Flatmates von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 9: Gossip ----------------- Ich werde brutal in die Realität zurück gerissen, als es ein weiteres Mal lauter an der Tür klopft und Jannik wie ein aufgeschrecktes Kaninchen vom Sofa springt. Unsere Blicke treffen sich. Seine dunklen Augen sind leicht glasig, weit aufgerissen. Panik wäre wohl das richtige Wort, um seinen momentanen Gemütszustand zu erfassen. Wir sind beide völlig nackt, unsere Sachen liegen verstreut auf dem Boden und unsere Haare sind immer noch ein wenig nass und verklebt. Geht es eigentlich noch eindeutiger? Mein Freund wirft die Bettdecke hastig über mich und hechtet hinüber zur zweiten Matratze, als im selben Moment unsere Zimmertür aufgeschoben wird und niemand anderes als eine elegant gekleidete Julia das Zimmer betritt. „Ich brauche das Ladegerät wirklich jetzt, Jannik!“, mault sie und hält dann direkt inne, als ihr Blick auf niemand anderen als mich fällt. Die Bettdecke bedeckt meinen Schoß und ich halte sie beinahe schon krampfhaft fest, während ich sie nervös angrinse und mir zurede, dass nichts an dieser Situation irgendwie prekär ist. „Äh…“, entweicht es ihrem Mund ich sie blickt geniert zu Boden. „Wir haben uns gerade bettfertig gemacht“, erklärt Jannik mit der wohl ruhigsten Stimme der Welt. Julia und ich schauen ihn gleichzeitig an. Er ist vollkommen in seine Decke gehüllt. Einzig und allein seine Schultern schauen unter dem dunkleren Stoff hervor. „Ich dachte, du hättest anklopfen und das WARTEN danach bereits gelernt“, fährt er fort und grinst leicht. Auf die Wangen seiner Schwester hat sich ein leichter Rotschimmer gelegt und ich kann es nicht fassen, dass sie die Klamotten, die bei meiner Couch liegen, noch immer nicht bemerkt hat. Als ich auf die Stelle hinunterschiele, wird mir klar wieso. Jannik hat es in seinem Hechtsprung doch tatsächlich geschafft sie hinter den Schreibtisch zu kicken. Wow. „Sorry…“, murmelt Julia vor sich. „Kannst du mir das Ladegerät gleich mal bringen, wenn ihr euch umgezogen habt?“ Jannik nickt und sie verschwindet sichtlich peinlich berührt aus dem Zimmer, die Tür leise hinter sich schließend. „Wieso sind die so früh zu Hause…“, höre ich meinen Freund aufseufzen und kann sehen, wie er sich nachdenklich durch seine Haare streicht. Meine Nackenhärchen stellen sich im Zuge eines unliebsamen Schauers auf. Es ist ein leichtes Angstgefühl, welches mich hier erneut überfällt. Wie ein Fall nach einem wunderschönen Aufstieg fühlt sich diese Situation an. Meine Finger krallen sich in den Stoff, der meinen Körper bedeckt und ich starre Jannik wie hypnotisiert an, erwarte seine nächste Reaktion und fürchte sie zugleich. Er blickt mich an und ich kann seinen Gesichtsausdruck im ersten Moment nicht wirklich deuten. Doch dann entspannen sich seine Gesichtszüge vollkommen. Er sieht nur kurz hinüber zur Tür und steht danach auf. Die Decke fällt zu Boden und ich muss schlucken, als ich meinen Blick über seinen nackten Körper wandern lasse. Er tritt ganz nah an mich heran, beugt sich über mich, stützt sich mit seinem Knie auf der Schlafcouch ab und küsst mich, lässt seine Zunge ungeniert über meine Lippen gleiten, nur um sie dann wieder in meine Mundhöhle sinken zu lassen. Und dann greift er nach seinen zuvor achtlos weg geschleuderten Klamotten und wirft sie über den Schreibtischstuhl, streift sich seine Schlafsachen über. Er kramt in der Schublade seines Schreibtisches und fischt ein Handyladegerät heraus. „Ich geb Julia eben schnell das versprochene