Taste Of Confusion V von Karma (Nico x ...) ================================================================================ Prolog: Brüder -------------- Yay, endlich hab ich den Prolog für TOC V auch mal geschafft. Kann sein, dass noch Fehler drin sind, aber die merze ich später aus (wobei ich, wie üblich, für jeden Hinweis dankbar bin). Wie unschwer zu erkennen ist, geht es in dieser Geschichte um Nico. Viel verrate ich noch nicht. Lasst euch einfach überraschen, was ich mit ihm vorhabe, okay? Und drückt mir die Daumen, dass ich beim ersten Kapitel endlich zum Ende komme. Das ist nämlich schon wesentlich länger angefangen als der Prolog. Und da es zeitlich vor dem ersten richtigen Kapitel von TOC III und auch vor dem zweiten Kapitel von TOC IV (die beide ebenfalls bereits angefangen sind und nur noch auf Vollendung warten) spielt, wäre es sicher nicht verkehrt, wenn ich es bald hochladen könnte. So, genug gelabert. Ich wünsche viel Spaß. Oh, und nehmt euch vielleicht vorsichtshalber ein paar Taschentücher. Die zarter besaiteten Leser unter euch (damit meine ich vor allem Dich, Liebes) könnten sie eventuell brauchen. Karma ~*~ "Hey, Nico, warte mal bitte kurz." Als ich diese Worte höre, bleibe ich beinahe augenblicklich stehen, obwohl ich eigentlich nichts mehr will als nach endlosen sieben Stunden endlich aus dieser Hölle, besser bekannt als Schule, heraus und nach Hause zu kommen. Mein Bruder, der Glückspilz, hatte heute nur fünf Stunden, weil er Religion am Anfang des Schuljahres abgewählt hat. Ich war dummerweise nicht ganz so schlau wie er, sondern habe meinen Zettel verschludert und darf mir deshalb noch ein weiteres Jahr lang das dumme Gerede von Frau Peekes antun. Manchmal ist es wirklich nicht unbedingt von Vorteil, ein Chaot zu sein. Wenn man nämlich etwas in seinem ureigenen Chaos verschlampt, kann man niemanden dafür verantwortlich machen, sondern muss sich irgendwie mit den Konsequenzen arrangieren. Sämtliche Gedanken an die Sinnlosigkeit von Religionsunterricht und die Unmöglichkeit von Frau Peekes fast schon lilafarbener Tönung verpuffen sofort, als Janina, die gerade nach mir gerufen hat, vor mir stehen bleibt und mich ansieht. Ihre Wangen sind leicht gerötet, ihre blauen Augen strahlen und ich kann fühlen, wie sich mein Herzschlag bei diesem Anblick ein wenig beschleunigt. Ich finde Janina schon ziemlich lange ziemlich toll, aber bisher hat sie im ganzen Schuljahr noch keine zehn Sätze mit mir gesprochen. Und ich weiss irgendwie immer dann, wenn wir zusammen Chemie haben – Janina geht in meine Parallelklasse –, auch nicht, was ich zu ihr sagen soll. Normalerweise bin ich wirklich nicht auf den Mund gefallen, aber bei ihr schaltet sich mein Hirn irgendwie immer ab und ich mache mich total zum Hampelmann. Das macht mir sonst nicht besonders viel aus, aber bei Janina ist das anders. Ich will nicht, dass sie mich für einen Trottel hält und mich auslacht. Das würde mir echt den Rest geben. "Ähm ... Könntest Du mir einen Gefallen tun, Nico?", fragt Janina und ich kann mich nur mit Mühe davon abhalten, sofort hektisch zu nicken. Klar. Was immer Du willst. Für Dich mach ich alles, liegt mir auf der Zunge, aber ich spreche die Worte nicht aus, sondern schlucke sie ungesagt herunter. Das wäre einfach eine Spur zu offensichtlich und ich will mich wirklich nicht blamieren. Nicht ausgerechnet vor ihr und vor allem nicht dann, wenn sie mich tatsächlich ausnahmsweise einmal ganz von selbst anspricht. Und das auch noch nach dem Unterricht, wenn der Schulhof so gut wie leer ist. Ich glaube, ich kippe gleich um. Meine Knie sind jedenfalls butterweich und wenn Janina mich noch