Code Geass: Fügung von Shin-no-Noir (Von missglückten Plänen und zweiten Chancen) ================================================================================ Kapitel 4: Annäherung --------------------- „Sie werden nun in richtigen Kämpfen eingesetzt, nicht wahr? Wie viele Jahre sind vergangen, frage ich mich, seit ich zum ersten Mal Lady Mariannes Tanz sah?“ - Clovis la Britannia, Stage 0.884 * * * „Hier.“ Clovis ließ sich am Rand des Bettes nieder und platzierte zwei kleine Schachteln auf dem Nachttisch. Lelouch betrachtete sie für einen Moment mit nichtssagender Miene und richtete seinen ausdruckslosen Blick dann wieder auf Clovis. „Von Graf Asplund“, erklärte sein Bruder. „Die einen sind gegen die Infektion, die anderen gegen die Schmerzen, sollten sie noch einmal schlimmer werden.“ Lelouch hob die Brauen. „Du hast vor, sie hier zu lassen?“, fragte er in demselben ungläubig-geringschätzigen Tonfall, in dem er sich einige Stunden zuvor auch schon erkundigt hatte, ob Clovis tatsächlich so töricht wäre, sich auf sein Wort zu verlassen. Dieses Mal jedoch fiel die Reaktion des Dritten Prinzen anders aus, als er erwartet hatte. Anstatt seinem Blick auszuweichen oder zumindest den Faden zu verlieren, schien sein Bruder im ersten Moment lediglich perplex - dann erbleichte er plötzlich und starrte ihn an, nacktes Entsetzen auf den Zügen. Lelouch brauchte einen Augenblick, um zu begreifen. „Ich habe nicht vor, mich umzubringen“, sagte er spöttisch. „Ich war lediglich erstaunt darüber, dass du mir wenigstens dieses Maß an Autonomie zugestehst.“ Clovis' Erleichterung war nahezu greifbar, auch wenn es keine zwei Sekunden dauerte, bevor wieder eine andere Emotion die Oberhand gewann. „Lelouch...“ „Gib dir keine Mühe, Clovis.“ Lelouchs Stimme war ebenso unbewegt wie der Ausdruck seiner Augen. „Du hast deinen Willen bekommen. Ich wäre dir dankbar, wenn du mich jetzt alleine lassen würdest.“ Er hielt inne. „Es sei denn, du möchtest, dass ich vorher noch ein Kunststück vorführe?“ Es waren grausame Worte, und Lelouch war sich dessen bewusst. Er verfolgte ihre Wirkung mit einer sadistischen Genugtuung, die ihn beinahe für seinen angekratzten Stolz entschädigte. Clovis' Blick war flehend, aber Lelouchs eigene Gesichtszüge blieben bar jeder Emotion, und schließlich stand Clovis auf und trat von ihm zurück. Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort ab und verließ den Raum. An jenem Abend sah Lelouch seinen Bruder noch ein einziges Mal, als dieser ihm etwas zu essen brachte, aber sie sprachen nicht miteinander. Hätte Lelouch es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, dass Clovis bedrückt wirkte; aber in Wahrheit hatte der blonde Gouverneur nur einen lästigen Hang zur Theatralik. Lelouch selbst schwieg ebenfalls, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Er hatte kein Interesse an einer weiteren ergebnislosen Konversation mit seinem unliebsamen Verwandten, und er war zu beschäftigt damit, seine Wunden zu lecken, als dass er die nötige Geduld dafür hätte aufbringen können. Vielleicht hatte Clovis Recht gehabt, als er behauptete, Graf Asplund stelle keine Gefahr dar – was auch immer der Mann sein mochte, er war mit Sicherheit kein typischer britischer Adliger, und etwas sagte Lelouch, dass es nicht Ansehen bei Hofe war, das er suchte -, aber das änderte nichts daran, dass sein Bruder Lelouch dazu gezwungen hatte, seine ungünstige Lage nicht nur als das zu erkennen, was sie war, sondern sie überdies auch noch zu akzeptieren. Er hatte auf eine