Universalteil hier“, erklärt er mir und verlässt das Zimmer. Erst jetzt atme ich so richtig aus und versuche all das Erlebte irgendwie zu ordnen. Jannik ist wieder normal, schätze ich. Jedenfalls fühle ich mich in seiner Gegenwart wieder wohl. Und er beachtet mich. (Und wie!) Ich muss schwach grinsen, als ich an seine intimen Berührungen von vor wenigen Minuten denke und sich diese speziellen Szenen vor meinen Augen erneut abspielen. Jannik war so zärtlich… Und alles war so intensiv. So ist er eben. Taten sagen mehr als Worte. Das ist Jannik. Was mir allerdings zu denken gibt, ist die Begegnung mit Julia, wenn man es als solche bezeichnen möchte. Hat sie wirklich nichts bemerkt? Ihr schien eigentlich nur die Tatsache, uns mehr oder weniger nackt gesehen zu haben, peinlich. Oder irre ich mich? Jannik hat überzeugend reagiert. So ruhig und erwachsen. Mann, sogar ich hab’ ihm das abgekauft. Allerdings hat er mich seit drei Jahren um den Finger gewickelt, sodass ich ihm alles abkaufen würde. Ich lasse mich aufs Sofa zurückfallen und merke, dass ich eigentlich gar keine Kraft habe weiter darüber nach zu denken. Ich merke auch nicht, wie Jannik das Zimmer wieder betritt. Ich werde erst wach, als jemand mir meine Decke entwendet und mich auf meine Seite dreht. Ich öffne die Augen. Um mich herum ist es dunkel und plötzlich schlingen sich zwei Arme um mich und drücken mich mit meinem Rücken an diesen unfassbar warmen und wohligen Körper. „Jannik…“, wispere ich hundemüde und voller Freude zugleich. „Schhhh…“, kommt es von ihm und er küsst mein Ohr ganz leicht, drückt mich noch fester gegen sich. Ich umfasse seine Hände und streichele sanft über die Handrücken. Und dann schlafe ich friedlich ein. Auch die morgendliche Prozedur, in deren Rahmen Jannik eine Stunde früher zur zweiten Matratze huscht, verdirbt mir meine Laune nicht. (Vielleicht ist Irene ja auf einer Kreuzfahrt?) Alles ist besser als das Verhalten von Jannik der beiden letzten Tage. Alles. Heute frühstücken wir mit seinen Schwestern zusammen und ich bin sogar richtig glücklich, als ich den Kaffee in die vier Tassen gieße. Ich stecke den Vollkorntoast in den Toaster, stelle das Radio ein, schneide frischen Schnittlauch, Tomaten und Gurken und schlage Eier in die Pfanne. Erst jetzt spüre ich diesen intensiven Blick in meinem Rücken. Ich muss grinsen. Langsam drehe ich mich herum und blicke in ein Paar dunkler Augen. Klara sitzt am Küchentisch. Ein kalter Schauer jagt meinen Rücken herunter, als sie mich nun bewusst ins Visier nimmt und mein Grinsen wird zunehmend schiefer. „Äh, Guten Morgen“, begrüße ich sie etwas unsicher und sie lächelt freundlich. „Morgen, Roman“, entgegnet sie ruhig. Umgehend wende ich mich wieder dem Herd zu. Wie gut, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin meinen Freund, der ja eigentlich gar nicht im Raum ist, lasziv zu begrüßen. Verdammt, seine ältere Schwester ist ihm einfach zu ähnlich! „Hey“, ertönt nun die Stimme meines Traummannes und er betritt die Küche zusammen mit Julia, die noch ziemlich verschlafen wirkt. Wir essen in Ruhe. Ich jammere ein wenig über meine Hausarbeiten und Jannik hält mir wie immer vor, viel zu spät damit angefangen zu haben. Klara fragt ihn ein wenig weiter über seine BA-Arbeit aus und ich versuche nicht zuzuhören, um nicht noch mehr in Aufregung aufgrund meiner anstehenden Prüfungsleistungen zu geraten. Als ich Julia anblicke, schaut sie umgehend auf ihren Teller und stochert mit ihrer Gabel im Rührei herum. Mein Herz macht einen leichten Sprung. Könnte es sein, dass…? „Mist, wir kommen noch zu spät, komm schon, Julia!