Your Smile von abgemeldet ================================================================================ Prolog: Rules ------------- RULES Regel Nummer eins: Lass die Finger von den Neuen. Ich konnte nie verstehen, was alle an neuen Mitschülern fanden. Jedes Mal rollte ich die Augen, wenn ein neuer Schüler angekündigt wurde, und alle in hysterische Aufregung verfielen. Warum wurde darum so ein Wirbel gemacht? Die Jungs hofften, dass es ein scharfes Mädchen war; die Mädchen hofften, dass es ein geiler Kerl war. Je nach dem, welchem Geschlecht der Neuankömmling nun angehörte, wurde er entweder nur von Mädchen umlagert oder sowohl von Mädchen, als auch von Jungen. Letzteres natürlich nur dann, wenn es tatsächlich jemand mit Möpsen war. Es war meiner Meinung nach absolut hirnverbrannt, sich so um eine Person zu scharen und sie nahezu gottgleich anzubeten. Zumindest in den ersten paar Wochen. Die Aufregung legte sich alsbald, oftmals damit auch die überschwängliche Aufmerksamkeit. Sie alle wollten nur herausfinden, ob er oder sie cool war, beliebt, arrogant. Denn nur so konnte herausgestellt werden, ob der oder die Neue zur Elite der Schule gehören würde oder nicht. Jeder wollte einen Vorteil, einen Platz an der Seite des neuen Sterns der High School. Hinter die Fassade blickte so gut wie niemand. Man wollte sich nur schmücken. Aus genau diesem Grund wandte ich meine Aufmerksamkeit nie gelenkt den Neuen zu. Zumindest hielt ich mich immer an diese meine aufgestellten Regeln bis Dion van Dorve an unsere Schule und in meinen Mathekurs an einem verregneten Montagmorgen kam. Gut, genau genommen hielt ich mich an meine Regeln, bis ich sein Lächeln sah. Das war der Moment, in dem ich meine Regeln vergaß. Regel Nummer zwei: Lass dich von einem Neuen nicht um den Finger wickeln — schon gar nicht auf den ersten Blick. ___ tbc. Kapitel 1: Heat --------------- HEAT Er hatte ein schönes Profil, das musste ich zugeben. Doch er sah reichlich verzweifelt aus, während er mit gerunzelter Stirn und scheinbar hilflos auf die Ausführungen, Rechenwege und Formeln an der Tafel starrte. Kurz wandte er seinen Blick wieder seinen Aufgaben zu, fuhr mit dem Finger über das Papier und sah wieder auf. Offensichtlich hatte das alles in seinem Kopf gerade noch Sinn gemacht — jetzt nicht mehr. Ich kam nicht umhin, dass es mich wirklich amüsierte, unserem Neuen dabei zuzusehen, wie er gnadenlos zugrunde ging. Nicht, dass ich es ihm wünschte — ich war eigentlich kein schadenfroher Mensch und außerdem kannte ich ihn gar nicht — aber seine Mimik war einfach ein Bild für die Götter. Seine Augen pinnten wieder an seinem Block, während er konzentriert aber sichtlich verwirrt seine Notizen studierte. »Dion?« Er hob den Kopf und schaute Mr Warner an, der an der Tafel mit einem Stück Kreide in der Hand stand und unseren Neuling anschaute. »Die Berechnung von Hoch- und Tiefpunkten, bitte«, sagte Mr Warner, die Hand bereits an der Tafel und bereit zum Schreiben. Ich sah kurz einen gequälten Ausdruck über Dions verzweifeltes Gesicht huschen. Mit verschränkten Armen lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. »Ich weiß es nicht, Sir«, gab er schließlich zu und senkte den Kopf. Er hatte die Lippen zusammengepresst. Offenbar war es ihm ziemlich peinlich an seinem ersten Tag hier zu versagen. Jedenfalls hatte er sich damit als mathematische Niete entpuppt. Mr Warner schaute Dion mit hochgezogenen Augenbrauen an, sagte aber nichts weiter und wandte den Blick zu mir. Ich grinste breit, während ich ihm munter die Antwort diktierte. Ich stellte im Verlauf des Tages fest, dass Mathe nicht das einzige Fach war, das ich mit Dion van Dorve zusammen hatte. Die Mädchen lagen ihm schon zu Füßen, als er noch nicht einmal vollständig den Raum betreten hatte. Sie hingen an ihm wie Kletten am Fell eines Tieres. Während der ganzen Zeit wurde er von einer Traube Mädchen umschwirrt, die permanent auf ihn einredeten. Es war erstaunlich, dass er sich tatsächlich nur mit den weiblichen Individuen dieser Schule unterhielt, aber das lag wohl weniger an ihm selbst. Wann immer auch nur ein Kerl versuchte, Dion in ein Gespräch zu verwickeln, wurde er von einer Horde verrückt gewordener Fangirls überrannt. Ich war mir sogar sicher, dass ich in Dions Augen — jedes Mal, wenn irgendjemand seines Geschlechts an ihn heran treten wollte — Hoffnung sah. Als ich in der Umkleide stand und mich für Sport umzog, kam er wie ein Irrer hineingestürmt und warf die Tür lautstark hinter sich zu. Er sah aus, als hätte ein Monster ihn über das gesamte Schulgelände gehetzt. Einige andere Jungs lachten, es war klar, vor wem der Neuling geflohen war. Aber die Umkleide würde ihn nur für wenige Minuten retten. Das war ihm offensichtlich auch bewusst. Dion seufzte tief, ehe er sich daran machte, sich ebenfalls umzuziehen. Ich sah heute zum ersten Mal, dass er sich ungezwungen und ungestört mit anderen Jungs unterhielt. Regel Nummer drei: Beteilige dich nicht an Gesprächen mit Neuen. Weil das Wetter derartig beschissen war, blieben wir in der Sporthalle. Unser Sportlehrer ließ uns ein Volleyballfeld aufbauen und während ich gerade dabei war, einige Bälle in den Ballkorb zu laden, trat meine beste Freundin zu mir. Sie grinste mich an, während sie ein paar ihrer losen Haarsträhnen mit Klammern befestigte. »Ich hab gehört, Dion ist heute in Mathe ins Wasser gefallen«, sagte Theresa und griff nach einem der Bälle, um ihn in den Korb zu werfen. Ich verdrehte die Augen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich so etwas wie ein Lauffeuer in der Schule verbreitete. Wir hatten die größten Klatschmäuler weit und breit. Es war wirklich nervig, aber so richtig konnte sich niemand dagegen wehren. »Kalt erwischt«, antwortete ich verkniffen grinsend. Theresa lachte auf, ehe sie durch meine Haare wuschelte. Gemeinsam schoben wir den Ballwagen in die Halle, nahmen uns einen Ball und spielten uns ein. Theresa und ich kannten uns noch nicht sehr lange, aber sie war für mich etwas wie eine Schwester und beste Freundin in einem, mein geistiger Zwilling oder so. Wir waren sogar mal ein Paar. Allerdings nur für kurze Zeit. Irgendwie hatten wir beide schnell gemerkt, dass wir nicht dafür gemacht waren, auf diese Art und Weise zusammen zu sein. Die Zeit nach der ›Trennung‹ war ziemlich eigenartig für mich, für uns. Aber es hatte nicht lange gedauert, bis es zwischen uns wie immer war. Trotzdem war es wohl das Merkwürdigste, das mir je passiert ist. Wir hatten für Volleyball feste Mannschaften, die gleich zu Beginn aufgestellt worden waren und bis zum Ende der Unterrichtseinheit so blieben. Dion wurde meiner Mannschaft zugeteilt und ich war ziemlich skeptisch, weil ich absolut keine Ahnung hatte, wie er spielte. Ich war zugegebenermaßen ein schlechter Verlierer. Insgesamt bildete unser Sportkurs vier Teams. Da meine Mannschaft nicht gleich als erste spielte, saß ich am Spielfeldrand und sah Theresa dabei zu, wie sie die Schiedsrichterfunktion übernahm. » … nicht der einzige, der es nicht versteht, mach dir keine Sorgen. Grace kapiert es, er ist Warners Liebling. Aber wenn du mich fragst, ist er ein Idiot. Also, sowohl Warner als auch Grace. Ich will gar nicht wissen, was dieser Trottel dafür macht, um gute Noten bei Warner zu bekommen«, hörte ich Rose Jefferson sagen. Ich schnaubte leise. Blöde Zicke. Ausgerechnet sie stellte mich schlecht dar. Wahrscheinlich sollte mich das nicht wundern, nachdem ich sie bühnenreif abserviert hatte. Verletzter Stolz war böse. Ich hätte es gern anders enden lassen, aber sie ließ es nicht zu. Sie tat alles, um mich davon abzuhalten, mit ihr Schluss zu machen. Es war wirklich nicht schön und jetzt hatte ich ihre dämlichen Sprüche an mir kleben. Dafür würde ich sie beim Volleyball fertig machen. Pf. »Grace?«, fragte Dion und ich warf einen verstohlenen Blick zu den beiden. Er sah ein wenig verwirrt aus. Als Rose mit der Hand in meine Richtung winkte, wandte ich die Augen hastig ab. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie Dion ihrer Handbewegung folgte und mich ansah. Ich versuchte den Rest von Rose’ Rufmord an mir auszublenden. Aber ich spürte immer wieder Dions Blick, der zu mir huschte. Ihre Stimme nervte mich mittlerweile. Ich hätte Rose zu gerne irgendwie zum Schweigen gebracht. Sogar Dion tat mir leid, dass er von ihr voll gelabert wurde. Deswegen war ich froh, als wir endlich mit Spielen dran waren und Rose mir auf der anderen Spielfeldseite gegenüber stand. Es passte sogar gut, dass Dion zu uns in den Sportkurs gekommen war. Meine Mannschaft war immer einer zu wenig gewesen, deswegen hatten wir immer jemanden aus einem der anderen Teams bekommen. Jetzt waren wir vollständig. Ich konnte nicht aufhören zu grinsen, als ich den Ball für den Aufschlag bekam. Rose stand auf der Mittelposition, was für ein Zufall. Besser hätte es gar nicht sein können. Das klang definitiv eingebildet, aber ich war ein guter Volleyballer. Deswegen hatte ich eine Menge drauf und ich konnte kontrollieren, wohin meine Bälle gingen und wie weit sie flogen. Ich sah Theresas verwegenes Lächeln, bevor ich nach dem Pfiff den Ball in die Luft warf. Die Ballberührung war nahezu flüchtig. Er kam kurz. Rose reagierte zu spät. Unser Schiri pfiff ab, zeigte ›In‹ und deutete auf unsere Spielfeldhälfte. Theresa warf mir den Ball grinsend zu. Rose stand ein Stück weiter vorne. Ich prellte den Ball einige Male, während ich auf den Anpfiff wartete. Als der kam, wiederholte ich die Prozedur von vorhin. Diesmal flog der Ball weiter, aber gerade so weit genug, dass er noch zu Rose Zuständigkeit gehörte. Er berührte direkt hinter ihr den Boden. Ich hatte Mühe, mir ein selbstgefälliges Grinsen zu verkneifen. Rose konnte nicht mit meinen Bällen umgehen. Ging sie zurück, spielte ich kürzer; kam sie nach vorn, spielte ich weit. Ich hielt den Ball flach, weniger als einen Meter über der Netzkante, und veränderte auch die Seiten. Rose konnte nicht antizipieren. Sie erkannte nicht, wohin mein Ball flog und hatte große Probleme damit, ihn anzunehmen. Den anderen fiel es schwer, die Angabe aufzunehmen, weil die Bälle zu dicht an Rose heran kamen. Wir mussten einen Positionswechsel machen, weil ich einen Punkt nach dem anderen machte und einfach kein Spiel zustande kam. Theresa klatschte mich ab, als sie von der Drei auf die Zwei ging. Rose versemmelte auch einige der nächsten Angaben. Ihre Mitspieler waren sichtlich genervt und gingen schließlich dazu über, ihre Position selber abzudecken. Inzwischen war es möglich. Trotzdem bekamen wir kaum etwas auf die Reihe. Das Spiel bestand eigentlich nur aus Aufschlägen. Ich langweilte mich zu Tode. Die Gewinnermannschaft vom vorigen Spiel trat jetzt gegen uns an. Wir hatten gute Sportleute im Kurs, daher versprach ich mir von diesem Satz mehr. Ich hatte wieder Angabe und Pete, Mittelspieler, hatte keine Probleme damit, den Ball präzise anzunehmen. Sein Team startete einen Angriff, ich deckte die Diagonale und nahm den Angriff an. »Eins!«, rief ich. Wir neigten dazu, den Ball zu schnell wieder rüber zu spielen, anstatt die drei Ballberührungen, die wir hatten, auszunutzen. Theresa war dran und pritschte den Ball weit hinüber zu Dion, der nun einmal seine Fähigkeiten beweisen konnte. »Zwei«, sagte Theresa, als sie direkt unter dem Ball stand und spielte. Er war hoch, direkt über dem Netz. Ich hielt den Atem an. Dann sah ich, wie Dion Anlauf nahm, im richtigen Moment, und sprang. »Drei!« Ich hatte selten einen so sauber ausgeführten Angriff gesehen. Dion traf den Ball mit einer erstaunlichen Genauigkeit an der richtigen Position. Niemand hatte damit gerechnet. Die Schärfe war unerwartet. Es blieb still nach dem gewonnen Spielzug, während alle verblüfft zu Dion sahen. Ich warf Theresa einen Blick zu, sie fing ihn auf und sah überrascht aus. Doch dann grinste sie und fing an zu klatschen. »Fünfzehn Punkte!«, schrie Coach Wilson von der Bank aus, bevor er hastig etwas in sein Heftchen kritzelte. Dion sah verlegen aus. Er strich sich durch die Haare, dann stützte er sich mit den Händen auf seinen Knien ab. Regel Nummer vier: Lass dich nicht von Eindrücken beeinflussen. Es machte tatsächlich Spaß. Dion konnte unglaublich gut spielen, seine Pässe waren perfekt. Ich hatte das Gefühl, dass er sich im übertragenen Sinne wie ein Fisch im Wasser fühlte. Volleyball war sein Element. Er zeigte viel Einsatz und das war etwas, was ich von unserem Sportkurs kaum gewöhnt war. Als er bei einem Spiel auf der Sechs stand und ich auf der Fünf, stolperten wir beide übereinander bei dem Versuch, einen Ball anzunehmen. Greg passte den Ball im letzten Moment zu Theresa, die ihn noch elegant retten konnte. »Alles klar bei dir?«, fragte ich Dion, als er wieder auf die Beine kam. Er schaute mich kurz grinsend an. »Ja, alles gut«, antwortete er, bevor er einen Ausfallschritt machte, um den Ball zu baggern. So ging es die ganzen zwei Stunden lang weiter. Theresa und ich waren sowieso ein eingespieltes Team. Das war nicht von Anfang an so gewesen. Mit Dion zu spielen, war, als hätte man nie etwas anderes gemacht. Er fügte sich schnell in unsere Spielweise ein und die Spiele dauerten lange. Es kamen schnelle, atemberaubende Ballwechsel zustande. So etwas hatten wir schon lange nicht mehr. Wilson musste gerade im Paradies schwelgen, denn er hielt unseren Sportkurs bis auf einige Ausnahmen für einen Luschenkurs. Ich schwitzte wie lange nicht mehr, als der Unterricht vorbei war. Theresa hatte ihr Shirt hoch gerollt und festgeklemmt, hielt nun ihre Haare, sodass ihr Nacken frei war. Sie strahlte. Ihr hatte es genauso viel Spaß gemacht. »Hey, Dion«, rief sie, als sie die Bälle einsammelte und in den Wagen warf. Er wandte sich ihr zu, froh darüber, dass jemand ihn von Rose ablenkte, die wieder mal dabei war, ihm ein Ohr abzukauen. Ich trottete zu ihr hinüber, sammelte auf dem Weg ein paar Bälle ein und beförderte sie in den Ballwagen. »Wir haben hier eine Volleyball AG. Jeden Donnerstagnachmittag. Leute wie du sind heiß begehrt bei uns«, sagte sie augenzwinkernd. Er grinste sie an. »Gut gespielt. Das hatten wir schon seit einer Weile nicht mehr.« »Danke, Tess«, sagte er, bevor er sich mit dem Saum seines Shirts das Gesicht abwischte. »Ich komme Donnerstag gern.« Ich hob eine Augenbraue und stellte mich neben Theresa, als er auf dem Weg zur Umkleide war. »Tess?«, fragte ich ungläubig. »Seit wann darf er dich Tess nennen?« Theresa grinste mich an, streckte mir die Zunge raus und schob den Ballwagen in den Geräteraum. »Seit ich es ihm heute Vormittag angeboten habe. Wir haben Chemie zusammen, er sitzt neben mir.« »Na und? Das ist alles? Deswegen darf er Tess zu dir sagen?« Sie drehte sich zu mir um und sah mich herausfordernd an. »Warum sollte er nicht? Ich finde ihn sympathisch. Bist du etwa eifersüchtig? Auf den Neuen?« »Pf«, machte ich abfällig. »Ich hab ja keine Vorurteile, aber er trägt Markenklamotten.« »Und? Ich hab Unterwäsche von Victoria’s Secret. Macht mich das gleich zum Außenseiter? Wohl kaum«, konterte sie, schüttelte den Kopf, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Bällen zu. Ich schob die Unterlippe vor. Sonst durfte niemand sie Tess nennen außer mir. Ich hatte immer diesen besonderen Status genossen und jetzt kam so ein Bengel daher gelaufen, kannte meine beste Freundin gerade mal ein paar Stunden und durfte sie gleich so nennen? Das war nicht fair. »Deine Unterwäsche sieht ja auch niemand«, brummte ich, als wir fertig waren. »Greg!«, rief sie, als wir uns auf den Weg zu den Umkleiden machten. Greg wandte den Kopf. Er und einige andere standen noch herum und diskutierten vermutlich die Sportstunde. Dion stand daneben, offensichtlich hatten sie ihn mit eingespannt. Als Theresa ihre Aufmerksamkeit hatte, hob sie ihr Shirt bis zum Kinn. Die Clique um Greg machte Augen wie Teller. Sie ließ ihr Oberteil wieder sinken, wandte sich zu mir und sah mich gelangweilt an. »Jetzt schon«, meinte sie dann zu mir und ließ mich stehen. Sichtlich unbeeindruckt von den geifernden Kerlen ging sie zur Mädchenumkleide und verschwand hinter der Tür. Ich brauchte einige Momente, ehe ich mich gefangen hatte. Irgendwie wunderte mich diese Aktion schon nicht mehr. Ich kannte Theresa lange und gut genug und wusste, dass es kaum etwas gab, das ihr peinlich war. Ihr Selbstbewusstsein und –vertrauen waren unerschütterlich. Grinsend schüttelte ich den Kopf, als ich mich schließlich wieder in Bewegung setzte. Dann peilte ich unsere Umkleide an. »Hey!«, hörte ich hinter mir. »Grace!« Ich wandte den Blick über die Schulter und sah, dass Dion auf mich zugetrabt kam. Als er neben mir angelangt war, hielt er Schritt. Seine verschwitzten Haare klebten ihm an der Stirn, seine Haut war gerötet. Wahrscheinlich sah ich genauso aus. »Was gibt’s?«, fragte ich. Ich zog mir beim Gehen das Shirt aus. Wie gut, dass ich nicht weit von der Sporthalle weg wohnte. Die Dusche war in greifbarer Nähe! Ich knüllte den Stoff zusammen und wischte mir damit über die Brust. »Macht sie so etwas öfter?«, fragte er mich und nickte in Richtung der Mädchenumkleide. Ich lachte. Das war neu für ihn, na klar. Ich fragte mich unmittelbar, ob er wohl schon jemals ein Mädchen live nackt gesehen hatte. Während die Frage durch meine Gedanken geisterte, stellte ich mir vor, wie Theresa hüllenlos vor ihm stand. Dieses Bild verbannte ich aus meinem Hirn. Ich wüsste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, wenn das wirklich real werden sollte. »Ja, so ist sie. So etwas speziell eigentlich eher weniger, aber Aktionen solcher Art sind nicht selten«, erwiderte ich amüsiert und zuckte die Schultern. Dion wirkte ein wenig nachdenklich, als er nickte. Sollte der sich etwa in Theresa verknallt haben? Das wäre der Horror. Nicht, dass ich etwas dagegen hatte, wenn sie einen Freund hatte, aber … er? Der Neue? Einer, der ein ›van‹ im Namen hatte? Ich schüttelte mich. »Du kannst übrigens gut spielen«, meinte er schließlich zu mir und ich warf ihm einen kurzen Blick zu. »Bist du am Donnerstag auch da?« »Bin ich. Danke. Du bist auch gut«, sagte ich. Ich biss mir auf die Zunge, als die Frage aufkam, wie lange er schon spielte. Regel Nummer fünf: Nur kein Interesse bezeugen. »Danke schön. Wie lange spielst du schon?« Wunderbar. Ich dachte darüber nach, wie ich ihn hätte abspeisen können. Er sah mich erwartungsvoll und neugierig an. Doch noch bevor ich antworten konnte, hörte ich Rose’ Stimme hinter mir, wie sie nach Dion rief. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mal erleichtert darüber sein würde, sie zu hören. Aber gerade jetzt rettete sie mir den Arsch damit. »Man sieht sich«, murmelte ich, als ich an ihm vorbeizog und in der Umkleide verschwand. Ich warf noch einen Blick über die Schulter, bevor die Tür ins Schloss fiel. Dion sah verzweifelt aus, doch ich zwang mich dazu, ihn seinem Schicksal zu überlassen. Der Neue ging mich nichts an. Egal, wer er war, wie gut er Volleyball spielte und wie sehr meine beste Freundin ihn mochte, geschweige denn, wie groß mein eigenes, eigentliches Interesse an ihm war. Regeln sind da, um gebrochen zu werden. ___ tbc. Kapitel 2: Rebellion -------------------- Ein herzliches Dankeschön an und für die Korrekturen. Das wird immer schlimmer mit mir @__@ _______ REBELLION Dass Dion ein außerordentlich guter Volleyballspieler war, sprach sich schnell herum; vor allem unter den Sportlehrern. Umso begeisterter war Coach Friedman, als sie erfuhr, dass der allseits angehimmelte Neustar der Schule zur Volleyball AG kommen würde. Sonst hatte ich nie sonderlich viel mit unseren Neuzugängen zu tun. Sie interessierten mich nicht und waren bis zu einem gewissen Grad einfach unsichtbar. Das heißt soviel wie: Ich wusste, dass sie da waren — ebenso wie ich es von vielen Jahrgangskameraden wusste — aber ich interagierte nicht mit ihnen. Bei Dion schien es ganz anders zu sein. Er war überall, wo ich war. Seine Kurse überschnitten sich zu drei Vierteln mit meinen und — das war vermutlich das Schlimmste überhaupt — ich sah mich gezwungen, meine beste Freundin mit ihm zu teilen. Das war ein absolutes No-Go, aber was blieb mir anderes übrig? Ich konnte Tess schließlich nicht verbieten, mit jemandem befreundet zu sein. Normalerweise war es mir auch egal, mit wem sie abhing, aber bei unserem neuen Sternchen ärgerte es mich. In Mathe war er ein unrettbarer Fall einer totalen Niete. Das war schon fast peinlich. Aber irgendwie sah er schon mitleiderregend aus, wenn er völlig verzweifelt und fertig mit den Nerven und gerauften Haaren dasaß, auf seiner Unterlippe herumbeißend abwechselnd seine Notizen und die Tafel anstarrend. Ich hatte genug Zeit, ihn im Unterricht zu beobachten, immerhin musste ich für Mathe nicht viel tun. Hin und wieder sah Dion verstohlen um sich, um zu überprüfen, ob es noch jemanden gab, der so wenig Durchblick hatte wie er — oder jemanden, der sogar noch weniger Durchblick hatte als er, was an sich eigentlich unmöglich war. Dachte ich zumindest. Mir war noch nie jemand begegnet, der so lausig in Mathe war. Sogar Tess war besser und das sollte schon was heißen. (Ich hatte endlose Stunden dafür verwendet, ihr ein bisschen beizubringen, damit sie eine einigermaßen gute Zensur in diesem Fach bekam.) Soweit ich wusste, war Dion naturwissenschaftlich schlichtweg angsteinjagend schlecht. In Chemie rettete Tess ihm vermutlich den Arsch. Nicht, dass es mich sonderlich interessierte, wie Dion in der Schule war. Er könnte in jedem Fach glatt Eins stehen, es wäre mir total schnuppe. Aber es war eben unmöglich, seine Ohren vor allem Tratsch und Klatsch zu verschließen und unsere Mädchen waren sehr redselig. Das war Dion auch. Er redete so viel und so oft er konnte. Manchmal befürchtete ich, er würde zwischen seinen Phrasen gar keine Luft holen. Ob er wohl auch so schrieb? Ohne Punkt und Komma. Wenn dem so wäre, dann würde Mrs Sellinger total ausrasten. Rechtschreibung und Grammatik waren für sie das A und O, ohne lief nichts. Jedenfalls beteiligte sich unser Neuzugang rege an irgendwelchen Konversationen und seien die noch so banal — Hauptsache er konnte reden. Schrecklich. Leute, deren Hobby Reden war, hasste ich abgrundtief. Ein Grund mehr, Dion van Dorve einfach nicht zu beachten — oder zumindest nicht mehr als nötig. Dieses Unterfangen ließ sich aber schwerer in die Praxis umsetzen, als ich erwartet hatte. Am Donnerstag der ersten Woche hatte Mr Warner offenbar auch schon bemerkt, wie hoffnungslos verloren Dion in Mathe war. Er schien ein wenig ratlos, ließ den Blick durch den Raum gleiten und blieb schließlich an mir hängen. Mir schwante Böses, als ich einen Funken Erleuchtung in Mr Warners Augen sah. Ich wollte protestieren, rebellieren, contra argumentieren und mich einfach verweigern, aber letzten Endes brachte es sowieso nichts und ich wollte auch nicht als Idiot mit Mädchengezicke abgetan werden. Dions Platz im Matheunterricht sollte fortwährend links neben mir sein. Herrlich. Rechts die Wand und links das Sternchen. Ich war im Paradies. Er sah zugegebenermaßen ein wenig verlegen und peinlich berührt aus, als er sich neben mich setzte. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. Scheu lächelte er mich an. Er sah aus wie ein Rehkitz, das sich alleingelassen von seiner Mutter durchschlagen musste. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich fast gesagt, er würde meinen Beschützerinstinkt wecken, aber da der tatsächlich immer nur bei Theresa aktiv gewesen war, wusste ich es besser. Auch ein Rehkitz musste lernen, allein klarzukommen. Muttersöhnchen waren out. Matheloser übrigens auch. Aber wenn es danach ginge, wären wohl drei Viertel der Schule totale Verlierer. »Du … äh … kannst das also?«, fragte er dann leise, während Mr Warner vorn irgendetwas über Ableitungsfunktionen faselte. Ich sah Dion an und fragte mich, ob er das ernst meinte. Welchen Grund hätte Warner wohl sonst gehabt, mich mit Dion als Banknachbarn zu strafen? Damit wir zusammen Rätselraten spielten und Sudokus lösten? Fast hätte ich das laut ausgesprochen, aber dann fiel mir ein, dass mir ein Rehkitz gegenüber saß. Der würde wohl keinen Sarkasmus verstehen. Zu dumm. »Ja«, antwortete ich schließlich knapp. Ich zog die Augenbrauen hoch und verdrehte fast die Augen. Doch noch bevor sich auch nur ein weiterer, bösartiger Gedanke in mein Hirn schleichen konnte, breitete sich ein Lächeln auf Dions Gesicht aus, das mir buchstäblich den Atem raubte. Ich vergaß, was denken war. Für dieses Lächeln hätten Werbekampagnen vermutlich Millionen gezahlt; mit diesem Lächeln brachte man Frauen zum Schmelzen — und wahlweise auch Männer; für dieses Lächeln würden Models, Schauspieler und viele andere über Leichen gehen. Ich konnte mir nicht helfen. Ich starrte ihn an und konnte mich bei bestem Willen nicht von diesem Lächeln lösen. Dann blinzelte ich verwirrt. In diesem Moment fiel mir auf, dass mein Mund offen stand. Schnell klappte ich ihn zu und wandte den Blick nach vorn, um mich nicht noch affiger zu benehmen, als ich es eben getan hatte. Von diesem Augenblick an hatte ich schlechte Laune. Regel Nummer sechs: Verhalte dich unauffällig. Es ärgerte mich, dass ich Dion an der Backe hatte. Es ärgerte mich, dass wir fast jedes Fach zusammen hatten. Es ärgerte mich, dass er gut im Volleyball war. Es ärgerte mich, dass der Hype um ihn anstatt weniger immer mehr zu werden schien. Es ärgerte mich, dass er so unerträglich freundlich war. Es ärgerte mich, dass er mich an ein gottverdammtes Rehkitz erinnerte, das so dringend schutzbedürftig war. (Rehkitze waren meine Lieblingstiere.) Es ärgerte mich, dass ich mir mit ihm meine beste Freundin, meine bessere Hälfte und den Menschen, der mich von allen am ehesten verstand, teilen musste. Aber vor allem ärgerte mich sein unmöglich schönes, bezauberndes, hinreißendes Lächeln. Zur Hölle mit ihm! Ich rauchte still vor mich hin und blieb gereizt. Warum konnte sein Glanz und Glamour eines Neuen nicht auch in der Versenkung verschwinden, wie es sonst auch immer der Fall war? Warum suchte er nicht einen Freundeskreis, der ihm gebührte? Eine Horde schmachtender Mädchen, eine Clique obercooler Checker und das Team der Footballspieler. Aber nein, dieser Trottel zog es vor, mit Normalsterblichen herumzuhängen. Ich war froh, dass ihm genügend Mädchen nachrannten, um ihn von mir abzulenken, denn er machte ständig den Versuch, sich bei mir einzuklinken. Zum Glück war Donnerstag und ich konnte meinen Frust beim Volleyball auslassen. Tess war bereits da, als ich umgezogen die Sporthalle betrat. Sie spielte mir den Ball zu, ich lief und passte zurück. Es war Gang und Gebe, dass wir zusammen spielten. Ich hoffte, dass sie es sich nicht überlegen würde, jetzt, wo doch unser neuer Star auch kommen würde. »Was ist los, Grace?«, fragte sie mich, als sie den Ball wieder zu mir spielte. Ich grummelte ungehalten und erzählte ihr von meinem grenzenlosen Unglück. Sie lachte nur. »Das war doch klar, dass das kommen würde. Du bist eben der Beste in Mathe, was sollte Warner denn sonst machen? Er wird Dion wohl kaum versauern lassen«, meinte sie vergnügt. Diesmal spielte sie den Ball weiter und höher. Ich hatte gar keine Chance ihn anzunehmen, aber als ich mich nach dem Ding umdrehte, wurde mir klar, dass dieser Pass auch gar nicht für mich bestimmt gewesen war. Dion kam gerade aus der Umkleide in unsere Richtung. Als er den Ball zu Tess zurück spielte, hörte ich nicht das kleinste Geräusch, als seine Finger den glatten Stoff des Spielzeugs berührten. Er lächelte wieder. Ich hätte ihm den Hals umdrehen können. Tess spielte zu mir und ich drehte mich unter dem Ball, sodass ich Dion direkt ansehen konnte. Ich drosch mit dem Handgelenk gegen den fliegenden Gegenstand. Auf dass der Ball diesem Stinker um die Ohren fliegen möge! Dion war tatsächlich überrascht und als er zu spät reagierte, wandte ich mich grinsend ab. Das schenkte mir zumindest ein kleines bisschen Genugtuung, auch wenn es bei weitem noch nicht genug war, um mich zufrieden zu stellen. »Ich geh mich warm machen«, sagte ich zu Theresa. Sie sah mich verwirrt an. Erst jetzt begriff sie, dass ich nicht nur nörgelte, sondern in der Tat sauer war. Ohne den Ball zurückzuspielen, den Dion ihr passte, fing sie ihn auf und schaute mir nach, als ich mir einen Ball holen ging. Sollte sie doch mit ihm spielen. Ich hatte für diesen Tag genug von Dion van Dorve — ich hatte genug von ihm für den Rest meines bescheidenen Lebens. Ich drosch den Ball gegen die Wand, ein ums andere Mal. Es tat gut, seinem Ärger Dampf zu machen. Volleyball war schon immer eine Art Ventil gewesen. Aber so wurde ich nicht warm. Ich brauchte Tess. Sie forderte mich beim Spielen, sie holte alles aus mir raus. Mit ihr zusammen konnte ich alles. Doch was jetzt? Jetzt spielte sie mit diesem stümperhaften, dümmlich lächelnden Penner. Was glaubte dieser Kerl eigentlich, wer er war? Tess war meine Freundin und ich teilte sie nicht gerne mit jemandem wie ihm. Ich ging von der Folter des Balls über zum Beobachten der beiden, wie sie spielten. Das war lachhaft. Theresa spielte wie ein kleines Mädchen, dem gerade Volleyball beigebracht wurde. Sie spielte sicher und überhaupt nicht dynamisch, als wollte sie Dion nicht herausfordern. Und er spielte genauso. Tse. Das sollte ›Sich-warm-machen‹ sein? Das glich vielmehr dem Kraftaufwand eine bescheuerte Hühnerbrühe zu kochen. Grummelnd ging ich den Ball prellend auf die beiden zu. Dion pritschte gerade wieder zu Theresa, als ich meinen Ball gegen seinen warf. Mitten in der Luft prallten die beiden aufeinander und fielen zu Boden. Verwundert sahen die beiden mich an und ich zuckte die Schultern. Ich hob meinen Ball auf. »Eins gegen eins?«, fragte ich Tess. Sie lächelte und ich lächelte zurück. »Na klar«, antwortete sie mir. Mir ging das Herz auf. Ich hatte ihre Aufmerksamkeit und sie schlug es mir nicht aus. Sie fragte auch nicht, ob wir uns nicht mit Dion abwechseln wollten. Ich grinste verkniffen, als ich sah, dass er sich ein wenig verloren vorzukommen schien. Die Volleyballnetze waren bereits aufgebaut und während die anderen um uns herum sich einspielten, nahmen wir eines der Felder ein. Es war eine Art Tradition, dass Tess und ich vor dem eigentlichen Beginn der AG ein Eins-gegen-Eins-Match machten. Das dauerte solange, bis der Ball einmal den Boden berührte oder so unrettbar gespielt war, dass es eine Unmöglichkeit war, ihn noch vernünftig anzunehmen. Demnach variierten die Längen der Spiele. Manchmal dauerten sie nur wenige Sekunden oder Minuten, manchmal dauerten sie länger. Ich konnte wohl ohne zu übertreiben sagen, dass sich die komplette Volleyball-Elite unserer Schule jeden Donnerstag versammelt. In diesem Zusammenhang musste ich unumstößlich zugeben, dass wir mit Dion ein Ass mehr hatten, denn er spielte wirklich ausgezeichnet. Besser, als man es einem Rehkitz zutrauen würde. Als ich mich dabei ertappte, wie ich mir bereits einen Spitznamen für ihn überlegt hatte, hätte ich mich ohrfeigen können. Dion und Tess waren in derselben Mannschaft, ich in der gegnerischen. Es erstaunte und verärgerte mich, dass die beiden offensichtlich eine sehr gute Freundschaftsbasis gegründet hatten, in den wenigen Tagen, in denen sie sich kannten. Sie spielten gut zusammen, sie lachten viel, sie redeten viel. Dion war vermutlich im Paradies. Tess redete nämlich auch gern. Doch das schlimmste war, dass dieses Idiotenvolk um mich herum mich während der Spiele andauernd mit diesem Rehkitz verglich. Es wurde sogar befunden, dass Dion einiges besser konnte als ich. Im Grunde genommen war ich kein neidischer Mensch. Ich konnte damit umgehen, wenn jemand besser war als ich oder Dinge besaß, die ich nicht hatte. Aber das schlug dem Fass wirklich den Boden aus! Dieser Bambi war nie im Leben und selbst auf Anabolika nicht besser als ich! Ich stand in der Mitte, als Tess mit der Angabe dran war. »Tess, tu uns doch einen Gefallen und mach eine Sprungangabe!«, rief ich. Sie schaute zu mir hinüber und lachte kurz, dann prellte sie den Ball kurz. »Nein«, sagte sie, als sie den Ball in unser Feld spielte. Ich ließ ihn absichtlich aufkommen. Einige andere wurden auch laut. Da Tess auf Dauer einfach nicht standhaft bleiben konnte, ließ sie sich schlussendlich dazu überreden, eine Sprungangabe zu machen. Sollte unser Rehkitz sehen, wo er blieb. Tess konnte diese Angabe und ich auch. »Na komm schon, Tess, mit Schmackes!«, sagte ich und stützte mich auf meine Knie. Sie ging soweit nach hinten, wie es möglich war, dann warf sie denn Ball hoch und etwas weiter, lief an, sprang und traf den Ball, noch während sie in der Luft war. Als sie landete, stand sie im Feld. Das Spiel ging weiter und ich sah, dass Dion überrascht aussah, nachdem der Ball drüben war. Ich wusste, dass Tess mich auch dazu auffordern würde, eine Sprungangabe zu machen, wenn ich dran war. Aber ich ließ mich nicht zwei Mal bitten. Regel Nummer sieben: Lass dich zu nichts verleiten. Und Dion sah beeindruckt aus, als der Ball ganz knapp an seinem linken Ohr vorbei flog. Ich würde mir von ihm nicht einfach irgendetwas wegnehmen lassen. Er war gut, okay, aber er war nicht besser. Was hatte er denn schon zu bieten? Er beeindruckte nur mit seinem Volleyballfähigkeiten. Tess mochte ihn, aber das sagte nicht viel aus. Sie mochte fast jeden und kam so gut wie mit allen zurecht. Aber ihre Freunde waren nicht auch meine Freunde. Dion mochte den Rest der Welt um den Finger wickeln, mich nicht. Warum ging er mit seinem beknackten Lächeln nicht nach Hollywood? Da konnten sie bestimmt einen wie ihn gebrauchen. Dion sah zu mir herüber und lächelte. Er lächelte begeistert. Er lächelte schon wieder. Ich hätte zu gern den Teufel heraufbeschworen, der ihm dieses verteufelte Lächeln abkaufte. Auf dass ich es nie wieder sehen möge! Als er Angabe hatte, machte er natürlich auch eine Sprungangabe. Und ich bekam sie voll in die Fresse. Halleluja! ___ tbc. Kapitel 3: Douchebag -------------------- DOUCHEBAG »Es tut mir so leid. Das war wirklich keine Absicht. Ich dachte, du würdest ihn annehmen und dann …« »Halt endlich die Klappe. Ich hab dich schon verstanden.« Ich wusste nicht, ob ich heulen oder lachen sollte. Es wäre irgendwas dazwischen gewesen. Eigentlich konnte ich von mir aus zu Recht behaupten, dass ich eine relativ hohe Schmerzgrenze hatte. Aber einen harten und stark beschleunigten Ball direkt auf die Nase gedroschen zu bekommen, ist eben etwas anderes, als wenn man mit einer Monsternadel geimpft wird. Ich hockte im Lehrerzimmer der Sporthalle auf der Liege und presste mir einen Kühlbeutel auf die Nase. Der Schmerz war weitgehend abgeklungen, aber ich spürte immer noch ein überaus unangenehmes Kribbeln, das einfach nicht nachlassen wollte. Zumindest war meine Nase nicht so empfindlich, dass ich Nasenbluten bekam. Das war ein sehr schwacher Trost, aber ich klammerte mich daran fest. Nasenbluten wäre wohl die Krönung dieser Peinlichkeit gewesen. »Kann ich was für dich tun?«, fragte Dion mich besorgt und ich starrte in seine braunen Bambiaugen. Ich presste die Kiefer zerknirscht aufeinander, um den Kommentar, der mir durch den Kopf ging, nicht laut auszusprechen: Geh mit Klopfer spielen. Aber das hätte er mit Sicherheit nicht verstanden, sondern hätte mich nur so dämlich verwirrt angesehen. »Nein. Geh einfach wieder aufs Feld«, sagte ich schließlich nur und lehnte mich an die Wand hinter mir. Ich schloss die Augen und genoss die Kälte in meinem Gesicht. Dion warf mir wieder einen zutiefst mitleidigen, entschuldigenden und besorgten Blick zu, ehe er zögernd den Raum verließ. Ich atmete geräuschvoll aus, als er weg war. Das würde er zurückkriegen. Früher oder später. Er würde sein Fett wegbekommen. Das schwor ich mir bei meiner Würde, bei meinem Stolz. Ich konnte es schließlich nicht einfach auf mir sitzen lassen, dass ich von einem Rehkitz einfach so vom Feld gepustet wurde. ✖ Meine Nase war geschwollen und leicht blau angelaufen an der Stelle, wo der Ball mich getroffen hatte. Ich hatte also eine Beule im Gesicht. Und die machte sich da außerordentlich gut. Natürlich hatte es sich auch wieder schnell herumgesprochen, was geschehen war. Der gesamte Jahrgang sprach über den Vorfall in der Volleyball AG. Jeder wollte meine Nase sehen und jedem einzelnen hätte ich fröhlich lachend eine dafür reinschlagen können. Vor allem aber hätte ich Dion gerne die Augen ausgestochen, damit er mich nicht mehr sehen konnte. Denn immer, wenn er mich sah, lächelte er dieses Es-tut-mir-so-wahnsinnig-leid-kann-ich-dir-irgendwie-helfen-Lächeln. Er sollte damit aufhören! Als würde ich wie ein kleines Mädchen herumheulen, weil ich mal einen Ball ins Gesicht bekommen hatte. Das war bei Weitem nicht das erste Mal gewesen und ich hatte schon Dinge erlebt, die wesentlich schlimmer gewesen waren. Dieser Armleuchter. Meine Rache erbot sich erfreulicherweise im Matheunterricht. Meine Nase war mittlerweile wieder abgeheilt und ich war froh darüber, denn jetzt hatten sich auch die Klatschmäuler endlich wieder beruhigt und gingen mir nicht mehr auf die Nerven: Es gab schließlich nichts mehr zu sehen. So saß ich an einem Mittwochmorgen in Mathe, kritzelte irgendeinen Nonsens an den Rand meines Blocks und hörte nur mit halbem Ohr zu. Ich hatte die Aufgaben bereits erledigt und beobachtete Dion aus den Augenwinkeln, wie er über dem Extremalproblem völlig die Nerven verlor. Es amüsierte mich jedes Mal aufs Neue, wenn er sich in schierer Verzweiflung die Haare raufte und die Stirn ungläubig in Falten legte; oder wenn er so deprimiert die Lippe vorschob oder auf ihr herumkaute. Ich hatte nicht gedacht, dass ich mich jemals so an dem Leid eines anderen Menschen ergötzen könnte, aber hier war genau dies der Fall. Es machte mich glücklich zu sehen, wie Dion scheiterte. Ich war ein schlechter Mensch, durch und durch verdorben und böse. Das wurde mir klar. Aber was soll’s?, sagte ich mir vergnügt. Man muss manchmal einfach ein Arschloch sein, um durchs Leben zu kommen. Mr Warner rief zur Aufmerksamkeit auf und wollte die Lösungen der Aufgaben an der Tafel präsentiert sehen. Ich lehnte mich gegen die Wand in meinem Rücken und reckte das Kinn ein Stück vor. Ich konnte sehen, dass Mr Warners Blick, der automatisch zu mir gewandert war, zu Dion schlich. Ich nickte kurz. »Dion, komm bitte an die Tafel und stelle dem Kurs deine Ergebnisse vor«, sagte Mr Warner schließlich und ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. Es gab ein paar kleine Dinge, die ich in der kurzen Zeit bereits über Dion gelernt hatte. Unter anderem, dass er einer Autoritätsperson gegenüber nicht ›Nein‹ sagte. Wenn er nach vorn gerufen wurde, dann ging er auch. So wie jetzt. Und er würde kläglich untergehen. Als ich nach der Stunde mit Tess draußen auf dem Hof stand, konnte ich mich bei der Erinnerung an die Mathestunde kaum noch einkriegen vor Lachen. Sie schaute mich verwirrt an, unwissend, was schon wieder mit mir los war. Deswegen erklärte ich es ihr knapp und Tess schaute mich säuerlich an. »Das war gemein von dir«, sagte sie ungnädig zu mir. »Warum nutzt du Dions Schwäche so aus? Was hat er dir getan, dass du dich ihm gegenüber unter aller Sau benimmst? Ich versteh dich einfach nicht. Du führst dich auf wie ein neidisches Waschweib.« Pf. Sie entsprach eher einem Waschweib als ich. »Ja, beleidige mich ruhig in deinen Gedanken, Grace«, fügte sie spitz mit einem Blick in mein Gesicht hinzu. Ich verzog kurz den Mund. Sie kannte mich einfach zu gut. Dann streckte ich ihr die Zunge raus und sie verdrehte die Augen. Wir sahen uns einige lange Augenblicke schweigend an. Ich wusste, dass Tess nicht lange sauer auf mich sein konnte, aber sie war eine gute Seele und der vermutlich gerechteste Mensch, den ich kannte. Deswegen reagierte sie so empfindlich darauf, dass ich nicht ihrer Norm entsprechend mit Dion umging. Schließlich schüttelte sie seufzend den Kopf und wuschelte durch meine Haare. »Treffen wir uns heute Nachmittag im Factory?«, fragte Theresa mich dann. Ich grinste vergnügt nickend und sie lächelte zurück. Das Café war ein bekannter und beliebter Treff für Jugendliche. Es war unser Stammlokal. Theresa und ich hatten viele Nachmittage dort miteinander verbracht. »Ich bring Tommy mit. Meine Eltern sind mit Andrew heute unterwegs«, erklärte sie mir, als wir uns auf den Weg ins Schulgebäude machten, nachdem es zum Pausenende geklingelt hatte. Ich grinste bei dem Gedanken an Tommy, Theresas jüngstem Bruder. Er war ein Wildfang, aber für einen Elfjährigen schwer in Ordnung. Daher machte es mir nichts aus, wenn Tess ihn zu unseren Unternehmungen mitnahm. Tommy war mein bester elfjähriger Kumpel, aber abgesehen davon war er auch der einzige. Im Gegensatz zu Andrew, der vier Jahre älter war, war Tommy sehr pflegeleicht. Dass Andrew ein vorlauter Teenager war, lag vermutlich schlicht und ergreifend daran, dass er gerade in den Tiefen der Pubertät steckte. Es regnete draußen, als ich im Café ankam. Ich schüttelte mir den Regen aus den Haaren und wischte mir mit dem Ärmel meiner Jacke über die Stirn. Glücklicherweise war ich nicht in den Guss geraten, der gerade einsetzte. Gutes Timing, dachte ich, als ich mich im Café nach Tess und Tommy umsah. Ich fand sie schnell an einem Ecktisch. »Du hast dir aber Zeit gelassen«, meinte Tess zu mir, als ich mich neben sie setzte und mir durch die Haare strich. Ich grinste sie kurz an. Sie lächelte zurück. »Hey, Tommy«, sagte ich, bevor ich ihm meine Faust entgegenstreckte und er sie mit seiner eigenen antippte. Wir grinsten einander breit an. Kleine Grübchen zeigten sich auf seinem kindlichen Gesicht. So einen coolen kleinen Bruder hätte ich auch gern gehabt, aber Theresa war nicht bereit, ihn mir zu übergeben. Adoption stand leider auch nicht zur Auswahl. Aber dann wäre ich ja sein »Vater« und das wäre blöd. »Du hast dir die Haare wachsen lassen«, stellte ich fest und Tommy strich sich stolz über seinen strohblonden Schopf. Es war schon eine Weile her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber abgesehen von den Haaren hatte sich an ihm nicht viel verändert. »Ja«, meinte er schelmisch. »Ich wollte sie eigentlich so haben wie du, aber jetzt will ich so eine Frisur wie Dion.