Ein kleines Stück Ewigkeit von Foresight ================================================================================ Kapitel 1: Ein kleines Stück Ewigkeit ------------------------------------- Der Motor summte leise – ganz anders als die Autos, die sie aus ihrer Kindheit kannte. Es war ein angenehmes und auf eine gewisse Art und Weise beruhigendes Geräusch. Vor allem jetzt, nachdem sie den hektischen Stadtverkehr hinter sich gelassen hatten und ihren Weg über die Dörfer auf Landstraßen fortsetzten, war die Fahrt entspannt und selbst Ellinor gestattete es sich, die Autofahrt zu genießen. Zumindest ein bisschen. Sie hatte sich auf dem Rücksitz des Vans zurück gelehnt und betrachtete die vorbeifliegende Landschaft. Für eine gesunde Frau ihren Alters war ein solcher Ausflug bereits anstrengend, für Ellinor fast schon eine zu große Zumutung – zumindest wenn es nach ihrem behandelnden Arzt Doktor Fischer ging. Dennoch hatte sie stur auf diese Reise bestanden, wissend, wie schlecht es um sie stand. Erst vor wenigen Tagen hatte sie ihren achtundsiebzigsten Geburtstag gefeiert – alleine in ihrem Zimmer im Altenwohnheim. Lediglich Anna, ihre Pflegerin, war mit einem kleinen Geburtstagskuchen und einem Taschenbuch mit dem Titel „Wege zum Glück“ vorbeigekommen. Ellinor hatte sich sehr über diese kleine Geste gefreut, auch wenn sie ihr das nicht hatte zeigen können, denn über die Jahre hinweg hatte sie vergessen wie das ging, Freude und Dankbarkeit zeigen. Ihre eigenen Kinder hatten ihr dagegen nur eine armselige, unpersönliche Geburtstagskarte zukommen lassen. Liebe Mutter hatte darauf gestanden, wir wünschen dir alles Gute zum Geburtstag. Leider können wir aus beruflichen Gründen nicht selbst vorbeikommen. Wir melden uns. Lisa und Karl mit Familie. Das war alles. Sie hatten es noch nicht einmal für nötig gehalten anzurufen. Nach der erschütternden Diagnose vor acht Jahren hatten sie die beiden in einem Pflegeheim untergebracht. Man würde sich dort gut um sie kümmern, hatten sie gesagt und versprochen, jede Woche mindestens einmal vorbei zu schauen und so oft wie möglich anzurufen. Aber es waren leere Versprechungen gewesen. Abgeschoben hatte man sie! Die Karriere war ihnen wichtiger gewesen als das Wohlergehen der eigenen, schwer kranken Mutter. Bereits zwei Jahre später war Ellinor in einem anderen Pflegeheim untergebracht worden. In einer anderen Stadt, weit weg von der Heimat. Das erste war einfach zu teuer gewesen. Das war also der Dank für all die aufopferungsvollen Jahre, die sie sich abgemüht hatte nur um ihren Kindern alles zu bieten, was das kleine Kinderherz begehrte. Und was hatte sie nun im Alter von all ihrer Hingabe? Grimmig verzog Ellinor das Gesicht. Sie war schwer krank und war von den eigenen Kindern abgeschoben worden! Undankbare Bengel hatte sie großgezogen. Aber Anna war anders. Sie war ein gutes Kind, das sich voller Hingabe um eine alte, kranke Frau kümmerte. Natürlich war das in gewisser Hinsicht ihr Beruf, aber Anna übte ihn gerne aus und kümmerte sich weit über ihre Aufgaben hinaus um Ellinor. Sie hörte ihr zu, philosophierte mit ihr über die verschiedensten Fragen des Lebens, machte ihr hin und wieder eine kleine Freude und auch Ellinor machte ihr hin und wieder gerne eine kleine Freude. Ja, Anna war ein gutes Kind. Warmherzig, gutmütig, freundlich, hilfsbereit – eben ganz die Tochter, die sich Ellinor immer gewünscht hatte. „Möchten Sie vielleicht eine kleine Pause machen Frau Henning?