“, ertönt Klaras leicht erregte Stimme, während sie sich schnell vom Tisch erhebt und regelrecht aus der Küche rennt. Ihre Schwester folgt ihr. Blickt mir vorher aber noch einmal in die Augen und lächelt matt. Sie sind fort. Jannik und ich bleiben am Küchentisch. Wir schweigen. „Meinst du…?“, setze ich an, doch irgendwie weiß ich gar nicht, wie ich diese Frage stellen soll. Vielleicht auch, weil ich erneut vor Janniks potenzieller Antwort habe. Er sieht mich an und seufzt erst mal. „Ich...“, sagt er dann und steht auf, fängt an, den Tisch abzuräumen. Stillschweigend folge ich seinem Beispiel und helfe ihm. Als wir nach den Tellern greifen, streifen sich unsere Hände aus Versehen und ich schrecke bei diesem winzigen Körperkontakt gar ein wenig auf. Abermals bin ich vollkommen gefangen von diesem eindringlichen Blick meines Freundes. Ohne etwas zu sagen legt er seine Hand in meinen Nacken und zieht mich dicht an ihn heran. Er lässt seine Lippen auf die meinigen niedersinken und für einige Sekunden existiert die gesamte Welt, inklusive des eben erst aufgekommenen Problems, überhaupt nicht mehr für mich. Aber dann lösen sich unsere Lippen und ich stehe mit beiden Beinen wieder in der Realität. In unserer Küche. In der mich Klara und Julia eben schräg angeblickt haben. Jannik stoppt die Aufräumprozedur und lässt sich wieder auf einem der Stühle nieder. Sofort tue ich es ihm gleich, denn die Nervosität über die Tatsache, dass es ihm ebenfalls aufgefallen ist, bringt meine Knie zum leichtern Zittern. Er seufzt ein weiteres Mal. „Vielleicht bilden wir uns das auch nur ein“, sage ich, als ich feststelle, dass Jannik nichts über die Lippen bringen wird. Er nickt langsam, so als würde er meiner Aussage zum Teil Recht geben und sie zum anderen völlig verwerfen. „Ich glaube Julia war einfach nur total verdattert, als sie ins Zimmer kam und wir beide nicht gerade angezogen waren“, fahre ich grinsend fort und Jannik lächelt matt. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie Klara davon erzählt hat und die beiden sich jetzt einfach vorstellen, wie ich wohl nackt aussehe. Deswegen auch die Blicke“, erkläre ich amüsiert und bringe meinen Freund mit dieser Aussage tatsächlich zum Lachen. Er schaut mich wieder an. „Du siehst nackt einfach wundervoll aus“, sagt er dann plötzlich und ich kann deutlich spüren, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Und wie Erleichterung sich in mir breit macht. Erleichterung, dass Jannik nicht ausgeflippt ist und wieder mit seiner „Distanz“ anfing… In Hoffnung, dass dies auch so bleibt, mache ich mich daran, den Tisch weiter abzuräumen und Jannik hilft mir dabei. Ich erzähle ihm ein wenig über die Arbeiten, die ich korrigiert habe und er teilt mit die neusten Erkenntnisse seiner Bachelorarbeitsanmeldung mit. Eigentlich sind diese wenigen Stunden, die wir heute alleine in der Wohnung verbringen, wunderschön. In dieser Zeit vergesse ich unsere missliche Lage komplett. Es fühlt sich einfach so natürlich an, hier mit Jannik in der Küche zu sitzen und zu quatschen. Es ist so normal, dass wir uns ab und an küssen, in den Arm nehmen und auch herumblödeln. Dieser Morgen macht mir Mut. Gibt mir Zuversicht. Wir verabschieden und mit einem intensiven Kuss voneinander. Und Jannik schenkt mir sein schönstes Lächeln, bevor sich unsere Wege auf dem Campus trennen. Den ganzen Tag lang schwebe ich auf Wolke Sieben. Ich wünsche mir aufrichtig, dass dieses Gefühl mich nicht verlässt. Doch