Flatmates von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 14: Talkshow II ----------------------- Seine Lippen sind so weich, viel zu kurz dauert sein Kuss, seine danach gesprochenen Worte dringen völlig verzerrt zu mir und nur langsam überkommt mich die Realität wieder, bedächtig werden die Umrisse des Zimmers wieder klarer und ich blicke in diese durchdringenden, dunklen Augen, die ich endlich wieder als die meines Freundes erkennen kann. Umgehend erfasst mich das seltsam berauschende Gefühl der ultimativen Verwirrung. Ich denke zurück an die vergangenen Tage, das von Misere überzogene Gesicht Janniks, seine kalte und von Schmerz geprägte Stimme, wenn er überhaupt etwas zu mir gesprochen hat. Und diese Blässe, die sein hübsches Gesicht zierte, als ich ihm die Beichte überbrachte. Er scheint meinen emotionalen Tumult lesen zu können, denn er streicht mir leicht versonnen über die Wange, seufzt und greift nach meiner Hand, zieht mich hinüber zum Sofa, auf dem wir nur gemeinsam Platz nehmen. Während er anfängt zu sprechen, lässt er meine Hand nicht los. Unsere Finger verschränken sich und die Wärme seiner Handfläche scheint über meine gesamte Haut zu wandern und in mein Inneres zu dringen. Auch wenn immer noch ein Funken der Angst übrig ist, die ich in letzter Zeit mit mir getragen haben. Es dauert einige Zeit, bis etwas über seine Lippen kommt. Und ich reiße mich zusammen, dränge ihn nicht, konzentriere mich bloß auf seine Hand. Er blickt mich nicht an, seufzt ein weiteres Mal, scheint nach den richtigen Worten zu suchen. Janniks ist kein besonderer Redner. Ich weiß, wie schwer es ihm gerade fallen muss, seine Gedanken so zu ordnen, sodass er sie mir mitteilen kann. Verbal und nicht durch irgendwelche Gesten, die in diesem Fall auch einfach fehl am Platze wären. Nach einer Weile blickt er mir in die Augen. Sie sind leicht glasig, ich kann man eigenes Spiegelbild beinahe in ihnen erkennen. „Ich…“, setzt er an und seine Stimme bebt, droht zu versagen, doch das tut sie nicht. „Als du mit Rapha und den anderen an die Ostsee abgehauen bist… hatte ich extrem Angst dich zu verlieren“, bringt er heraus und schluckt dann, schaut den Boden an und ich drücke seine Hand noch fester. Ein Moment der Stille folgt. Jannik kämpft mit seinen Gedanken. Mein Herz rast. „Ich hab echt… Ich hab echt nachgedacht. Über alles. Also, meine Eltern, meine Schwestern und uns und… was für ne Scheiße das alles ist“, spricht er mit sanfter Stimmer weiter, etwas unsicherer als er sonst redet. „Ich… wollte, dass es aufhört aber…“ „Aber…?“, hake ich heiser nach. „Ich hatte Angst!“, kommt es wie aus einer Pistole geschossen. „Und dann… Und dann…“, stottert er und scheint erneut mit seinen Emotionen zu ringen. „Dann kommst du nach Hause und begrüßt mich mit dieser krassen Offenbarung!“ Ich drücke seine Hand noch fester in Furcht, er könne unseren Körperkontakt unterbrechen. Und ich will ihn jetzt nicht loslassen! „Jannik, das tut mir leid…“, wispere ich und er lächelt mich tatsächlich an. „Ich weiß“, sagt er ebenso leise. „Raphael hat es mir erzählt. Wir haben gestern telefoniert.“ Raphael. Ein Engel. Oder so ähnlich. Jannik seufzt. „Ich… Ich war total durcheinander, als du mir von Niklas erzählt hast. Aber eigentlich bin ich jetzt ziemlich froh, dass das passiert ist“, redet er immer noch leicht lächelnd weiter. „Wa-Warum?“, frage ich verdutzt und versuche eine Antwort in seinem Gesicht zu lesen. „Weil das ein Arschtritt war?