lange so halb schüchtern, halb bittend anlächelt, dann haut es mich entweder wirklich aus den Latschen oder ich küsse sie einfach. "Könntest Du Deinem Bruder das hier von mir geben?" Zeitgleich mit dieser Frage drückt Janina mir einen Briefumschlag in die Hand, auf dem in ihrer ungewöhnlich kringeligen Handschrift der Name Jonas steht. Einen Moment lang starre ich einfach nur wie blöde auf den Umschlag in meiner Hand, aber als Janina sich geradezu überschwänglich bei mir bedankt und dann nach einem letzten Lächeln in meine Richtung, das nicht mal wirklich mir gilt, wieder zu ihren wartenden Freundinnen läuft, wird mir klar, was hier gerade passiert ist. Janina – das Mädchen, auf das ich schon seit dem Beginn des Schuljahres stehe – hat mich gerade gebeten, den Boten zu spielen, weil sie sich nicht traut, meinem Bruder selbst diesen Brief zu geben. Im Klartext bedeutet das, dass ich mir Janina abschminken kann. Wenn das, was ich gerade in der Hand halte, nämlich kein Liebesbrief ist, dann will ich ab sofort nicht mehr Nico Ritter heissen. "Scheisse!" Anders kann ich es einfach nicht ausdrücken. Das ist wirklich einfach nur scheisse. Das absolut allertollste Mädchen der Stufe steht ausgerechnet auf meinen Bruder. Einen Moment lang bin ich tatsächlich versucht, den Brief einfach wegzuwerfen und Jojo nichts davon zu erzählen, aber anstatt das wirklich zu tun, ertappe ich mich dabei, wie ich den Umschlag etwas grimmiger als nötig in meine Jackentasche stopfe. Dann schultere ich meinen Rucksack und verlasse den Schulhof, der inzwischen bis auf mich wirklich komplett leer ist. Von Janina und ihren Freundinnen ist nichts mehr zu sehen, aber darüber bin ich nur froh. Ich kann wirklich gut darauf verzichten, dass irgendjemand mir ansieht, wie sehr mich diese blöde Sache mit dem bescheuerten Brief getroffen hat. Anstatt wie üblich nach Schulschluss in den nächsten Bus zu steigen und gleich nach Hause zu fahren, drehe ich der Bushaltestelle heute den Rücken zu und gehe zu Fuß. Allerdings schlage ich nicht den Weg nach Hause ein, sondern biege schon zwei Kreuzungen vorher ab. Ich brauche jetzt einfach etwas Zeit, um meine Gedanken zu ordnen und vor allem meine aufgewühlten Gefühle wieder unter Kontrolle zu kriegen. Ich will nämlich nicht, dass mir Jojo nachher, wenn ich nach Hause komme, ansieht, was mit mir los ist. In so was ist er leider ziemlich gut, aber diese Demütigung muss ich mir wirklich nicht auch noch geben. Ehe ich mich versehe, stehe ich vor dem Eingang zu dem Bunker, wo Jojo, Dennis und ich früher als Kinder so oft gespielt haben. Ich weiss nicht genau, warum meine Füße mich ausgerechnet hierher gebracht haben, aber eigentlich ist das völlig egal. Hier treibt sich so gut wie nie jemand herum, also wird mich auch niemand stören, wenn ich mich in meinem Selbstmitleid aale. Ja, vielleicht ist das peinlich und blöd für einen Fünfzehnjährigen, aber verdammt, darauf scheisse ich heute! Dann bin ich eben peinlich und blöd. Ist mir doch egal. Noch schlechter gelaunt als noch vor einer Minute bahne ich mir meinen Weg durch das Dickicht, bis ich den Bunker erreicht habe. Ohne Rücksicht auf den Dreck zu nehmen, werfe ich meinen Rucksack nicht besonders vorsichtig in eine Ecke und lasse mich dann so auf den Steinboden fallen, dass ich mich mit dem Rücken an die noch intakte Bunkerwand lehnen kann. Abgrundtief seufzend schliesse ich meine Augen, ziehe die Beine an und schlinge meine Arme darum, so dass ich meine Stirn auf meine Knie stützen kann. Ein Teil von mir möchte jetzt nur zu gerne heulen, während ein anderer Teil von mir Jojo am liebsten eine reinhauen würde. Ich verstehe das einfach