das tut es. Schneller als mir lieb ist. Als ich am Abend mit einigen Einkäufen nach Hause komme, läuft der Fernseher. Ich treffe Klara in der Küche an. Erneut sieht sie mich mit diesen Augen an, die mir all den Wind aus den Segeln nehmen können. Doch umgehend entspannt sich ihr Gesicht und auch die dunklen Kristalle nehmen einen anderen Ton an. „Hallo“, begrüßt sie mich und nimmt mir eine Einkaufstüte ab. „Danke“, sage ich und wir beide machen uns daran das Eingekaufte zu verstauen. Ich frage sie über ihren Tag aus und sie erzählt mir, dass es langsam aber sicher bergauf mit dem Praktikum geht und dass sie heute auf irgendeinem Meeting zum ersten Mal dabei sein durfte, zum ersten Mal Businessluft geschnuppert hat. Mich könnte so etwas nicht begeistern, aber ich sehe, wie sehr Klara sich darüber entzücken kann und ehrlich gesagt, freue ich mich für sie. Und das sage ich ihr auch. Sie lächelt dankbar und ich mache mich daran, mir einige Brote fürs Abendbrot zu schmieren. Sie lässt mich allein. Als ich später am Wohnzimmer vorbeigehe, erhasche ich einen etwas lauter gesagten Satz von Julia, die mit ihrer Schwester auf dem Sofa sitzt. „Jetzt hör schon damit auf, vielleicht ist das ja gar nicht so!“ Mit dem Gefühl ertappt zu sein bleibe ich stehen und horche aufgeregt. Doch die beiden sagen gar nichts mehr, lachen nur auf, weil gerade eine scheinbar lustige Szene im Fernsehen läuft. Ich bleibe noch einige weitere Minuten im Flur mucksmäuschenstill stehen. Doch dann entscheide ich mich, in mein Zimmer huschen. Ebenso leise wie eine Maus. Ich sitze an meinem Schreibtisch und ignoriere all die auftauchenden Chatfenster auf meinem Bildschirm. „Jetzt hör schon damit auf, vielleicht ist das ja gar nicht so!“ Was ist nicht so? Meinen die wirklich Jannik und mich? Ich meine, diese Frage könnte wer weiß was betreffen! Andererseits bin ich mir ziemlich sicher, dass Klara Julia von meiner wunderbaren Ohrläppchen-Beiß-Aktion erzählt hat. Und wenn Julia Klara auch noch von ihrem Hereinplatzen berichtet hat, dann könnten die beiden schon eine Vermutung äußern, oder nicht? Allerdings muss Klara ihrer Schwester gar nicht davon erzählt haben. Oder kann es anders gedeutet haben. Betrunkene machen dämliche Sachen. In das Ohrläppchen des „Mitbewohners“ zu beißen IST eine dämliche Sache. Aber auch etwas, was zwischen zwei heterosexuellen Männern in solch einem Zustand vorkommen kann. Und was die Situation im Zimmer betrifft, dessen Zeuge Julia wurde, könnte man auch annehmen, dass sie Janniks Version Glauben geschenkt hat und dem keine weitere Bedeutung beimisst. (Oder sich eben tatsächlich fragt, wie ich wohl nackt aussehe…) Hatte sie im Klub nicht irgendwelche Bemerkungen in diese Richtung gemacht? Hatte sie mich nicht indirekt angemacht und sich am kommenden Tag umgehend für ihre Aufdringlichkeit entschuldigt? Ich merke, wie ich langsam aber sicher doch nervös werde. Zu allem Überfluss stellt sich diese leichte Nervosität auch nicht ein. Die kommenden zwei Tage verlaufen im Einfluss dieser. Und Jannik geht es leider genauso. Und seine Nervosität schlägt wohl oder übel in schiere Panik um. Ich kann es ihm ansehen, ich fühle es. Er schaut mich gar nicht mehr so oft an. Dieser Glanz in seinen Augen, der nach unserem Versöhnungssex wieder eingetreten war, erlischt langsam. Und auch mir gehen die Blicke, die Julia und Klara uns ab und an zuwerfen gehörig auf die Nerven. Heute ist es wieder so weit. Ich stehe in der Küche und Jannik betritt den Raum. Ich lächle ihm zu, doch er sieht umgehend weg und öffnet viel zu hastig den Kühlschrank. Nur weil Julia hinter ihm steht. Nur weil seine Schwester sich im selben Zimmer befindet kann er mich nicht einmal anlächeln. „Du kannst doch wohl deinen Mitbewohner anlächeln, oder nicht?