“, kommt es von ihm leicht spöttisch. Wir schweigen einige Sekunden lang. Und dann ergreift er beinahe stürmisch meine zweite Hand und zieht mich auf seinen Schoß, legt seine Arme um mich, lehnt seinen Kopf an meine Schulter und fängt an mir durchs Haar zu streicheln. „Du… Du liebst mich doch noch, oder?“, entfährt es schüchtern seinem Mund und ich bin völlig überwältigt von seiner Tonlage, sodass ich beinahe vergesse zu antworten. Als ich fühle wie er sich versteift und mit seiner Hand innehält, nicke ich hastig und beteuere: „Ja! Ja, natürlich!“ Ich kann Jannik ausatmen hören und ich fühle, wie er mich kräftiger umschließt. „Ich… Ich dich auch, Roman“, flüstert er und schmiegt seinen Kopf noch mehr an meine Schulter. „Und ich will dich nicht verlieren… Ich… Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, gibt er zu und ich lächle sachte. „Einfach irgendwo“, versuche ich ihn sanft zu animieren und ich meine, er grinst leicht. „Okay“, setzt er an und wieder vergehen einige Momente der Ruhe. „Du bist mein erster Freund. Mein aller, allererster fester Freund. Also, eigentlich der allererste Mann, mit dem ich… Naja… Was hatte. Und habe.“ „Was?“, entfährt es mich verwundert. „Du meinst“, ich wende ihm meinen Kopf zu und blicke ihm direkt in die Augen. „Also… Ich…? Dein erstes Mal mit…?“ „Überhaupt das erste Mal Sex, ja. Und das erste Mal Kontakt mit… dem eigenen Geschlecht“, gibt er verhalten zu. Ich brauche einige Augenblicke um zu verstehen, dass Jannik mich nicht veralbert, sondern das eben Gesagte todernst meint. Auch wenn mein Gehirn streikt und ich nicht weiß, was ich entgegnen soll. Was ich entgegnen kann. Um ehrlich zu sein, bin ich völlig geschockt! Und so viele Wörter und Bilder schießen durch meinen Kopf. Jannik war Jungfrau, als er mit mir zusammenkam?! Wieso habe ich nichts davon gemerkt?! „Auszeit!“, sage ich, als er den Mund aufmacht. Er blickt mit ruhig an. „Du hattest dein erstes Mal mit mir?!“ Er nickt langsam und wendet seinen Blick ab. Ich kann ihm richtig ansehen, wie unangenehm ihm diese Konversation ist. Aber letztendlich ist er derjenige, der angefangen hat und um ehrlich zu sein, war dieses Gespräch längst fällig. Ich rutsche von seinem Schoß und sitze nun direkt neben ihm. „Okay…“, sage ich und hole Luft. „Und äh, was ist mit dieser Annette? Deiner allerersten und letzten Freundin. Ach nein, da war doch noch diese Rita oder nicht?“, schießt es ein wenig verärgert aus mir heraus, als ich an diese Situation mit den Bilderalben von neulich denke. Jannik seufzt und kratzt sich ziemlich verlegen am Kopf. Ihn so zu erleben ist ja schon irgendwie niedlich. Ungewohnt, aber süß. Auch wenn ich immer noch sehr durcheinander bin und noch rein gar nichts geklärt ist. Nichts, außer der Tatsache, dass wir weiterhin ein Paar sind. Oder? „Das ist… Ich hab nichts mit denen gemacht. Das war einfach nur, wie soll ich sagen, das waren Alibibeziehungen? Versuche normal zu werden?“, entgegnet er ruhig. „Was?“ Ich verstehe noch immer nicht so ganz, was er mir eigentlich sagen möchte. „OK, hör zu“, sagt er etwas energischer und dreht sich mir ganz zu. „Meine Eltern hassen Schwule. Sie hassen sie, OK? Es ist nicht leicht mit diesen… Neigungen aufzuwachsen, wenn man von seinen Eltern hört, dass Männer die Männer lieben, oder Frauen die auf Frauen stehen, nicht normal sind, dass sie krank und pervers sind, OK?“ Ich lege den Kopf schief und erwarte mehr. „Ja, ich weiß, dass deine Eltern am Anfang auch geschockt waren, als du ihnen sagtest, du wärst schwul“, fährt Jannik fort. „Aber… Hat deine Mutter, noch bevor du dir wirklich bewusst warst, dass du aufs andere Geschlecht stehst, irgendwelche abwertenden Kommentare über Schwule in deiner Anwesenheit gemacht? In der Art: Diese Perversen sollten nicht in unserer Stadt wohnen? Oder hat dein Vater zum Beispiel freiwillig und mit viel Elan geholfen einen Kerl aus der Freiwilligen Feuerwehr raus zu ekeln, nur weil er schwul war?