nicht. Was ist eigentlich so verdammt toll an meinem ach so perfekten Bruder, dass alle so auf ihn abfahren? Die Mädels in unserer Stufe und im Jahrgang darunter beten schon fast den Boden an, auf dem er wandelt, die Lehrer stehen auch total auf ihn und sogar Mama hat ihn unübersehbar lieber als mich. Aber was erwarte ich auch? Ich bin schliesslich nicht so toll und perfekt wie er. Meine Noten sind nicht ständig die besten, ich bin nicht der Höflichste und ich krieche weder den Lehrern in den Arsch noch lasse ich mich von jedem so rumkommandieren, wie er das tut. Nie sagt er zu irgendwem Nein, nie schlägt er jemandem eine Bitte ab oder verweigert jemandem Hilfe. Klar, dass alle das toll finden. Nicht mal die Tatsache, dass er sich letzte Woche die Haare an den Seiten und im Nacken hat ausrasieren lassen – Undercut nennt er das – und dass er zusätzlich zu den schwarzen Klamotten, die er dauernd trägt, jetzt auch noch Nagellack und Kajal und das ganze Zeug benutzt, hat seinem Ansehen geschadet. Klar, einige alte Leute schauen ihn jetzt schief an und erst vorgestern hat irgendeine Trulla im Supermarkt ihrem Blag fast den Arm ausgerissen, als sie es von Jojo wegzerren wollte, aber irgendwie ändert das alles nichts. Jojo ist und bleibt der absolute Mustersohn. Tante Katja benutzt ihn bei Lukas und mir auch immer als gutes Beispiel, dem wir nacheifern sollen, ohne zu merken, wie sehr sie uns damit nervt. Selbst Larissa geht sie damit auf den Keks, obwohl Larissa im Gegensatz zu Lu und mir wenigstens nicht ständig mit Jojo verglichen wird. Der Einzige, der mir noch nie vorgehalten hat, dass ich doch mal versuchen sollte, ein bisschen mehr wie Jojo zu sein, ist Papa. Er hat uns beide noch nie miteinander verglichen, aber was nützt mir das? Er muss ja schliesslich arbeiten und ist deshalb bei weitem nicht so oft zu Hause wie Mama. Und die schmiert mir jeden Tag aufs Neue aufs Butterbrot, dass ich eben nicht so klug und toll und nett und freundlich und höflich und perfekt bin wie mein Superbruder. "Du könntest Dich ruhig ein bisschen mehr bemühen, Nico. Nimm Dir ein Beispiel an Jonas." – "Warum kannst Du nicht ein einziges Mal freiwillig Dein Zimmer aufräumen? Ist das denn so schwer? Dein Bruder tut das doch auch." – "Ist es wirklich zu viel verlangt, dass Du mal von selbst ein bisschen im Haushalt hilfst? Jonas hat schon wieder für Dich den Müll rausgebracht, obwohl das eigentlich Deine Aufgabe gewesen wäre." So was darf ich mir jeden Tag anhören. Ist es denn so schwer zu verstehen, dass ich eben nicht so bin wie Jojo? Ist es so schwer zu verstehen, dass ich es scheisse finde, wenn man mich ständig mit ihm vergleicht und mir unter die Nase reibt, wie unzulänglich ich im Vergleich zu ihm bin? Das ist einfach nicht fair, verdammt! Und dann auch noch die Sache mit Janina. Als wäre es nicht schon scheisse genug, dass Jojo überall beliebter ist als ich. Jetzt muss er mir auch noch das Mädchen wegnehmen, auf das ich seit einer gefühlten Ewigkeit stehe. Gut, er weiss noch nichts davon, dass sie was von ihm will – immerhin hab ich den beschissenen Brief, den ich ihm geben sollte, ja immer noch bei mir –, aber das ist egal. Es reicht schon, dass sie auf ihn steht. Am liebsten würde ich Jojo wirklich dafür schlagen. Ich weiss zwar eigentlich, dass es nicht seine Schuld ist, aber im Moment will ich mich einfach nur abreagieren. "Dachte ich mir doch, dass Du hier bist." Beim Klang der Stimme, die ich nur zu gut kenne, ruckt mein Kopf hoch und als ich tatsächlich meinen Bruder vor mir stehen sehe, verfinstert sich mein Gesicht und meine Stimmung sinkt noch weiter in den Keller. Was will er hier, verdammt