Irgendwo in dieser Welt von Flordelis ================================================================================ Kapitel 1: Aufnahme ------------------- Hätte ich gewusst, dass ich ohnehin noch ins Hauptgebäude muss, um die Papiere auszufüllen, hätte ich das vorher gemacht. Aber wenigstens war mir erlaubt worden, den Koffer auf der Station zu lassen und ohne diesen quer über das Gelände zum Hauptgebäude und dort in den ersten Stock zu laufen – direkt an der noch geschlossenen Caféteria vorbei, die meinen Magen knurren ließ. Dass mein Koffer nicht bei mir war, war auch das einzige, was mich noch im Krankenhaus hielt – na ja, das und die Aussicht, dass meine Eltern mich rauswerfen würden, wenn ich diese Therapie vorzeitig abbrechen sollte. Laut der Uhr an der Wand hatte ich gerade einmal zehn Minuten für das Ausfüllen der Papiere gebraucht und wartete nun seit drei Minuten darauf, aufgerufen zu werden – gefühlt waren es allerdings volle drei Stunden. Warum dauerte das überhaupt so lange? Außer mir saß nur noch ein anderer Mann hier rum. Unwillkürlich stellte ich mir die Frage, was er wohl hier tat. Er schien nicht verletzt, aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass er auf derselben Station wie ich sein würde – besonders weil er sein Gepäck noch bei sich trug. Als er zu mir herüber sah, wandte ich den Blick hastig ab und sah wieder zu der Tür, zu der wir gerufen werden sollten – wenn der Betrieb denn mal losgehen würde. Meine Gedanken schweiften wieder zu dem Jungen von vorhin ab. Ob er wohl ebenfalls auf meiner Station war? Tief in meinem Inneren hoffte ich es. Selbst wenn ich ihn vielleicht doch nie ansprechen würde, so wollte ich dieses Haar und diese Augen unbedingt noch einmal sehen, am liebsten jeden Tag. Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich es gar nicht mitbekam, als ich aufgerufen wurde. Der Mann von vorhin gab mir allerdings ein Handzeichen, was mich wieder in die Wirklichkeit holte. Dankbar nickte ich ihm zu, als ich mit meinen Papieren in den kleinen Raum rauschte. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch ging die dürre Bürokraft fast unter. Sie lächelte zwar, als sie mich zum Hinsitzen aufforderte, aber der leicht genervte Unterton in ihrer Stimme entging mir nicht. Vermutlich hasste sie diesen Raum abgrundtief. Klasse, damit waren wir schon zu zweit. Murmelnd überflog sie meine Angaben, bis sie bei einer Stelle innehielt. Über den Rand ihrer geschmacklosen Brille, die nicht mal mehr in den 90ern in gewesen war, sah sie mich forschend an. „Ist das Ihre Telefonnummer?“ Ich bestätigte ihr, dass es die Nummer meines Handys war. Immerhin war ich 18, damit volljährig, warum sollte ich also noch jemanden angeben? Sie schnalzte mit der Zunge. „Wir brauchen dann noch die Nummer der nächsten Person, die wir im Ernstfall benachrichtigen sollen.“ Ernstfall!? Es fehlte nicht mehr viel und ich hätte ihr ins Gesicht gespuckt. Hallo! Ich wollte mich keiner OP unterziehen, sondern nur ein paar Wochen in einer psychotherapeutischen Einrichtung verbringen. Was sollte da für ein Ernstfall eintreten? Bestand etwa die Gefahr, dass ich vor Langeweile eingehen würde? Da ich schwieg und sie nur böse anstarrte, ergriff sie wieder das Wort: „Gibt es denn jemanden?“ Ich war versucht, die Frage zu verneinen, nannte ihr schließlich aber doch Name, Adresse und Telefonnummer meiner Eltern. Auch wenn diese ohnehin nur schmunzeln würden, falls ein Ernstfall eintreten sollte. Mit einer Unterschrift besiegelte ich die Aufnahme. Nach einer knappen Verabschiedung rauschte ich wieder davon, um zumindest dieses Gebäude schnell hinter mir zu lassen. Die inzwischen geöffnete Caféteria ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen – allerdings hatte die Schwester vorhin eine Blutabnahme angekündigt und für die sollte ich lieber einen nüchternen Magen haben. Während ich durch die Parkanlage zurück lief, spürte ich Blicke auf mir. Neugierig hob ich den Kopf und entdeckte einen Balkon, der zu meiner Station gehören musste. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag setzte mein Herz für einen Moment aus. Der Junge von vorhin stand dort und sah auf mich hinunter. Er tat nichts, sein Gesicht zeigte keinerlei Emotion, er sah einfach nur auf mich runter und ich erwiderte den Blick. Seine Augen schienen sich direkt in meine zu bohren und ließen mich die Zeit vergessen. Nach wenigen Minuten, die sich wie Sekunden angefühlt hatten, wandte er sich schließlich ab und ging davon. Es fiel mir schwer, die aufkeimende Enttäuschung zu verbergen. Aber immerhin wusste ich jetzt, dass er wirklich auf meiner Station war. Auf dem Weg nach oben nahm ich zwei Stufen auf einmal, doch als ich vor der Glastür stand, war der Flur wieder völlig verwaist. Wäre auch zu schön gewesen. Ich stieß ein Seufzen aus und öffnete die Tür. Die Schwester von vorhin hatte inzwischen die Beine übereinander geschlagen und spielte mit einem Kugelschreiber. Wofür wurde die eigentlich bezahlt? Oder war sie vielleicht nur die Quotenschlampe? Als sie mich bemerkte, lächelte sie mich wieder an. „Na, alles erledigt?