“ Janniks Stimme wird immer brüchiger und dünner. Ich schlucke. „Weißt du, wenn du mit der Annahme aufwächst, deine Gefühle seinen etwas Anormales und Widerliches, dann sind sie nicht leicht zu akzeptieren!“, bringt er heraus und muss erstmal Luft holen. „Bei mir auf der Schule war ein Typ, der bi war und der damit ganz offen umging. Julia war mit ihm befreundet. Als mein Vater das herausfand, hat sie einen Monat lang Hausarrest bekommen und du hättest seine Predigt hören müssen… Immer derselbe Müll“, schnaubt er. „Ekelhaft. Pervers. Anormal. Widerlich.“ Ich schlucke erneut. „Als ich mit 17 noch keine Freundin hatte, hat mein Vater mich immer so skeptisch angesehen und mir gesagt, ich solle mir endlich mal ein Mädchen suchen, die Nachbarn würden sich schon wundern.“ Ich verdrehe die Augen und Jannik grinst bitter. „Ich hab mir eingeredet, dass er recht hat. Ich dachte, meine Eltern hätten immer recht und ich war mir sicher, dass ich normal sein könnte. Also bin ich mit Annette zusammengekommen. Ich mochte sie eigentlich sehr. Aber eben nur als beste Freundin. Nicht als… richtige Freundin. Ich hatte panische Angst, wenn wir alleine waren, weil ich beim küssen einfach nichts gespürt hab… Und… hochbekommen habe ich auch keinen. War dann auch im Endeffekt der Grund, warum sie mit mir Schluss gemacht hat.“ Jannik legt eine kleine Pause ein. „Ich war so verstört, weil ich nicht wie die anderen war. Alle dachten, ich würde ihr hinterher heulen. Aber das war es gar nicht. Ich hatte Angst. Ich hatte einfach panische Angst und war frustriert. Ich hab’s echt immer wieder probiert mich in ein Mädchen zu verlieben, wie Rita zum Beispiel, und ich hab meinem Vater und dem Rest meiner Familie hier und da mal von einem Flirt erzählt, damit sie die Klappe halten“, redet er mit sarkastischer Stimme weiter. „Aber es hat einfach nie geklappt!“ Ich lege meine Hand auf Janniks Oberschenkel und gebe ihm einen kleinen Kuss auf die Wange. Er lächelt traurig. „Es war halt… schwer“, bringt er heraus. „Ich hab mich verleugnet. Die ganze Zeit über. Bis ich endlich an die Uni ging. Und da warst du. Und, zack! Ich war verliebt, meine Familie war weit weg und ich war endlich frei.“ „Aber… Wow“, sage ich und merke, dass mir komplett die Worte fehlen und ich nicht weiß, was ich sagen soll. „Ich meine…“, ich realisiere, dass ich ein wenig rot werde. „Du… hast so gewirkt, als wenn du schon total erfahren mit Männern wärst. Ich meine…“ „Es lebe das Internet, die Amateurpornografie, die Literatur und die Sextoys“, entgegnet er müde. Als er meinen recht verblüfften und zum Teil noch fragenden Blick erkennt, seufzt er. „Als ich erkannt habe, dass ich wohl tatsächlich anormal bin und du auch“, hier lacht er ein wenig auf. „hab ich halt endlich angefangen mich zu, naja, informieren und an mir rum zu experimentieren?“ „Oh…“, sage ich lächelnd. „Ich glaube ich wusste schon länger, dass ich schwul bin. Aber ich wollte das nicht wahr haben.“ „Der Klassiker“, bemerke ich. „Ja, der Klassiker. Das stimmt wohl“, gibt er müde lächelnd zu. „Dann hattest du also doch Angst vor deinem Vater?“, hake ich nach und er blickt mich fragend an. „Na, ich hab dich doch gefragt, warum du es nicht sagen willst und als ich meinte, du hättest Angst vor deinem Vater, hast du verneint und meintest nur, dass du deine Familie nicht zerstören willst. Du hast also doch am meisten Angst vor deinem Vater.