“, zische ich, als wir allein in unserem Zimmer sind. Jannik wirbelt in seinem Stuhl herum und lässt seine Schultern hängen. „Ja, natürlich…“, gibt er mir Recht. „Und warum tust du es dann nicht?!“, zische ich weiter und verschränke die Arme vor meiner Brust. „Roman, ich… Was weiß ich!“, mit diesen Worten erhebt er sich und fängt an im Zimmer auf und ab zu gehen. „Ich befürchte, dass sie irgendeine Ahnung haben“, erklärt er. „Heute hat Julia dir schon wieder so einen seltsamen Blick zugeworfen und Klara hat mich auch so lang beobachtet beim Fernsehen.“ „Vielleicht bilden wir uns das aber auch nur ein?“, werfe ich in den Raum, doch Jannik tut dies mit einem sarkastischen, kurzen Auflachen ab. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht“, sagt er in einem giftigen Ton, der mich meinen Blick senken lässt und eine unangenehme Atmosphäre schafft. Ich schlucke. „Du kannst es ihnen dann doch auch einfach sagen, oder nicht…?“, nuschele ich vor mich hin und mein Freund bleibt stehen. Ich kann sagen, dass er mich anblickt, mich anstiert. Und dann kommt er schon mit weit ausgereiften Schritten auf mich zu und bleibt direkt vor mir stehen. Mit seiner Hand greift er unter mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen. Sein Gesicht ist so ruhig. Fast schon versonnen blickt er mich an und lächelt ganz leicht. Und dann küsst er mich und nimmt mich an den Arm. Ich lasse meinen Kopf auf seiner Schulter ruhen und für eine kurz Zeit nur wiegen wir uns in diesem künstlichen Frieden. Jannik sagt nichts weiter. Und ich schweige ebenfalls. Er wird es nicht tun. Dessen bin ich mir sicher. Es klopft an unserer Tür und Jannik drückt mich entschieden von sich weg, nimmt an seinem Schreibtischstuhl platz und sagt erst dann: „Herein!“ Dieses Mal ist es Klara, die unser Zimmer betritt. Sie hält das Telefon in der Hand. Und sieht mich überhaupt nicht an, während sie auf ihren Bruder zutritt. „Mama will dich sprechen“, sagt sie und übergibt ihm das Gerät, verschwindet sogleich aus dem Raum. Mein Freund sieht mich ruhig an, hält seine Hand vors interne Mikrofon des schnurlosen Telefonapparates. „Roman… Kannst du mich kurz alleine lassen?“, fragt er dann. Doch eigentlich ist dies keine Frage, sondern eher so etwas wie eine Aufforderung den Raum zu verlassen. Und das kotzt mich in diesem Augenblick mehr als nur an. Ohne zu antworten schnappe ich mir meinen Pullover und knalle die Tür zu, als ich das Zimmer verlasse. An Julia laufe ich blind vorbei und gehe sicher, dass auch die Wohnungstür geräuschvoll ins Schloss fällt. Mann, das hast du ja wieder grandios hinbekommen, Roman. Ziemlich ziellos (und ohne Wohnungsschlüssel in der Hand) laufe ich umher und würde mich am liebsten erneut abschießen. Aber dieses Mal siegt tatsächlich meine Vernunft, was mich in Verwunderung schwelgen lässt. Und natürlich in einen Gedankenrausch treibt. Ich bin dieses Auf- und Ab satt, auch wenn ich weiß, dass ich selber mehr als genug zu diesem Status dazu trage. Dass ich mich vielleicht mehr als öfter zusammenreißen sollte. Aber diese sporadische Kälte, die von Jannik ausgeht, dieses Versteckspiel, welches wir die ganze Zeit über treiben müssen, nagt an mir. Und ich frage mich: Schämt Jannik sich für mich? Oder warum darf ich nur den netten Mitbewohner mimen? Warum