Gelegenheit gehofft, sein Geass an dem blaublütigen Arzt einsetzen zu können, aber Clovis hatte ihn für keine Sekunde aus den Augen gelassen, und Lloyd Asplund hatte nicht den Eindruck gemacht, in der Offensive eine besonders effektive Waffe zu sein. Sicher, Lelouch hätte ihm befehlen können, sich auf Clovis zu stürzen und ihn niederzuringen – aber das hätte ihm eher unangenehme Nächte in den Kerkern eingebracht als seine Freiheit. Alles in allem hätten die Dinge nach den Ereignissen der letzten Tage wesentlich schlechter für ihn aussehen können, als es tatsächlich der Fall war; dennoch kam Lelouch nicht umhin, Bitterkeit darüber zu empfinden, dass es überhaupt erst so weit gekommen war. Wäre ihm nicht eine winzige Fehlkalkulation unterlaufen, hätte nicht ein dummer Zufall seine Pläne vereitelt, dann wäre er jetzt längst dabei, den Tod seiner Mutter zu rächen und eine Welt zu erschaffen, in der Nanali glücklich leben konnte, wie er es immer vorgehabt hatte. Das Schicksal hatte ihm unverhofft eine Möglichkeit gegeben, den Spieß umzudrehen und nicht nur gegen das korrupte Britannien vorzugehen, sondern auch überdurchschnittlich erfolgreich dabei zu sein – nur um es sich im nächsten Moment anders zu überlegen und im Gegenzug für die Macht, die er erhalten hatte, seine Freiheit zu verlangen. Er war vom Regen in die Traufe geraten; vom Planen eines nahezu aussichtslosen Unterfangens in eine Lage, in der er über die notwendigen Mittel verfügte, die er zuvor nicht gehabt hatte, sie aber nicht einsetzen konnte, weil es ihm nicht einmal möglich war, das Zimmer zu verlassen, in dem man ihn festhielt. Er war so machtlos, dass er nicht einmal über sich selbst bestimmen konnte. Lelouch senkte den Oberkörper langsam auf das Kissen in seinem Rücken und starrte die Wand auf der anderen Seite des Zimmers an, als könnte er alleine Kraft seines Blickes ein Loch in sie hineinbrennen. Selbst wenn er einen Laptop hätte, würde er unter diesen Umständen nicht viel mehr damit anfangen können, als allgemeine Entwicklungen zu verfolgen und ein paar Erkundigungen einzuholen. Die einzige Waffe, die ihm zur Verfügung stand, waren seine Worte, die eine noch wesentlich größere Wirkung auf seinen Halbbruder zu haben schienen, als er sich hätte erhoffen können; aber wenn er so weitermachte, würde er auch diesen Quell schon bald erschöpft haben, und dann hätte er nichts mehr, was er zu seinem Vorteil nutzen könnte. Er wäre Clovis ausgeliefert, vollkommen hilflos, und so weit konnte er es auf keinen Fall kommen lassen. So sehr es ihm auch zuwider war, er hatte keine andere Wahl, als seine bisherige Einstellung zu überdenken und sich wie der Stratege zu verhalten, der er eigentlich sein sollte. Es hatte den Fehler gemacht, sich von seinen Gefühlen beherrschen zu lassen. Britannien hatte ihm alles genommen: seine Mutter, die Beine und Augen seiner Schwester, seine Kindheit... und nun auch noch Suzaku, seine Freiheit und die Nähe zu der wichtigsten Person in seinem Leben. Aber es hatte sich herausgestellt, dass Clovis nur für die letzten drei dieser Dinge persönlich verantwortlich war, und das in zwei der Fälle auch nur indirekt. Wäre er nicht zufällig ein Kind des Mannes gewesen, den Lelouch mehr hasste als alles andere, hätte er sich niemals so sehr gehen lassen. Weder konnte noch wollte Lelouch seinem Halbbruder dafür verzeihen, dass er durch seine Befehle den Tod des einen Menschen herbeigeführt hatte, dem er neben seiner Schwester nahezu vorbehaltlos hätte vertrauen können. Aber alle anderen