“ „Wahrscheinlich… Beides. Angst vor meinem Vater und dadurch Angst, meine Familie zu verlieren“, sagt er nach einer kurzen Weile. Dann sieht er mich wieder intensiv an. „Aber ich will vor allem dich nicht verlieren. Roman“, fügt er dann hinzu. „Das weiß ich vor allem seit dem langen Gespräch mit Mareike. Ich musste... Ich musste nur meine Gedanken danach ordnen und mit dieser Wut auf dich fertig werden.“ Wir schweigen und blicken uns in dieser Stille an. Wir genießen sie. Ich genieße sie. Und bin erneut überrascht von Jannik. Verwundert, dass er sich tatsächlich einer anderen Person gegenüber geöffnet hat. Wahrscheinlich war dies genau das, was er gebraucht hat. „Hm“, breche ich das Schweigen. „Das mit dem Kerl aus der Feuerwehr ist schon etwas heftig“, bemerke ich dann und Jannik nickt traurig. „Ja, ich weiß“, sagt er. „Du bist anormal, Jannik“, wende ich mich ihm wieder zu. „Du bist ein wundervoller, liebenswürdiger und intelligenter Mann.“ Er lächelt, beugt sich zu mir, küsst mich zärtlich. Ganz kurz und sanft. Dennoch bedeutet mir dieser Kuss mir so viel. Dieses gesamte Gespräch bedeutet mir so viel. Es ist eine Rarität Jannik so viel auf einmal sagen zu hören. Vielleicht ist es auch das erste Mal, dass er sich auch mir so weit geöffnet hat, dass er mir mehr seiner Vergangenheit offenbart hat…? Ich habe Jannik zwar schon am Anfang auf seine Ex-Beziehungen angesprochen. Und er hatte mir von seiner Freundin erzählt. Als ich nach anderen Männern nachhakte, winkte er ab und ich war eigentlich recht glücklich. Ich eifersüchtiges Biest. Obwohl Jannik ja auch eines zu sein scheint… „Äh“, setze ich dann wieder an. „Was… Was haben denn Raphael und Hauke hier gemacht? Hat Raphael dir noch mal einen Arschtritt gegeben, oder was…?“ „Ich hab Rapha gestern angerufen. Ich wollte ihn fragen, ob er mir hilft, die Möbel wieder in Ordnung zu bringen. Wir haben irgendwie echt lang geredet und er hat mir ja auch noch eine regelrechte Standpauke gehalten“, erzählt er mir lächelnd. „Und er hat mir gesagt, wie fertig du überhaupt warst. Die gesamte Zeit. Ich… Da wusste ich halt wirklich, dass es die richtige Entscheidung ist. Ich meine… Julia und Klara haben ja auf dein Coming-Out, nennen wir es mal so, auch ganz gut reagiert. Das ist mir im Nachhinein aufgefallen…“ „Zuerst warst du ja ziemlich sauer…“, bemerke ich etwas säuerlich. „Ja, ich weiß. Das ist… Diese Panik ertappt zu werden, das… Das lässt einen nicht so leicht los, weißt du?“ Ich nicke. Und ich verstehe ihn nun endlich besser. „Mir tut das alles rech leid“, sage ich deshalb zu ihm und husche hinter seinen Rücken, fange an ihn zu massieren und ich kann mir denken, dass er jetzt seine Augen schließt. Er brummt als Antwort. „Ich bin froh, dass du mir das jetzt endlich alles erzählt hast“, sage ich ihm. „Ich auch…“, kommt es seufzend von ihm. „Diese ganze Zeit über… Ich hab mich echt gefühlt, wie zu Hause. Bloß alles verstecken, bloß so… normal tun.“ „Normal, was ist schon normal? Ich finde deine Schwestern sind auch nicht normal. Vor allem Julia nicht“, witzel ich und er lacht. „Julchen ist klasse“, sagt er dann. „In der Tat“, grinse ich und massiere ihn weiter. „Also… Wirst du es dann auch deinen Eltern sagen?“ Er schweigt. Und dann seufzt er. „Erstmal nur meinen Schwestern.“ Ich will protestieren. Irene hebt bereits den imaginären Krückstock, um Jannik eins überzubraten, doch dann passiert etwas, was noch nie geschehen ist. Ich sage Irene, sie soll ihre Klappe halten und sich aus dem Staub machen. Und das tut sie auch. Ich bin weder schlecht gelaunt, noch sauer. Ich nicke einfach nur und sage: „Okay.