zeigt er mir seine Gefühle nur hinter verschlossenen Türen, in der Dunkelheit des Zimmers? Es ist schon dunkel und dennoch warm. Ich sitze auf einer Parkbank und esse ein viel zu teures Magnum. Mein dämliches Handy habe ich auch vergessen. Aber ich bin mir mehr als sicher, dass die drei eh zu Hause sind. Julia du Klara müssen morgen arbeiten und Jannik hat auch noch ein wenig zu tun und irgendeinen Besprechungstermin mit seinem Dozenten am Vormittag. Wieso sollte ich mich also beeilen? Ein schlechtes Gewissen, sie alle wach zu klingeln, hätte ich nicht. Na gut, hätte ich doch. Die Erkenntnis, dass ich mich in meinen Gedanken wie ein Kind aufführe, hilft mir auch nicht weiter. Ich muss ständig an diese Blicke, denken, die Julia und Klara mir zuwerfen. Warum sagen wir es ihnen nicht einfach?! Mies gelaunt, wie so oft in den letzten Tagen, schleppe ich mich letztendlich doch nach Hause. Es ist Jannik, der mir öffnet. Den Geräuschen nach zu urteilen, befinden Julia und Klara sich im Wohnzimmer und lachen über irgendetwas. Janniks Augen mustern mich, lassen mich nicht los. „Wo zur Hölle warst du?“, wispert er schließlich in meine Richtung. „Ich bin rumgelaufen, wollte einen klaren Kopf bekommen“, antworte ich. Sogar mit ruhiger Stimme und versuche ihn anzulächeln. Es klappt sogar. Vorsichtig und nur ganz kurz streicht er mit seinen Fingern über meine Wange. „Jannik!“, ruft Julia aus dem Wohnzimmer. „Wir haben ein wunderhübsches Foto gefunden!“ Erst als ich das Wohnzimmer nach meinem Freund betrete, sehe ich die Fotoalben, die auf dem Tisch liegen. Ich habe sie vorher noch nie gesehen. Haben seine Schwestern sie mitgebracht? „Hey, Roman! Komm, das musst du dir ansehen!“, fordert Julia mich auf und hält eines der Bilder hoch, die sie aus einem der Alben herausgezogen hat. Ich nehme das Foto in die Hand. Jannik muss bei der Aufnahme wahrscheinlich um die 17 gewesen sein. Niedlich sieht er da aus, ganz schüchtern und ohne eines der Piercings, mit kurz geschorenen Haaren. Ich muss grinsen. Neben ihm steht eine blonde Frau. Sie sieht der Heidi Klum ziemlich ähnlich. Beide lächeln dämlich in die Kamera. „Das ist Annette Beermann“, erklärt Julia grinsend und reißt mir das Foto aus der Hand, bevor Jannik es schafft, das Bild an sich zu bringen. Ich blicke Julia fragend an. „Janniks große Liebe“, sagt Klara leicht lachend und ich spüre, wie ein kalter Schauer meinen Rücken entlang läuft. „Oha“, meine ich mich selbst sagen zu hören. Ich grinse nervös und möchte Jannik gar nicht ansehen. Ich lasse meinen Blick über die anderen aufgeschlagenen Fotos wandern, die Jannik, wie auch seine Schwestern, aus den Kindertagen abbilden. Oder im Teeniealter, bei Familienfesten und Ähnlichen. Diese Bilder habe ich noch nie gesehen. „Wie lange warst du noch mal mit der zusammen?“, hakt Julia nach. „Etwa ein Jahr“, kommt es ruhig von Jannik. Annette. Jetzt kenne ich ihr Gesicht und ihren Namen. Vorher kannte ich sie nur als „meine aller erste und letzte Freundin“. Das gefiel mir besser. „Sie hat wirklich nicht zu dir gepasst“, meint Klara nun, die sich das Bild ruhig betrachtet und leicht amüsiert lächelt. „Wusstest du, dass sie schon verheiratet ist?“ „Was?“, sagt Jannik lachend. „Ja, erinnerst du dich noch an deinen komischen Freund aus der 6. Klasse, der die ganze Zeit Sailor Moon T-Shirts getragen hat und zu jedem Fasching als arabische Prinzessin gekommen ist?“, fragt Julia und lacht nach ihrer eigenen Aussage laut. „Du meinst Robert?“, kommt es von Jannik. „Wer hätte das gedacht.