Gründe für sein Verhalten waren kleinlich und die Sache nicht wert, und wenn er sie beiseite schob, sollte er in der Lage sein, das Beste aus seiner gegenwärtigen Situation zu machen, während er darauf wartete, dass sich ihm eine Gelegenheit bot, das Blatt zu wenden. Schließlich konnte Clovis ihn nicht ewig in diesem Raum festhalten. Nun, er konnte, aber Lelouch hoffte, dass er das nicht vorhatte. Es war nun schon drei Tage her, dass er auf die grünhaarige Frau getroffen war, die ihm die Fähigkeit verliehen hatte, die dies alles in Gang gesetzt hatte. Drei Tage, seit er nur eine Haaresbreite davon entfernt gewesen war, das zu tun, wonach etwas in ihm seit jenem Tag vor acht Jahren gedürstet hatte, und eine ernsthafte Bedrohung für die Herrschaft des Mannes zu werden, der ihn und Nanali als nützliche Handelsware bezeichnet hatte, bevor er sie wie entbehrliche Bauern in einer bereits so gut wie gewonnen Partie weggeworfen hatte. Drei Tage, seit er bereit gewesen war, eigenhändig und ohne zu zögern den Abzug zu drücken, um seine Ziele zu erreichen, aber doch nicht schnell genug gewesen war. Drei Tage, seit er seine eigenen Pläne durch einen fatalen Mangel an Paranoia durchkreuzt hatte, noch bevor sie in seinem Kopf eine konkrete Form hatten annehmen können. Drei Tage, seit er seine kleine Schwester das letzte Mal gesehen hatte. Lelouch machte sich keine Sorgen um Nanalis körperliches Wohl – nicht viel mehr, als er es sonst auch tat. Sie hatte Sayoko und Milly, die für ihn auf sie achtgeben würden; zumindest für eine Weile war sie in Sicherheit, auch wenn Lelouch sich schon lange vor dem Vorfall in Shinjuku gefragt hatte, wie lange die Ashford-Familie sie beide noch beschützen würde. Wenn seine Schwester sich jedoch Sorgen um ihn machte, dann gab es wenig, was irgendjemand tun konnte, um sie zu beruhigen, solange er sich nicht meldete, und Lelouch konnte sich nicht erinnern, jemals ein so schlechtes Gewissen wegen irgendetwas gehabt zu haben. Allerdings hatte er nach wie vor keine andere Option, als alle Gedanken an Nanali so weit es ging zu verdrängen und sich darauf zu konzentrieren, möglichst schnell wieder bei ihr zu sein – oder, wenn das nicht möglich war, sie zumindest nicht ebenfalls in Gefahr zu bringen. Er hatte seit jeher damit gerechnet, dass er bei seinem Vorhaben, Britannien den Krieg zu erklären, umkommen würde – als er noch nicht über die Macht des Geass verfügt hatte, schien dieses Schicksal nahezu unausweichlich gewesen zu sein, auch wenn er alles daran gesetzt hätte, zuvor noch eine friedliche Welt für Nanali zu erschaffen und die Mörder ihrer Mutter büßen zu lassen. Dass er nun schon ganz zu Anfang seiner Bestrebungen gescheitert war, war ernüchternd – mehr als das, es rief eine Reihe von Emotionen in ihm hervor, die beinahe ebenso stark waren wie sein Hass auf den Kaiser und deren Kern allesamt eine tiefe Bitterkeit ausmachte, die ebenso sehr gerechtfertigt war wie sie ihn nicht weiterbringen würde. Aber seine kleine Schwester würde über sein Verschwinden hinwegkommen, und noch war Lelouchs Niederlage nicht endgültig. Es war unwahrscheinlich, dass er nach dieser Sache einfach so zu Nanali zurückkehren könnte, aber wenn er etwas fand, womit sich seine unangekündigte Abwesenheit glaubhaft erklären ließ, und wenn er wartete, bis sich die Aufregung um das gelegt hätte, was auch immer ein verspäteter Triumph über Clovis nach sich ziehen würde, dann müsste er nur noch Graf Asplund ausfindig machen und den Mann vergessen lassen, dass er ihn jemals gesehen