“ Die dunkle, sonore Stimme gehörte dem Mann am Steuer. Er reihte sich in die Liste ihrer behandelnden Ärzte ein und hörte auf den klangvollen Namen Doktor Sascha Harms. Fast so wie 'harmlos' oder 'Charme'. Zweifelsohne war er das, ein charmanter junger Mann, der sein Studium erst vor einem Jahr beendet hatte. Die jüngeren weiblichen Generationen würden ihn sicher als gutaussehend, umwerfend und zuvorkommend bezeichnen. Nichtsdestotrotz konnte Ellinor ihn nicht ausstehen. Er war ihr so lieb wie ein Kaffeefleck auf der frisch gewaschenen Spitzentischdecke. Viel zu sehr erinnerte er sie an ihren Exmann, ein scheußliches, verabscheuungswürdiges Exemplar der Gattung Mann! Eine schöne, schillernde Fassade war eben nicht alles, sondern täuschte meist über die hässlichen Tatsachen hinweg. Sicher war auch der Doktor ein heimlicher Säufer! Jemand, dem man privat nicht vertrauen konnte. Ellinor hatte ihn auch gar nicht dabei haben wollen. Letztendlich akzeptierte sie seine Anwesenheit nur, weil er ein Meister seines Faches war – und weil man es ihr aufdiktiert hatte. Aber zum Glück war auch Anna auf Schritt und Tritt an ihrer Seite. „Nein, danke! Und nun geben Sie schon endlich Gas! Bei dem Tempo kommen wir ja nie an! Für Pausen fehlt mir eindeutig die Zeit“, war ihre knauserige Antwort. Es machte ihr Spaß, ihn spüren zu lassen, dass er ihr Wohlwollen keinesfalls genoss und dennoch begegnete er ihr immer höflich und zuvorkommend. Es war zum aus der Haut fahren! Nicht mal diesen Spaß gönnte er ihr. Aber Ellinor tröstete sich mit dem Gedanken, dass er eben durch und durch ein Arschkriecher war. Genau wie ihr Exmann! Der Arzt schwieg. Ellinor hatte ihr Ziel erreicht und widmete ihre Aufmerksamkeit erneut dem Blick aus dem Fenster. Die Strecken zwischen den Dörfern wurden mal größer, mal kleiner, vor allem aber immer grüner. Mal grasten bunte Kuhherden auf den Wiesen und schon im nächsten Moment tuckerte ein Traktor über einen der zahlreichen Feldwege auf die Hauptstraße zu. Ellinor wurde es nicht müde, aus dem Fenster zu sehen und in Erinnerungen an ihre farbenfrohe Kindheit zu schwelgen. Als sie nach einiger Zeit in eine ihr vertraute Gegend kamen, schlug ihr schwaches Herz schneller vor Aufregung und nach langer Zeit wurden die trüben Augen vom Glanz der Freude erhellt. „Wir sind gleich da, dort vorne müssen wir nur noch links abbiegen. Es ist das letzte Haus auf der rechten Seite, eigentlich gar nicht zu verfehlen“, dirigierte Anna ihren Fahrer. Doch Ellinor hörte gar nicht zu. Sie hatte den Blick fest auf die Straße vor dem Van gerichtet und kurz darauf rückte es auch schon in ihr Blickfeld. Ihr Elternhaus. Ein kleiner Garten lag längsseits der Einfahrt. Früher hatten sie dort alles selbst angebaut, nun hatte sich die Natur diesen Flecken Erde im Schutz des maroden Holzzaunes zurück erobert und ein wildes Sammelsurium aus allen möglichen Pflanzen angesiedelt. Der kleine Geräteschuppen links daneben musste schon vor unzähligen Jahren auf Grund von Wind und Wetter in sich zusammengefallen sein, denn an ihn erinnerte nur noch ein Haufen morscher Bretter. Das Haus selbst war verwahrlost, die Ziegel über und über mit Moos bewachsen, die Fenster zugenagelt, das Weiß der Hauswand grau und dreckig. Doch für Ellinor war es das Schönste und Strahlendste, das sie seit langem zu Gesicht bekommen hatte. Der Wagen hielt direkt vor dem Haus. Mit einem Mal pulsierte wieder Leben in Ellinors alten Knochen. Von kindlichem Erkundungsdrang gepackt, nesselte sie ungeschickt am Verschluss ihres Sicherheitsgurtes. Nach schier endlos langen Sekunden hatte sie ihn endlich geöffnet und stellte erleichtert fest, dass Anna inzwischen die Autotür geöffnet und Doktor Harms bereits ihren Rollstuhl aus dem Kofferraum gehievt hatte. Aufmunternd lächelte Anna ihr entgegen, während sie ihr die Hand reichte. „Wir sind da Ellinor. Wir sind zu Hause.“ Wie gut das in ihren Ohren klang. Zu Hause... Noch nie hatte dieser Ausspruch sie so sehr berührt, so richtig geklungen wie jetzt. „Zu Hause...“, wiederholte Ellinor leise. Ohne zu murren ließ sie sich von Anna und dem Doktor in ihren verhassten Rollstuhl helfen. Ein verträumtes Lächeln huschte über ihre müden Gesichtszüge. Der Geruch von Flieder und wilden Rosen wehte ihr entgegen. Fast glaubte sie die Stimme ihrer Mutter zu hören, die sie zum Abendbrot rief, sah im Geiste ihren Vater Pfeife rauchend in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda sitzen, sah ihren kleinen Bruder – der schon in viel zu jungen Jahren von ihnen gegangen war und eine nicht füllbare Leere hinterlassen hatte - ungestüm mit den Hunden über den Rasen tollen. Das Kläffen der Border Collies hallte von fern in ihren Ohren wieder. „Schön hatten Sie es hier.