“ „Die haben letztes Jahr geheiratet. Mama meinte, ich solle dir vielleicht nichts davon erzählen, weil es dich traurig machen könnte“, sagt Julia. Jannik lacht. „Naja, hinterher geheult hast du ihr ja echt lange“, fährt Klara fort und wendet sich nun plötzlich an mich. „Das war das erste Mal, dass ich meinen Bruder habe weinen sehen“, flüstert sie gespielt in meine Richtung und die beiden Mädchen lachen erneut. Ich habe Jannik noch nie weinen sehen. Irgendwie ist mir ziemlich mulmig zumute bei dieser Konversation. „Wie hieß denn die andere da?“, murmelt Julia vor sich hin, während sie wild irgendwelche Alben durchforstet. „Hieß die nicht irgendwie Maria, oder Marianne oder so?“, mischt Klara sich ein. Ich sehe Jannik an, der den Augenkontakt mit mir verhindert. „Rita“, sagt er matt. „Ach, ja! Genau!“, ertönt Julias Stimme. „Verdammt, ich finde kein Foto.“ Und ich finde keinen gescheiten Gedanken. Jannik hatte zwei Freundinnen?! „Es gibt ja auch Gott sei Dank keine“, sagt Jannik mit seiner weiterhin matt klingenden Stimme. „Die war eigentlich ganz niedlich…“, bemerkt Klara plötzlich. „Ich fand’s schade, dass ihr nur so kurz zusammen wart.“ „Wir waren nie so richtig zusammen“, schneidet mein Freund ihr das Wort ab und verschwindet in Richtung Küche. „Uh, da hat aber jemand schlechte Laune“, bemerkt Julia in meine und Klaras Richtung etwas leiser. „Ist dir das etwa peinlich?“, ruft sie dann lachend und so laut, dass Jannik das durch die Durchreiche perfekt hören kann. „Bringt Jannik eigentlich öfters Mädchen rüber?“, wispert sie dann, während sie sich über den Tisch zu mir rüberbeugt. Mein Herz pocht schneller. „Äh, ich glaube nicht, dass ich euch das verraten sollte“, bringe ich trocken über meine Lippen, auch wenn mir das schiefe Grinsen danach tatsächlich gelingt. Jannik nimmt auf dem Sessel mit einem Glas Orangensaft platz und stiert den Tisch an. Klara betrachtet mich eine Weile. „In Erinnerungen schwelgen ist schon ne feine Sache“, bemerkt Julia schämisch grinsend. „Wie war denn deine erste Freundin?“, richtet sie die Frage an mich. „Oder ist dir das auch so peinlich, wie meinem Brüderchen?“ Mein Herz rast. „Äh, nö“, lüge ich. „Na los, erzähl!“, drängelt sie mich. Ich blicke schnell zu Jannik herüber, doch dieser starrt weiterhin den Tisch an. Ich seufze. Mein erster Freund? Paul. Ich war 16, er 18. Meine dämlichen Kumpels und ich waren auf die Idee gekommen einfach mal irgendwo zu zelten, ohne unsere Eltern darüber in Kenntnis zu setzen. Er war plötzlich aufgetaucht. Wir haben die halbe Nacht im schäbigen Zelt gevögelt. Mein erstes Mal. Beim fünften Treffen, nachdem mein Hausarrest abgelaufen war, sind wir zusammengekommen. Nach drei Monaten war auch schon wieder alles vorbei. „Sie hieß Paulina, hab sie auf’m Zeltplatz im Urlaub kennengelernt. Da war ich 16.“ „Und, sah sie hübsch aus?“, fragt Klara nach. „Klar.“ „War das deine große Liebe?“, fragt die weiter. Ich werfe Jannik (meiner großen Liebe) einen kleinen Seitenblick zu. Der Herr scheint nicht so sehr erfreut über meine Erzählungen. Er weiß, wen ich damit eigentlich meinte. Und mein Freund ist von meinen Verflossenen nicht unbedingt begeistert. Eigentlich ist dies ein Thema, welches wir selten ansprechen. Wenn sogar gar nicht. „Eigentlich nicht, nur mein erstes Mal“, antworte ich keck und grinse. Die Mädchen kichern kurz. Ich setze noch einen drauf. „Die beste Ex bis jetzt war Martina. War zwar eigentlich mehr Verhältnis als Beziehung, aber ich denke, genau das hat es ausgemacht. Sie war sogar etwas älter als ich“, erzähle