“ Weil ich weiß, dass es nicht leicht ist. Weil ich eingesehen habe, dass ich ihn nicht dazu zwingen kann. Weil ich mit bewusst bin, dass ich noch lange Gespräche mit ihm führen muss und ihm viel Zeit geben muss, bevor er so einen großen Schritt geht. Und weil ich mir sicher bin, dass er es irgendwann tun wird und mich allein diese Tatsache glücklich macht. „Roman?“, ertönt seine Stimme und er dreht sich plötzlich zu mir um. „Ja?“, japse ich, etwas verdattert. Seine Miene ist ernst. „Versprich mir, dass so ein Kuss nie wieder, nie wieder, passiert.“ „Versprochen.“ Darüber brauche ich nicht weiter nachzudenken. Als ich seine Lippen erneut auf den meinigen spüre, und seine Hände an meinem Rücken fühle, sein Gewicht auf mir ruhen, als wir uns nach hinten sinken lassen, weiß ich, dass ich nur ihn brauche. Und dass wir zusammen gehören. Im selben Moment können wir beide sehr genau vernehmen, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt. Das Geräusch schreckt uns beide auf und unsere Augen treffen sich. Der erste Moment der Wahrheit naht. So könnte man es beschreiben. Und seltsamerweise bin ich tierisch nervös. So wie Jannik. Er steht auf, streicht seine Sachen glatt. Und dann zieht er mich hoch. Er legt seine Hände auf meine Hüften, sein Atem streicht über mein Gesicht. Und dann lassen wir für einige Zeit voneinander ab. Jannik öffnet die Tür und wir treten in den Flur hinaus. Julia und Klara stehen im Türrahmen ihres Zimmers uns spähen sichtlich durcheinander hinein, beäugen das für die neue Arrangement der Möbel. Ich werfe meinem Freund einen schnellen Seitenblick zu und erkenne, dass er seinen ganzen Mut zusammen sucht, während er auf die beiden zugeht. „Julia, Klara?“, vernehme ich dann seine Stimme und die beiden Angesprochenen drehen sich schlagartig um. „Wäre super, wenn ihr eben eure Sachen abladet und dann mit uns ins Wohnzimmer kommt. Wir... haben euch was zu sagen.“ „Okay“, kommt es etwas unsicherer als sonst von Julia und sie blickt ihre Schwester an, die leicht die Stirn runzelnd den Raum betritt und ihre Tasche auf das Sofa packt, auf dem auch der Rest ihrer Klamotten liegt. Ich folge Jannik schnell ins Wohnzimmer und setze mich direkt neben ihn. Als ich meine Hand auf sein Knie packe, schiebt er sie nicht weg. Er sieht mich an und dann hebt er meine Hand plötzlich kurz an, umschließt sie mit seiner. Erneut verschränken sich unsere Finger. Und so sitzen wir dort, händchenhaltend und warten auf die beiden Mädchen. Als Julia als erste den Raum betritt, bleibt sie stehen und starrt direkt auf unsere verankerten Hände. Mit einem lässigen Grinsen, welches an Sicherheit verliert, je mehr Sekunden verticken. Klara läuft beinahe gegen sie, als sie nur wenige Augenblicke nach ihrer Schwester das Wohnzimmer erreicht. Sie lacht kurz auf, belustigt von diesem Vorfall und dann folgen ihre Augen dem Blick ihrer Schwester. Ihr Gelächter verstummt. Es scheint wie eine Szene aus dem Film gegriffen, die meine Nervosität steigen lässt. Sie sagen nichts. Sie werfen sich noch nicht einmal einen Blick zu. Sie nehmen einfach auf den Sesseln platz und schauen Jannik an. Ihre Gesichtsausdrücke kann ich nicht deuten. Ich kann allerdings festhalten, dass sie in Erwartung sind, dass sie unsicher sind. Ich habe nicht einmal Zeit Luft zu holen. Jannik legt umgehend los und, wie man so schön sagt, lässt die Katze aus dem Sack. „Wir waren nicht ganz ehrlich zu euch. Roman ist zwar