hatte, und schon könnte er da weitermachen, wo er aufgehört hatte. Das alles natürlich vorausgesetzt, sein Geass funktionierte noch und ließ sich wirklich nur kein zweites Mal an derselben Person einsetzen. Lelouch hätte große Lust gehabt, es an dem adligen Mediziner zu testen oder es sogar noch einmal an Clovis selbst zu versuchen; aber letzten Endes war es ihm das Risiko nicht wert gewesen. Er würde entweder einen anderen Weg finden oder auf günstigere Voraussetzungen warten müssen. Lelouch lehnte sich zurück und schloss die Augen. Nein, im Augenblick gab es nur eines, was er tun konnte. Am Anfang seiner Gefangenschaft hatte er Clovis seine Kooperation im Austausch für Schweigen angeboten, und dabei war ihm niemals in den Sinn gekommen, dass er seine Feindseligkeit weiterhin so offen zeigen könnte. Dass sein Bruder wider Erwarten offenbar Skrupel hatte, ihn zu behandeln wie das vorherige Objekt seiner Forschungen, war kein Grund, seine Wut und Frustration ständig aufs Neue offenkundig zu machen, bis Clovis irgendwann genug von ihm hätte und beschließen würde, dass Blutsverwandtschaft doch nicht weiter von Bedeutung war. Viel mehr war es eine Schwäche, die er so gut wie möglich, aber geschickt und mit Bedacht ausnutzen sollte. Ein goldener Käfig mochte nicht immer besser sein als eine Kerkerzelle; aber in diesem Fall war Lelouch sich ziemlich sicher, dass er ihn den Alternativen vorzog. Schon alleine, weil er auf diese Weise wesentlich bessere Aussichten darauf hatte, in naher Zukunft seine Freiheit wiederzuerlangen; aber auch, weil er noch immer fürchtete, Clovis würde ihn dem Kaiser ausliefern und nicht seinen Wissenschaftlern, wenn er erst einmal die Nase voll von ihm hatte. Wenn Lelouch sich nicht selbst einen Strick drehen wollte, musste er seinen Hass beiseite schieben und die überraschend wenigen, aber überaus vielversprechenden Blößen ausnutzen, die sein Halbbruder sich gab. Dann könnte er weitersehen. Mit dem Gedanken, dass ohnehin alles andere nebensächlich war, solange Nanali sich nur in Sicherheit vor dem Rest ihrer Familie befand, ergab Lelouch sich schließlich der Erschöpfung, die seine Verletzung unweigerlich mit sich brachte. Wie er seinen Schlafrhythmus kannte, würde er mitten in der Nacht ohnehin noch einmal aufwachen, sodass er auch dann noch eine der Tabletten einnehmen könnte, die sein Bruder ihm dagelassen hatte. Und vielleicht wäre er bis dahin sogar hungrig genug, um doch noch etwas zu Abend zu essen. Im Augenblick jedoch war Lelouch weder nach Nahrungsaufnahme noch nach irgendeiner anderen überflüssigen Bewegung zumute. Er rollte sich auf die Seite, auf der er keine Wunde zu berücksichtigen brauchte, die ihm bei einer falschen Bewegung unnötige Unannehmlichkeiten bescheren würde, und von da an dauerte es keine fünf Minuten, bis er eingeschlafen war. ~ Als Clovis seinem Bruder am Morgen nach ihrer Auseinandersetzung das Frühstück brachte, kostete es ihn einiges an Überwindung, über die Türschwelle zu treten. Seine Muskeln schmerzten beinahe vor Anspannung, und sein Magen zog sich bereits unangenehm zusammen, seit er keine halbe Stunde zuvor seine Gemächer verlassen hatte. Bevor er am Abend zu Bett gegangen war, hatte er sich von der Tatsache abzulenken versucht, dass ihm gleich nach dem Aufstehen eine weitere Konfrontation mit Lelouch bevorstehen würde, aber bereits da war sein Erfolg ein kläglicher gewesen – und als er es nicht einmal zustande gebracht hatte, ein neues Bild anzufangen, nachdem er das letzte mit wenigen Pinselstrichen