« Meine Welt schien zu entgleisen und in einen imaginären Abgrund zu stürzen, als ich hörte, was er sagte. Unwillkürlich wandte ich den Blick Tess zu, die mich entschuldigend und zugleich verlegen ansah, als würde sie mich um Entschuldigung bitten. Just in diesem Moment, als ich sie gerade zur Rede stellen wollte, erschien Dion offensichtlich bester Laune an unserem Tisch und ließ sich wie selbstverständlich auf den Platz neben Tommy sinken und sie stießen — ebenso wie Tommy und ich es sonst taten — ihre Fäuste aneinander. Das war immer unsere Geste gewesen. Ich konnte nicht fassen, was um mich herum geschah. Fassungslos sah ich zwischen den dreien hin und her. Abgesehen von Tess schien niemand zu bemerken, dass ich mich am liebsten vor einen Bus geworfen hätte, um dieses Affentheater nicht mehr zu ertragen. Wie machte er das? Das ging zu, wie verhext. Egal, wo Dion auftauchte, schien jeder ihn sofort zu lieben. Ich begriff einfach nicht, was er so Tolles hatte. Ich wollte es auch nicht begreifen. Regel Nummer acht: Sei besser als alle anderen. Ich war keine Diva, denn sonst wäre ich einfach aufgestanden und gegangen. Aber ich kniff nicht einfach den Schwanz ein, wenn jemand ankam und sich in meinem Freundeskreis breit machte. Trotzdem verlief der Nachmittag nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte. Es hatte sonst nie jemanden außer Tommy gegeben, den Theresa zu unseren Treffen ins Factory genommen hatte. Das sollte schon was heißen. »Ach, Dion. Mach dir nichts draus. Es ist egal. Warner ist sowieso ein Arsch«, sagte Theresa gerade zu ihm und tätschelte ihm die Schulter. Sie tätschelte ihm verdammt noch mal die Schulter! In was für einer Horrorversion meines Lebens war ich bitte gelandet? »Warner ist kein Arschloch. Er begünstigt nur niemanden. Wenn er Dion nicht nach vorne rufen würde, dann dürfte er auch sonst keine Niete nach vorn holen«, erwiderte ich schnippisch mit einem Seitenblick auf jedermanns Liebling. Tess sah mich an, als würde sie mich auf der Stelle erwürgen wollen. Das würde sie sowieso nicht schaffen. Ich war stärker als sie. »Grace hat Recht«, sagte Dion, während Tess und ich uns unser mörderisches Blickduell lieferten. Wir sahen gleichzeitig zu ihm, beide überrascht, dass er mir zustimmte. »Warner darf niemanden begünstigen. Ich muss mich mehr anstrengen und gewissenhafter sein, das ist alles«, murmelte er dann und lächelte. Warum gab dieser Idiot mir Recht? Warum widersprach er nicht? Dann hätte ich mir eine schöne Diskussion mit ihm darüber liefern können und hätte ihm wieder vor Augen geführt, was für eine Mathelusche er doch war. Tess sah fassungsloser aus als ich. Offenbar war sie überzeugt davon gewesen, dass Dion ihr zustimmte. Mir ging es nicht anders. Für die nächsten paar Minuten saßen wir schweigend da. Ich rührte gedankenverloren in dem Kaffee, den ich mir bestellt hatte. »Was hörst du eigentlich für Musik, Grace?« Ich hätte mich wohl verschluckt, wenn ich gerade was im Mund gehabt hätte. Kurz sah ich Dion mit gehobener Augenbraue an, um mich davon zu überzeugen, dass dieser Trottel die Frage ernst gemeint hatte. Was war denn das? Ein Anmach-Versuch? Der war billig. Ich schnaubte. »Alles das, was du nicht hörst«, erwiderte ich schließlich, erntete einen weiteren sauren Blick von Theresa und nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Dion sah ein wenig ratlos aus, doch dann grinste er verschmitzt. »Dann hörst du wohl gar keine Musik«, meinte er vergnügt. »Mein Musikgeschmack ist breit gefächert und ich höre aus so gut wie jeder Richtung etwas.« Oh haha, dachte ich. Was für ein Sprücheklopfer. Wahnsinn. Was interessierte es mich denn, was er für Musik hörte und aus welcher Richtung? Ich fixierte ihn, verdrehte kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Konnte er nicht einfach seine dämliche Klappe halten und mich in Ruhe lassen? Das wäre zu schön gewesen. Ich schenkte ihm ein humorloses Lächeln, bevor ich verächtlich schnaubte. Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Ich hatte mich so auf diesen Nachmittag mit Tess gefreut und jetzt saß ich hier mit Dion, meiner besten Freundin und Tommy. Es fehlte eigentlich nur noch, dass Tess das Antworten für mich übernahm. Und so, wie ich sie kannte, würde sie das über kurz oder lang tatsächlich machen. Sie hasste es, wenn ich so war. »Tess hat erzählt, dass du Gitarre spielst«, sagte Dion schließlich und lächelte. Ich starrte Theresa anklagend an, doch sie hob nur trotzig das Kinn. Sie redete mit diesem Affen hinter meinem Rücken über mich? Er musste nicht mehr über mich wissen, als unbedingt nötig war. Meine Privatsphäre ging ihn einen Scheißdreck an, warum hielt Tess sich nicht daran? Sie wusste, dass ich es nicht mochte, wenn irgendwelchen privaten Informationen über mich weitergetragen wurden. Zähneknirschend wandte ich mich wieder an Bambi. »Und?«, fragte ich gereizt. Er lächelte mich herzerwärmend an. Blödes Rehkitz! »Ich hab mal Gitarrenunterricht genommen, aber wieder damit aufgehört. Ich bin total unmusikalisch, aber ich würde gerne irgendein Instrument spielen können. Mich beeindruckt es immer, wenn jemand sagt, dass er ein Instrument spielt. Wie lange machst du das schon?« »Das geht dich nichts an«, antwortete ich trocken. Es ging noch lange so weiter. Dion schien mich ausquetschen zu wollen. Aber ich hatte nicht vor, ihn in irgendeiner Weise in Kenntnis zu setzen. Er ließ sich aber nicht davon unterkriegen, sondern fragte unermüdlich weiter. Irgendwann begann ich mich zu fragen, ob ihm nicht allmählich die Fragen ausgingen, aber er war wie eine nicht versiegen wollende Quelle. Irgendwann stand ich auf, warf mir die Jacke über den Arm und ging, nachdem ich mich verabschiedet hatte. Draußen schien wieder die Sonne, die Straßen waren noch nass und überall waren Pfützen. Tess folgte mir nach draußen. »Was ist los mit dir, Grace?«, fragte sie mich und verschränkte die Arme vor der Brust. Wir sahen einander an. Was war das für eine Frage? Als hätte ich nicht schon oft genug zum Ausdruck gebracht, dass ich Dion nicht mochte. »Gar nichts ist los. Oh, warte. Du hast mir gar nicht erzählt, dass dich offenbar mit Dion triffst und ihm irgendwelche Dinge über mich erzählst. Danke, Tess. Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen!«, sagte ich sarkastisch. Ich zog die Augenbrauen hoch und wandte mich um. Doch sie griff nach meiner Hand, hielt mich zurück; ich spürte die Kraft dahinter. »Hau nicht einfach ab, wir sind noch nicht fertig«, sagte sie barsch zu mir. Ich drehte mich wieder zu ihr um. »Du benimmst dich wie das letzte Arschloch. Dion hat dir gar nichts getan, du hast nicht das Recht ihn wie einen Aussätzigen zu behandeln. Er versucht dich kennenzulernen und du führst dich auf wie ein Asozialer. Was zum Teufel soll das?« »Ich will nichts mit ihm zu tun haben, Tess. Das weißt du auch! Aber warum verheimlichst du vor mir, dass du dich mit ihm triffst? Erzählt man seinem besten Freund davon nicht? Glaubst du, ich würde den Kontakt zu dir abbrechen, wenn du mir sagen würdest, dass du dich in ihn verknallt hast? Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, dass ich das tun würde, aber glücklich wäre ich auch nicht. Ich bin dein bester Freund. Da vertraut man sich. Und du lügst mich an.« »Erstens: Ich bin nicht in Dion verknallt. Im Gegensatz zu dir lerne ich die Leute kennen, bevor ich sie beurteile. Zweitens: Was glaubst du wohl, warum ich dir nichts erzählt habe? Weil ich genau weiß, wie du reagiert hättest. Du erträgst es nicht, dass Dion bei allen beliebt ist, genauso gut Volleyball spielen kann wie du und mit mir gut auskommt. Werd’ endlich erwachsen, Grace, und überdenke deine Prioritäten. Die Welt dreht sich nicht um dein dämliches, exzentrisches Ego. Es ist ganz gut, dass Dion da ist. Endlich mal jemand, der dich auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Krieg dich wieder ein und lerne, dass du nicht der einzige Mensch auf der Welt bist. Wenn du Dion eine Chance geben würdest, würdest du wissen, dass er ein unglaublich netter und fröhlicher Mensch ist; einer, der mehr von sozialer Kommunikation zu verstehen scheint als du.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging zurück ins Café. Ich blieb noch eine Weile stehen, dann ging ich ebenfalls — nach Hause. Ich kochte still vor mich hin, verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte hin und wieder leise. Die Welt drehte sich aber auch nicht um Bambi. Denn die ganze Schule, eingeschlossen Tess, tat so, als wäre er der Mittelpunkt des Universums. Meine beste Freundin lief also über. Schön, sollte sie doch seine beste Freundin werden. Ich ärgerte mich schwarz darüber, dass sie ihn vor mir in Schutz nahm. Als ich zu Hause war, knallte ich die Tür hinter mir zu. Es war still in der Wohnung, die Luft war klar, sauber. Die kleine Topfpflanze direkt neben der Tür war sattgrün. Ich sah mich um. Alles war ordentlich und aufgeräumt. Kurz atmete ich tief durch, stellte meine Tasche auf der Couch ab und ging an den Computer. Ich drückte auf ›Power‹, dann öffnete ich die Fenster an. Regel Nummer neun: Vertraue niemandem leichtsinnig. Draußen hatte es wieder begonnen zu regnen. ___ tbc. Kapitel 4: Kingdom ------------------ Für Mi, die ihre Zulassung aus Göttingen bekommen hat und auf die nächste wartet. Und für Lisa, die sich mit Dion identifizieren kann und die ich mit einem meiner Kommentare ein bisschen aufheitern konnte. Außerdem: Ich widme dieses Kapitel all meinen Schwarzlesern. Für eure großartige Unterstützung. Danke. ____________________ KINGDOM »Hör gefälligst auf, abzugucken!«, fauchte ich Dion an einem Dienstagmorgen an, als er mal wieder zu mir hinüberspähte, um die Lösungen der Matheaufgaben zu erhaschen. Seine Leistungen hatten sich nicht verbessert und der von Mr Warner erhoffte Erfolg blieb bei Bambi aus. Ich musste wohl nicht erwähnen, dass das nicht unwesentlich auch an mir lag, denn ich weigerte mich strikt, mein Wissen, mein Können, mein Genie mit einem naiven Rehkitz zu teilen. Das hatte er gar nicht verdient. Ich sah, wie er sofort scheute, als ich ihn anmachte. »Tut mir leid«, sagte er dann. »Und hör auf, dich zu entschuldigen.« »Ja, tut mir l—« Schweigen. »Wa—?« »F von x ist gleich Dreiviertel x.« »Danke. U—?« »Ein verdammter Hochpunkt. Dreizehn und acht.« »Danke.« »Hör auf, dich verdammt noch mal andauernd zu bedanken!« »Okay, entschul—« Es war irgendwie auf verquerte Art und Weise amüsant, dass er sich immer wieder selbst unterbrach. Aber ich war nicht in der Stimmung, um mich über irgendwas zu amüsieren, noch nicht einmal über Dions mitleiderregendes, mathematisches Diarrhöe. Er trug seinen stolzen Teil dazu bei, dass ich nun seit geschlagenen zwei Wochen mit schlechter Laune durchs Leben lief. Tess sprach ich — wenn es hochkam — nur in der Volleyball AG und sonst wechselten wir kein einziges Wort seit dem Vorfall im Factory. Es machte mich jedes Mal aufs Neue fuchsig, wenn ich sah, wie eng freundschaftlich Tess Dion behandelte und umgekehrt. Wie zwei verloren gegangene und sich wiedergefundene Zwillinge. Ich hätte kotzen können. Und seitdem ich nicht mehr in jeder freien Minute bei Tess war, schienen die anderen Mädchen ihre Chance gewittert zu haben und standen reihenweise bei mir an, um mich scheinheilig nach einem Rat, nach Nachhilfe oder auch ganz direkt nach einem Date zu fragen. Tess war sozusagen immer mein Schutzschild gewesen, doch nun, wo die ganzen Kinderchen bemerkt hatten, dass zwischen ihr und mir die Luft dick war, erwachten ihre kümmerlichen Hoffnungen offensichtlich zu neuem Leben. Sie wurden nicht müde, zu fragen. Sie erfanden die heuchlerischsten Dinge, um mich irgendwie dazu zu bewegen, sie zu treffen. Ich spielte schon mit dem Gedanken, mich von einer Klippe zu stürzen. Das Fenster eines Hochhauses tat es aber auch — zur Not. Der Donnerstagmorgen begann damit, dass eine schlichte, weiße Postkarte auf meine Füße segelte, nachdem ich meinen Spind geöffnet hatte. Ich seufzte entnervt, hob die Karte auf und warf sie in den nächsten Mülleimer. Allmählich begann ich mich ernsthaft zu fragen, was diese Mädchen sich von ihren albernen Liebesbriefen erhofften. Hatte ich denn nicht schon genug von ihnen eine Abfuhr erteilt, damit sie endlich merkten, dass ich nicht an einem Date interessiert war? Im Grund hatte ich kein Problem damit, im Rampenlicht zu stehen. Aber es war mir nicht geheuer, wenn eine Horde verrückter Fangirls an meinen Hacken klebte. Der Matheunterricht begann mit einem Test, mit einem unangekündigten Test. Ich hörte Dion neben mir wehleidig wimmern, als Warner begann, die Blätter mit den Aufgaben zu verteilen. Bambi. Tse. Das war kein Test. Es schien, als hätte Warner letzte Nacht nicht schlafen können, denn das hier hätte auch eine Prüfung sein können. So, wie es schien, hatte er auch die gesamte Stunde dafür beansprucht, diesen ›Test‹ zu schreiben. Als ich einen Seitenblick zu Dion warf, hätte ich schwören können, dass er den Tränen nahe war. Sein Blatt wies klägliche Anläufe der Problembewältigung auf, aber mein geschultes Auge sagte mir schnell, dass die allesamt falsch waren. Eine halbe Stunde war seit Beginn bereits vergangen. Als ich fertig war, blieb ich sitzen und spielte mit meinem Kugelschreiber herum. Warner lief gerade unsere Bankreihe entlang, war an mir aber bereits vorbei. Ich starrte seinen breiten Rücken an, während ich Dion lautlos einen sauber gefalteten Zettel auf sein Aufgabenblatt legte. Dann packte ich meine Sachen zusammen, stand auf und übergab meine Blätter als auch den Aufgabenzettel wieder Mr Warner. Als ich mich zur Tür umwandte und ging, warf ich Dion einen Blick zu. Er sah so fassungslos, überrascht und zugleich überglücklich aus, dass sein Gesichtsausdruck eine witzige Mischung ergab. Zum ersten Mal seit zwei Wochen grinste ich. Ich öffnete die Tür und trat in den Flur. Tess’ Verhalten bei der Volleyball AG nach zu urteilen, hatte Dion ihr erzählt, was ich getan hatte, denn sie schien mir gegenüber freundlicher gesonnen zu sein, als die letzten zwei Wochen. Unser legendäres Eins-gegen-Eins-Match fand wieder statt. Das sollte schon was heißen. Doch sie ging nicht zur alten Tagesordnung über. Wir redeten trotzdem kaum und sie spielte gegen mich, als wäre sie der festen Überzeugung, sie müsse mich mit dem Volleyball ermorden. Manchmal wurde ich aus ihr einfach nicht schlau. Hatte ich denn nicht schon eine Heldentat vollbracht? Musste sie mir denn jetzt nicht eigentlich freudig um den Hals fallen und mich um Verzeihung bitten? Ganz offensichtlich nicht. Aber träumen war erlaubt. Während einer Spielpause, trat sie an mich heran. Ich freute mich, doch dann sah ich ihren selbstgefälligen Gesichtsausdruck und mir wurde klar, dass sie nicht zu mir gekommen war, um Frieden zu schließen. »Sag bloß, du fängst an, dich wie ein sozialkompetenter Mensch zu verhalten«, sagte sie zu mir. Es klang schnippisch, aber Tess war meine beste Freundin, ich hörte den leisen Unterton in ihrer Stimme, der mir verriet, dass es nicht ganz so abfällig gemeint war. »Nein, das tue ich nicht. Aber ich bin auch kein Soziopath. Außerdem pusht es mein Ego, wenn Dion Dank meiner überdurchschnittlichen Intelligenz eine halbwegs gute Zensur bekommt. Immerhin ist es dann mein Verdienst«, antwortete ich jovial. Tess verzog den Mund zu einem Strich. Sie sah aus, als wollte sie mir jeden Moment irgendetwas Spitzes durch meine Brust rammen und wahrscheinlich ärgerte sie sich gerade, dass sie nichts Passendes zur Hand hatte. Ich grinste sie verwegen an. »Pusht es nicht auch dein Ego, wenn du deine kleine Freundin mit deinen Machotricks beeindrucken kannst?«, wollte sie dann wissen und hob das Kinn. Stolz wie eh und je. Ich zog die Augenbrauen hoch und runzelte verwundert die Stirn. Was fantasierte sie sich denn jetzt zusammen? Tess bemerkte, dass ich ihr nicht zu folgen schien — mehr aber dachte sie vermutlich, dass ich auf dumm machte. Sie nickte in Richtung eines Punkts in meinem Rücken und als ich den Kopf wandte, um zu sehen, was sie meinte, fiel mir ein Mädchen auf, das hinter der Glasfront saß, und uns zuschaute. Ich zog verwundert die Augenbrauen zusammen. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Das ist so typisch«, zischte sie ärgerlich und ich sah die Wut in ihren Augen aufglimmen. Sie glaubte mir nicht. Warum sollte sie auch? Trotzdem ärgerte es mich, dass sie mich scheinbar nicht so gut zu kennen schien, um zu bemerken, wann ich log und wann ich die Wahrheit sagte. »Du kannst mir mal gepflegt den Arsch lecken«, entgegnete ich kühl. Manchmal gingen mir ihre bodenlosen Anschuldigungen und Anfeindungen echt auf die Nerven. Lag es daran, dass sie ein Mädchen war, dass sie so maßlos zu Übertreibungen neigte? Oder war sie ganz einfach nur eifersüchtig, weil sie dachte, es wäre ein anderes Mädchen in mein Leben getreten, das ihren eigenen Verlust nun kompensierte? Ich hatte keine Ahnung. Die weibliche Psyche sollte mir auf Ewig unergründlich bleiben. »Als hätte ich das nicht schon getan«, antwortete Tess aalglatt. Ich starrte sie an. »Aber weißt du was: Fick dich«, fügte sie dann brüsk hinzu, wandte sich um und stakste stolz erhobenem Hauptes davon, natürlich zu ihrem kleinen, neuen besten Bambifreund Dion. Pf. Regel Nummer zehn: Bitte die Welt nicht um Entschuldigung. Jedenfalls hatte Tess ganz galant auf dem zarten Pflänzchen meiner Hoffnung herumgetrampelt. Sehr aufbauend war das nicht, so viel stand fest. Und der Anflug meiner guten Laune war ebenso schnell wieder verflogen, wie er gekommen war. Verfluchte Scheiße. Als ich die Sporthalle nach dem Volleyball verließ, hörte ich jemanden hinter mir meinen Namen rufen. Ich drehte mich um und erkannte das Mädchen, das Tess für meine ›Freundin‹ gehalten hatte. Ein wenig verwundert blieb ich stehen und wartete, bis sie mich erreicht hatte. Sie hatte kinnlanges, dunkelrotes Haar und helle Augen. Rechts hatte sie die Haare hinter ihr Ohr gesteckt, während sie links ihre Wange rahmten. Sie war ein bisschen kleiner als ich. Ich durchforstete meine Gedanken nach ihr. Sie kam mir bekannt vor, aber mir wollte nicht einfallen, woher ich sie kannte. Lächelnd blieb sie neben mir stehen. »Ich bin Katie. Wir haben Mathe zusammen«, sagte sie. Ich schalt mich Dummkopf. Es war auf gewisse Weise doch peinlich, dass ich mich nicht an jemanden erinnern konnte, mit dem ich zusammen Unterricht hatte. Aber zumindest wusste ich jetzt, warum sie mir so bekannt vorgekommen war. Es schien sie noch nicht einmal wirklich zu überraschen, dass ich sie nicht kannte. »Hey«, brachte ich schließlich hervor und wandte mich wieder zum Gehen. Katie folgte mir. »Was gibt’s?« »Du spielst wirklich gut. Deine Angriffe sind sauber und präzise. Offenbar bist du nicht nur ein Matheass«, sagte sie und schaute mich an. Ich musterte sie kurz. Irgendwie ließ es mich für einen Moment sprachlos, dass Katie sich allem Anschein nach mit Volleyball auskannte. Aber es kam oft genug vor, dass Leute über irgendetwas sprachen, von dem sie eigentlich keine Ahnung hatten. »Spielst du auch?«, fragte ich sie unbeeindruckt von dem Kompliment, das sie mir gemacht hatte. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter. »Ja«, antwortete sie und ich setzte schon an, nachzuhaken, doch Katie sprach von allein weiter. »Aber wie du ja mitbekommen hast, nicht in der AG. Ich spiele im Verein. Das solltest du dir auch überlegen. Da machst du das nicht nur zum Spaß, da kannst du dich richtig beweisen und zeigen, was du drauf hast.« »Wurdest du etwa geschickt, um mich anzuwerben?«, fragte ich sie mit gerunzelter Stirn und dachte darüber nach. So ein Blödsinn. Was sollte ich denn in einem Verein? Volleyball war für mich lediglich eine Freizeitbeschäftigung und die AG reichte mir völlig aus. Es reichte, um mein Hobby abzudecken. Katie lachte laut auf und schüttelte nur den Kopf. »Nein, deswegen bin ich nicht hierher gekommen«, meinte sie amüsiert. Sie legte den Kopf schief, während sie mich musterte. »Ich weiß, du hast vermutlich schon zahlreiche Komplimente gehört und alles drum und dran, aber das, was auf der Karte stand, das meinte ich ernst.« »Karte?« »Die Karte, die ich dir in den Spind geworfen habe. Die weiße.« »Oh, ach ja. Na klar, die Karte. Ja, die war echt … toll.« »Du hast sie nicht gelesen, oder?«, fragte Katie verschlagen grinsend. Es verlieh ihrem Gesicht einen spitzbübischen Ausdruck. Sie hatte so ein typisches Äußeres, dass man denken könnte, sie wäre ein liebes, nettes, anständiges Mädchen, aber wenn sie so grinste, dann war ich mir fast sicher, dass sie ein ganz anderer Typ war. »Nein«, antwortete ich schließlich und schob die Hände in die Hosentaschen. Zumindest musste ich ihr nicht das Blaue vom Himmel lügen. Sie war schlau genug, um mich zu durchschauen. Das brachte ihr Sympathiepunkte ein. Zusätzlich zu denen, die sie bekommen hatte, weil sie auch Volleyball spielte. In einem Verein. »Das dachte ich mir fast«, erklärte sie und nickte kurz. Katie sah weder gekränkt noch verletzt aus, vielmehr so, als würde sie pragmatisch über irgendein Problem nachdenken, deren Lösung sie unbedingt finden wollte. Dann hob sie wieder den Blick und schaute mich an. Sie wirkte so selbstsicher in ihrem Auftreten. Ich fragte mich, was in ihrem Kopf vorging. Es war ungewohnt, dass mir ein Mädchen so selbstbewusst gegenüber trat. Sonst kannte ich es nur von Tess, alle anderen wirkten meistens immer sehr eingeschüchtert, wenn sie mit mir sprachen. Ich wusste nicht einmal, warum. »Das ist kein Problem«, fuhr Katie dann langsam fort. »Ich wiederhole gerne, was auf der Karte stand.« »Ich bin ganz Ohr«, meinte ich schlicht und kratzte mich am Hinterkopf. »Ich mag dich, Grace. Ich möchte, dass du mit mir ausgehst«, sagte sie dann frei heraus. Ich blieb abrupt stehen, die Augen fest auf Katie gerichtet. Sie war wenige Schritte nach mir ebenfalls zum Stehen gekommen und schaute mich nun aufmerksam an. Fast sah sie so aus, als würde sie auf nichts anderes, als meine Zustimmung warten. Ich kam nicht umhin, Katie für ihr Selbstbewusstsein und ihren Mut zu bewundern. So etwas war mir noch nicht oft passiert. Immerhin hatte sie mich nicht gefragt, ob ich mit ihr ausgehen wollte, sie hatte es mehr oder minder bestimmt. Ich merkte, wie meine Lippen sich zu einem Grinsen verzogen. Schließlich nahm ich den Weg wieder auf und Katie ging los, als ich sie erreicht hatte. Es war ihre direkte, freie und offene Art, die ich an Mädchen und generell an Menschen schätzte. Nicht um den heißen Brei herumlabern, sondern einfach sagen, was man will. »Na schön. Wann und wo?«, fragte ich sie und sie lächelte ein zufriedenes Lächeln. »Freitagabend. Bei mir«, bestimmt Katie. Ich war wieder für einen Moment sprachlos, dann fing ich an zu lachen, weil mir die Situation so unwirklich erschien. Dieses Mädchen wusste definitiv, was sie wollte. Und sie schien auch ebenso gut zu wissen, wie sie es bekam. »Gleich bei dir?