schwul, aber nicht mit Raphael zusammen. Er ist mit mir zusammen. Seit knapp drei Jahren“, sagt er schnell. Wahrscheinlich, um es endlich loszuwerden und keinen Rückzieher machen zu können. Was ist das für ein Gefühl, wenn die Wahrheit endlich gelüftet ist? In meinem Kopf spielen sich die bereits erdachten Szenarien ab. Ich atme aus, warte auf die Ruhe nach dem Sturm, auf dieses warme Gefühl. Auf diesen Moment habe ich seit der Ankunft Julias und Klaras gehofft. Und nun ist er da. Beziehungsweise schon vorbei. Jannik hat es ausgesprochen, es laut gesagt. Und jetzt... Wie in einem Film geht es weiter. Klaras Hand wandert vor ihren Mund. Ihre Augen weiten sich und sie bringt keinen Ton heraus. Sie starrt Jannik an. Julia fängt an zu lachen, doch als sie merkt, dass dies kein Scherz ist, verschluckt sie sich und hustet kurz. Dann bringt sie ein „Oh“ zustande. Blässe strömt in ihr Gesicht, während sie ebenso entgeistert ihren Bruder anstarrt. Ich fühle, wie Jannik neben mir unruhig auf dem Polster rutscht, seine Hand ist schwitzig und warm. Er drückt die meinige kurz. Er ist sichtlich nervös. Es ist ihm unangenehm. Ebenso wie mir. So wie die beiden auf mein Outing reagiert haben ist kein Vergleich mit der jetzigen Situation. „Es tut mir leid“, bringt er gepresst heraus und senkt seinen Blick, ist nicht in der Lage den seiner Schwestern standzuhalten. Ich hasse dieses beklemmende Schweigen. „Habt ihr irgendwelche Fragen?“, werfe ich in den Raum, um die Stille zu unterbrechen. Es ist Julia, die sofort spricht, ohne die Augen von Jannik zu nehmen. „Wie... Was... Warum hast du uns das nicht vorher gesagt?“, fragt sie mit sanfter Stimme und versucht zu lächeln. Jannik schluckt und drückt meine Hand fester. Er sieht Klara an und ich tue es ihm gleich. Ihr Blick erinnert an Abschätzung, an Schock, auch wenn sie sich die Hand nicht mehr vor den Mund hält. „Deswegen!“, speit Jannik aus und sieht danach wieder den Boden an. „Sieh in Klaras Augen“, fährt er schnell fort. „Siehst diese Wut und Enttäuschung? Genau davor hatte ich Angst, dass ihr mich hasst. Weil ich anders bin. Anormal.“ „Du bist nicht anormal!“, fahre ich ihn an. Ohne wirklich wütend zu sein und das weiß er. Mittlerweile schaut Klara zu Boden und kaut auf ihrer Unterlippe. Jannik wendet sich wieder an Julia. „Ich wollte euch nicht enttäuschen oder euch Angst machen, ich... Ich will nicht, dass ihr mich hasst.“ Julia lächelt traurig. „Wir würden dich nie hassen Jannik... Es ist nur... Ein kleiner Schock“, sagt sie behutsam und stellt nach einer kleinen Pause eine weitere Frage. „Wie... Seid ihr denn zusammengekommen?“ Jannik berichtet ihr von dem Lagerfeuer und all dem, was danach folgte. Ich ergänze seine Erzählungen. Julia lächelt hier und da, doch Klara bleibt stumm und schenkt uns nur ab un an einen Blick. „Jannik... Warst du... Ich meine...“, setzt sie weiter an. „Seit wann weißt du eigentlich, dass du schwul bist? Hattest du... vor Roman schon mal einen Freund? Weil, ich meine, Annette und so... Du bist doch mit Mädchen ausgegangen.“ „Ja...“, gibt er ihr leise recht. „Ich wollte mir beweisen, dass ich hetero bin. Euch beweisen, dass ich normal bin. Vor allem Papa. Aber... es hat nie geklappt. Ich habe keines von diesen Mädchen geliebt. Roman... Ist eigentlich meine erste richtige Beziehung. Und... wir sind sehr glücklich.“ Er wirft mir einen Seitenblick zu und mein Herz macht einen großen Satz. „Und davor gab es keinen anderen Mann.“ Julia nickt nachdenklich und streicht sich durchs gelockte Haar. Ich schaue Jannik von der Seite an und lächle ihn an. Und dann ertönt Klaras ausdruckslose Stimme: „Wissen unsere Eltern davon?