fertiggestellt hatte, war er so verzweifelt gewesen, dass er sich doch tatsächlich näher mit Lloyds kleinem Projekt beschäftigt hatte. Dabei war er auf ein paar interessante Fakten gestoßen, die ihm gezeigt hatten, dass der verrückte Graf genauso wenig Probleme damit hatte wie jeder andere Adlige, das ein oder andere unter den Teppich zu kehren, wenn es ihn voranbrachte; aber das das war nicht wirklich verwunderlich, und Clovis war von vornherein in keiner Laune gewesen, in der es ein paar unerwartete Enthüllungen vermocht hätten, seine Aufmerksamkeit für länger zu halten als für ein paar Minuten. Dementsprechend hatte er sich schon bald darauf frustriert schlafengelegt und war kurz nach Sonnenaufgang in einer Stimmung aufgewacht, die kein bisschen besser gewesen war als am Vorabend. Im Gegenteil: Nun, da der nächste Streit mit seinem Bruder so unmittelbar bevorstand – und es würde ein Streit werden, denn Clovis hatte genug davon, sich schweigend bissige Bemerkungen von jemandem anzuhören, der versucht hatte, ihn umzubringen; totgeglaubter jüngerer Bruder hin oder her -, hätte er viel darum gegeben, an Ort und Stelle von einem Loch im Boden verschluckt zu werden und erst am anderen Ende der Welt wieder aufzutauchen. Jedoch tat der Grund unter seinen Füßen ihm den Gefallen nicht, und so fand er sich schon bald inmitten von Lelouchs Zimmer wieder, einen Teller mit belegten Broten in der Hand und hin und her gerissen zwischen seinem schlechten Gewissen und Verärgerung über die anmaßende Egozentrik seines Bruders. Zögerlich öffnete er den Mund, um Lelouch einen guten Morgen zu wünschen – er würde zumindest versuchen, eine vernünftige Konversation zu führen. Aber noch ehe er einen Ton herausbrachte, fiel sein Blick auf das Bett, und er hielt erstaunt inne. Nun, damit hatte er ganz sicher nicht gerechnet. Clovis schloss den Mund wieder und trat langsam bis in die Mitte des Raumes, wo er zunächst den Teller auf dem Nachttisch abstellte und sich dann nach kurzem Zaudern neben das ausladende Nachtlager kniete. Er betrachtete das schlafende Gesicht seines Bruders und fragte sich, ob er jemals zuvor einen so friedlichen Ausdruck darauf gesehen hatte. Vielleicht, entschied er schließlich. Aber mit Sicherheit nicht, wenn sie unter vier Augen gewesen waren, und schon gar nicht innerhalb der letzten paar Tage. Ehe er sich versah, hatte Clovis auch schon die Hand ausgestreckt, um seinem Bruder behutsam eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Er wäre nicht überrascht gewesen, wenn Lelouch daraufhin die Augen aufgeschlagen und ihn finster angeblickt hätte – tatsächlich rechnete er halb mit einer vergleichbaren Reaktion -, aber er rührte sich nicht, und der letzte Rest von Clovis' Beklommenheit verschwand. Er zog die Hand zurück, und das war der Moment, in dem er erkannte, dass die Gereiztheit, die er seit dem Aufwachen verspürt hatte, ausschließlich aus Ratlosigkeit geboren war. Er war nicht wütend auf Lelouch – wie könnte er, nach allem, was sein Bruder in den letzten Jahren durchgemacht haben musste, und wenn er schon früher Schwierigkeiten gehabt hatte, seinem kleinen Bruder etwas ernsthaft zu verübeln? - und nicht einmal auf sich selbst; denn wenngleich er sich sehr wohl bewusst war, dass er Lelouchs Wünsche von Anfang an hätte respektieren sollen, sah er keine Möglichkeit, wie er unter den gegebenen Umständen anders hätte handeln können. Und die Wunde hatte sich entzündet. Es war die Gesamtsituation, die Clovis widerstrebte. Die hilflose Frustration, die sich daraus ergab, und sein eigene Machtlosigkeit. Wenn das so weiterginge, würden seine Nerven schon bald vollkommen blankliegen. Das würde niemandem weiterhelfen, aber allmählich war er am Ende mit seinem Latein. Er würde versuchen, den Schaden wieder gutzumachen, den er angerichtet hatte; aber er bezweifelte, dass es etwas nützen würde. Resigniert schloss Clovis die Augen und senkte den Kopf, bis seine Stirn am Rand der kühlen Matratze lehnte. Wann war alles so unglaublich kompliziert geworden? ~ „Wie war dein Tag?