noch mal? Kann er mich nicht ein einziges Mal im Leben in Ruhe lassen? Muss er mir jetzt auch noch nachlaufen und mir auf die Nerven gehen, wenn ich einfach nur alleine sein will? "Hau ab!", pflaume ich ihn an und drehe demonstrativ den Kopf weg, aber natürlich geht Jojo nicht. Es raschelt einfach nur kurz und aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass er seine Jacke auszieht und sie auf den Boden legt, ehe er sich im Schneidersitz draufsetzt. Unwillkürlich entfährt mir ein Schnauben. Mr. Mustersohn muss mal wieder beweisen, wie toll er ist. Meine Jacke und meine Hose sind garantiert schon dreckig, aber während ich dafür nachher wieder Anschiss von Mama zu erwarten habe, weil ich mich mal wieder "eingesaut" habe, kriegt er ganz sicher keinen Ärger. Warum auch? Mr. Rücksichtsvoll. Pah! "Bist Du eigentlich taub oder was? Ich hab gesagt, Du sollst abhauen." Ich will nicht, dass er hier bleibt und mich weiter mit diesen grauen Augen ansieht, mit denen er fast immer so erschreckend gut in meinen Kopf kucken kann. Ich will jetzt einfach nur alleine sein, bis meine Wut auf ihn und meine Enttäuschung über Janinas dämlichen Brief wieder so weit abgeklungen ist, dass ich nach Hause gehen kann, ohne dass mir jeder, dem ich über den Weg laufe, sofort anmerkt, was mit mir los ist. Das geht schliesslich niemanden was an. Jojo verschwindet allerdings nicht, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass er ganz genau weiss, dass ich meine Ruhe haben und ihn nicht sehen will. Trotzdem bleibt er im Schneidersitz schräg gegenüber von mir hocken und ich weiss auch ohne hinzusehen, dass er mich beobachtet. Dankenswerterweise schweigt er und so nimmt zumindest der Drang, ihn zu schlagen, ein wenig ab. Weh tun will ich ihm allerdings immer noch. Das tut er schliesslich auch, selbst wenn er das nicht weiss und es vielleicht auch gar nicht wirklich will. "Ich hasse Dich, Jojo." Ich weiss nicht genau, warum ich das sage. Oder doch, eigentlich weiss ich es schon. Und ich weiss auch, dass es kindisch und dumm ist und dass mein Bruder nichts dafür kann, dass Janina ihn nun mal lieber mag als mich, ebenso wie Mama, aber er ist eben gerade da. Und er wehrt sich auch nicht, wenn ich ihm so etwas an den Kopf werfe – eine Tatsache, die mein schlechtes Gewissen auf den Plan ruft, das ich jedoch schnell wieder verdränge. Ich will mich jetzt nicht auch noch mies fühlen, weil ich gemein zu meinem Bruder bin. Ich fühle mich heute auch so schon scheisse genug. "Ich wünschte, ich wäre Einzelkind." Ich weiss, dass meine Worte wie Ohrfeigen für Jojo sein müssen, aber ich kann einfach nicht damit aufhören. In mir ist gerade so viel Wut, so viel Bitterkeit und ja, auch eine Prise Hass, dass ich einfach ein Ventil dafür brauche. "Es wäre alles viel besser, wenn Du nie geboren worden wärst." Verdammt, kann Jojo mich jetzt nicht anschreien? Kann er mich nicht schlagen oder überhaupt irgendwie reagieren? Wenn er einfach nur dasitzt und sich alles anhört, wird es nur noch schlimmer. Ich fühle mich mit jeder Sekunde mieser und irgendwie will ich, dass es ihm genauso geht. Er soll sich auch scheisse fühlen, wenn er schon alles hat, was ich nicht habe. "Warum kannst Du nicht einfach verschwinden?" Ich will, dass er endlich geht. Dann muss ich meine Augen nicht mehr ganz so fest zusammenpressen. Und dann muss ich mir auch nicht mehr auf die Unterlippe beissen, bis es weh tut und ich Blut schmecke. Und dann muss ich mich auch nicht mehr so mies fühlen, weil ich meinen Bruder für etwas verantwortlich mache, was eigentlich gar nicht seine Schuld ist. Er kann schliesslich nichts dafür, dass er beliebter