Melodie des Herzens von Scarla ================================================================================ Kapitel 2: Schlechte Nachrichten -------------------------------- »Ja?«, Rakel gähnte herzhaft hinter vorgehaltener Hand. Es war spät geworden in der vergangenen Nacht. Und auch in der davor, und in der davor. Eigentlich jede Nacht, seid jenem Abend, an dem Melodin sie nach Hause gebracht hatte, denn seit damals hatten sie jeden Abend gemeinsam verbracht. Es hat keine wirkliche Kennenlernphase gegeben, am gleichen Abend noch hatte er sie gefragt, ob sie zusammen sein wollten und sie hatte glücklich genickt. Und bisher hatte sie es nicht bereut. Sie wusste schon, wer ihr antworten würde, bevor sie überhaupt abgenommen hatte. »Guten Morgen, Polymnia«, seine sanfte Stimme schnurrte ihr im Ohr. »Dir auch, Melodin«, lachte sie. »Hab ich dich geweckt?« »Nein nein, keine Sorge. Aber was willst du schon so früh am morgen von mir?« »Ich hatte Sehnsucht. Nach dir. Und weil ich dich nicht haben kann, zumindest jetzt noch nicht, wollte ich zumindest deine Stimme hören. Treffen wir uns heute Abend?« Rakel überlegte einen Moment. »Hast du heute Abend nicht Klavierstunden?« »Nein. Die hab ich auf heute Nachmittag verschoben. Treffen wir uns nun oder hab ich meinen Lehrer umsonst bequatscht?«, er klang ungeduldig. »Ich habe heute Abend keine Zeit, bei uns ist Familienfeier angesagt, meine Großeltern und Onkel und Tanten kommen. Ich dachte, du hättest keine Zeit, sonst hätte ich mich da heraus gewunden. Jetzt geht das nicht mehr. Es sei denn, du willst hierher kommen«, sie war sich sicher, das er ablehnen würde, deswegen war sie mehr als überrascht, als er freudig zustimmte. »Ja, ich komme gerne! Wann soll ich da sein?« »Ich… äh, komm einfach irgendwann, nach deinen Klavierstunden«, antwortete sie perplex. Sie hörte ihn lachen. »Wenn du nicht möchtest, dann bleib ich natürlich zu Hause, und du weißt, du kannst es mir ruhig sagen«, erklärte er. »Nein nein, so ist es nicht. Ich hätte bloß nicht geglaubt, dass du so sehr lust hast, den ganzen Abend mit meiner Familie zu verbringen«, antwortete sie. »Lieber den ganzen Abend mit Leuten, die deine Familie sind, als ganz allein und ohne dich«, antwortete er und seine Stimme klang traurig. Rakel wusste, dass er nicht übertrieb und dass er auch traurig war. Er hatte nur noch eine Tante, aber die war ebenfalls Musikerin und viel im Ausland unterwegs. Dorthin konnte er sie nicht begleiten, denn er wollte lieber die Schule abschließen, als dann irgendwann vielleicht auf der Straße zu landen. »Sei nicht traurig. Dann verbringst du den Abend mit uns. Aber sag nicht hinterher, ich hätte dich nicht gewarnt. Vermutlich wirst du den ganzen Abend spielen müssen, meine Verwandten sind begeistert, dass mein Freund ein bekannter Klavierspieler ist«, erklärte sie. »Macht nichts. Bis nachher dann«, erwiderte er. Auch sie verabschiedete sich knapp und legte dann auf. Ihre Eltern hatten wirklich nichts dagegen, das Melodin diesem Abend beiwohnte, und wie erwartet waren auch die anderen Verwandten hellauf begeistert, als sie hörte, das Rakels Freund noch kommen würde. Doch der Abend schritt voran und es klingelte nicht wieder an der Tür. Erst überlegte sie, ob er sich verspätet haben könnte, doch dann hätte er gewiss angerufen und ihr bescheid gegeben. Und wenn er mit seinem Musiklehrer einfach bloß die Zeit vergessen hatte? Es wäre nicht das erste mal gewesen. Ja, das musste es sein. Sie versuchte es sich einzureden und es gelang ihr auch, obwohl sie spürte, dass es so einfach nicht war. Und so verrannen die Stunden weiter, bis sie es irgendwann nicht mehr aushielt, aufstand und zum Telefon ging. Sie rief bei Melodin zu Hause an, doch keiner ging ran, wie sie erwartet hatte. Dann klingelte sie bei seinem Musiklehrer an, doch der erklärte ihr, dass er vor Stunden schon gefahren sei. Aber er hatte noch einmal in die Stadt gewollt, vermutlich dauerte seine Besorgung einfach länger. Sie solle sich keine Sorgen machen erklärte er und legte wieder auf, doch Rakel wurde nicht ruhiger. Er wusste doch, wie schnell sie sich sorgen machte. Sie setzte sich wieder zu den anderen, aber nicht für lange, da tigerte sie wieder durch die Wohnung, überlegte, was sie nun tun sollte. Natürlich, Melodin besaß ein Handy, aber er nahm es fast nie mit. Er fühlte sie damit immer kontrolliert und eingeschränkt, also ließ er es meistens zu Hause, ihn so zu erreichen war also kaum möglich. Sie überlegte gerade, wie sie es sonst versuchen konnte, da klingelte das Telefon. Mit einem Satz war sie dort und hob ab. »Melodin?