“ Es ist wie ein Zischen, dass die Stille zerreißt. Ich kann spüren, wie Jannik sich verkrampft, wie die Angst in ihm hochkommt. Seine Augen verlieren ihren Glanz, er zerquetscht beinahe meine Hand und in mir bricht etwas. Ich stehe mit einem Ruck auf und starre Klara an, die mich mit ebenso großen Augen anstiert. „Das ist das aller erste was dir dazu einfällt?!“, fahre ich sie etwas unsanft an. „Ist das denn so wichtig, dass Janniks Eltern es sofort erfahren? Gib deinem Bruder etwas Zeit, weißt du, wie viel Überwindung ihn das Geständnis euch gegenüber gerade gekostet hat?“, fahre ich etwas leiser fort. „Wir werden noch schon einen Zeitpunkt finden, um es euren Eltern zu sagen. Aber noch nicht jetzt!“ Klara schweigt. Sie wirft Jannik einen vernichtenden Blick zu. Und dann steht sie auf, schaut mich ein weiteres Mal an und geht. Keiner von uns hält sie auf. Umgehend nehme ich wieder neben Jannik platz und ergreife seine Hand. Seine Augen scheinen müde, er lässt den Kopf ein wenig hängen. Ich streichele leicht über seinen Handrücken. „Ich glaube... das war ein etwas zu großer Schock für Klara“, sagt Julia dann vorsichtig und lächelt uns zu. „Ich meine... Wow! Das ist ja auch nicht ohne, ich... bin ehrlich gesagt auch noch ein wenig verwirrt, Jannik.“ Bruder und Schwester schauen sich an. „Wir brauchen einfach ein wenig Zeit, um damit klarzukommen, OK? Ich... Hatte das jetzt auch nicht so erwartet. Ich meine, wir dachten, du würdest dich so komisch benehmen, weil du einen schwulen Mitbewohner hast, den du uns verschwiegen hast. Aber... Ich meine...“, sie sucht nach Worten. „Ich meine, ihr seid drei Jahre zusammen! Drei Jahre! Und du hast uns nie etwas erzählt. Das ist schon... Naja, krass.“ Jannik nickt. Ich nicke. Julia nickt. Und lächelt, fährt sich durch die Haare. Und scheint gar nicht, wie die Jüngste der Bande. Sie sagt, sie würde jetzt in das Zimmer gehen und mit Klara sprechen, dass wir ihnen einfach etwas Zeit geben sollten. Als sie das Wohnzimmer verlässt, streift ihr Blick die aufgestellten Bilder von Jannik und mir. Auf einigen küssen wir uns. So wie jetzt, im wahrem Leben, auf unserer Couch in unserem Wohnzimmer, in dem wir allein geblieben sind. Jannik atmet hörbar aus, er streicht mir durch mein Haar, lächelt. Noch ein wenig gequält, aber das wird schon. „Komm, lass uns ins Schlafzimmer, ja?“, schlage ich vor und er nickt. Hier können wir wirklich ungestört sein, Klara aus dem Weg gehen. Ich küsse ihn auf die Stirn. „Ich bin stolz auf dich“, wispere ich dann und er lächelt versonnen. So ganz verarbeitet hat er sein wahres Coming-Out dennoch noch nicht. Und ich weiß, dass ich ihn jetzt ablenken muss. Ich bin froh, dass er seinen Laptop auf dem Nachtschrank gelassen hat. Jetzt in unser Arbeitszimmer zu gehen, um ein Gerät zu holen, wäre keine gute Idee. Ich fahre ihn hoch und schlage vor, einen Film zu gucken. Im Pyjama, bettfertig, sodass wir das Ding einfach abschalten können und in den Schlaf driften können. Bin ich glücklich? Und wie! Als ich nach einer Ewigkeit, den gleichmäßigen Atem meines Freundes spüre, lächle ich in die Dunkelheit hinaus. Wir haben nicht mehr über seine Schwestern gesprochen. Jannik hat genug geredet. Muss all das erst verarbeiten. Wir haben Zeit. Ich weiß, dass noch viele Gespräche auf uns zukommen. Vor allem mit Klara... Aber das wird schon. Dessen bin ich mir sicher. Und Janniks Eltern... Die sind ein ganz anderes Kaliber. Wir haben Zeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)