“ „Ja, endlich.“ Sie lachte. „Na komm, so lange hat das auch nicht gedauert.“ Elegant erhob sie sich von ihrem Stuhl und kam auf mich zu. „Ich bin übrigens Jatzieta Cooney, eine der Schwestern auf dieser Station.“ Ich nickte wortlos, meinen Namen kannte sie immerhin bereits. Gedanklich wunderte ich mich aber durchaus über den ihren. Jatzieta... so was hatte ich noch nie gehört. Es klang nicht einmal wie ein richtiges Wort. „Dann kommen wir nun zum unangenehmen Teil“, kündigte sie fröhlich an. Der sollte erst jetzt kommen? Ich ächzte innerlich, nickte dann aber. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich gemeinsam mit Jatzieta, die mir nicht nur Blut abnahm, sondern auch meine Größe und mein Gewicht notierte. Anschließend wurden mir die Regeln erklärt, denen ich eher gelangweilt lauschte. Kein Alkohol, keine Drogen, keine Besucher außerhalb der Besuchszeiten. Was kümmerte mich das? Ich hasste Alkohol, Drogen waren mir fremd und Besuch würde ich ohnehin nie welchen bekommen, immerhin kümmerte sich meine Familie nicht um mich – deswegen war ich ja hier. Und Freunde hatte ich auch keine, wer wollte schon mit einem Freak wie mir gesehen werden? Was mir sauer aufstieß war die Tatsache, dass ich die Mahlzeiten mit allen anderen einnehmen sollte. Auch zu Hause hatte ich immer allein gegessen, ich brauchte niemand, der mich nebenbei noch dumm von der Seite anglotzte. Aber andererseits... wenn dieser Junge auch dabei sein würde... dann würde ich wahrscheinlich gar nicht zum Essen kommen. Nachdem ich mein Essen für die ganze Woche ausgewählt hatte (der Essensplan gefiel mir durchaus, blieb nur zu hoffen, dass die Küche meiner Hoffnung gerecht wurde), wurde mir ein regulärer Stundenplan ausgehändigt. Im ersten Moment schluckte ich. Viele Zeiten waren dreifach besetzt, wie sollte ich gleichzeitig an allem teilnehmen? Doch schon im nächsten Moment griff Jatzieta nach einem Textmarker und markierte mir einige der Kurse, die, wie sie mir erklärte, für mich bestimmt wären. Lediglich am heutigen Tag würde ich noch meine Ruhe haben, um alles und die anderen Patienten kennen zu lernen. Die anderen Patienten... wo sie wohl gerade waren? Aber ein Blick auf den Plan verriet mir, dass sie alle höchstwahrscheinlich bei irgendwelchen Therapien und deswegen nicht zu sprechen waren. Wie lange würde es wohl dauern, bis ich dem Jungen begegnen würde? Jatzieta stand wieder von ihrem Stuhl auf und bedeutete mir, ihr zu folgen und mein Gepäck mitzunehmen. In kurzen, einstudierten Worten wies sie mir den Weg zur Toilette, zum Bad, zum Gemeinschaftsraum und zum Fernsehraum, bevor sie mich in ein Zimmer führte. Wenigstens wirkte der Raum nicht so sehr wie ein normales Krankenzimmer, nein, von der Einrichtung erinnerte er eher an eine Jugendherberge. Zwei einfache Holzbetten mit schneeweißem Bezug standen sich gegenüber an den Wänden. Neben den Betten standen Nachtschränkchen und an der Wand war ein Brett mit einer Nachtlampe befestigt. In der Nähe des Waschbeckens befanden sich zwei gleichfarbige Schränke, doch nur einer von beiden war offen. Jatzieta gab mir Bescheid, dass sie mein Schrank wäre und teilte mir dann auch mit, welches der beiden Betten mir gehören würde. Automatisch bedankte ich mich bei ihr. Sie lächelte nur, drückte mir den Schrankschlüssel in die Hand und verließ das Zimmer wieder. Gemächlich räumte ich meine Kleidung um. Lächelnd fuhr ich über das, was den Koffer so schwer gemacht hatte: Natürlich war ich nicht umhin gekommen, meine Lieblingsbücher für den Aufenthalt hier einzupacken. Eins nach dem anderen nahm ich sie in die Hände, blätterte durch sie hindurch, um den Geruch des Papiers und der Druckerschwärze in mich aufzunehmen. Schließlich ließ ich auch die Bücher im Schrank verschwinden und schloss diesen sorgfältig ab. Neugierig sah ich mich weiter um. Es fiel mir schwer zu glauben, dass im zweiten Bett jemand schlief, denn nicht nur das Bett selbst wirkte unberührt, auch das Schränkchen daneben und das Brett darüber wiesen auf keinen Besitzer hin. Seufzend ließ ich mich auf meinem Bett nieder. Hier würde ich also die nächsten Wochen verbringen, vielleicht sogar die nächsten Monate. Also konnte ich auch gleich anfangen, mich hier einzuleben. Ich zog die Schuhe aus und legte mich mit dem Gesicht zur Wand. Genüsslich kuschelte ich mich tiefer in das Kissen und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, bis die Erschöpfung mich schließlich übermannte und mich in einen traumlosen Schlaf fallen ließ – doch galt mein letzter Gedanke wieder dem silberhaarigen Jungen, dessen Namen ich noch nicht kannte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)