«, fragte sie aufgeregt in den Hörer. »Spreche ich mit Rakel Sommer?«, das war ganz eindeutig nicht Melodins Stimme. Sie war viel tiefer und nicht so melodisch. »Ja«, antwortete sie und wurde noch nervöser. Was mochte jetzt nur kommen? »Ich muss sie leider darüber in Kenntnis setzen, das Melodin Tomas einen Autounfall hatte…«, der Mann, offensichtlich einer vom Krankenhaus, konnte nicht Weitersprechen, den Rakel unterbrach ihn barsch. »Wie geht es ihm? Im welchem Krankenhaus ist er?« »Herr Tomas geht es gut«, war die antwort, und er nannte Rakel auch das Krankenhaus, was dazu führte, das er abermals kurzerhand abgewürgt wurde, weil sie einfach auflegte. Sie lief ins Wohnzimmer und zerrte ihren Vater mit sich, knapp erklärend, was geschehen war. Natürlich fuhr er sie sofort in die Klinik, wo sie aus dem Wagen sprang, bevor er überhaupt ganz angehalten hatte. Sie hastete in den Empfang, doch dort wollte man ihr keine Auskunft erteilen, weil sie keine Verwandte war. Im ersten Augenblick kam ihr das so absurd vor, dass sie die Schwester nur einen Augenblick lang dämlich anschaute, bevor sie so laut brüllte, dass selbst ihr Vater auf dem Parkplatz es noch hören konnte. Sie schrie die Schwester an, dass sie ihr gefälligst Auskunft erteilen solle, oder es würde was setzen. So blass, wie die junge Frau daraufhin wurde, hatte sie es offensichtlich noch nie mit jemanden wie Rakel zu tun bekommen, doch sie kam gar nicht in Verlegenheit, darauf antworten zu müssen, den es legte sich eine Hand auf ihre Schulter. »Bleib ruhig Rakel«, sagte Melodin leise, und sogleich fuhr sie auf dem Absatz herum, um sich in seine Arme zu stürzen. »Melodin! Was ist geschehen?«, fragte sie, und jetzt erst, wo sie sah, das es ihm gut ging, da kamen die Tränen. Doch er schob sie bloß mit einem entschuldigenden Lächeln in Richtung Tür, erklärte ihr, dass er ihr zu Hause alles erklären würde. So ließ sich Rakel wortlos und ohne Gegenwehr abführen, den sie wusste, das Melodin meinte, was er sagte, und sie bei einer Diskussion mit einer Wand vermutlich deutlich mehr Erfolg gehabt hätte. Auch Rakels Vater fragte nicht nach, sondern fuhr die beiden still zu Melodins Haus, setzte sie dort ab und fuhr. Es war nicht so, das es ihm egal war, wie es dem jungen Mann ging, der seiner Tochter so sehr am Herzen lag, aber er es reichte ihm zu sehen, das ihm nichts geschehen war, von dem Arm in Gips vielleicht einmal abgesehen. »Jetzt erzähl bitte«, bat Rakel, als sie in der Küche saßen und sie Kakao kochte, bloß um ihre Hände irgendwie zu beschäftigen. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war auf den Weg zu dir, da kam jemand aus einer Seitenstraße gefahren. Er hat mich wohl nicht gesehen, oder er hatte einfach keine lust zu warten, auf jeden Fall fuhr er genau in mein Wagen rein, aber mir ist nichts schlimmes passier«, erklärte er schnell und ruhig. Doch Rakel sah dass etwas anders, wie Melodin ein Blick in ihr Gesicht sehr deutlich zeigte. Sie nämlich starrte auf den weißen Gips, der auch seine Hand mit einschloss. »Wie schlimm ist es wirklich?«, fragte sie nur. Er schüttelte den Kopf. »Wirklich nicht schlimm. Ich lebe und ich habe keine schlimmeren Verletzungen davon getragen«, antwortete er mit einem aufmunternden lächeln. »Und deine Hand?«, sie wusste, wie wichtig seine Hände für seine Karriere als Musiker waren, doch abermals schüttelte er den Kopf. Diesmal lächelte er aber nicht. »Ich kann sie nicht mehr bewegen. Vielleicht nie mehr, ein Instrument kann ich nicht mehr spielen.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)