«, hakte ich nach. »Ich bin dafür, dass wir diese ganze Kennenlern-Phase überspringen. Wäre ich nicht so verdammt scharf auf dich und das schon seit Urzeiten, wäre es völlig egal. Meine Eltern sind übers Wochenende weg, daher bietet es sich an. Aber jetzt sag mir bitte nicht, dass du einer von diesen Wanna-be-Machos bist, die auf dicke Hose machen, aber den Schwanz einziehen, wenn es ernst wird«, sagte sie zu mir. Wir sahen einander eine Weile lang einfach nur an und ich versuchte mich zu erinnern, ob mir so etwas ähnliches schon einmal passiert wäre. Aber war es nicht, das war Premiere. Ja, Katie wusste wirklich, was sie wollte. Ich hatte noch nie so direkt aus dem Mund eines weiblichen Wesens gehört, dass es scharf auf mich war. Regel Nummer elf: Nimm, was du kriegen kannst. »Keine Angst, ich ziehe den Schwanz nicht ein«, erwiderte ich amüsiert. Unter anderen Umständen hätte ich das als zweifelhaftes Angebot angesehen, aber in meiner Lage war es mir gerade ziemlich egal. Ich war immerhin kein kleines Kind mehr und konnte die Konsequenzen meiner Entscheidungen selbst tragen. Und wie konnte ich zu einem Mädchen wie Katie nein sagen? Katie gab mir am folgenden Tag in der Mittagspause ihre Adresse und wir verabredeten eine Uhrzeit. Sie lächelte mich an, bevor sie sich wieder umdrehte und zu ihrer Mädchenclique zurück ging. Ich sah all die anderen Schicksen, die neidisch oder ungläubig gafften, und ich fragte mich, wie es Mädchen gelang, so unter ihres gleichen zu sein, wenn sie sich eigentlich am liebsten an die Gurgel gesprungen wären. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab, aß mein Mittagessen und machte mich anschließend auf den Weg zum Unterricht. Irgendwie war ich ganz froh, dass Katie mich eingeladen hatte. So musste ich den Abend nicht damit verbringen, darüber nachzudenken, was ich mit Tess gemacht hätte, wenn wir nicht diesen dummen Streit gehabt hätten. Ich konnte Katie noch nicht richtig einschätzen, aber ich ging davon aus, dass es nicht langweilig werden würde mit ihr. Katie wohnte mit ihren Eltern in einem dieser neuen, schicken Wohnungshäuser, die vor einiger Zeit in der Stadt gebaut worden waren. Es war ein moderner Bau mit viel Weiß und sehr vielen Fenstern und noch mehr Ecken. Alles schien eckig zu sein. Aber abgesehen davon sah es doch sehr nobel aus. Ich kam nicht umhin zu sagen, dass moderne Architektur wirklich ansprechend war — wenn auch bei Weitem nicht alles davon. Ein Fahrstuhl brachte mich ins Dachgeschoss, wo die Wohnung war, in der ich Katie treffen sollte. Sie überraschte mich damit, dass sie völlig legere gekleidet war, als sie mir die Tür öffnete. Ich war irgendwie erleichtert, dass sie nicht in einem hautengen, knappen, roten Kleid vor mir stand und sich lasziv an den Türrahmen lehnte und so etwas wie »Hallo, Schöner« säuselte. Katie hatte ihre glatten Haare offensichtlich zu Locken frisiert — zumindest hatte sie es heute Vormittag getan, bevor sie zur Schule kam. Jetzt hatte ihr Schopf eher einen Out-of-Bed-Look. Ich ertappte mich dabei, wie ich mit modischen Fachbegriffen um mich warf, und hätte mich dafür selbst gern ordentlich erwürgt. »Du bist pünktlich«, sagte Katie grinsend, als sie mich in die Wohnung ließ. »Hast du etwas anderes erwartet?«, gab ich zurück, während ich meine Jacke auszog und sie mir über den Arm legen wollte. Doch Katie nahm sie mir ab und hängte das Stück an die Garderobe neben der Tür. »Die meisten Jungs, die ich kenne, sind meistens mindestens eine halbe Stunde zu spät. Aber ich bin angenehm überrascht. Ausnahmen bestätigen eben doch die Regel, nicht?«, meinte sie lächelnd und führte mich in die offene Küche. »Möchtest du etwas trinken?« »Wasser«, sagte ich und setzte mich auf einen der Barhocker, die dort standen. Katie holte zwei Gläser aus dem Schrank und eine Flasche aus dem Kühlschrank. Während sie uns einschenkte, schaute ich mich um. Das Wohnzimmer war auf einer Seite komplett verglast und führte auf einen Balkon, der, wie ich von draußen gesehen hatte, den Raum einmal komplett umspannte. Eine Treppe in der hinteren Ecke des Raumes führte nach oben. Katie schob mir ein Wasserglas rüber und setzte sich neben mich. »Schön, dass du da bist«, sagte sie lächelnd und stieß mit ihrem Glas sachte gegen meins. Ich schaute sie grinsend an. Sie hatte eine sichelförmige Narbe auf der Stirn, die auf ihrer hellen Haut kaum sichtbar war. Unwillkürlich fragte ich mich, wo sie die wohl herhatte. Ich setzte das Glas an die Lippen und trank. »Sag mal, Katie«, begann ich, »warum hast du mich eigentlich nicht schon früher gefragt, ob wir ausgehen? Ich meine … wenn du so … scharf auf mich bist, um es mit deinen Worten auszudrücken.« Katie lachte und verdrehte dann Augen, als wäre meine Frage völlig überflüssig gewesen. »Ich bitte dich. Natürlich aus demselben Grund, warum alle anderen dich jetzt auch fragen. Weil Theresa nicht mehr wie ein Küken an deinem Rockzipfel hängt.« »Es ist also wirklich wegen Tess? Warum? Wir sind doch kein Paar«, sagte ich verwundert und nippte an dem Wasser. Mir war bewusst gewesen, dass Tess tatsächlich dafür verantwortlich war, dass ich seit langer Zeit keine Liebesbriefe mehr bekommen hatte, aber was genau war es an ihr gewesen, dass die anderen Mädchen abgeschreckt hatte? »Welches Mädchen spricht einen Jungen an, der ständig seine Freizeit mit einem Mädchen verbringt? Außer, sie ist eine Schlampe, versteht sich. Außerdem hätte Theresa wohl jeder von uns sofort den Hahn abgedreht, wenn wir dich angemacht hätten«, erklärte Katie schulterzuckend. Ich zog die Augenbrauen hoch. Zugegeben, seit ich mit Tess einmal kurz zusammen gewesen war, hatte ich keine Beziehung mehr gehabt, aber das hatte nie direkt an ihr gelegen. Zumindest nicht, weil sie alle Mädchen mit dem Tod bedroht hatte. Ich hatte seit dem einfach kein Interesse mehr gehabt, eine Beziehung mit irgendjemandem zu beginnen. Und zum Teil lag es auch daran, weil ich alle Mädchen mit Tess verglich und einfach keine an sie herankam. »Aber es noch nicht einmal zu versuchen«, murmelte ich mit gerunzelter Stirn und betrachtete Katies Gesicht. Sie schüttelte nur kurz den Kopf. »Glaub mir, Grace, alle denken, es ist besser so, wenn du nicht mehr mit ihr befreundet bist«, sagte sie dann und tätschelte meine Hand. Sie hatte einen mitleidigen Gesichtsausdruck. Ich verschluckte mich fast an meinem Wasser, als sie das sagte. »Wieso? Was ist falsch an Tess?«, hinterfragte ich skeptisch. Was sollte denn das bitte heißen? ›Alle denken, es ist besser so …‹. Was für ein Müll war das? Katie verdrehte wieder kurz die Augen, doch dann seufzte sie und schaute mich an, als wäre ich ein kleiner Junge, dem man erklären musste, dass es gute Leute und schlechte Leute auf der Welt gab. »Theresa ist …« Katie zögerte und zuckte kurz die Achseln. »Ein Mannweib. Ist dir das noch nie aufgefallen? Viele denken, dass sie … ein Flittchen ist, weil sie die Jungs scharenweise um sich häuft. Und Dion hat sie auch schon um den Finger gewickelt. Es ist gut, dass du das nicht mit dir machen lässt. Ich meine, was denkt sie sich? Dass sie die Königin der Welt ist? Außerdem benimmt sie sich wie ein halber Junge, will cool sein und dazu gehören. Ich kann nicht verstehen, was alle an ihr finden. Was kann sie denn schon? Außer gut Volleyball spielen — denn das kann sie, das gebe ich zu. Aber mal im Ernst: Offensichtlich bekommt sie einen Egoschub, wenn sie reihenweise Jungs anmacht und sie wie Hündchen an die Leine nimmt. Deswegen denken alle, dass es gut ist, dass du nicht mehr mit ihr befreundet bist. Dass du ihr Spielchen nicht mitspielst.« Ich hatte das dringende Bedürfnis, Katie ihre Zunge abzuschneiden. Ich war so sprachlos, mein Kopf war wie leergefegt. Das einzige, was ich wirklich wahrnahm, war der Ärger, der sich in mir breit machte. Was dachte sie sich eigentlich? Tess so zu beleidigen und so niederzumachen. Eine Schlampe? Tess? Sie verstand sich eben besser mit Jungs als mit Mädchen und als ihr bester Freund wusste ich sehr genau, dass sie durchaus auch Freundinnen hatte. Tess kam mit nahezu allen gut klar. Ich hatte noch nie den Eindruck gehabt, jemand sähe sie als Flittchen an. Sauer ballte ich die Hände zu Fäusten und versuchte mich zusammenzureißen. Aber gerade in diesem Augenblick wollte ich Katie einfach nur wehtun für das, was sie über Tess gesagt hatte. Niemand erlaubte es sich, in meiner Gegenwart so von meiner besten Freundin zu sprechen. Ich atmete tief durch, um nicht völlig auszurasten. »Weißt du was, Katie?«, fragte ich sie zuckersüß lächelnd. »Wenn hier jemand ein Flittchen ist, dann bist du das. Ich hab deine plumpe Anmache für Selbstbewusstsein gehalten. Jetzt ist mir aber klar, dass das einfach nur Arroganz und maßlose Selbstüberschätzung ist. Neid muss man sich erarbeiten, und das hat Tess geschafft, nämlich indem sie einfach nur eine Freundin ist und kein Betthäschen. Oh, und wenn du es genau wissen willst: Ja, Tess ist die Königin der Welt. Es gibt nichts, was ich nicht für sie tun würde!« Ich rutschte vom Barhocker, riss meine Jacke von der Garderobe und verschwand aus dem Apartment. Ungeduldig drosch ich auf den Fahrstuhlknopf ein, damit das dumme Ding endlich kam. Als er endlich kam, zwängte ich mich hinein, noch bevor die Türen vollständig geöffnet waren. Ärgerlich hämmerte ich auf ›Erdgeschoss‹ ein. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis die Türen sich wieder schlossen und der Fahrstuhl sich in Bewegung nach unten setzte. Warum musste mir eigentlich erst so etwas passieren, damit ich begriff, woran ich bei Tess war? Ich schlug meine Stirn gegen die Wand des Fahrstuhls. Ich bewies mir mal wieder selbst, wie bescheuert ich doch war. War es nicht immer Tess’ freundliche und offene Art gewesen, die ich so sehr an ihr geliebt hatte? Warum verurteilte ich sie dann jetzt deswegen? Ich war so ein Volltrottel. Tess sah reichlich erstaunt aus, als sie die Tür öffnete. Wir sahen einander eine Weile schweigend an und ich kam mir vor wie eine Kakerlake, dass ich wieder bei ihr angeschissen kam. Regel Nummer zwölf: Ich bin eine verdammte Kellerassel. »Sag schon, na los«, sagte ich dann zu ihr. Ich sah, dass sie sich ein Grinsen verkneifen musste. »Du bist ein beschissenes Arschloch, Grace. Ein Trottel. Ein Dummbratze. Eine kleine Made«, sagte sie schlicht, aber immer noch sehr darum bemüht, nicht zu grinsen. »Danke«, erwiderte ich seufzend. Jetzt fing sie an zu lachen und zog mich in die Wohnung. »Du kommst gerade richtig. Ich hab vorhin Lasagne gemacht«, erklärte sie mir. »Geh schon mal, ich hol uns was und komm gleich nach.« Ich stand mit einem Bein auf der Treppe und schaute Tess nach, wie sie in die Küche wuselte, um uns etwas zu essen zu holen. Ich lächelte. Was war ich für ein unverschämter Glückspilz, dass ich so eine gute beste Freundin hatte. Sie nahm mich wieder auf, als wäre nie etwas gewesen. Sie akzeptierte mich, obwohl ich mich nicht entschuldigt hatte. Wie musste sie mich doch lieben. »Hallo, Grace.« Ich wandte den Kopf und lächelte Julie an, Tess’ Mutter. Sie kam gerade aus dem Keller, einen Korb mit Wäsche unter dem Arm. Sie lächelte zurück. »Wir haben dich lange nicht gesehen. Tess hat dich wahnsinnig vermisst, aber das hast du nicht von mir«, sagte Julie zwinkernd, umarmte mich kurz mit ihrem freien Arm und huschte dann nach draußen, vermutlich, um die Wäsche aufzuhängen. Grinsend ging ich nach oben in Tess’ Zimmer, warf mich auf ihr weiches, durchgelegenes Sofa, auf dem wir schon unendlich viele Stunden verbracht hatten und wartete darauf, dass sie zurückkam und wir den unendlich vielen Stunden ein paar mehr hinzufügten. ___ tbc. Kapitel 5: Friend ----------------- Widmung: Mi, weil sie mir die entscheidende Idee für das Kapitel gegeben hat. Danke schön :D , weil er vermutlich alle meine Shonen-Ai Storys gelesen hat und diese hier besonders mag. _______________________ FRIEND Regel Nummer dreizehn: Bereue nichts, was du tust. Ich beging ein schweres Verbrechen. Zumindest aus Sicht der Schule, der Lehrer, der Schulleitung und alles, was sonst noch in die Kiste gehörte: Ich schwänzte. Was mich betraf, ich sah es nicht als schüler-terroristisches Attentat auf die Autoritäten an, die sich dazu berufen fühlten, sämtliche Macht über Schüler an sich zu reißen. Eigentlich war ich kein notorischer Schwänzer. Das letzte Mal lag immerhin schon eine Woche zurück. Aber gut. Jetzt hatte ich einen wahrhaft triftigen Grund, warum ich Mathe schwänzte. Tess war heute nicht zur Schule gekommen. Und das nach unserer Versöhnung. Ich hatte ihr eine SMS geschrieben und gefragt, was los sei. Geantwortet hatte Julie, ihre Mutter. Tess lag im Krankenhaus. Ich hätte direkt den Tisch im Klassenraum umwerfen können, nachdem ich das gelesen hatte, weil ich im ersten Moment dachte, irgendein Irrer hätte einen Unfall gebaut, in den sie verwickelt worden war. Aber dem war nicht so, zum Glück. Ihre SMS war gerade erst angekommen. Es war ihr Blinddarm. Ich konnte mich erinnern, dass sie gestern kurz über Schmerzen geklagt hatte. Julie hatte sie heute Morgen ins Krankenhaus gefahren, als es nicht besser geworden war. Ich zockelte gerade eine belebte Straße entlang, als ich wieder eine SMS von Tess bekam. Ich hab Hunger. Aber diese Penner hier verbieten mir das Essen. Wenn ich erst hier raus bin, dann werde ich denen schon zeigen, was es bedeutet, mich hier hungern zu lassen! Ich lachte laut auf, als ich das las. Eines von Tess’ Hobbys war Essen. Sie liebte es. Es musste ihre persönliche Hölle sein, dass sie jetzt nichts zu sich nehmen durfte. Ich wusste zwar nicht, wann Tess operiert werden würde, aber bekanntlich durfte man vor Operationen nichts essen. Bevor ich meinen Weg ins Krankenhaus fortsetzte, machte ich einen Abstecher in den Supermarkt, der auf dem Weg lag, und kaufte fünf Tafeln Schokolade, alle in verschiedenen Sorten. Fünf, weil es Tess’ Lieblingszahl war. Auf die Sorten legte sie aber keinen Wert, weil sie eigentlich alle mochte. Ich stopfte die Tafeln in meine Tasche, ehe ich weiterstiefelte. So würde sie etwas haben, auf das sie sich freuen konnte, wenn sie die OP hinter sich gebracht hatte. Als ich an der Anmeldung nach dem Zimmer von Tess fragte, lächelte die Schwester mich an. Ich kannte dieses Lächeln zur Genüge. Es war wohl das, was weitläufig als Ach-wie-süß-er-besucht-seine-Freundin-im-Krankenhaus-und-leistet-seelischen-Beistand-Lächeln bekannt sein musste. Ich hätte mich daran gewöhnen sollen, dass alle Außenstehenden Tess und mich für ein Paar hielten. Als wären heterogeschlechtliche Freundschaften so eine extreme Rarität, eine Spezies, die vom Aussterben bedroht war; als würden Frauen und Kerle nicht einfach nur befreundet sein. Nein, es musste einfach immer mehr im Spiel sein. Sie nannte mir Tess’ Zimmernummer und ich folgte der Richtung, die die Schwester mir gewiesen hatte und schaute die kleinen Schilder neben den Türen an, auf denen die Zahlen standen. Tess’ Zimmer war recht mittig gelegen. Sie hatte noch eine Zimmernachbarin, die in einem Bett ihr gegenüber lag. Das Mädchen war wohl etwa im gleichen Alter wie wir. Ihr Bein war dick eingegipst und hing in einer Schlaufe. Sie las gerade in einem Buch, als ich hereinkam, und hob den Blick. Ein kurzes Lächeln glitt über ihr Gesicht, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. Ich richtete den Blick auf Tess, die nahezu überglücklich schien, mich zu sehen. Sie sah ein bisschen blass aus, ihre Haare waren zerwühlt, als hätte sie sich tagelang nicht gebürstet. Als ich mich auf den Bettrand setzte, umarmte sie mich kurz. »Wie geht’s dir?«, fragte ich sie, nachdem sie mich wieder losgelassen hatte. Sie lächelte matt. »Mir ging’s schon mal besser«, erwiderte sie. »Ich freu mich, dass du mich besuchst, auch wenn du dafür ganz offensichtlich Warners hochgradigen Matheunterricht schwänzt und Dion alleine dort versauern lässt.« Ich verkniff mir ein Augenrollen. Warum landeten wir eigentlich bei so gut wie jedem Thema bei Dion? Aber ich wollte mich nicht wieder mit meiner besseren Hälfte streiten, deswegen untersagte ich mir jede Geste und Mimik, die hätte andeuten können, dass es mich nervte. Ich hatte Tess versprochen, dass ich versuchen würde, nicht mehr so zickig zu sein. Dion hatte mir immerhin nichts getan — das war Tess’ Wortlaut, nicht meiner. Allerdings war mir klar, dass ich mich irgendwie mit Bambi arrangieren musste, wenn ich die Freundschaft zu Tess nicht überstrapazieren wollte. »Ich hab hier was für dich, was dich aufheitern dürfte«, sagte ich, um auf etwas anderes zu sprechen zu kommen. Ich grub die Schokoladentafeln aus meiner Tasche hervor und zeigte sie ihr. In Tess’ Augen glühte etwas Sehnsüchtiges auf. Sie griff nach den Tafeln und drückte sie an sich, als wären sie ihr ganz persönlicher Schatz. »Du Penner«, maulte sie dann verzweifelt und sah mich vorwurfsvoll an. »Wie soll mir das helfen? Ich darf die jetzt nicht essen und das ist schwerer, als du denkst!« »Ich weiß, aber die sollen dir ja auch als Lichtblick dienen. Denk dran, dass sie ganz allein dir gehören, und wenn du die OP überstanden hast, dann kannst du sie alle essen.« Tess’ Blick pendelte zwischen den Tafeln und mir. Dann betrachtete sie die Schokolade eine kleine Weile, seufzte, drückte jeder einzelnen Verpackung einen Kuss auf, ehe sie die Schublade zum Schrank neben ihrem Bett öffnete und die Schokolade dort verstaute. Dann schaute sie mich kurz an, beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht und genau diese Geste war es wohl auch, warum viele dachten, wir wären ein Paar. Manchmal fühlte es sich tatsächlich seltsam an, Tess einfach auf den Mund zu küssen. Aber es war — wie soll ich sagen? — schlimmer, als wir noch kein Paar gewesen waren. Erst nachdem wir unsere Beziehung geführt und beendet hatten, wusste ich, dass so ein Kuss zwischen uns eine rein platonische Bedeutung hatte; auch, wenn es für Außenstehende nicht so wirkte. Sie grinste kurz, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten. Ich warf einen kurzen Blick zu Tess’ Zimmernachbarin. Sie hatte die Augen von ihrem Buch gelöst und schaute uns an. Doch als sie bemerkte, dass ich sie anschaute, wanderte ihr Blick zurück zu ihrer Lektüre. Ja, Freundschaft war eben doch etwas Subjektives. Anfangs hatten sowohl Tess als auch ich mich darüber aufgeregt, dass die Leute uns sonst etwas nachsagten. Aber irgendwann haben wir den Tatsachen sozusagen ins Gesicht gesehen: Wir konnten ohnehin nichts dagegen tun. Wir wussten, was zwischen uns war und was nicht. Was sollte es uns kümmern, was alle anderen darüber dachten? In dem Moment ging die Tür zum Zimmer auf und als ich den Kopf drehte, blieb mir die Spucke weg. Dion drückte sich gerade in den Raum, er sah aus, als wäre er peinlichst darauf bedacht, dass niemand etwas mitbekam. Und ich wusste auch warum: Bambi schwänzte nämlich auch. Er wirkte ein wenig überrascht, als er mich sah. Leise schloss er die Tür hinter sich, dann kam er lächelnd auf uns zu. Vor dem Bett blieb er stehen, sah kurz zu mir und dann zu Tess. »Hey«, sagte er. »Wie geht’s?« Ich wollte ja nicht interpretieren, aber er hatte nicht direkt danach gefragt, wie es Tess ging. Er hatte die Frage nach meiner Auffassung in die Runde gestellt. Oder übertrieb ich gerade? Tess lächelte, während Dion sich einen Stuhl an die mir gegenüberliegende Bettseite zog. »Du schwänzt auch«, meinte Tess lediglich und grinste verschwörerisch. Ich hüstelte. Sherline Holmes, haha. Was für eine messerscharfe Kombinationsgabe sie doch hatte, ich war wie immer überwältigt. Sie warf mir kurz einen skeptischen Blick zu, dann zeigte sie mir ihre Zunge. Dion lächelte ertappt und kratzte sich am Hinterkopf. »Gerade Mathe sollte ich eigentlich nicht schwänzen, aber … ich bin aufgeschmissen. Unterm Strich kommt dasselbe dabei heraus, wenn ich da oder auch nicht da bin.« Ich biss mir auf die Zunge, um einen Kommentar bei mir zu behalten. Dion öffnete seine Tasche und — ich lachte auf, als ich es sah — holte fünf Tafeln Schokolade hervor, die er Tess hinhielt. »Du hast ja mal gesagt, dass du Schokolade magst und dass fünf deine Lieblings- und Glückszahl ist, deswegen dachte ich, würdest du dich vielleicht freuen … nach der OP natürlich.« Er sah mich kurz ein wenig verwirrt an. Offenbar verstand er nicht, warum ich lachte. Wie sollte er auch? Tess lachte auch kurz. »Das ist witzig. Grace hat mir nämlich auch fünf Tafeln mitgebracht«, erklärte sie ihm dann amüsiert und piekste mir mit dem Finger in die Wange. Währenddessen versuchte ich das in mir aufkeimende Gefühl zu unterdrücken. Er kannte sie noch gar nicht so lange und wusste schon, was ihr Lieblingsessen und was ihre Lieblingszahl war. Mir ging ein Bild durch den Kopf, in dem die beiden einander gegenüber saßen und sich aufzählten, was alles ihre Lieblingssachen waren. »Tatsächlich?«, murmelte Bambi verlegen, während er sich durch den blonden Schopf fuhr. Oh Gott, wie konnte man nur so hilfsbedürftig aussehen? Das war ja nicht zu glauben. »Danke schön«, meinte Tess lächelnd. Sie beugte sich vor — und ich hätte gern in die nächste Ecke gekotzt — und küsste ihn, ebenso wie mich nur kurz zuvor, auf den Mund. Ein Kuss auf den Mund war eine Sache, dabei sein Gesicht zwischen ihre Hände zu nehmen noch eine andere. Dion sah erschrocken aus, überrascht und überrumpelt. Das deutete darauf hin, dass er das von ihr noch nicht erlebt hatte. Er war also noch eine Tess-Jungfrau. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht. Aber dann passierte etwas, was mich mehr irritierte, als der Kuss zwischen den beiden: Dions Augen huschten zu mir. Er sah mich an, als würde er … ja, als würde er was? Ich begriff nicht. Warum starrte er nicht das Mädchen an, das ihn gerade mit Hingabe — und ob die freundschaftlich oder sexuell war, wusste ich gerade nicht — küsste? Warum starrte er mich an? Ich begann mir im Klaren zu werden, was es wohl bedeutete, wenn es hieß: Die fatalsten Fehler, die Männer tun konnten. Als Tess sich von Dion löste, sah er sie wieder an. Der Kuss hatte höchstens wenige Sekunden gedauert, aber mir war es wie eine Ewigkeit vorgekommen, in der Dion und ich einander angestarrt hatten, während er an den Lippen meiner besten Freundin gehangen hatte. Ich stierte ihn weiterhin an und sah, dass er direkt nach dem Kuss die Zunge zwischen die Lippen schob. Mein Hirn drehte durch mit den verschiedensten Interpretationsansätzen, die ich versuchte, allesamt zu verdrängen. Regel Nummer vierzehn: Glaube nur, was du siehst, erlebst und greifen kannst. Ich wusste nicht, woher Tess diese Eigenschaft genommen hatte. Ich wusste nicht, warum. Sie war ein instinktiver, impulsiver Mensch. Manchmal tat sie Dinge ohne bestimmten, ersichtlichen Grund. Das sollte nicht etwa heißen, dass sie mir eine knallte, weil ihr gerade danach war. Aber manchmal konnte sie sich und andere mit ihrem Verhalten in Verlegenheit bringen, zumeist unbeabsichtigt. Sie knutschte keine fremden Menschen, sie knutschte auch nicht die Jungs aus der Volleyball AG. So etwas machte sie nur bei Leuten, bei Freunden, die ihr mindestens so nah standen wie ihre Familie. Bevor irgendjemand was sagen konnte, kam ein hochgewachsener Arzt mit ergrauten Haaren herein, gefolgt von einer Schwester. »So, Miss Goodchild«, sagte er, nachdem er Dion und mir kurz zugenickt hatte. »Ihre Operation steht. Dr. Moore wird sie vorbereiten.« Die Schwester war also eine Ärztin. Gut, das hätte ich nicht wissen können … ich konnte auch nicht wissen, warum in aller Welt Bambi mich mit Rehaugen angeglotzt hatte, als er von einem umwerfenden Mädchen geknutscht wurde. Der Arzt schien es eilig zu haben, denn er war schnell wieder weg. Dr. Moore lächelte und folgte ihm nach draußen. Als es wieder still im Zimmer war, schaute ich einen kleinen Moment zu Tess und dann zu Dion. Und dann … »Habt ihr eine Dreiecksbeziehung, oder was?« Ich starrte zu Tess’ Bettnachbarin, die uns mit großen Augen musterte. Und auch diesmal ging die Tür auf, bevor irgendjemand antworten konnte. Dr. Moore stand wieder im Raum, diesmal mit Julie, die eine Jacke über dem Arm trug. Sie lächelte, als sie uns sah. Sie sprach kurz mit Tess und mit der Ärztin, dann wandte sie sich zu Dion und mir. »So, Jungs, auf geht’s. Ich nehme euch mit.« Julie gab Tess einen Kuss auf die Stirn. »Ich ruf heute Abend mal an«, fügte sie hinzu, dann lächelte sie aufmunternd, strich kurz über die Wange ihrer Tochter und verließ den Raum wieder. Dion und ich sahen ihr nach, dann schaute ich zu Tess. »Wird schon alles«, sagte sie und nahm meine Hand. Ich nahm sie kurz in den Arm. »Morgen kannst du die Tafeln hamstern«, meinte ich. Ich spürte, wie Tess kurz von einem leichten Lachen geschüttelt wurde. Sie hatte Angst, das wusste ich. Aber ich wusste ebenso, dass sie es nicht deutlich und direkt zeigen würde. »Denk einfach an die Schokolade«, sagte ich, nachdem ich sie losgelassen hatte. »Denk dran, dass hier zehn wunderbare, köstliche Tafeln Schokolade nur auf dich warten.« »Halt die Schnauze, sonst zimmer’ ich mir die sofort rein …!«, sagte sie wehleidig. Ich musste lachen, als ich ihr Gesicht sah. Zumindest hatte ich sie ein wenig ablenken können. Dion saß schweigend daneben. Sein Sprachzentrum war wohl ausgefallen. Kein Wunder. »Gut. Ich werde mal los, sonst köpft deine Mutter mich, wenn ich nicht gleich erscheine«, meinte ich grinsend, während ich mich erhob. Ich gab Tess einen Kuss auf die Stirn, sie feixte vor sich hin. Dion verabschiedete sich ziemlich unbeholfen von Tess. Als hätte man das Fohlen gerade auf Eis geschickt, obwohl es kaum ordentlich auf normalem Grund laufen konnte. Armes Bambi. Das Leben war eben gemein. Ich fragte mich, ob Tess das mit Absicht gemacht hatte, oder ob sie sich völlig unbewusst dessen war, was sie bei Dion damit angerichtet hatte. Vielleicht sollte man Tess zugute halten, dass sie nicht ihre Zungentechnik ausgepackt hatte, denn dann wäre aus Bambi wohl irgendeine zähe Rehmasse entstanden, die man vom Boden hätte kratzen müssen. Ab wann waren Rehe eigentlich geschlechtsreif …? Er ging schweigend neben mir her, während wir nach draußen gingen, um Julie zu suchen. Auch während der Autofahrt verhielt er sich weitgehend ziemlich still. Augenscheinlich hatte Tess etwas wie ein schweres Trauma in ihm hervorgerufen oder so. Geschah es unter Rehen, dass sie sich sexuell missbrauchten? Ich neigte doch stark dazu, das zu bezweifeln. Abgesehen davon war Tess kein Reh. Tess war … eher eine Hummel. Friedliebend, aber bissig, wenn es sein musste. Außerdem waren Hummeln plüschig. Julie ließ uns im Stadtzentrum raus, als ich sie darum bat. Nach Hause wollte ich noch nicht. Dion stieg mit mir zusammen aus. Gemeinsam verabschiedeten wir uns von Tess’ Mutter. Ich schaute mich kurz um, dann beschloss ich, bei McDonald’s essen zu gehen. Gerade hatte ich keine Lust auf Kochen, was ich zu Hause hätte tun müssen, um etwas zu essen zu haben. Bevor ich losging, wandte ich mich noch mal an Dion, um mich zu verabschieden, doch ehe ich einen Ton herausgebracht hatte, fragte er: »Kann ich mitkommen?« Er nickte Richtung McDonald’s. Scheinbar war ihm aufgefallen, dass ich dort hin wollte. Ich sah ihn kurz an. Eigentlich stand ich kurz davor, nein zu sagen, aber irgendwie sah er so verloren aus, dass ich schließlich nur nickte. Er lächelte erleichtert, dann machten wir uns auf den Weg. Die ganze Prozedur aus anstellen, bestellen und Platz suchen verlief schweigend. Er sagte nichts, ich sagte nichts. Irgendwie mochte ich dieses Schweigen nicht, auch wenn ich keine Ahnung hatte, worüber ich mit ihm hätte reden sollen. Vielleicht wusste er ja, wann Rehe geschlechtsreif waren, aber die Frage konnte ich gerade noch unterdrücken, bevor sie tatsächlich über meine Lippen rollte. Wir saßen einander an einem Ecktisch gegenüber. Dion starrte so konzentriert seine Pommes an, dass ich befürchtete, er würde versuchen, mit ihnen telepatisch Kontakt aufzunehmen. Ein bisschen irre schien er schon zu sein. Ich kaute gedankenverloren an einer Pommes, während ich ihn dabei beobachtete, wie er den Blick hob, um irgendwo anders hinzusehen. Aha, Telepathie also mit Menschen, das war sinnvoller als mit Kartoffeln. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er versuchte, meinem Blick auszuweichen und alles dafür zu tun, um mich nicht anzusehen. Letztendlich versagte er kläglich, als er mir einen flüchtigen Blick zu warf. Er schlug die Augen sofort nieder, als er merkte, dass ich ihn anstarrte. Wieder begann er seine stille Null-Kommunikation mit den Pommes. »Ab wann sind Rehe eigentlich geschlechtsreif?« Ich hätte mir gern den Burger, der vor mir lag, im Ganzen in den Mund gestopft, aber das hätte nichts mehr gebracht. Verwirrt hob Dion den Kopf und schaute mich irritiert an. Ich hob die Augenbrauen und tat so, als wäre die Frage völlig berechtigt und nicht in einem Moment geistiger Umnachtung aus meinem Mund gekommen. »Was?«, fragte er perplex. Na, zumindest hatte er die Pommes vergessen und ging zur verbalen Kommunikation mit Menschen über. Das war schon mal ein Fortschritt. »Nichts, schon gut«, wehrte ich ab. »Was sagen die Pommes?« Ich konnte die Fragezeichen über seinem Kopf sehen. Wahrscheinlich dachte er gerade, ich verarschte ihn. Oder Bambi dachte, ich meinte es völlig ernst. »Ich … äh … hä?« »Na ja, du hast die Dinger so angestrengt angestarrt, dass ich dachte, du würdest mit ihnen telepatisch sprechen oder so«, erklärte ich schlicht und zuckte mit den Schultern. Ich war auch irre. So ziemlich. Vielleicht sollte ich eine Therapie in Betracht ziehen. Wir starrten einander eine Weile lang schweigend an. Wieder mal. »Sag mal …«, begann er schließlich. »Macht Tess … das … ehm … öfter? Also das …?« Er fuchtelte mit den Fingern vor seinen Lippen herum. Ich verkniff mir ein amüsiertes Grinsen. »Ja. Macht sie. Wenn sie das bei mir macht, dann ist das nur freundschaftlich. Wenn sie es bei dir macht … tja, dann weiß ich das nicht. Vielleicht ist sie in dich verknallt.« »Wenn es in die Richtung ginge, dann hätte der Kuss länger gedauert. Hier war es nur eine kurze Lippenberührung, wie unter Freunden. Ein Kuss mit einem sexuellen Aspekt hätte länger gedauert und —« »Dion«, unterbrach ich ihn in seinem Redeschwall. Er hielt sofort inne und sah mich an. Er wollte mir doch wohl nicht etwa erzählen, dass er ein verkapptes Genie war, das kein Mathe beherrschte? Ich seufzte kurz, fuhr mir durch die Haare und sah ihn dann wieder an, während ich den Strohhalm meiner Cola zwischen die Lippen nahm und trank. »Sieh es als Ausdruck der Dankbarkeit. Wenn Tess es ernst mit dir meinen würde, dann würde sie dich nicht so offensiv anfallen«, meinte ich. Dion starrte mich immer noch an, dann nickte er langsam, nachdem die Info zu ihm hindurchgesickert war. Er wirkte fast erleichtert. »Sie ist also nicht …?« »Nein. Sie ist eine dieser Kampflesben, die jeden Kerl knutscht, damit nur niemand auf die Idee kommt, sie könnte auf Mädchen stehen«, antwortete ich trocken und saugte wieder an dem Strohhalm, während ich Bambi nicht aus den Augen ließ. Seine Gesichtszüge entgleisten für einen Moment vollkommen. Er sah aus, als hätte er gerade eine Flasche über den Kopf gezogen bekommen oder etwas dergleichen. »Tess ist … ich meine, sie ist … lesbisch?«, presste er hervor. Ich seufzte tief. Also offenbar musste ich ihm neben Mathe auch noch Sarkasmus beibringen. Der arme Junge stolperte völlig blind durch die Welt, so konnte das nicht mit ihm weitergehen. Ich beugte mich zu ihm über den Tisch, er kam mir ein kleines Stück entgegen. »Dion. Das erste, was du über mich wissen solltest, ist, dass ich hemmungslos sarkastisch bin. Du solltest also nicht immer alles für bahre Münze nehmen, was ich sage. Das ist Punkt eins; und Punkt zwei ist: Tess ist ein Kampfweib und … flexibel. Das heißt nicht, dass sie lesbisch oder bisexuell ist. Das heißt nur, dass sie kein Problem damit hätte, ein Mädchen zu küssen. Aber glaub mir, wenn ich sage, dass ich sie lange genug kenne, um zu wissen, dass sie so hetero ist, wie man als Frau nur sein kann. Und ich weiß, dass sie dich nicht einfach ohne weiteres knutschen würde, wenn sie mehr als nur freundschaftliches Interesse an dir hätte.« Dion grübelte für den Rest der Zeit über meine Worte und trotzdem war er nicht mehr so wortkarg wie vorher. Er erzählte mir, dass er wohl ein typisches Einzelkind war und dass er Angst vorm Zahnarzt hatte. Ich hatte ihn noch nicht einmal danach gefragt; irgendwie waren wir auf das Thema zu sprechen gekommen. Es wunderte mich ein wenig, dass ich ihm interessiert zuhören konnte. Er war ein Mensch, der beim Reden dazu neigte, zu gestikulieren. Irgendwie war er ganz niedlich, wenn er das machte. Ein Rehkitz eben. Er sagte auch, dass es ihn ausgesprochen nervte, dass die Mädchen ihn belagerten. Deswegen war Tess ihm auch zu Beginn sehr sympathisch gewesen. Sie war distanziert freundlich gewesen und war ihm nicht auf die Pelle gerückt. Aus diesem Grund hatte er sich mit ihr angefreundet. Dion mochte keine aufdringlichen Menschen. »Was ist mit dir?«, fragte er dann schließlich. Ich schaute ihn verwundert an. »Hast du Geschwister? Was machen deine Eltern?« Ich biss auf den Strohhalm in meinem Mund. »Soll ich dir Mathe Nachhilfe geben?« Einige Augenblicke lang sah er mich verwundert schweigend an. Ich wusste nicht, warum ich ausgerechnet diese Frage gestellt hatte, um das Thema zu umgehen. Damit hatte ich mich immerhin selbst irgendwie … in die Scheiße geritten. »Ja, das wäre nett«, sagte Dion schließlich lächelnd. Ich war froh darüber, dass er den Themenwechsel akzeptierte und nicht weiter nach meiner Familie fragte. Ich lächelte gezwungen. »Danke«, fügte er hinzu. In dem Moment dachte ich, dass er vielleicht gar nicht so schrecklich war, wie ich mir immer eingeredet hatte. Er war freundlich und nett, er war aufmerksam. Und er versuchte nicht, sich zwischen Tess und mich zu stellen. Ich wusste nicht, woher diese plötzliche Erkenntnis kam. Aber vielleicht war es ganz einfach, mit ihm befreundet zu sein. Vielleicht musste ich einfach nur aufhören, in ihm den Neuen mit dem ›van‹ im Nachnamen zu sehen, sondern jemanden, der genauso wie ich einmal neu an die Schule gekommen war und jetzt seinen Platz in der Gemeinschaft brauchte. Regel Nummer fünfzehn: Ehrliche Menschen sind natürlich. Daran erkennst du deine Freunde. ___ tbc. Kapitel 6: Bambi ---------------- BAMBI Ich hätte am liebsten auf dem Absatz Kehrt gemacht, als ich vor dem Haus stand, in dem Dion mit seinen Eltern wohnte. Es war groß mit weißen Backsteinen und einem dunkelgrünen Dach. Die Garage neben dem Haus erschien ungewöhnlich groß. Es dauerte ein wenig, bis dämmerte, dass es zwei Garagen waren. Es sollte mich wohl nicht wundern, dass die van Dorves offensichtlich zwei Autos hatten. Auf der Veranda vor dem Haus befand sich eine kleine Sitzecke mitsamt Tisch. Efeu rankte sich dort um die weißen Säulen, die den Balkon darüber stützten. Wo hatte ich mich da nur hineingeritten? Regel Nummer sechzehn: Tu es oder tu es nicht. Versuchen ist nicht. Ich hatte mich gerade dazu entschieden, Dions Mathenachhilfe zu schwänzen; wollte mich gerade umdrehen und wieder gehen, als plötzlich die Haustür aufflog und Dion auf der Veranda stand. Ganz mieses Timing, Bambi. Wirklich, ganz mies. Ich starrte ihn an und er starrte zu mir zurück. Welche Optionen hatte ich jetzt noch? Ich konnte a) die Nachhilfe in diesem Haus durchziehen oder b) ich könnte Bambi solange mit Grasbüscheln bewerfen, bis er sich freiwillig verzog. Aber Rehe waren Pflanzenfresser, also würde er das Gras wohl einfach fressen und damit hätte ich auch nichts bewirkt. Verdammt. Ein Atomstrahlen breitete sich auf Dions Gesicht aus, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Wann hatte ich ihm erlaubt, mich erblinden zu lassen? Meine Fresse … »Du bist hier richtig!«, rief er zu mir rüber. Ich presste die Lippen aufeinander, biss mir auf die Zunge, um keinen schnippischen Kommentar von mir zu geben und setzte mich schließlich in Bewegung. Toll. Hoffentlich hatte er keine Plüschrehe in seinem Zimmer, sonst würde ich in Gelächter ausbrechen und elendig an Luftmangel krepieren. Tess lag leider immer noch im Krankenhaus. Ihre OP hatte sie erfolgreich hinter sich gebracht und nachdem sie aufgewacht und nicht mehr so extrem groggy war, hatte sie sich daran gemacht, die Schokoladentafeln in sich hineinzuschaufeln. Sie war mit der vierten gerade fertig, als ich mich von ihr verabschiedet hatte. Als ich aus dem Raum getreten war und einen letzten Blick auf sie geworfen hatte, hatte sie bereits die fünfte Tafel geöffnet und ein Stück abgebrochen. Es wäre mir um einiges lieber gewesen, wenn sie mich begleitet hätte. Ich war noch lange nicht bereit, Dion als meinen Freund zu bezeichnen. Er war Bambi — ich meine … Bambi. So souverän er den Großteil der Dinge in der Schule auch meisterte — Mathe klammerte ich jetzt einfach mal aus —, so unsicher war er mir scheinbar gegenüber. Mittlerweile war er nicht mehr so geniert, wenn wir mal allein zusammen waren — und das kam in letzter Zeit öfter vor, seitdem Tess im Krankenhaus lag und Bambi nicht mehr an der Hand durch die Welt führte und vor mir beschützte. Nicht, dass ich versuchte, ihn zu fressen oder so, aber … na ja, Dion hätte es mir auch abgekauft, wenn ich ihm erzählt hätte, die Erde wäre der Mittelpunkt des Sonnensystems. Nach seiner Pommes-Telepathie im McDonald’s schien er nicht mehr ganz so verunsichert. Ganz im Gegenteil: Er war mutig geworden. Ich wusste nicht, ob ich verdrossen sein sollte oder einfach nur belustigt. In der Cafeteria in der Schule setzte er sich in der Mittagspause immer zu mir, ohne Einladung. Das heißt: ohne meine Einladung. Und dann erzählte er, lächelte er, fragte er … Meistens kam er kaum zu essen, weil er so viel redete. Erst, als ich ihm einmal beim Mittagessen seinen Pudding klaute und aß, erstarrte er und verfiel in fassungsloses Schweigen, während er mir ungläubig dabei zusah, wie ich seinen Nachtisch in mich hinein schob. Jedenfalls hatte er sich seitdem auch um sein Essen gekümmert, anstatt mir im kleinsten Detail von seinem Tag zu erzählen. Als ich das Haus betrat, kamen mir zwei schneeweiße, kleine Katzen entgegengelaufen. Sie trugen beide je ein schmales Halsband mit einem kleinen Glöckchen. Das eine Band war grün, das andere rot. Vermutlich, um die beiden voneinander zu unterscheiden. Sie sahen aufmerksam in meine Richtung, die grünen Augenpaare fixierten mich neugierig, dann erst kamen sie näher und schnupperten an meinen Beinen. »Das sind Coco und Lupo. Die Katze meines Onkels hat Junge bekommen und er hat uns die beiden geschenkt«, erklärte Dion, während er die Tür hinter mir schloss. Dann beugte er sich zu den Kätzchen und nahm eines der beiden auf den Arm. Die verbliebene Katze schlich gerade um meine Beine, während ich ihr dabei zusah, dann lief sie zu Dion und schmiegte sich an ihn. Bambi, der Katzenkönig. Gepriesen sei Ihre Majestät. Halleluja. Dion setzte die Katze wieder ab. Ich blieb kurz stehen und sah mich um. Ein Flur war das hier nicht gerade, ehe er etwas wie eine kleine Eingangshalle. Gerade zu befand sich die Treppe, links spannte sich ein Bogen, der offensichtlich ins Wohnzimmer führte, rechts befand sich die Küche. Langsam trottete ich hinter Dion her. Konnten wir nicht endlich anfangen? Je eher ich hier wieder raus konnte, desto besser war es. Abgesehen davon, dass ich mich mit Dion privat und völlig bewusst traf, befand ich mich auch bei ihm zu Hause. Unter normalen Umständen hätte ich mich für gestört erklärt, jetzt erklärte ich mich für total geisteskrank. Zu allem Überfluss schien das Haus bis auf uns und die Katzen menschenleer. Wunderbar. Hätte ich nicht gewusst, dass Bambi so harmlos wie eine Blume war, hätte ich ernsthafte Befürchtungen, er würde sich eine Kettensäge holen — die gab es in diesem Haus bestimmt auch irgendwo — und würde mich damit in Einzelteile zerlegen und weiterverkaufen. »Mein Zimmer ist oben«, sagte Dion gerade, wandte den Blick über die Schulter und lächelte ein wenig verlegen. Zwei Stufen auf einmal nehmend hastete er die Treppe hinauf. Warum denn so eilig? Hatte er Angst, ich könnte versuchen ihn mit einem Grashalm zu erstechen, oder was? Kopfschüttelend kroch ich so langsam wie möglich die Treppe hinauf. Damit widersprach ich meinem Wunsch, das hier alles schnell abzuschließen, aber … bitte. Ich würde gleich Bambis Zimmer betreten. Das war nicht gerade ein Traum, der in Erfüllung ging. Das Zimmer von jemandem zu sehen, hatte eine bestimmte Vertrautheit, und ich war definitiv nicht mit einem Rehkitz vertraut! Außerdem verriet so ein Zimmer auch eine Menge über den Menschen, der es bewohnte. Und ich war mir gar nicht so sicher, ob ich wirklich so viel über Dion erfahren wollte. Dion wartete oben an der Treppe auf mich. Er wirkte ein wenig ungeduldig, ein nervöses Lächeln umspielte seine Lippen. Als ich ihn so sah, bemerkte ich meine eigene Unruhe. Meine Hände kribbelten, ich konnte meinen Puls an meiner Schläfe spüren, was mehr als nur unangenehm war. Während ein Teil also nur danach verlangte, wieder aus diesem Haus zu verschwinden, wollte ein anderer Teil, den ich geflissentlich versuchte zu ignorieren, wissen, was Dions Zimmer wohl so hergab. Ich fragte mich unweigerlich, wer wohl schon hier gewesen war, seitdem Dion hierher gezogen war. Wer von den Leuten aus der Schule, sein Zuhause schon mal von innen gesehen hatte. Ob Tess wohl schon mal hier gewesen war? Mir wurde erst jetzt richtig bewusst, dass ich es gar nicht wusste. Ein weiterer Gedanke kam mir in dem Zusammenhang in den Sinn. Dion kam zwar mit vielen gut aus, aber ich hatte nie den Eindruck gehabt, dass er mit irgendjemandem außer Tess wirklich befreundet war. Klar, er verstand sich mit den Leuten aus der Volleyball AG und auch mit dem ganzen Pulk aus den Kursen, aber … ein richtiger Freund schien nicht unter ihnen zu sein. Ich meine, wenn man mit jemandem befreundet ist, dann verbringt man doch Zeit zusammen, oder nicht? Ich versuchte, mir das selbst zu erklären. Im Endeffekt stellte ich fest, dass es ziemlich blöd war, darüber nachzudenken. Dion führte mich in sein Zimmer. Es war ein heller Raum mit einem großen Doppelfenster. Die Wand, an der das Bett stand war goldgelb und eine Art Wandaufkleber deuteten ein leichtes Mauermuster an einigen Stellen an. Die Nische, in der ein kleiner Fernseher stand, war dunkellila. Der Rest war in einem sanften Pastellton, der zwischen gelb und orange pendelte. Der Boden war mit Parkett ausgelegt; ein Teppich spannte sich vom Bett bis zum Fernseher. Rechts neben dem großen Fenster stand ein geräumiger Schreibtisch, der außerordentlich aufgeräumt aussah. So würde es bei mir auf dem Schreibtisch nie aussehen. Aber das war ein anderes Thema. Über dem Tisch hingen ein Kalender und eine unordentlich wirkende Pinnwand. Ein weißer Laptop lag auf der Arbeitsfläche, aus einer kleinen Anlage unter dem Fernseher drang leise Musik. Die Stimme des Sängers kam mir bekannt vor, aber ich kam nicht auf den Namen. Neben dem Schreibtisch standen zwei hohe Regale, die voll gestellt mit Büchern waren. Auf dem Fensterbrett standen zwei Grünpflanzen und ein hölzernes Windspiel hing von der Lampe herunter. Rechts von der Zimmertür befand sich der Kleiderschrank, dessen eine Tür mit Fotos zu einer Collage tapeziert worden war. Über dem Bett befand sich ein längliches Regal, auf dem haufenweise anderes Zeug herumstand, ein Ständer mit Papieren quoll dort geradezu über, Bilderrahmen und Fotos von Passbildautomaten waren dort zu sehen, eine weitere Grünpflanze und ein Stapel mit dünnen Heften. Unter dem Regal hing eine Kette mit Postkarten und Fotos. Vor dem Fernseher lagen zwei große, unglaublich verführerisch gemütlich aussehende Sitzkissen. Neben dem Bett stand ein kleiner Nachtschrank, auf dem neben Wecker und Lampe auch sein Handy und Nasenspray herumlagen. Eine Wasserflasche stand neben der Lampe. An der Tür hingen Kleiderhaken und daran ein Haufen Jacken, Gürtel und sonstiger Krempel. Das Zimmer sah irgendwie unordentlich ordentlich aus. Einerseits hatte es etwas Chaotisches und andererseits auch nicht. Ein Mülleimer stand unter dem Schreibtisch, recht versteckt — und ich wusste auch, warum: Er quoll nämlich ganz schön über. Da war wohl jemand zu faul, den Müll wegzubringen. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wer hätte das denn gedacht …? »Na, hast du vergessen, den Mülleimer zu leeren?«, fragte ich amüsiert und sah Dion dabei zu, wie er sich peinlich berührt auf die Unterlippe biss. Kurz senkte er den Blick, aber dann breitete sich ein verwegenes Grinsen auf seinem Gesicht aus. Ich hätte ihm nicht zugetraut, dass er zu so einem Gesichtsausdruck fähig war. »Die Klamotten hab ich alle in den Schrank gestopft, bevor du gekommen bist«, meinte er und zuckte mit den Schultern. Ich starrte ihn kurz fassungslos an, doch dann spürte ich, wie das Bedürfnis nach Lachen in mir aufstieg. Dion und ich sahen einander an, dann prusteten wir beide los. Wer hätte gedacht, dass Bambi mich je auf diese Art und Weise zum Lachen bringen würde? Wir breiteten uns auf dem Boden aus. Ich legte mich bäuchlings auf eines der Sitzkissen und suchte in dem Mathebuch nach Aufgaben, die ich mit Dion hätte machen können. Dafür war ich immerhin hergekommen. Er saß mir im Schneidersitz gegenüber, den aufgeschlagenen Block auf den Beinen und einen Stift in einer Hand. Ich erklärte ihm Schritt für Schritt, wie er an die Aufgabe herangehen sollte, welchen Ansatz er nehmen konnte, um zur Lösung zu kommen. Ich ging auf jeden kleinen Zwischenschritt ein, erläuterte, wie ich worauf kam und wie es gemacht wurde. In kleinstem Detail löste ich für ihn eine Beispielaufgabe, damit er ein Muster hatte, dem er folgen konnte. Dion versuchte sich an einer anderen Aufgabe. Er setzte den Stift aufs Papier, aber es dauerte lange, bis er überhaupt etwas schrieb. Und selbst, als er sich schließlich dazu durchgerungen hatte, schrieb er nur die Aufgabe aus dem Buch ab. Danach machte er ziemlich lange gar nichts, außer das Muster anzustarren, das ich ihm gegeben hatte, als würde er hoffen, ihm würde sich des Rätsels Lösung einfach erschließen. Geschah aber nicht. Nach einer gefühlten Stunde sah er zu mir auf, einen so verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht, dass es nahezu wieder witzig war. Ich seufzte kurz und beugte mich über seinen Block. Außer den Karos und der Aufgabenstellung stand nichts auf dem Papier. »Wie würdest du anfangen?«, fragte ich Dion und schaute ihn an. Er starrte zwischen Block, Muster und mir hin und her. Dann zog er nur die Augenbrauen hoch. »Ich … äh würde … b auf die andere Seite bringen?« Ich pustete mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Das würde harte Arbeit werden, dachte ich, bevor ich seinen Block neben das Muster legte und ihn aufforderte, sich die Aufgabe und meine Lösung anzusehen. Abgesehen von den Zahlen unterschieden sich nämlich beide rein gar nicht. Drei Stunden später war es dunkel draußen und mindestens genauso dunkel in Dions Kopf, was mathematische Gleichungen anging. Ein paar Aufgaben hatte er auf die Reihe bekommen, aber auch das nur sehr, sehr langsam und mit viel Hilfe. »Du machst mich echt fertig«, sagte ich und vergrub das Gesicht im Sitzkissen, während ich mir die Haare raufte. Selbst Tess war aufnahmefähiger gewesen, als ich ihr Nachhilfe gegeben hatte. Bei Dion hingegen schien eine Blei-Beton-Mischung in seinem Schädel zu sitzen, die jegliche mathematische Logik verhinderte. Das konnte für den Nachhilfelehrer wirklich sehr frustrierend sein. Immerhin wollte ich, dass Bambi auch Fortschritte machte, wenn ich mich schon darum bemühte, ihm ein bisschen was beizubringen. Regel Nummer siebzehn: Bring zu Ende, was du angefangen hast. Ich würde also öfter Mathe-Coach spielen, wenn ich wollte, dass diese dämliche Schinderei auch fruchtete. Das hieß aber wiederum, dass ich mich öfter hierher begeben musste, öfter Zeit allein mit Dion verbringen musste … Es war wirklich anstrengend einem Rehkitz Mathe beizubringen. Berufsberater sollte ich wohl nicht werden, wenn ich mich selbst schon auf so beschissene Wege navigierte. Vielleicht sollte ich mit Dion erst einmal die Zahlen bis zehn und dann bis zwanzig durchgehen, um sicherzustellen, dass er die Zahlenfolge beherrschte. Vielleicht war er ja auch ein mathematischer Analphabet. Das wäre doch möglich, oder? Dion schaute mich schuldbewusst und verlegen grinsend an, als ich den Kopf wieder hob. Er hatte sich selbst durch die drei Stunden gequält, ihm war das auch nicht leicht gefallen. Es verlangte ihm wohl einiges ab, um sich überhaupt dazu bereit zu erklären, Mathenachhilfe zu nehmen, wo er doch seine Zeit ganz offensichtlich sinnvoller nutzen könnte. Ich stützte meine Wange in meine offene Handfläche. »Zähl mal eben bis zehn«, sagte ich schließlich seufzend. Bambi schaute verdutzt, folgte der Aufforderung aber und zählte. Na immerhin, das konnte er. »Bis zwanzig«, fügte ich hinzu, als er fertig war. Offenbar kam er sich ziemlich verarscht vor. »Wieso?« »Routine«, fachsimpelte ich und nickte. Er zog verwirrt die Augenbrauen zusammen, starrte mich einige Augenblicke lang schweigend an und zählte letztlich doch bis zwanzig. »Wunderbar. Test bestanden. Du kannst zählen, das ist schon mal befriedigend. Nächste Woche machen wir das noch mal und bis dahin lernst du das kleine Einmal Eins. Kriegst auch ein Bienchen, wenn du alles richtig machst«, sagte ich, während ich mich auf die Knie hievte. Bambi sah aus, als hätte ich ihm seinen in einer Minute eintretenden Tod prophezeit. Während ich mich damit abmühte, mich auf meine eingeschlafenen Beine zu stellen, starrte er mich sprachlos an. Erst langsam kehrte wieder Leben in sein Gesicht — holla, aber wie! Ärgerlich zog Dion die Augenbrauen zusammen und stand ebenfalls auf, weniger schwankend als ich. Gut, zumindest ging es seinen Beinen gut. »So blöd bin ich nun auch wieder nicht«, sagte er sauer. Ich sah ihn an. Sein Ärger war mindestens so angsteinflößend wie eine Staubfluse in der Ecke eines verstaubten Kellers. Fatal, wirklich. Für einen kurzen Moment dachte ich ernsthaft, ich würde vor Angst einen Herzkollaps erleiden. Erstaunlich. »Gut, wenn du das große Einmal Eins auch aufsagen kannst, schenk ich dir Bambi auf DVD«, antwortete ich schlicht und stellte mich auf ein Bein, um das andere durchzuschütteln. Wie ich dieses Kribbeln hasste, wenn die Durchblutung wieder normal ablief … »Ich hab das aber schon auf DVD …« Ich sah auf. Das konnte doch wohl nicht sein ernst sein? Er hatte Bambi schon auf DVD? Wie konnte er mir das nur antun? Das war ja wohl die Höhe! Ein Geschenk von mir auszuschlagen! Ich war tief gekränkt. Jetzt würde ich ihn nicht mal mehr mit dem Arsch ansehen. Also … pf! Die Antwort konnte doch wohl nicht wahr sein? Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und tröstete mich mit dem Gedanken, dass Dion ein Rehkitz war. Sarkasmus musste er noch lernen. Er war doch noch so jung. Gnade. »Na, dann kriegst du eben Fluch der Karibik oder so.« Aah, nee. Das ging ja auch nicht. Der war erst frei ab zwölf. Mist. Also irgendwas anderes. Es gab eine große Auswahl an Kinderfilmen. Dumbo zum Beispiel. Das war auch was mit Tieren. Perfekt. »Du verarschst mich doch«, brummelte Dion und schmollte stumm, während er mich mit seinem vernichtenden Bambi-Blick ansah. Ich hätte mich gern lachend auf dem Boden gewälzt, aber das sparte ich mir lieber für Zuhause auf. Da würde ich zumindest in Ruhe lachend sterben können, ohne dass Bambi Mund-zu-Mund-Beatmung à la Rehkitz starten würde. »Lassen wir das«, sagte ich statt all der anderen Dinge, die mir auf der Zunge lagen. »Nächste Woche noch mal, bis dahin kannst du ja versuchen ein paar andere Aufgaben zu lösen oder zumindest Ansätze zu finden.« Ich griff gerade nach meiner Jacke und freute mich darauf, nach Hause zu kommen, um etwas zu essen. Mein Magen jammerte schon seit der ersten halben Stunde, die ich hier war, aber Dion nach Essen zu fragen kam überhaupt nicht in Frage. »Du …«, Dion brach ab und schaute mich an, sein Ärger schien verpufft zu sein. Wahrscheinlich wusste Bambi nicht mal, was es bedeutete, wütend zu sein. »Ich?« »Willst du noch zum Essen bleiben? Ich kann schnell was machen, das ist kein Problem.« Ich setzte zum Protest an, als mein Magen, dieser ruchlose Verräter, sich lauthals zustimmend meldete. Sofort klappte ich den Mund wieder zu, hätte mich gern in die nächste Ecke vor Scham verkrochen, blieb aber bewegungslos stehen und schaute Dion dabei zu, wie er sich damit abkämpfte, ein Grinsen zu unterdrücken. Dion verschwand aus dem Zimmer und ich hörte, wie er die Stufen hinunterlief. Ich knallte mir die Hand vor die Stirn, bedeckte dann meine Augen mit der Hand und verfluchte meinen Magen. Ärgerlich stemmte ich die Hände in die Hüften. Während ich darauf wartete, dass Dion zurückkam, ging ich zu seinem Schrank hinüber, um mir die Fotos anzusehen, die dort an der Tür klebten. Auf einigen war er auch mit drauf, auf anderen wiederum nicht. Ich kannte keinen der Leute, die auf den Bildern zu sehen war, abgesehen von Dion selbst natürlich. Vermutlich waren das seine Freunde und Bekannten aus dem Leben, das er hatte, bevor er umgezogen war. Ich wusste gar nicht, wo er herkam; wo er früher gewohnt hatte oder warum seine Familie umgezogen war. Im Prinzip wusste ich nichts über ihn außer der Tatsache, dass er mit meiner besten Freundin befreundet war, gut Volleyball spielte und Mathe für ihn seine persönliche Hölle war. Aber was war das schon? Ob er wohl anders gewesen war, bevor er hierher gekommen war? Wie kannten ihn seine Freunde von damals? Er schien jedenfalls jemand zu sein oder gewesen zu sein, der einen großen Freundeskreis gehabt hatte. Viele der Leute tauchten auf den meisten der Fotos auf. Je länger ich die Bilder betrachtete, desto mehr Fragen stellte ich mir. Dion schien anders gewesen zu sein, als er sich jetzt zeigte. Vielleicht kam aber auch nur mir das so vor. Dion war für mich nicht mehr als ein fremder Mensch. Er hätte ebenso gut jemand sein können, den ich flüchtig auf der Straße getroffen hätte oder der ein entfernter Freund eines Freundes war. Er war nur jemand, dem ich Nachhilfe gab. Und trotzdem befand ich mich gerade in seinem Zimmer. In dem Zimmer eines mir völlig Fremden. Ein ziemlich eigenartiges Gefühl beschlich mich, während ich dastand, versunken in meinen Gedanken und den Fotos vor meiner Nase. Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass Dion immerhin auch ein Leben vor dem Zeitpunkt gehabt hatte, zu dem ich ihn getroffen hatte. Jetzt wurde es mir aber deutlich klar. Wer war er jetzt und wer war er damals gewesen? Als ich hörte, dass Dion wieder die Treppe hoch gelaufen kam, wandte ich mich hastig von dem Schrank ab und sah zur Tür, durch die er hineinkam. Ein merkwürdiges Strahlen lag in seinen Augen. »Ich denke, es ist besser, wenn ich gehe«, sagte ich zu ihm und schob mich an ihm vorbei zur Tür. »Aber danke für die Einladung.« Ich ging die Treppe hinunter und zur Haustür. Dion hatte nichts weiter gesagt, folgte mir aber. Er überholte mich, öffnete die Tür und ließ mich raus. Als ich die Verandastufen hinunter stieg, hörte ich nicht, wie die Tür hinter mir zuging. Vielleicht stand er noch da und schaute mir nach? Das wäre kitschig. Aber vielleicht war es wirklich so. Er war eigenartig schweigsam gewesen, hatte nicht versucht, mich zu überreden, zu bleiben. Ich konnte einfach nicht bei jemandem essen, den ich nicht kannte. Bambi schien so weit weg zu sein, wie noch nie, seit wir uns kannten. ___ tbc. Kapitel 7: Home --------------- HOME Es war düster draußen, als ich vom Krankenhaus nach Hause kam. Tess war heute entlassen worden und als sie mit Julie Heim gefahren war, ging ich ebenfalls. Die Wolken ballten sich am Himmel zu einer dunklen Front zusammen. Es war kalt. Dass der Herbst da war, war nun unmissverständlich klar. Jedes Jahr zu dieser Zeit fiel ich in ein Loch von Deprimiertheit; es machte mich krank zu sehen, wenn die Bäume kahl wurden und die Tage trüb. Ich sehnte den Frühling herbei. Und jedes Mal kam ich mir vor wie eine Mimose. Während ich die Straße entlang ging, kramte ich in meiner Tasche herum, auf der Suche nach meinem MP3-Player, der dort irgendwo drin liegen musste. Abgesehen davon, dass ich kein Fan davon war, überall zu Fuß hinzugehen, hasste ich es, wenn ich dabei nicht zumindest Musik hören konnte. Gerade war es der Fall, denn der Player war unauffindbar. Ich dachte darüber nach, ob ich ihn bei Tess vergessen hatte, aber da hatte ich ihn nicht mal in der Hand gehabt. Und heute Morgen …? Es fiel mir nicht ein. Vermutlich lag er irgendwo zu Hause rum. Gefrustet seufzte ich auf. Scheiß Wetter, Nachhauseweg ohne Musikbegleitung und auch noch eine bekloppte Hausaufgabe. Unsere Englischlehrerin verlangte einen Aufsatz über Familie von uns. Wunderbar. Damit war ich jedenfalls ausgelastet. Ich hasste Aufsätze. Als ich zu Hause war, drehte ich die Heizung auf. Es war recht kühl. Danach durchwühlte ich den Kühlschrank und beschloss im Endeffekt, Milchreis zu kochen. Ich hatte Mordshunger und Milchreis hatte ich schon lange nicht mehr. Nachdem ich aus dem Kühlschrank eine Packung Milch geholt hatte, zog ich eine Schublade auf und griff nach dem Reis. Ich goss die Milch in einen Topf und wollte die leere Verpackung wegschmeißen. Dabei musste ich zu meinem Verdruss feststellen, dass der Mülleimer mal wieder voll war. Seufzend stopfte ich die Verpackung hinein, zog die Tüte aus dem Eimer und band sie zu, bevor ich damit in den Flur ging, in meine Schuhe schlüpfte und die Tür öffnete. Mir fiel der Müll fast aus der Hand, als ich Dion vor mir stehen sah. Er sah sehr überrascht aus und peinlich berührt. Seine Hand war an der Klingel. Wir starrten uns gegenseitig für eine kleine Weile sprachlos an, beide stumm vor Überraschung, bis er schließlich langsam die Hand sinken ließ und sich räusperte. Was machte er denn hier? Und noch schlimmer: Woher, verdammte Scheiße, wusste er, wo ich wohnte? »Was machst du denn hier?«, fragte ich dann. Dion sah mich kurz an, wich dann aber meinem Blick aus und sah an mir vorbei in die Wohnung. Ich trat einen Schritt nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. Er schien mir nicht antworten zu wollen. Da ich weder Lust noch Zeit noch den Willen hatte, Wurzeln vor der Tür zu schlagen und übermäßig Keime an den Händen zu bekommen, ging ich an ihm vorbei, um den Müll wegzubringen. Bambi erwachte aus seiner Trance und folgte mir wie ein zahmes Tier. Ich verdrehte innerlich die Augen. Er antwortete immer noch nicht. Hatte wohl vergessen, wie man sprach. Na ja, das war nicht das erste Mal. Erst, als ich den Müll weggebracht hatte und an der Haustür stand, schien Bambi wieder eingefallen zu sein, wie man seine Stimme benutzte. Er räusperte sich wieder, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich tat ihm den Gefallen, drehte mich zu ihm um und sah ihn erwartungsvoll an. Er kramte in seiner Tasche und beförderte meinen MP3-Player zu Tage, den er mir reichte. »Du hast ihn in der Schule auf dem Tisch liegen lassen. Ich dachte, ich bring ihn dir vorbei, bevor du denkst, du hast ihn verloren oder so …«, murmelte er und hielt mir immer noch seinen ausgestreckten Arm mit dem Player entgegen. Ich sah zwischen ihm und dem Stück Technik hin und her, ehe ich zögernd danach griff. »Danke …«, sagte ich und versuchte mich zu erinnern, wie ich es um alles in der Welt fertig gebracht hatte, eines meiner heiligsten Stücke einfach irgendwo liegen zu lassen. Diese Überlegung führte mich zu dem Gedanken, dass ich Bambi wohl was schuldig war, immerhin hatte er sich die Mühe gemacht, ihn extra zu mir nach Hause zu bringen und nichts zu warten, bis wir uns am Montag wieder in der Schule sahen. Draußen begann es in Strömen zu regnen und die Straßen waren binnen weniger Sekunden überschwemmt mit kleineren und größeren Pfützen, die sich schnell zu kleinen Seen entwickelten. Das Trommeln der unzähligen Tropfen hallte dumpf vom Asphalt wider. Die Straße schien in ständiger Bewegung zu sein, wie eine optische Täuschung dadurch, dass die Tropfen so unmittelbar nacheinander auf die Schicht Wasser trafen. Dion sah recht leidig aus, als er sich umsah. Durch den kleinen Vorsprung waren wir beide größtenteils geschützt, aber ich fühlte das feine Sprühwasser, das der Wind trug, auf meinem Gesicht. Ich öffnete die Haustür und machte einen Schritt hinein. Dion stand immer noch an Ort und Stelle, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er gehen oder bleiben sollte. Nur langsam dämmerte mir, warum er immer noch da war: Offenbar hatte er keinen Schirm bei sich und wenn er jetzt in den Regen trat, dann würde er innerhalb weniger Moment wie ein nasses Rehkitz aussehen. Ich hatte keine Ahnung, welche Art geistiger Umnachtung mich in dem Moment ergriff. »Willst du … mit raufkommen …?« Dions Gesichtsausdruck glitt von Überraschung hinüber zu Unsicherheit und Erleichterung. Er nickte schließlich nur, dann folgte er mir in den Hausflur und wir gingen gemeinsam die Stufen hinauf. Wir schwiegen wieder beide und ich sah mein Angebot als Ausgleich dafür, dass er mir den MP3-Player gebracht hatte. Hoffentlich ging er auch davon aus, nicht, dass er noch annahm, ich würde das aus Überzeugung tun. Ich öffnete die Wohnungstür, ließ ihn zuerst hineingehen und folgte dann. Bambi stand ein wenig verloren in meinem Flur und sah mich mit großen, runden Augen an, als würde er nicht wissen, was er jetzt tun sollte. Warum in aller Welt führte er sich auf wie ein Kind? Wie Bambi, als er über einen vereisten See rutschte. Vielleicht war ich nicht ganz unschuldig daran. Konnte es sein, dass es ihn verwirrte, dass ich in den letzten Tagen zeitweise freundlich zu ihm gewesen war? Dass ich ihm anbot, ihm Nachhilfe zu geben und ihn jetzt auch auf einmal zu mir einlud, schien etwas wie ein Weltwunder für ihn zu sein. Wann würde Bambi nur erwachsen werden …? »Soll ich dir beim Ausziehen helfen?«, fragte ich ihn mit gerunzelter Stirn, während er hilflos dastand. Dion starrte mich wie eine Erscheinung an. Erst wurde er blass und dann schoss ihm in Rekordschnelle Röte ins Gesicht. Er wirkte verstört, verunsichert, ungläubig, fassungslos. Alles auf einmal. Verständnislos sah ich ihm entgegen und versuchte, diese Reaktion zu deuten und zu verstehen. Doch als Dion meinem Blick auswich, dämmerte mir, was los war. Er hatte meinen Sarkasmus wohl mal wieder ernst genommen. Er dachte vermutlich, dass ich es ernst gemeint hatte — zumindest bis jetzt. Jetzt schien er begriffen zu haben, dass ich ihn wieder aufzog; er hatte den Blick gesenkt. Es war ihm peinlich. Zugegeben, ich sah in vielen Worten Zweideutigkeit und benutzte sie teilweise auch selbst — aber in dieser Frage hatte nichts davon gesteckt. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass Bambi diese Zweideutig erkannt hatte — allerdings den versauten Teil und nicht den, den ich gemeint hatte. Wunder, oh, Wunder, Bambi hatte schweinische Gedanken. So jung und schon so verdorben. Lag das an mir? Betretenes Schweigen trat ein, während Dion stumm zu Boden starrte. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte und ich wusste auch nicht, wer von uns beiden denn jetzt eigentlich ins Fettnäpfchen getreten war. Vielleicht wir beide. Keine Ahnung. Ich stemmte eine Hand in die Hüfte, mit der anderen fuhr mir durch den Nacken. Irgendetwas hinderte mich einfach daran, einer peinlichen Situation mit Bambi aus dem Weg zu gehen, wenn wir beide allein waren. Warum war Tess nicht hier, um ihn aufzufangen? Um zu schlichten und diese peinliche Stille wieder umzulenken. Sie wusste, wie man mit einem unerfahrenen Rehkitz umgehen musste, um ihn nicht zu verunsichern. Ich wusste es nicht. Verdammt. Was machte er denn auch hier …? Egal, er war da und er war noch keine fünf Minuten hier drin. Eigentlich hätte ich ihn gern wieder rausgeworfen, aber vermutlich würde er draußen im Regen über seine eigenen Füße stolpern, hinfallen und in irgendeiner Pfütze ertrinken. Das Risiko wollte ich nicht eingehen. Nachher galt ich als Verdächtiger an seinem Tod, weil ich der Letzte war, der Dion lebend gesehen hatte. Pf. »Nein«, murmelte Dion schließlich so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er überhaupt gesprochen hatte. »Du musst mir nicht helfen … mich … auszuziehen …« Das wiederum traf mich wie ein Schlag. Vielleicht war ich einfach nur wahnsinnig bekloppt, dass ich da etwas heraushörte. Bambi klang so verschämt, dass er mir fast leid tat. Ich starrte ihn sprachlos an, während mir seine Worte wie ein geisterhaftes Echo durch den Kopf hallten. Warum hatte er ›musste‹ gesagt? Das klang fast so, als … als … Ach, verdammt, das war doch absurd. Ich war einfach nur bekloppt und der durch und durch männliche Teil meines Hirn schien sich mal wieder im ausgeprägten Maße angesprochen zu fühlen. Was im Endeffekt die Folge hatte, dass ich für einen winzigen Moment ein gewisses Bild vor Augen hatte. Nämlich, wie ich Bambi tatsächlich dabei half, sich auszuziehen … sich komplett auszuziehen. Jetzt hätte ich mich gern in einer Pfütze ertränkt. Das verlangte eindeutig nach Tess’ weiblichem Feingefühl, aber sie war eben erst aus dem Krankenhaus entlassen worden, draußen schüttete es wie aus Eimern. Ich konnte nicht verlangen, dass sie jetzt hier auftauchte, um Bambi und mich aus unserer selbstverschuldeten, misslichen Lage zu befreien. Immerhin waren wie Kerle … wir würden das irgendwie selbst auf die Reihe bekommen. Eben einfach mit männlichem … mit unseren Methoden. Ich räusperte mich schließlich, straffte kurz die Schultern und stakste an Dion vorbei in die Küche. Schnell wusch ich mir die Hände über der Spüle. Der Topf mit der Milch fiel mir ins Auge, den ich auf dem Herd abgestellt hatte, bevor ich mich dazu aufgemacht hatte, den Müll rauszubringen. Ich schaltete die nötige Platte ein und lauschte auf die Geräusche, die Dion im Flur verursachte, als er sich auszog. »Willst du auch Milchreis?