“ Lelouch schloss den Laptop, der noch immer auf seinem Schoß ruhte, obwohl er ihn bereits vor einer Weile abgeschaltet hatte, und blickte auf. Sein Halbbruder stand mehrere Meter von ihm entfernt, nur wenige Schritte vom Türrahmen, und sah ganz so aus, als wäre er am liebsten gar nicht erst eingetreten. Als er Lelouch am Morgen das Essen gebracht hatte, hatte dieser uncharakteristischerweise noch geschlafen – vermutlich war es das leichte Fieber, das er entwickelt hatte, irgendwann bevor er in der Nacht noch einmal wachgeworden war, das ihm einen so festen Schlaf beschert hatte -, was bedeutete, dass die letzten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten, keine besonders freundlichen gewesen waren. Ganz offensichtlich erwartete sein Bruder, dass Lelouch die Gelegenheit nutzen würde, um seinen Unmut einmal mehr nur allzu deutlich kundzutun. Er irrte sich. „Gut“, sagte Lelouch in neutralem Tonfall und lehnte sich gegen das Kissen in seinem Rücken. „Danke.“ Er ließ bewusst offen, ob er „Danke der Nachfrage“ meinte, oder ob er sich auf den Rechner bezog. Clovis war so überrascht, dass er nicht sofort reagierte. Für die Dauer mehrerer Herzschläge starrte er Lelouch einfach nur an, während er vermutlich die Tatsache verarbeitete, dass die Antwort, die er erhalten hatte, weder feindselig noch abweisend war, sondern nahezu höflich. Dann huschte ein Ausdruck über sein Gesicht, den Lelouch nicht zu deuten wusste, und er machte vorsichtig einen Schritt nach vorne. „Geht es...“, begann er und leckte sich nervös über die Lippen. „Geht es dir besser?“ Seine Stimme war so leise, als fürchtete er, ein falsches Wort könnte genügen, damit die Konversation ähnliche Züge annehmen würde wie am Vortag und damit auch schon bald wieder zu einem abrupten Ende käme. Diese Sorge war durchaus verständlich, hatte Lelouch seinem Bruder doch bisher keinen Grund gegeben, irgendetwas anderes anzunehmen. Es war ein Umstand, den er zu berichtigen gedachte. „Ja“, sagte er – wenn schon nicht mit einem Lächeln, dann doch zumindest nicht unfreundlich. „Ich habe nur ein wenig Schlaf gebraucht“, setzte er hinzu, weil er nicht zu kurz angebunden erscheinen wollte. „Das war alles.“ „Das freut mich“, gab Clovis mit einer seltsamen Mischung von Erleichterung, Hoffnung und Beklommenheit in der Stimme zurück. Zögerlich trat er zu ihm herüber. „Ich...“, setzte er an. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“ „Entschuldigen?“ Nun kam Lelouch doch nicht umhin, die Brauen um den ein oder anderen Millimeter anzuheben. Er hatte mit vielem gerechnet, aber anscheinend war Clovis stets für eine Überraschung gut. „Wofür?“ „Ich hätte mich nicht einfach über deinen Willen hinwegsetzen sollen. Ich weiß, dass es nicht richtig war, und dass eine Entschuldigung nichts ändern wird... vor allem, weil ich es vermutlich wieder tun würde. Aber ich will, dass du weißt, dass es die Wahrheit war, als ich sagte, ich mache mir nur Sorgen um dich.