ist als ich. Das ist meine eigene Schuld. Aber was soll ich machen? Ich kann einfach nicht so sein wie er. Ich kann nicht so höflich, so nett, so freundlich sein. Ich kann Mama nicht dazu bringen, mich so sehr zu lieben wie sie ihn liebt. Und ich kann Janina auch nicht dazu bringen, mich zu mögen und nicht ihn. Verdammt, das ist alles scheisse! Ich zucke erschrocken zusammen, als ganz plötzlich eine Schulter meine Schulter streift. Ich habe nicht gehört, wie Jojo zu mir gerutscht ist, aber auf einmal ist er direkt neben mir. Er hat sich ebenso wie ich an die Bunkerwand gelehnt und ich spüre, dass er mich ansieht, aber ich blicke nicht zu ihm auf. Wenn ich das jetzt tun würde, dann würde er sehen, wie scheisse es mir gerade geht. Und das will ich nicht. Ich will nicht, dass er merkt, dass ich kurz davor bin zu heulen, weil Janina mir diesen blöden Brief für ihn mitgegeben hat und weil ich mich ihm gegenüber gerade wie ein Arschloch aufgeführt habe. Das, was ich zu ihm gesagt habe, tut mir jetzt schon wieder leid, aber ich schaffe es irgendwie nicht, mich dafür zu entschuldigen. Jojo sagt noch immer nichts, aber er bleibt neben mir sitzen, ohne darauf zu achten, dass seine Klamotten jetzt auch so dreckig werden wie meine. Seine Jacke liegt nämlich immer noch da, wo er sie vorhin ausgezogen hat. Er macht allerdings keine Anstalten, wieder zurückzugehen, und ich bin dankbar dafür. Meine linke Seite ist da, wo sein Körper meinen berührt, ganz warm und irgendwie ist das fast schon tröstlich. Trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – ist mir nur allzu bewusst, dass ich ihm eine Entschuldigung für den Mist schulde, den ich da gerade von mir gegeben habe, aber ich bringe noch immer kein Wort über die Lippen. Mehrere Minuten lang bleiben wir einfach so nebeneinander sitzen, ohne einen Ton zu sagen. Dann krame ich den Brief aus meiner Jackentasche und reiche ihn schweigend an Jojo weiter. Noch immer sehe ich ihn nicht an, aber ich kann hören, wie er den Umschlag öffnet, den Brief entfaltet und ihn liest. Es dauert nicht besonders lange, dann lässt er ihn sinken und seufzt leise. "Mein Glückwunsch. Janina ist echt toll", krächze ich und verfluche mich dafür, dass ich meine Stimme nicht besser im Griff habe und dass ich es nicht hinkriege, "Es tut mir leid" zu sagen. "Kann sein." Jojo klingt nicht unbedingt überzeugt, aber ehe ich nachfragen kann, rückt er noch ein paar Millimeter näher zu mir und lehnt seinen Kopf an meinen. "Aber ich würde nie etwas mit einem Mädchen anfangen, das Du magst", sagt er dann und ich muss husten, weil ich mich an meinem nächsten Atemzug verschlucke. Jojo klopft mir vorsichtig auf den Rücken und ich schaffe es jetzt doch endlich, ihn anzusehen. "Woher weisst Du das?", frage ich japsend, nachdem ich mich wieder ein bisschen gefangen habe, und Jojo lächelt ganz leicht. "Ich bin Dein Bruder, Nico. Glaubst Du wirklich, ich würde nicht merken, wenn Du Dich für ein Mädchen interessierst?", fragt er zurück und ich werde tatsächlich rot. "So offensichtlich?", nuschele ich und Jojo nickt. "Für mich schon, ja. Ich kenne Dich schliesslich schon mein ganzes Leben lang. Und es tut mir wirklich leid, dass es nicht geklappt hat und dass sie Dir auch noch diesen Brief für mich mitgegeben hat. Das war sicher nicht sehr schön für Dich", vermutet er ganz richtig und ich fühle mich gleich noch eine Spur mieser. Nach allem, was ich über ihn gedacht und was ich ihm gerade an den Kopf geworfen habe, bittet er mich praktisch um Entschuldigung für etwas, das nicht seine Schuld ist. "Du bist viel zu nett", stelle ich fest und Jojo blinzelt irritiert, was mir ein schiefes, sehr