“ Anna war neben sie getreten und hatte schützend eine Hand auf ihre Schulter gelegt, die Ellinor überwältigt von der Flut der Erinnerungen ergriff. „Ja, Anna. Das war es damals und das ist es noch immer. Ich kenne keinen schöneren Ort auf der Welt als dieses Fleckchen Erde.“ Sie legte den Kopf leicht in den Nacken um die Vögel zu beobachten, die damals wie heute zahlreiche Nester unter dem Dach und in den Bäumen auf dem Grundstück bauten. „Wieso sind Sie nie hier her gezogen?“, erkundigte sich ihr Arzt, der sich bis dato im Hintergrund gehalten hatte. Unter anderen Umständen hätte er mit einer für Ellinor typischen, knauserigen Antwort rechnen müssen, doch sie war im Moment viel zu ergriffen, deshalb lächelte sie nur milde. Ein grauer Schleier legte sich kurz über ihre Augen. „Das ist eine lange Geschichte. Aber vielleicht … ja vielleicht wäre damals alles anders gekommen, wäre ich hierher zurückgekehrt...“ Sie war von Angst zerfressen, damals, mit der Frucht des Mannes im Leib, der sie erst ausgenutzt und dann verlassen hatte. Ihre Eltern hatten sie gewarnt, doch sie hatte – jung, naiv und blind vor Liebe wie sie war – nicht zugehört, nicht zuhören wollen. Ellinor blinzelte eine kleine Träne weg, berührte andächtig und liebevoll die Hauswand. So viel Glück und Liebe wie an diesem Ort, war ihr in ihrem gesamten Leben nicht mehr zu Teil geworden. Diese Einsicht war nicht neu, aber noch nie war ihr diese Tatsache so schmerzlich bewusst gewesen wie in diesem Augenblick. Ein wehmütiges Seufzen unterdrückend, tätschelte sie erneut Annas Hand. „Von dem Hügel dort oben hat man einen hervorragenden Ausblick auf all das hier. Anna, Kind, sei so gut und schieb mich dorthin. Diesen letzten Wunsch wirst du der alten Frau hier doch nicht abschlagen, oder?“ Ellinor entging der besorgte Blick, den Anna und Doktor Harms austauschten, nicht aber Annas herzliches Lächeln. „Wie könnte ich, Ellinor? Dann gehen wir also den Ausblick genießen, von dem Sie schon so oft geschwärmt haben.“ Anna übernahm den Rollstuhl und schob Ellinor den Hügel hinauf, dicht gefolgt von Doktor Harms, dessen Züge immer noch von Besorgnis gezeichnet waren. Aber Ellinor nahm die bedrückte Stimmung ihrer Begleiter gar nicht wahr. Sie hatte nur Augen für den Anblick der sich ihr bot. Das Sonnenlicht flutete durch die kleinen Löcher und Ritzen des Hauses und ließ es von innen heraus strahlen. Auf den Wiesen rundherum summte und zirpte es, die Haferfelder im Tal wirkten wie ein goldenes, die Sonne reflektierendes Meer. Tief sog Ellinor den Duft der Natur ein. Viel zu lange hatte sie darauf verzichten müssen. Es roch nach Sommer, nach Hafer und Heu, nach Glück und Geborgenheit. „Ist es nicht wunderschön?“, richtete sie ihre Stimme flüsternd an ihre Begleiter. „So lange habe ich auf diesen Moment gewartet, aber jetzt bin ich müde. Lasst mich einen Moment hier oben ausruhen. So wie früher...“ Mit sich selbst und der Welt im reinen, legte sie den Kopf zurück und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Ihre Augenlider wurden schwer und schlossen sich wie von selbst. Ihr Herzschlag beruhigte sich endlich nach all den Jahren voller Ärger und Aufregung und zum erstem Mal seit langer Zeit fand sie den Frieden, nachdem sie sich so viele Jahre gesehnt hatte. Ein friedliches, glückliches Lächeln legte sich auf ihre müden Gesichtszüge. Vor langer Zeit hatte sie sich einst geschworen an diesen Ort zurückzukehren, egal wie lange es auch dauern mochte, um dann für immer hier, in der Wiege ihrer glücklichen Kindheit zu verweilen. Einem Ort voller Glück und Frieden. Lange hatte Ellinor darauf warten müssen, doch nun war dieser Tag endlich gekommen und wie sie es versprochen hatte, würde sie hier bis in alle Ewigkeit verweilen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)