“ Obwohl Clovis schon die ganze Zeit über so aussah, als würde er jeden Moment die Augen schließen oder zumindest den Kopf abwenden, hielt er weiterhin Lelouchs Blick. „Ich weiß, dass es egoistisch von mir ist. Aber ich will dich nicht verlieren, Lelouch. Nicht noch einmal.“ Die beinahe verzweifelte Bitte um – was? Verständnis? - in der Stimme seines Halbbruders war nichts weiter als ein leicht zu überhörender Unterton; der flehende Ausdruck in seinen Augen jedoch war unverkennbar. Dieses Mal war es an Lelouch, sprachlos zu sein. Das hier war kein fehlgeleitetes Pflichtgefühl oder der Versuch, aus einer Banalität ein Drama zu machen. „Du...“, sagte Lelouch und betrachtete seinen Bruder noch für einen Moment länger, während er zu einem Schluss kam, den er noch wesentlich befremdlicher fand als die Vorstellung, dass Clovis seinetwegen Gewissensbisse hatte. „Du meinst es ernst, nicht wahr? Du machst dir wirklich etwas aus mir.“ Clovis nickte, und Lelouch, dessen Gesichtsausdruck und Tonlage bis dahin vollkommen neutral gewesen waren, entwich ein kurzer, erstickter Laut der Belustigung, der sich schon wenig später in ein Lachen verwandelte. Clovis zuckte zusammen. „Was bist du, Clovis, ein Idiot?“, fragte Lelouch, seltsam amüsiert. Er versuchte, seine Erheiterung unter Kontrolle zu bringen, aber es dauerte ein paar Sekunden, bevor er weitersprechen konnte, ohne dass ihm dabei ein Kichern entglitt. „Ich habe dir eine Waffe an den Kopf gehalten. Und wenn ich nur den Bruchteil einer Sekunde länger Zeit gehabt hätte, hätte ich den Abzug gedrückt. Du hast es selbst gesagt: Ich habe versucht, dein Gehirn an den Wänden deiner Kommandozentrale zu verteilen – ich hätte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken. Und du willst mir erzählen, dass ich dir etwas bedeute?“ Abermals lachte er. „Was habe ich jemals für dich getan?“ Clovis schien sichtlich getroffen, aber Lelouch war überrascht zu sehen, dass er seinem Blick noch immer nicht ausgewichen war. „Ich weiß, dass du geschossen hättest“, sagte er, und erst jetzt schloss er die Lider. „Ich weiß, dass du nicht gezögert hättest, und ich habe nie geglaubt, du hättest es bereut.“ Er öffnete die Augen wieder, und ähnlich wie schon zuvor war der Ausdruck darin ebenso fest, wie er sanft war. „Aber du bist mein Bruder, Lelouch. Ich könnte dich niemals nicht lieben. Nicht, als du jede einzelne Partie, die wir gegeneinander gespielt haben, mühelos gewonnen und mich mit deinem selbstzufriedenen Lächeln immer wieder aufs Neue beinahe zur Weißglut getrieben hast, und auch nicht jetzt.“ Lelouch schnaubte. „Weil wir zufälligerweise denselben Vater haben?“ „Weil du du bist, Lelouch.“ Wieder schloss Clovis für einen Moment die Augen, als könnte er die nächsten Worte nur sagen, wenn er dabei weder Lelouch noch sonst irgendetwas von seiner Umgebung ansehen musste. „Ich weiß nicht, ob ich irgendein anderes unserer Geschwister so sehr liebe wie dich. Vielleicht bin ich töricht. Aber das ist nun einmal, wie es ist – selbst wenn ich wollte, könnte ich es nicht ändern.“ „Warum?“ Lelouch merkte kaum, wie Spott und an Hysterie grenzende Belustigung ihn so schnell wieder verließen, wie sie gekommen waren, und seine Stimme zu wenig mehr wurde als einem tonlosen Flüstern. „Ich habe dich immer bewundert, Lelouch. Dich und Lady Marianne... du warst klug und stolz, und am Anfang war es wohl mehr Faszination als alles andere. Von Schneizel einmal abgesehen war ich niemals jemandem begegnet, der mich so einfach schlagen konnte – selbst Cornelia hatte das ein oder andere Mal Probleme, wenn ich sie denn überhaupt einmal dazu bewegen konnte, ein Schachbrett anstatt einer Klinge anzufassen. Und du warst sieben Jahre jünger als ich.