass ich ihn wirklich betrat. Irgendein aktueller Chartbreaker plärrte aus dem Radio, das jemand eingeschalten hatte und dann wieder gegangen war. Neben einem großen Tisch, vielen Stühlen und Sesseln, so wie dem Zugang zu einem Balkon, entdeckte ich nur noch eine Dartscheibe. Erst Baila schaffte es, meinen Blick zu dem Gegenstand zu lenken, den sie mir offensichtlich zeigen wollte. In einem hell erleuchteten Aquarium schwammen unzählige bunte Fische. Fasziniert stand das Mädchen davor und betrachtete die Tiere, für die ich nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Es war nicht so, dass ich Tiere, insbesondere Fische, nicht leiden konnte, ich interessierte mich nur nicht sonderlich dafür. Dabei hatte ich mir als kleines Mädchen wie so viele andere auch, einen Hund gewünscht, ihn aber nie bekommen. Damals war ich darüber natürlich nicht sehr erfreut gewesen, aber inzwischen war mir das so ziemlich egal. Möglicherweise hatte auch diese Erfahrung – als eine von vielen – dazu beigetragen, dass ich mit meinen Eltern auf nicht sonderlich gutem Fuß stand. Lächelnd griff Baila nach einer Dose, die neben dem Aquarium stand und gab einen Teil des darin befindlichen Futters ins Wasser. Gierig versammelten die Fische sich um die Brocken und schnappten danach, bis wenige Sekunden später nichts mehr davon zu sehen war. Ich lächelte Baila zu, als sie mich begeistert ansah. Es musste schön sein, wenn man so einfach zu begeistern war. Als ich Stimmen hinter mir hörte, drehte ich mich um. Ein Junge, der älter als Baila, aber jünger als ich, zu sein schien, stand da und sah mich an. Sein Blick erinnerte mich an jemanden, der kurz davor war loszuweinen, aber es schien für ihn ein Normalzustand zu sein. Er musterte mich fragend, ich tat dasselbe bei ihm. Die braunen Haare und Augen bildeten einen Einklang, aber das rote Band, das er um seine Stirn geschlungen hatte, fand ich geradezu lächerlich. Vergnügt ging Baila auf ihn zu und umarmte ihn als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Lächelnd erwiderte er die Umarmung. „Ist das Besuch für dich, Baila?“ Seine Stimme klang männlicher als ich erwartet hatte. Ich übernahm die Antwort: „Nein, ich teile ab heute das Zimmer mit ihr.“ Plötzlich lächelte er auch mich an. „Das ist schön. Mein Name ist Subaru – und deiner?“ Ich nannte ihm meinen Namen, worauf er anscheinend glaubte, mir ein Kompliment machen zu müssen: „Das ist ein schöner Name.“ Statt mich zu bedanken – was ich ohnehin sinnlos fand, denn ich war bei meiner Namensgebung ja nicht gefragt worden – verschränkte ich die Arme vor der Brust. Er interpretierte die Geste zurecht als Ablehnung und wandte sich erneut Baila zu. „Hast du wieder die Fische gefüttert?“ Sie nickte heftig. Zumindest diesen Jungen mochte sie offensichtlich sehr. Ob er auch schon länger hier im Krankenhaus war? Die Frage nach dem schönen Silberhaarigen brannte mir auf der Zunge, aber ich schluckte sie runter. Subaru war mir nicht unysmpathisch – aber auch nicht sympathisch genug, dass ich ihn nach so etwas fragen würde. Subaru löste sich aus der Umarmung. „Ich habe jetzt Küchendienst, wir sehen uns später, ja?“ Baila nickte verstehend. Er lächelte mir auch noch einmal zu und ging wieder hinaus. Begeisternd lächelnd wandte sie sich mir zu. „Du magst ihn sehr, hm?“ Noch einmal nickte sie, diesmal so heftig, dass ihr Haar umherflog. Ich lachte leise – bis ich wieder Schritte hörte. Baila hielt ebenfalls inne und sah lächelnd auf den Gang. Anscheinend wusste sie bereits anhand der Schritte, wer denn da kommen würde. Ich wünschte, sie hätte mich vorgewarnt. Die Schritte kamen näher, allerdings stand ich in einem so ungünstigen Winkel, dass ich nicht sehen konnte, wer da auf den Raum zukam. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören und war sicher, dass auch Baila diesen mitbekam. Doch wenn sie das tat, verbarg sie es gut. Früher hatte ich mich immer über die Filme und Bücher – und nicht zuletzt Manga und Comic – lustig gemacht, in denen eine einzelne Begegnung so intensiv beschrieben wurde. Aber in dem Moment, in dem er durch die Tür kam, wusste ich, wie unrecht ich all diesen Autoren bislang getan hatte. Nicht nur, dass zum hoffentlich letzten Mal an diesem Tag mein Herz wieder aussetzte, nein, diesmal blieb mir auch noch die Luft weg. Sein Blick ging von Baila zu mir, sein Lächeln sorgte dafür, dass jegliches Gefühl aus meinen Beinen verschwand. Schließlich öffnete er seinen Mund und sagte mit einer überirdisch melodischen Stimme nur ein Wort: „Hallo.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)