ich grinsend und Klara mimt die geschockte und lacht. Martin. Ich war 20. Er war 31 und mein Tutor im Einführungsseminar. Er hatte mich im Klub aufgerissen nachdem er mir bereits während der Stunden eindeutige Blicke zugeworfen hatte. Wir trafen uns nur ab und an. Aber dann, dann ging es richtig zur Sache. Er und Paul waren die einzigen wilden Beziehungen, die ich hatte. Sven. Sven war anders, zärtlicher. Wir waren zunächst Freunde und danach erst Geliebte. Sven hatte ich mit 18 kennengelernt, wir hatten Sport zusammen. Das waren schöne und ruhige 1,5 Jahre. Jannik steht genervt vom Sessel auf. „Ich muss noch etwas arbeiten, gute Nacht“, sagt er in den Raum und stampft davon. Genau in diesem Moment schlägt mein schlechtes Gewissen mich beinahe K.O. und ich merke, dass ich ihm wohlmöglich gerade sehr weh getan habe. Er mir auch. Klara und Julia betrachten weiterhin irgendwelche Fotos. „Meine Güte, ich hatte mich echt schon gewundert, wo all diese Bilder hin sind“, bemerkt Klara lächelnd. „Habt ihr die gar nicht mitgebracht?“, hake ich nach, während ich mich bereits erhebe. Julia schüttelt den Kopf. „Die hatte Jannik im Keller“, sagt sie und ich nicke und winke ihnen noch einmal zu. Ich schließe unsere Zimmertür. „So, so“, setze ich an in einer Stimme, die ich kaum als meine eigene wiedererkenne. „Die Rita.“ Er dreht sich in seinem Schreibtischstuhl und sieht mir direkt in die Augen. „Mach es nicht noch schlimmer, als es bereits ist“, sagt er müde und flehend. Er steht auf und tritt auf mich zu. „Du hast es so schlimm gemacht“, schießt es auch mir, wie aus einer Pistole. Er bleibt stehen und seufzt, reibt sich die Augen. „Roman, können wir nicht einen Tag einfach Ruhe haben?“, sagt er dann. „Klar“, sage ich trotzig und gehe an ihm vorbei, setze mich an meinen Rechner und starte sinnlos das Internet. Wir sprechen nicht. Nach einigen Minuten sagt Jannik dann: „Ich bin auch nicht begeistert von deinen Ex-Liebesgeschichten, OK?“ „Du meinst all die FRAUEN, mit denen ich so zusammen war, ja?“, sage ich spitz. „Mensch, Roman!“, entgegnet er genervt und setzt sich mit einem lauten Seufzer auf Sofa, vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Und dann sagt er etwas, was mir das Blut in den Adern gefrieren lässt: „Ich hätte letztens nicht mit dir schlafen sollen.“ „Was?!“, herrsche ich ihn an und starre ihn mit offenen Augen an. „Wir hätten einfach die Distanz wahren sollen und die letzten drei Wochen wären wie im Flug vorbei gegangen, ohne irgendwelche dämlichen Zwischenfälle und diese Blicke, die sie uns ständig zuwerfen!“, keift er. Mein Mund fühlt sich trocken an und ich weiß auch gar nicht, was ich antworten könnte. „Fuck!“, entfährt es seinem Mund und er schaut bestürzt zu Boden. Wir sagen kein Wort mehr an diesem Abend. Machen uns still fertig. Und jeder schläft in seiner Ecke. Ich frage mich, wie all das passieren konnte. Vor zwei Tagen schien alles wieder in Ordnung und er war so zärtlich zu mir. Eine Illusion der Normalität hatte sich über uns gelegt. Und nun war sie zerplatzt, wie eine Seifenblase. Eine Achterbahn der Gefühle. Als ich am nächsten Morgen alleine in der Wohnung aufwache, greife ich nach meinem Handy und wähle Raphaels Nummer. „Hallo Herzchen, so früh und du bist schon wach?“, ertönt seine helle Stimme. „Kommst du vorbei?“, frage ich, ohne seine Begrüßung zu erwidern. „Oh“, sagt er sanft. „Dir geht es nicht gut, hm? Sektfrühstück?“ „Ich bitte darum.“ „Der Notfallmann ist gleich bei dir!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)