“ Clovis schüttelte den Kopf. „Vielleicht ist es dir nicht bewusst, aber ich glaube, in dieser Hinsicht bist du deiner Mutter sehr ähnlich... die Leute konnten nicht anders, als zu ihr aufzusehen – selbst diejenigen, die geblendet von Eifersucht waren, hätten es niemals gewagt, ihr offen ins Gesicht zu sagen, was auch immer sie insgeheim über sie denken mochten. Ich habe mich nie sonderlich für Waffen und Knightmares interessiert, aber Lady Marianne...“ Die Ehrfurcht in Clovis' Stimme überraschte Lelouch beinahe ebenso sehr wie seine Worte, und er registrierte kaum, wie sein Halbbruder nun doch das Gesicht von ihm wegdrehte. „Es ist nicht, weil du mein Bruder bist – nicht nur. Es ist nicht einmal, weil du ihr Sohn bist. Ich kann nicht anders, als dich zu lieben, weil du Lelouch bist – und daran wird sich nichts ändern; auch, wenn du mich hasst.“ Schweigen legte sich über sie. Selbst wenn Lelouch sofort eine Erwiderung in den Sinn gekommen wäre, hätte er die Stille nicht durchbrechen können – Clovis' Worte hatten seinen Mund so gänzlich und unerwartet ausgetrocknet wie ein heißer Wüstenwind. Als er eine Weile später dennoch das Erste entgegnete, was ihm ihn den Sinn kam, musste er die Laute erst an dem Kloß vorbeizwängen, der auf einmal seinen Hals blockierte. „Ich hasse dich nicht“, sagte er. Und erst als er die Worte ausgesprochen hatte, erkannte er, wie wahr sie waren. Clovis' Kopf schnellte herum, und er starrte ihn an – ungläubig, aber es lag auch noch etwas anderes in seinem Blick. „Es ist der Kaiser, den ich hasse“, fuhr Lelouch fort. „Nicht du.“ „Du...“ Das Erstaunen auf Clovis' Zügen war offenkundig und auch in seiner Stimme nicht zu überhören, und der Hoffnungsschimmer, der bereits zuvor in seine Augen getreten war, war nun deutlich als solcher zu erkennen. „Ich sage nicht, dass es mir gefällt, wie die Dinge im Augenblick liegen“, stellte Lelouch klar. „Aber ich glaube nicht, dass ich dich jemals wirklich gehasst habe.“ Clovis war sichtlich verblüfft, und Lelouch konnte es ihm nicht verdenken. Er selbst hatte nicht gewusst, dass er so empfand... nicht, bis Clovis seine Mutter erwähnt und ihren Namen mit solch unverkennbarer Bewunderung in der Stimme ausgesprochen hatte. Er hatte geglaubt, sein Bruder wäre in ihre Ermordung verwickelt gewesen, und durch sein Geass war ihm klar geworden, dass er sich geirrt hatte - aber nicht, wie blind er gewesen war. Er hätte niemals so überzeugt von der Schuld seines Halbbruders sein sollen. Clovis hatte seiner Mutter nie etwas Geringeres als Respekt entgegengebracht, und die einzigen seiner Halbgeschwister, die damals weniger politische Ambitionen an den Tag gelegt hatten als Clovis, waren Euphemia und vielleicht Odysseus. Andererseits hätte vor acht Jahren auch noch niemand erwartet, dass Clovis eines Tages Gouverneur werden und ein willkürliches Massaker befehlen würde. Insofern war Lelouchs Verdacht nicht völlig unbegründet gewesen – selbst wenn man einmal davon absah, dass von Natur aus niemand bei Hofe als vertrauenswürdig bezeichnet werden konnte. Dennoch... an jenem Tag in Shinjuku hätte er kaum weiter von der Wahrheit entfernt sein können. „Danke“, sagte Clovis, und in seiner kaum merklich bebenden Stimme lag etwas, das Lelouch nicht zu identifizieren vermochte. „Du weißt nicht...“ Er schüttelte den Kopf. „Danke“, wiederholte er. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)