verunglücktes Grinsen entlockt. "Das ist mein Ernst. Du bist echt immer viel zu nett. Zu allen, auch zu so Idioten wie mir. Eigentlich solltest Du mir eine reinhauen für den Scheiss, den ich gerade gesagt hab, und Dich nicht auch noch bei mir entschuldigen. Wenn überhaupt, dann müsste ich mich bei Dir entschuldigen. Ich hab das nämlich nicht so gemeint. Wirklich nicht. Ich war nur so sauer wegen Janina und Mama und weil alle mir dauernd vorhalten, wie toll Du doch bist und dass ich ein bisschen mehr so sein sollte wie Du und ... Tut mir leid, Jojo. Wirklich. Ich wollte das alles nicht sagen. Ich will überhaupt kein Einzelkind sein. Und ich hasse Dich auch nicht. Das könnte ich gar nicht. Ehrlich nicht", sprudelt es nur so aus mir heraus, aber ehe ich noch mehr sagen kann, lächelt mein Bruder dieses warmherzige Lächeln, das nur er lächeln kann und das mir deutlicher als alle Worte der Welt zeigt, dass er mir nicht böse ist für das, was ich gerade Dummes gesagt habe. Etwas zaghaft lächele ich zurück und im nächsten Moment legt Jojo mir einen Arm um die Schultern. "Das weiss ich doch", murmelt er, zieht mich zu sich und ich lasse ihn gewähren, obwohl ich eigentlich der Ältere von uns beiden bin. Normalerweise sollte ich meinen jüngeren Bruder in den Arm nehmen und nicht umgekehrt, aber diese Umarmung tut so gut, dass ich ganz gepflegt darauf pfeife, was ich tun sollte und was nicht. Ich lehne einfach nur meinen Kopf an seine Schulter, schliesse die Augen und seufze leise. Es tut immer noch weh, dass Janina Jojo lieber mag als mich, und es tut auch immer noch weh, dass er Mamas unbestrittener Liebling ist, aber ich bin trotzdem froh, dass er da ist und dass er mich hier am Bunker gefunden hat. Ich weiss zwar nicht, wie er das geschafft hat und warum er überhaupt hergekommen ist, aber das ist ja auch eigentlich nicht so wichtig. Nach einer Weile löse ich mich trotzdem etwas widerwillig wieder aus Jojos Umarmung und setze mich auf. Jetzt kann ich ihm auch wieder richtig in die Augen sehen. Ich schäme mich zwar immer noch unsäglich für meinen dummen, kindischen Ausbruch, aber das Wissen, dass er mir das nicht nachträgt und es scheinbar sogar irgendwie versteht, erleichtert mich irgendwie. Ganz egal, was ich vorhin auch gesagt hat, ich könnte mir mein Leben ohne meinen Bruder gar nicht vorstellen. Ich brauche ihn viel mehr als er wahrscheinlich auch nur im entferntesten ahnt. Und irgendwann werde ich ihm vielleicht auch mal wirklich sagen, wie wichtig er eigentlich für mich ist und wie froh ich bin, dass er da ist. "Komm, lass uns nach Hause gehen." Jojo rappelt sich auf, klopft sich den Dreck von seinen Sachen und zieht seine Jacke wieder über. Dann streckt er mir auffordernd seine Hand hin. Ich ergreife sie und lasse mich von ihm hochziehen, aber anstatt ihn gleich wieder loszulassen, ziehe ich ihn jetzt meinerseits an mich und umarme ihn. Im ersten Moment überrumpele ich ihn damit, aber dann umarmt er mich ebenfalls wieder und lässt zu, dass ich ihn einmal ganz fest an mich drücke. "Danke, Jojo", nuschele ich dabei leise in den Kragen seiner Jacke, ehe ich ihn wieder loslasse. Ich bin mir nicht sicher, ob er begriffen hat, was ich damit genau sagen wollte, aber als er mich anlächelt, weiss ich, dass er meinen Dank nicht nur gehört, sondern auch richtig verstanden hat. Aber so wirklich wundert mich das nicht. Jojo ist eben einfach der Beste. ~*~ Gut, das wussten wir ja alle schon, aber schön, dass Nico es auch begriffen hat, nicht wahr? *Nico knuddel* *danach gleich ins Bett kuller* Man liest sich hoffentlich bald wieder! Karma Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)