«, fragte ich ihn, als er zögerlich auf der Schwelle zur Küche erschien. Er schaute vom Topf zu mir und sah aus, als hätte er mir nicht zugetraut, dass ich kochen konnte. Aber dann nickte er kurz, blieb sonst allerdings unbewegt auf der Schwelle stehen. »Hat Tess dir meine Adresse gegeben?«, wollte ich mit einem Seitenblick auf ihn wissen. Wieder nickte er kurz, als wäre er nicht zu mehr fähig. Irgendwas Seltsames lag in seinen Rehaugen, während er mir dabei zusah, wie ich kurz in der Milch rührte. Seine Lider flackerten kurz, dann schaute er mir ins Gesicht. Es blieb eine Weile still, in der ich den Reis in die Milch gab und rührte. Dion schien sich nicht zu trauen, in die Küche zu kommen und sich an den Tisch zu setzen. Die ganze Zeit stand er an den Rahmen gelehnt. »Sind deine Eltern gar nicht da?«, erkundigte er sich. Es klang, als würde er angestrengt versuchen, einen Plauderton einzuschlagen. Ich hob den Blick, um ihn anzusehen. Wieder wirkte er unsicher, rollte die Lippen übereinander und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Nein«, antwortete ich steif. Dion hatte offenbar bemerkt, dass ich nicht mehr dazu sagen wollte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er sich kurz umschaute, einen Blick über die Schulter in den Flur warf. Er hatte außer dem Flur und der Küche noch nichts von der Wohnung gesehen, aber vermutlich war ihm schon aufgefallen, dass es nicht danach aussah, als würden drei Leute hier wohnen; dass die Wohnung auf nur eine Person ausgerichtet war. »Hast du Geschwister?« Offenbar wollte er unbedingt Small Talk halten. Ohne aufzusehen verneinte ich seine Frage. Ich hatte keine Geschwister. Zumindest keine, von denen ich wusste. Und im Grunde wollte ich auch keine haben. Und ich auch nichts von irgendwelchen eventuellen Brüdern oder Schwestern oder was auch immer wissen. »Ich auch nicht.« »Ich weiß.« Schlaumeier. Ich war schon bei ihm zu Hause gewesen und es wäre mir sicherlich aufgefallen, wenn er Geschwister gehabt hätte. »Woher?« Ich rollte die Augen, bevor ich Bambi ansah. Diese naive Frage konnte wirklich nur von ihm kommen. Es überraschte mich, dass er ziemlich selbstbewusst aussah, als ich ihn anschaute. Offensichtlich schien er die Frage für berechtigt zu halten. »Ich war bei dir zu Hause, schon vergessen? Es wäre wohl aufgefallen, wenn du Geschwister hättest.« »Und was, wenn ich eine ältere Schwester oder Bruder hätte, die gar nicht mehr zu Hause wohnen würden? Oder kleinere Geschwister, die noch irgendwo zur AG waren oder Ähnliches? Meine Eltern hast du auch nicht gesehen und trotzdem lebe ich mit ihnen in dem Haus.« Verblüfft schaute ich Bambi an. Das war eine schlüssige Argumentation, die er da geführt hatte, mit einem Anflug von unerwarteter Selbstsicherheit, die ich bei ihm — mir gegenüber zumindest — noch nie erlebt hatte. Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass er Recht mit dem hatte, was er mir soeben erklärt hatte. Irgendetwas hatte mir einfach das Gefühl gegeben, dass er genauso ein Einzelkind war wie ich. Seine kleine Ansprache ließ mich für einen Moment sprachlos. Dann wandte ich mich dem Milchreis zu, rührte und schaltete dann die Herdplatte wieder ab, bevor ich den Topf auf eine unbeheizte Stelle stellte. »Zimt oder Kirschen?«, fragte ich, während ich zwei Teller hervorholte und Löffel aus der Schublade nahm. Ich stellte das Geschirr auf den Tisch, dann holte ich einen Untersetzer, legte ihn zwischen die Teller und setzte den Topf darauf ab. Danach holte ich eine kleine Schöpfkelle. Zögernd setzte Dion sich endlich in Bewegung und trat einen Schritt in die Küche. Er war glücklicherweise nicht mit dem Rahmen verwachsen, wie ich zunächst befürchtet hatte. Eine Sorge weniger, wunderbar. »Kirschen«, sagte er dann langsam. »Heiß oder kalt?« Er schien sich nicht entscheiden zu können. Fast ging ich davon aus, er würde mir irgendwelchen Aufwand ersparen wollen, als er auf kalt bestand. Schulterzuckend holte ich eine Tüte gefrorener Kirschen aus der Kühltruhe und schnitt sie auf. Ich warf Dion einen kurzen Blick zu. Er sah ein wenig leidig aus, als er mir dabei zuschaute, wie ich einen Teil Kirschen in eine kleine Schale kippte. »Doch heiß?«, fragte ich. »Ja«, gestand er kleinlaut. »Wusste ich’s doch«, meinte ich leise. Dann stellte ich die Schale in die Mikrowelle und machte diese an. Während die Kirschen aufgewärmt wurden, suchte ich mir meinen Zimt und Zucker zusammen, stellte ihn auf dem Tisch ab und lehnte mich an die Anrichte, während ich darauf wartete, dass die Mikrowelle ihren Dienst abschloss. Als ich die Schale herausholte, dampften die Kirschen ein wenig. Ihr Saft war ausgelaufen. Ich stellte sie vor Dion auf dem Tisch ab, dann setzte ich mich ihm gegenüber auf den Stuhl und ließ mir von Bambi seinen Teller geben, um Reis aufzufüllen. Während wir — im Schweigen, wie so oft — aßen, dachte ich darüber nach, dass ich erst kürzlich fluchtartig das Weite gesucht hatte, um nicht bei Dion, einem mir so gut wie Fremden, essen zu müssen, und jetzt saß genau er bei mir und aß. Das erschien widersprüchlich, sogar mir gegenüber. Dion starrte konzentriert seinen Teller an. Ich befürchtete, er würde wieder mal Telepathie mit Nahrung versuchen, aber dann hob er den Blick und wir sahen einander kurz an. »Wo hast du eigentlich vorher gelebt?«, fragte ich ihn in einem Anflug von Neugier und dem dümmlichen Bestreben, seinen fremden Status mir gegenüber etwas aufzulösen. Dion sah genauso perplex aus, wie kurz zuvor, als ich ihn gefragt hatte, ob er mit mir hochkommen wollte. Er hielt mitten in der Bewegung inne und zugegebenermaßen sah er doch witzig aus, wie er dasaß und mich verwirrt anschaute; den Mund geöffnet, der Löffel auf dem Weg zu den Lippen und den Arm halb gehoben. Langsam ließ er den Löffel wieder sinken und klappte hastig den Mund zu. »Peoria«, antwortete er schließlich. Peoria, dachte ich und wühlte in meinem Hirn nach meinen spärlichen geografischen Kenntnissen. Der Name sagte mir was, ich hatte ihn schon mal gehört, aber ich wusste die Stadt nicht einzuordnen. Weder klimatisch noch geografisch noch sonst irgendwie. »Illinois«, erklärte Dion mir fachkundig, bevor er sich den nächsten Löffel Milchreis in den Mund schob. »Nicht sehr weit weg von Chicago.« Ich nickte. Chicago konnte ich zumindest einordnen. Das war mir noch geblieben von Geografie. Herrlich. Während ich in meinem Milchreis rührte, hoffte ich darauf, dass Bambi von sich aus erzählen würde, so wie er es im McDonald’s getan hatte. Ich wollte ihm nicht alles aus der Nase ziehen, schon gar nicht wollte ich heucheln. Er sollte einfach reden, das konnte er sonst so gut. Es erschien mir, wie ein verzweifelter Versuch meinerseits, ihn irgendwie besser kennenzulernen. Warum auch immer. Das Wetter schien sich auf unübliche Weise auf mich auszuwirken … Aber er sprach nicht weiter. Ich seufzte innerlich. Eigentlich wollte ich ihn nicht ausfragen. Ich wollte, dass er von sich aus erzählte. Seit ich neulich sein Haus verlassen hatte, fragte ich mich schon, was wohl seine Vergangenheit war. Es war nicht so, dass es mich nachts wach hielt, es war einfach Neugier. Und es war das erste Mal, dass mich die Vorgeschichte eines Neuen interessierte. Dieses Interesse hatte sich erst geregt, als ich die Fotos in Bambis Zimmer gesehen hatte, die eine so andere Persönlichkeit zeigten als die, die er jetzt zu haben schien. »Und warum seid ihr umgezogen?«, fragte ich dann doch. Dion schien die Frage wieder unvorbereitet getroffen zu haben, aber er sah nicht mehr ganz so verwirrt aus, wie bei den ersten beiden Malen. Dann zuckte er gleichgültig die Schultern. Er rührte mit der Löffelspitze in dem Reis und ein Strudel aus weiß und rot bildete sich darin. »Meine Eltern haben dieselbe Berufsrichtung und wurden versetzt. Sie haben sich darüber gefreut, weil sie sowieso geplant hatten, umzuziehen. Da kam es ihnen recht, so mussten sie sich nicht nach neuen Jobs umsehen«, erwiderte Dion. Er klang recht eindruckslos, aber ein frustrierter Unterton lag dennoch in seiner Stimme. Klar. Warum auch nicht? Immerhin hatte er seine Freunde in Peoria gehabt und war gezwungen gewesen, sie alle hinter sich zu lassen. Das war nicht einfach. Ich wusste das. »Vermisst du dein altes Zuhause?« Ich hatte keine Ahnung, welche Art sentimentaler Stimmung mich ergriffen hatte, dass ich danach fragte. Ich kam mir vor wie ein kitschiges Mädchen, wie in irgendwelchen Soaps und Filmen, die dem traurigen Kerl tröstend eine Hand auf den Arm legte. Bambi schaute mich an. So, wie es wirkte, dachte er über die Frage nach. Eine Weile verging, in der er mir nicht antwortete. Er schien tief in Gedanken, noch immer rührte er in seinem Reis, als würde er hoffen, daraus eine Antwort herauslesen können. Seine Miene war unbewegt. »Mein Zuhause ist dort, wo meine Freunde sind«, antwortete Bambi schließlich mit so ruhiger und ernster Stimme, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Sonst war er immer in seinem Sonnenschein-Modus und strahlte mit der Kraft von mindestens zehn Atomkraftwerken, aber in diesem Augenblick war alle Leuchtkraft auf ein Minimum heruntergefahren. Mensch, wenn die ganzen sabbernden Mädchen aus der Schule ihn jetzt sehen würden … Wer wusste, wie viele von diesen Weibern Dion mit seinem Strahlen versorgte? Wahrscheinlich knockte er gerade viele weibliche Wesen aus. »Und meine Freunde sind hier.« Seine Miene war zur Abwechslung unergründlich. Der Ausdruck, mit dem er mich ansah, war mir schleierhaft. Bambi schien an etwas Geheimes, Sensibles zu denken, an etwas, dass jedem anderen so fern war wie die Sonne selbst. »Tess, die Leute aus der Volleyball AG … du.« Regel Nummer achtzehn (neu): Mein Zuhause ist dort, wo meine Freunde sind. Ich war mir sicher, wenn ich etwas in Mund gehabt hätte, dann wäre ich daran erstickt. Ich starrte Bambi so entgleist an, dass ich dachte, bei mir wäre hirntechnisch Endstation. Sackgasse. Hirntod. Aber wenige Augenblicke später konnte ich immer noch atmen, mein Herz schlug, Kreislauf lief. Abgesehen von den lebenserhaltenden Maßnahmen schien mein Hirn allerdings auch nicht mehr zu funktionieren. Dions letzte Worten schallten irgendwo hinter meiner Stirn wider. Wie eine Endlosschleife spulten sie sich ab, solange, bis irgendein geheimer Schalter umgelegt wurde und meine graue Masse wieder über die lebensnotwendigen Anweisungen hinaus zu arbeiten begann. Erst dann ergaben die Worte auch einen Sinn. Einen, den ich nicht wirklich nachvollziehen konnte, aber sie ergaben einfach einen Sinn. Bambi sah mich als Freund an. Diese Tatsache schien mir so abwegig, wie der Gedanke, Rotkäppchen könnte den Wolf und ihre Großmutter fressen. Aber Dion sah nicht so aus, als hätte er einen Witz gemacht. Ganz im Gegenteil, er schien sie ziemlich ernst zu meinen. »Ich?«, echote ich schließlich stumpfsinnig. Dion zögerte. »Nicht?«, meinte er und Verunsicherung nahm Einzug in seiner Stimmlage. »Ich dachte nur … weil du … nicht mehr versuchst, mich oder meine Nähe zu meiden.« Wie vom Donner gerührt, saß ich am Tisch und starrte Dion an. Das war vermutlich das Ehrlichste, was ich von ihm bisher zu hören bekommen hatte. Nicht, dass er mich bezüglich irgendetwas angelogen hätte, aber einfach … die Art, wie er das sagte; was er überhaupt sagte. Er hatte immer so nichtsahnend gewirkt, wenn ich ihn angezischt oder versucht hatte, ihm offensichtlich zu zeigen, dass ich ihn nicht in meiner Nähe haben wollte. Diesmal war ich wohl der Naive, der in seiner kindhaften Boshaftigkeit davon ausgegangen war, dass Dion dumm genug war, um nichts als die Abneigung wahrzunehmen, die ich ihm zu zeigen versucht hatte. Er hatte sich nie oder so gut wie nie etwas anmerken lassen. Mir gegenüber nicht. Während er in mir offensichtlich gelesen hatte wie in einem Buch, war er für mich undurchschaubar geblieben. Nicht, weil er sich verschloss, sondern einfach nur, weil ich nie darauf geachtet hatte. »Ich weiß, du machst das auch Tess zuliebe. Aber ich dachte, dass wir vielleicht doch … irgendwie … na ja«, fügte Bambi nach einiger Zeit hinzu. Er bekam viel mehr mit, als ich immer gedacht hatte. Er war so viel empfänglicher für so empfindliche Sachen als ich. Ich hatte es nie bemerkt. Was mir entging, das fiel ihm auf. Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. Es kam von ganz hinten, von sehr tief heraus und es war durchaus ernst gemeint, als ich sagte: »Lass mir Zeit.« ___ tbc. Kapitel 8: Kiss --------------- KISS Regel Nummer neunzehn: Es ist nicht alles so, wie es scheint. Mein Leben schien gepackt und auf den Kopf gestellt worden zu sein. Irgendjemand schüttelte es kopfüber ordentlich durch. Es klingelte eigenartig in meinen Ohren. Ich hatte nicht glauben können, was ich hörte. Er erschien so abstrus, so wahnsinnig abwegig, dass ich im ersten Moment dachte, jemand würde mich verarschen. Ein dummer Streich, ein Witz, eine lächerliche Aktion, um zu sehen, wie ich darauf reagieren würde. Irgendwo in meinem Bauch sammelte sich die Energie, die ich fürs Lachen brauchte, aber sie löste sich schnell in schierem Unglauben auf, als ich bemerkte, dass nichts davon ein Witz war. Eigentlich hatte ich das nicht mitmachen wollen. Wirklich nicht. Ich meine, bevor ich das Bedürfnis hatte zu lachen, wäre ich fast erstickt. Ich hatte mich verschluckt und wäre hustend fast armselig krepiert. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Den ganzen Tag hatte ich mit mir gerungen und schließlich — auf Tess’ Drängen hin — das ungute Gefühl, dass sich in mir angestaut hatte, ignoriert und war gegangen. Ich hätte wohl auf mein Bauchgefühl hören sollen. Eine Katastrophe bahnte sich an; manchmal kann man sie kommen sehen. Nur die Ausmaße, die Konsequenzen, die ließen sich schwer ausmachen. Bambi gab eine Party. Ich konnte ihn mir nur schwer auf einer Party vorstellen, aber bei der Erinnerung an die Fotos in seinem Zimmer, wusste ich, dass er kein Eremit war. Partys schienen zu seinem Leben immer dazugehört zu haben. Trotzdem … ein Rehkitz und eine Feier? Wen wollte er denn einladen? Klopfer und seine Freunde? Nichtsdestotrotz war die Party Gesprächsthema Nummer eins in unserem Jahrgang. Es war keine dieser kleinen Feste von einem scheuen Nerd, der sich Freunde machen wollte. Dion hatte weit ausgeholt. Mundpropaganda. Wer aus dem Jahrgang kommen wollte, der konnte kommen. Allerdings hatte die Party ein Motto: Schwarz und Weiß. Der Dresscode eben. Wie gesagt, ich war nicht sonderlich gewillt gewesen, auf diese Party zu gehen. Aber Tess war der Meinung gewesen, es würde sich sicherlich positiv auf meine … Beziehung zu Dion auswirken, wenn ich hinging. Mir war schleierhaft, weshalb sie annahm, es gäbe zwischen ihm und mir auch nur den leisesten Hauch irgendeiner Beziehung. Aber so, wie ich Bambi kannte, hatte er seiner selbsternannten Mutter in kleinstem Detail erzählt, was neulich bei mir zu Hause geschehen war. Tess sah sich wahrscheinlich verpflichtet, diesen Keim zu hegen und zu pflegen, damit ich irgendwann in der Lage war, Freundschaft mit Dion zu schließen. Während Tess auf mich eingeredet hatte, hatte ich darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, doch zu dieser Party zu gehen. Dion in einem Pulk Menschen zu sehen wäre etwas Ungewöhnliches. Vielleicht würde er eine Seite seiner Persönlichkeit zeigen, von der niemand geahnt hätte. Allein deswegen juckte es mich fast, Tess zu begleiten. Es war größtenteils meine Neugier, die mich letztendlich zu der Entscheidung trieb, hinzugehen. Ich fragte mich, ob diese Party heimlich war. Bei bestem Willen … sollten Bambis Eltern etwa ein solches Event erlaubt haben? Die ganze Zeit zerbrach ich mir den Kopf darüber, was schließlich dazu führte, dass ich mich fragte, wie Dions Eltern wohl so drauf waren. Die Liste der Dinge, die ich nicht über Bambi wusste, wurde länger. Das hatte zur Folge, dass bei mir irgendein bekloppter Schalter umgelegt wurde, der meine Neugier auf zehntausend Prozent anhob. Mich begeisterte das nicht sonderlich, aber mein innerer Drang blieb davon unberührt. Ich wollte wissen, wer Dion war, und warum er sich augenscheinlich so von der Person auf den Fotos unterschied. Tess und ich hatten uns verabredet, um gemeinsam zu Dion zu gehen. Ich saß auf ihrem Bett, während sie immer noch unschlüssig war, was sie anziehen sollte. Gerade hielt sie sich eine schwarze Jeans vor die Hüfte und begutachtete sich im Spiegel. Dazu holte sie sich ein langärmeliges, hochgeschlossenes Oberteil. Ich stöhnte leise, ließ mich rücklings auf ihr Bett fallen und bedeckte die Augen mit den Händen. Es war immer das Gleiche mit ihr. Ich setzte mich wieder auf und Tess sah mich durch den Spiegel skeptisch an, als würde sie an meinem geistigen Zustand — wie so oft — zweifeln. »Kannst du nicht mal etwas anziehen, das darauf hinweist, dass zumindest ein bisschen Weiblichkeit in dir steckt und dass du nicht ein Kerl bist, der leider in einem Frauenkörper steckt?«, fragte ich sie genervt und begutachtete das Oberteil, das sie noch immer in der Hand hielt. Sie begutachtete mich immer noch durch ihren Spiegel, die Augenbrauen missmutig zusammengezogen. »Was ist denn an dem hier falsch?«, fragte sie mich mit einem halb verzweifelten Unterton in der Stimme. »Was daran falsch ist?«, wiederholte ich ungläubig und schüttelte leicht den Kopf. »Du gehst auf eine Party, Theresa Amanda, und wenn du ernsthaft in Betracht ziehst, dieses Ganzkörperkondom da anzuziehen, dann kannst du dir auch gleich eine Nonnenrobe überwerfen. Du kannst dir wahlweise natürlich auch einen Eisenbody anziehen, damit auch jeder letzte Idiot sieht, dass du ein Keuschheitsgelübde vor Gott abgelegt hast. Den Schlüssel hast du in den Krater eines aktiven Vulkans geworfen und das Schlüsselloch hast du zuschmelzen lassen. Sollte das die Intention deines Outfits sein, so wird es sein Ziel sicher nicht verfehlen. Trotzdem wird es keinen Kerl daran hindern, dich anzustarren oder sich auch nur vorzustellen, wie es darunter aussieht.« »Sprach der Meister«, schnaubte sie verstimmt. Sie drehte sich schwungvoll zu mir um, warf mir die Jeans und das Oberteil entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick war vorwurfsvoll, aber ich wusste, dass sie mir insgeheim Recht gab. Tess neigte nicht dazu, sich gerne übermäßig aufzutakeln. »Was soll ich denn deiner Meinung nach anziehen, Maestro? Vielleicht sollte ich Christina Aguileras Outfit aus Dirrty imitieren«, sagte Tess, während sie von einem Fuß auf den anderen trat. Ich seufzte. Langsam hievte ich mich auf die Beine und ging zu ihrem Kleiderschrank. Ich war gerade dabei, etwas Weißes herauszufischen, als sie zischte: »Schwarz!« Ich verdrehte kurz die Augen, suchte dann aber nach etwas Schwarzem. Nachdenklich zog ich eine schwarze Satinbluse hervor, die aussah, als wäre sie noch völlig ungetragen. Tess beäugte das Stück skeptisch, es wirkte fast so, als hätte sie nicht einmal gewusst, dass sie so eine Bluse besaß. Sie nahm mir den Bügel, auf dem das Oberteil hing, ab, und ich wandte mich wieder den Unweiten ihres Schrankes zu. Tess besaß einen Haufen wirklich ausgefallener Sachen, die noch aus der Zeit stammten, als sie ihre Pubertät gerade angetreten hatte. Ich ersparte es mir, ihr einen lächerlich kurzen Rock hinzuhalten, weil ich wusste, sie hätte mich eigenhändig ohne mit der Wimper zu zucken kalt gemacht. Stattdessen fand ich schließlich im hintersten Teil ihres Schrankes einen schwarzen Rock, der, augenscheinlich, eine angemessene Länge hatte. Ich reichte ihn Tess. Sie sah immer noch nicht überzeugt aus, sagte aber nichts und zog sich schweigend um. Der Rock war hochgeschnitten und der Bund schmiegte sich röhrenförmig um Tess’ Taille. Er lag eng an ihrer Hüfte und den Beinen an und reichte ihr bis knapp über die Knie. Tess stand vor dem Spiegel, zupfte ungeduldig an dem Saum des Stückes herum, als wäre sie unzufrieden. Ich ahnte, dass sie sich gerade vermutlich nackt fühlte, so selten, wie sie Röcke trug. Aber ich schwieg und sah ihr dabei zu, wie sie vom Zupfen des Rockes dazu überging, an dem dezenten Ausschnitt ihrer Bluse zu hantieren. Die Ärmel des Oberteils weiteten sich kurz unterhalb des Ellbogens trompetenförmig. »Vielleicht solltest du eine Strumpfhose anziehen«, schlug ich vor, um sie von ihrem Zupfen abzulenken. Es war ziemlich kalt draußen, vor allem jetzt, wo es schon dunkel war. Tess schaute mich wieder durch den Spiegel an und für einen Moment dachte ich, sie würde sich jetzt eine fette blickdichte Strumpfhose anziehen. Doch dann schnaubte sie und sah aus, wie ein kleines, verletztes Mädchen. »Ich hab keine Strumpfhosen«, verkündete sie. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, seufzte gespielt theatralisch und sprang dann auf die Beine. Während Tess mir verblüfft nachschaute, ging ich aus ihrem Zimmer und fragte Julie, ob sie ihrer Tochter eine ihrer Strumpfhosen leihen könnte. Im Gegensatz zu Tess zog Julie sich nämlich immer sehr elegant damenhaft an, zumindest, wenn sie irgendwo hin musste. Julie folgte mir mit einer Strumpfhose in der Hand in Tess’ Zimmer und begutachtete ihre Tochter eingehend, während Tess dastand, beide Hände am Saum des Rocks. Ihre Mutter verdrehte kurz die Augen. »Reiß dich mal zusammen«, sagte Julie. »Du siehst gut aus. Grace sollte öfter deine Garderobe aussuchen.« »Woher weißt du—?« »Du würdest so etwas nicht aus Eigeninitiative aus deinem Schrank suchen«, erwiderte Julie schulterzuckend und reichte Tess die Strumpfhose, bevor sie sich umdrehte und das Zimmer wieder verließ. Ich grinste stumm vor mich hin, während Tess ein wenig verloren in ihrem Zimmer stand. Sie seufzte, dann ließ sie sich neben mich auf ihr Bett fallen und begann, die Strumpfhose vorsichtig überzustreifen. »Ich bin bestimmt total overdressed!«, jammerte sie. Mädchen waren unerträglich. »Bist du nicht«, widersprach ich. »Dion hat gesagt, dass es keine formlose Party ist. Außerdem setzen Schwarz und Weiß eine gewisse Eleganz voraus. Du solltest aufhören, dich selbst zu bemitleiden und öfter mehr Bein zeigen. Darauf wartet die Männerwelt doch schon seit Jahren.« »Ach ja?« »Wir sind dir alle hoffnungslos verfallen.« »Wenn ihr’s sowieso schon seid, warum muss ich dann noch so was anziehen?« »Du willst doch deine Fangemeinde behalten? Dann lass uns erahnen, was sich unter diesem wunderschönen Stück Satin alles befindet.« Tess sah mich gespielt ironisch an. »Dich brauche ich das nicht erahnen zu lassen, du weißt es schon.« »Aber der Rest der Welt doch nicht«, erwiderte ich grinsend. Dann beugte ich mich vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Tess schnaubte wieder, dann widmete sie sich ausschließlich der Strumpfhose, die sie mit aller Vorsicht über ihre Beine zog. Ich schaute ihr schweigend dabei zu, während ich mich nach hinten auf meine Arme stützte. Während ich sie so betrachtete, fiel mir etwas ein, was ich schon vor einiger Zeit mal irgendwo aufgeschnappt hatte: Jedes Mädchen wollte eine Lady sein, aber sie wollte einen Mann an ihrer Seite, der diese Lady in ihr hervorholte. Soweit ich wusste, hatte Tess nach mir bisher keinen weiteren Freund gehabt. Ich wünschte mir jemanden für sie, der sie jeden Tag seines Lebens wie eine Prinzessin behandelte; wie jemanden, der ihm wichtiger war als der Rest der Welt. Sie hatte es verdient. »Was starrst du so?«, fragte sie mich plötzlich. Mir war nicht aufgefallen, dass sie fertig war. Ich blinzelte verwirrt, dann lächelte ich kurz. Tess lächelte zurück, dann erhob sie sich und strich ihren Rock glatt. Eine halbe Stunde später standen wir unten im Flur. Tess trug ihre Haare zur Abwechslung mal offen. Sie hatte sich kaum geschminkt, eigentlich sah man nur ihren Wimpern an, dass sie überhaupt Make-up trug. Ich zog meine Schuhe an und betrachtete Tess dabei, wie sie ihre Füße in schwarze, stoffüberzogene Pumps steckte. High Heels. Mörderische Dinger. Obwohl sie solche Schuhe selten trug, verfügte meine beste Freundin über die erstaunliche Fähigkeit, problemlos auf ihnen laufen zu können. Ich vermutete, dass diese Befähigung an dem X-Chromosom lag. Eine andere Erklärung erschloss sich mir nicht. Julie fuhr uns zu Dion. Als wir ankamen, schien bereits gut was los zu sein. Bevor sie wieder davon fuhr, beugte Julie sich zum Fenster des Beifahrersitzes und schaute Tess eindringlich an. »Wehe, du machst meine Strumpfhose kaputt! Dann kaufe ich dir nur noch rosa Klamotten!«, drohte sie spielerisch. Ich grinste, Tess streckte nur die Zunge raus. Dann lachte sie, wir bedankten uns und machten uns auf den Weg Richtung Haus. Musik drang bis in den Vorgarten, auf der Veranda tummelten sich viele unserer zahlreichen Mitschüler. Einige hatten Bierflaschen in der Hand, andere Cocktailgläser. Alkohol. Na wunderbar. Bambi war doch viel zu jung, um irgendeine Art Drogen zu sich nehmen zu dürfen. Hatten seine Eltern das erlaubt oder lief das auch wieder inoffiziell? Genauso wenig, wie ich mir Dion auf einer Party vorstellen konnte, konnte ich mir ausmalen, wie er wohl mit einem Bier in der Hand aussah. Das würde mein Weltbild wohl ins Wanken bringen … über die Tatsache, dass wir eigentlich nicht mal Alkohol trinken dürften, sah ich hinweg. Das war eine Privatparty, dagegen konnte niemand etwas sagen. Und keiner war dämlich genug, seinen Eltern etwas davon zu erzählen. »Wow«, machte Tess beeindruckt, als sie die vielen Leute sah. »Ich hab nicht erwartet, dass so viele kommen.« »Die sind doch alle nur hier, weil sie wissen wollen, wie ein van Dorve lebt«, sagte ich schnippisch und kassierte dafür von Tess einen kraftvollen Stoß in die Rippen. Unangenehmer Schmerz schoss durch meine Seite, instinktiv presste ich eine Hand auf die Stelle, wo sie mich getroffen hatte. Blöde Kuh. Ich hatte doch gar nichts Schlimmes gesagt, womit hatte ich das schon wieder verdient? Bambi würde sie vermutlich nie im Leben schlagen oder ihm sonst irgendwie wehtun. Nein, Prügelattacken hob Tess sich exklusiv für mich auf. Was für ein Privileg. Kaum hatten Tess und ich die Schwelle der Haustür übertreten, tauchte Bambi wie aus dem Nichts vor uns auf und strahlte wie die Sonne selbst. Scheinbar hatte er etwas wie einen Sensor in seiner Birne, oder er hatte schlichtweg am Fenster gesessen wie ein treudoofer Hund und darauf gewartet, dass Tess und ich in der Auffahrt erschienen. Er nahm uns nach Kavaliersmanier die Jacken ab, machte Tess ein Kompliment bezüglich ihres schicken Aufzuges und wandte sich dann an mich — und schwieg. Nichts. Gar nichts. Kein Wort verließ seine Lippen. Er starrte mich einfach nur, als würde er von einem überwältigend schönen Engel ins Gesicht eines Zyklopen sehen. Und dann tat ich etwas ganz, ganz Dummes. Ich sagte: »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Dion.« Touché. Bambi sah aus, als hätte sein Schwarm ihm einen Heiratsantrag gemacht. Wahrscheinlich sollte Dion nicht nur Nachhilfe in Mathe, sondern auch im Gebrauch und Bedeutung von Sarkasmus. Ich sah zu Tess und erkannte, dass sie nicht minder strahlte als Dion. Wenigstens sie musste doch den Sarkasmus verstanden haben. Oder lächelte sie Bambi zuliebe? Um ihn nicht zu verwirren? Dion watschelte vor und ich stellte ihn mir mit Rehschwänzchen vor. Schreckliches Bild. Ich beugte mich hastig zu Tess. »Warum hast du so dämlich gegrinst? Hast du etwa verlernt, was Sarkasmus ist?«, zischte ich ihr zu, damit Dion nichts hörte. Aber es war wohl überflüssig, zu flüstern, denn es war vergleichsweise laut im Haus. »Wieso Sarkasmus? Du warst doch gar nicht sarkastisch«, meinte Tess und schaute mich mit großen Augen an. Ich starrte zurück. Kein Sarkasmus? Unmöglich. Mich gab’s nicht ohne Sarkasmus, schon gar nicht Bambi gegenüber. Aber wenn selbst Tess das sagte …? Sollte da was dran sein? Ich war verwirrt. Vielleicht hatten sie wegen der Musik nichts bemerkt. Das musste es sein. Definitiv. Dion besorgte Tess und mir etwas zu trinken. Zu meiner Beruhigung stellte ich fest, dass alle aus der Volleyball AG anwesend waren, so musste ich mich für den Abend also nicht an Tess klammern, um ihn zu überleben. Ich hätte doch besser zu Hause bleiben sollen. Unter den Gästen machte ich Katie aus, die sich an einer kleinen Gesprächsrunde beteiligte. Sie lachte gerade, als ich sie erblickte. Ich nahm ein Schluck von dem Zeug, das Dion mir in die Hand gedrückt hatte. Zum ersten Mal realisierte ich, dass es Bier war. Ich wandte den Kopf, als ich ein anerkennendes Pfeifen hörte. Greg ging gerade an uns vorbei und grinste Tess breit an. Nachdem er — und einige andere auch, darunter Dion — ihre Unterwäsche schon einmal zu Gesicht bekommen hatten, durften sie Tess jetzt einmal ganz als schöne Frau begutachten. Mir wurde ganz schlecht bei dem Gedanken daran, was den ganzen Idioten wohl durch den Kopf ging. Vor allem … woran dachte eigentlich Dion dabei? Immerhin war Bambi dabei gewesen, als Tess ihr Shirt damals gelüftet hatte. Und jetzt …? Wie sah er sie? Ich erinnerte mich an den Kuss, den Tess Dion im Krankenhaus gegeben hatte; an den Blick, den er mir dabei zugeworfen hatte. Das war mir immer noch ein Mysterium, weshalb er das getan hatte. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr fragte ich mich, ob Dion wohl Interesse an Tess hatte. Aber ich hatte nie den Eindruck gehabt, dass er sie verliebt anhimmelte. Wenn er es tat, dann versteckte er das sehr gut. Ich vertiefte den Gedanken weiter und sinnierte darüber, ob Bambi wohl schon mal eine Freundin gehabt hatte. Selbst mit einer Menge Fantasie erschien es mir nicht möglich, mir diese Szene auch nur annähernd vorzustellen. Dion händchenhaltend und vielleicht auch knutschend mit einem Mädchen. Das war … unmöglich. Bambi war einfach zu unschuldig, um auch nur darüber nachzudenken, seine Zunge in den Mund eines Mädchens zu schieben. Wusste er überhaupt, was ein Zungenkuss war? Wusste ich überhaupt noch, wie man küsste? Unwillkürlich strich ich mir mit den Fingerspitzen über die Lippen. Es war schon eine Ewigkeit her, dass ich jemanden zuletzt geküsst hatte. Tess zählte nicht. Abgesehen davon … ebenso wie Tess nach mir keinen Freund gehabt hatte, hatte ich nach ihr keine Freundin mehr gehabt. Und das war nun mindestens schon zwei Jahre her. Nicht, dass ich scharf darauf war, nach jeder beendeten Beziehung eine neue anzufangen, das widersprach meinen Grundsätzen, aber auf die Dauer war es eben einfach … unangenehm, allein zu sein. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, gipfelte die Party in dem allseits bekannten wie beliebten Flaschendrehen. Geoff, ein Mitglied der Volleyball AG, mit dem ich außerdem wunderbar klarkam, saß neben mir. Er war bereits ordentlich angetrunken und freute sich wie ein kleines Kind, dass wir endlich an diesem Punkt der Party angelangt waren. Vermutlich hatte er mittlerweile so viel intus, dass es ihm sogar völlig egal war, ob er ein Mädchen oder einen Kerl knutschte. Und am nächsten Tag würde er sich von jedem, der es gesehen hatte, anhören müssen, mit welchem der Typen auf der Party er rumgeknutscht hatte. Wenn es denn dazu kam. Meistens einigten sich nämlich alle darauf, dass sich nur geküsst wurde, wenn es sich dabei um einen Kuss zwischen zwei Mädchen oder zwischen einem Jungen und einem Mädchen handelte. Alles andere wurde geflissentlich ignoriert. Ich nippte an meinem Bier, während eine leere Flasche in der Mitte des Kreises platziert wurde. Anfangs hatte ich das Spiel als amüsant empfunden, inzwischen fand ich es albern. Sowohl jeder Kerl als auch jedes Mädchen erhofften sich vom Flaschendrehen, zumindest einmal den- oder diejenige küssen zu können, auf den sie abfuhren. Außerdem war es ein sicheres Alibi und selbst wenn jemand jemanden unter normalen Umständen nicht einmal anfassen würde, küsste man ihn oder sie, je nach dem, trotz allem. Ich sah mich in der Runde nach Tess um. Sie saß im Kreise einiger Freunde ein gutes Stück von mir entfernt, einen Cocktail in der Hand und bestens gelaunt. Zu meinem Verdruss musste ich feststellen, dass auch Katie mit von der Partie war — und Dion. Alle bestanden darauf, dass er als erster drehte, immerhin war er der Gastgeber. Er genierte sich, drehte aber schließlich. Ich fragte mich, ob Bambi es tatsächlich fertig bringen würde, irgendein Mädchen zu küssen, mit dem er vorher vielleicht gar nichts zu tun gehabt hatte. Das hätte eine völlig neue Seite an ihm offenbart. Und in dem Moment, in dem ich zu dem Schluss gekommen war, dass er sich vermutlich drücken würde, beugte er sich zu dem Mädchen vor, auf das die Flasche gezeigt hatte und gab ihr einen — innigen, wie ich feststellte — Kuss. Mir fiel fast die Bierflasche aus der Hand, als ich das sah. Es verzerrte das Bild, das ich von Dion hatte, grundlegend. Er zeigte sich so anders heute Abend, so unerwartet offen, wie ich niemals erwartet hätte. Als wäre er eine andere Person. Als wäre er der Mensch auf den Fotos in seinem Zimmer. War so der andere Dion gewesen? Der Dion van Dorve aus Peoria, Illinois? Ich verschluckte mich an dem Schluck Bier, den ich im Mund hatte. Ich erhaschte einen Blick auf Tess, die mit offenem Mund Dion anstarrte, mindestens genauso fassungslos wie ich. Unsere Augen begegneten einander für einen Moment und sie legte den Kopf ein kleines bisschen schief. Ich zog die Schultern hoch, hustend, während Geoff mir auf den Rücken klopfte. Nachdem ich mich beruhigt hatte, schaute ich mich in der Runde um. Viele sahen ebenfalls ziemlich überrascht aus über Dions unerwartete Reaktion. Der saß mittlerweile wieder auf seinem Platz und grinste zufrieden. Offenbar war er erfreut über das offenkundige Erstaunen seiner Gäste. Bambi musste zu viel Alkohol im Blut haben. Ich versuchte zu verstehen, was gerade passierte; warum es geschah. Warum um alles in der Welt zeigte Dion sich auf einmal von dieser Seite? Mir blieb gar keine Zeit, um darüber weiter nachzudenken. Alice, das goldblonde Mädchen, das eben von Dion geküsst worden und die nun am Zug war, die Flasche zu drehen, schaute sich zunächst kurz in der Runde um. Dann drehte sie die Flasche und der Hals … der zeigte auf mich. Als ich aufsah, sah ich das entzückte Leuchten in Alice’ Augen. Ich kannte sie nur flüchtig, wir hatten ein paar Kurse zusammen, aber jetzt nahm ich sie zum ersten Mal richtig wahr. Bevor ich mich zu ihr hinüber beugte, drückte ich Geoff die Bierflasche in die Hand. Kurz vor Alice’ Gesicht hielt ich inne, schaute sie an und betrachtete ihre Lippen. Alice war ein hübsches Mädchen, rein äußerlich, aber es gab nichts Besonderes an ihr. Der Kuss schmeckte nach Salzstangen und Alkohol und während ich Alice küsste, kam mir der Gedanke, dass ich gerade indirekt einen Kuss von Dion bekam. So schnell der Gedanke gekommen war, so schnell verbannte ich ihn auch aus meinem Kopf. Bambi war der letzte Mensch, an den ich beim Knutschen denken wollte. Die Party floss dahin und ich war recht glücklich darüber, als das Flaschendrehen irgendwann aufgegeben wurde. Ich hatte keine beträchtlich große Lust mich durch die weiblichen Gäste zu knutschen. Wer wusste schon, was oder wen die vorher am und im Mund gehabt hatten. Geoff, das Loch, hatte mein Bier selbstredend ausgetrunken ohne mich zu fragen und so sah ich mich gezwungen, mir ein neues zu holen. Ich setzte mich ein wenig abseits des Geschehens hin und nippte an der Brühe. Tess war in der Menge verschwunden. Mir stand in diesem Moment nicht das Bedürfnis nach feiern. Der Gedanke an Alice und dass Dion mich indirekt geküsst hatte, kam mir wieder in den Sinn. Ich hasste das. Warum dachte ich daran? Warum assoziierte ich das so? Bambi hatte Alice geküsst und nicht mich. Ich fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht und seufzte. Aus einem mir völlig unerfindlichen Grund machte ich mir viel zu viele Gedanken über Bambi. Immerhin wollte ich mittlerweile eine Menge über ihn wissen, es ärgerte mich nahezu, dass es kaum etwas gab, das ich von ihm kannte. Das war beunruhigend. Sonst interessierten mich die Neuen nicht. Dieses Interesse an ihm ging nicht von Tess es, nicht, weil ich mich ihr zuliebe zusammenreißen wollte … ich wollte diese Dinge über Bambi erfahren. Ich wollte es. Einfach so. Ich stöhnte genervt auf. Das war zu viel Bambi in meinem Kopf. Mit der flachen Hand schlug ich mir gegen die Stirn. »Hast du Kopfschmerzen?«, fragte eine weibliche Stimme. Ich hob den Kopf. Es dauerte ein wenig, bis ich erkannte, wer es war. Alice stand mit dem Licht im Rücken vor mir, dann setzte sie sich neben mich. Ihre gewellten blonden Haare fielen über ihre schmalen Schultern, als sie sich ein Stück vorbeugte, um mich ansehen zu können. »Sozusagen«, meinte ich schulterzuckend, bevor ich einen Schluck aus der Flasche nahm. Manchmal wunderte ich mich darüber, dass ich auf Partys mit Leuten sprach, mit denen ich sonst nichts zu tun hatte. Ich hatte vorher nie aktiv über Alice nachgedacht und jetzt fiel mir auf einmal ein, dass wir zusammen Sport hatten und sie zu den Mädchen gehörte, die das Fach weder mochten noch konnten. Wir hatten mal zusammen Volleyball gespielt, da war Alice in Tess’ und meiner Mannschaft gewesen; gemeinsam hatten wir ihre Position abgedeckt, damit Alice keine Bälle annehmen und spielen musste. Einige Dinge nahm ich wirklich nicht bewusst wahr. Ich sah Alice an und sie schaute zu mir zurück. Sie war hübsch, ja, aber sie war auch nicht unbedingt der Persönlichkeitstyp, der gerne im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Zumindest erschien es mir so. Nachdenklich betrachtete ich sie, während sie still neben mir saß. Alice hatte schöne Lippen, das war mir vorhin schon aufgefallen. Und sie hatte Dion geküsst. Ich stöhnte innerlich frustriert auf. Das Rehkitz wollte einfach nicht aus meinem Kopf! Mit meiner freien Hand strich mir durch die Haare. Ich wollte jetzt nicht über ihn nachdenken. Ich war in seinem Haus auf seiner Party. Reichte das nicht erst einmal? Alice saß immer noch schweigend neben mir. Zuerst achtete ich gar nicht darauf, aber dann begann es mir zu dämmern, dass es wohl einen bestimmten Grund hatte, warum sie trotz mangelnder Unterhaltung noch hier war. Als ich sie genau betrachtete, fiel mir auf, dass sie mit den Fingern ihrer Hände spielte, als würde sie auf etwas warten, sich aber nicht trauen, danach zu fragen. Ich schaute von Alice auf und erblickte hinter ihr Dion. Er stand am Fuß der Treppe und hatte ein Glas mit Wasser in der Hand. Zwar stand er nicht in unmittelbarer Nähe, aber er schien zu uns herüberzuschauen. Meine Augen wanderten zurück zu Alice, die mich mittlerweile auch wieder anschaute, beinahe hoffnungsvoll, wie ich meinte zu sehen. Einem Reflex folgend beugte ich mich zu ihr und drückte meine Lippen auf ihre. Ich fühlte, wie Alice ihre Arme um meinen Nacken legte und mich zu sich zog. Das war es wohl, worauf sie gewartet hatte. Der Gedanke schallte wie ein stummes Echo in meinem Kopf wider. Vor meinem inneren Auge flackerte ein Bild auf, verschwand schnell aber wieder. Alice’ Hände gruben sich durch meine Haare, strichen über meinen Rücken und meine Schultern und schoben sich schließlich unter den Saum meines schwarzen Hemds. Ich umfasste ihre Handgelenke, um ihre Finger hervorzuziehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, löste ich mich atemlos von Alice, ihre Handgelenke immer noch umfasst, um sie daran zu hindern, mich zu begrabbeln. Sie schaute mich verklärt an, ihre Wangen waren gerötet und sie lächelte mich zaghaft an. Ich presste die Lippen zusammen und sah auf. Mein Blick fiel wie von selbst wieder auf Dion. Er stand unbewegt auf demselben Fleck wie wenige Augenblicke zuvor und starrte mich an. Ich meinte zu erkennen, dass der Glas so fest umklammert hielt, dass seine Knöchel schneeweiß hervortraten. Doch ich konnte es nicht genau sagen. Ein undurchschaubarer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Langsam wandte er sich ab und verschwand aus meinem Blickfeld. Regel Nummer zwanzig: Sein und sein lassen. ___ tbc. Kapitel 9: Disarray ------------------- 200 Kommentare. Ihr seid echt unglaublich. Als ich angefangen habe, diese Story zu schreiben, hätte ich nicht gedacht, dass sie so gut bei euch ankommen würde. Das macht mich wirklich sprachlos. Ich bedanke mich bei allen fleißigen Kommentarschreibern für die tolle Unterstützung. Es freut mich jedes Mal, wenn ich lese, was ihr über die Entwicklung der Geschichte & ihrer Charaktere denkt. Macht immer schön weiter so, ich verlasse mich auf euch :D Dieses Kapitel widme ich , weil sie den 200. Kommentar gemacht hat. Außerdem verkünde ich hiermit, dass (voraussichtlich) noch sechs weitere Kapitel folgen werden, bis die Geschichte abgeschlossen ist. Wer nähere Infos haben möchte, kann mal in meinen Weblog schauen, da stehen die Kapiteltitel aufgelistet. :) So, und nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen. _____________________________________________________ DISARRAY Ich war eingelullt in herrliche Wärme und schwebte irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein. Es war ein so angenehmes Gefühl, dass ich es möglichst lange festhalten wollte, doch es verflüchtigte sich viel zu schnell zwischen meinen gedanklichen Fängen. Leises Geklapper drang an meine Ohren, das gedämpft aus einiger Entfernung zu mir herüberwehte, wie es schien. Der Schlaf wich immer weiter zurück, und ich nahm immer mehr um mich herum wahr. Zumindest alles, was mit Hören und Fühlen zu tun hatte. Ich wollte die Augen nicht aufmachen, weil ich wusste, ich würde dieses behagliche Gefühl nicht wieder herstellen können. Während ich vor mich her lümmelte, stellte ich fest, dass ich festen Boden unter den Füßen hatte. Seit wann wühlte ich denn so im Bett herum, dass meine Füße dabei herunterhingen? Irgendetwas lag auf meinem Kopf. Es war nicht schwer, aber weich. Vermutlich mein Kissen. Das Klappern hielt beständig an und während mein müdes Hirn sich fragte, was es war, mischten sich Stimmen darunter. Lachende Stimmen. Stimmen, die mir fremd waren. Ich schlug augenblicklich die Augen auf. Für einen Moment war ich geblendet, aber meine Pupillen passten sich den Lichtverhältnissen schnell an. Ich brauchte einen Augenblick, um festzustellen, dass ich mich nicht zu Hause befand. Mit wachsendem Entsetzen schaute ich mich reglos in dem großen Raum um, in dem ich mich befand. Er kam mir im Entferntesten bekannt vor, diese Unordnung … Ich saß auf einer Couch, auf einer sehr weichen, sehr gemütlichen Couch, die zum Typ »Setz dich und steh nie wieder auf« gehörte. Eine weiche Decke lag über mir, was die Wärme erklärte, die mich umfangen hielt. Ich warf sie von mir, spülte die unangenehme Kühle, die sofort über meine Arme kroch. Noch immer trug ich das schwarze Hemd von der Par— Dions Party. Ich saß kerzengerade auf der Couch. Im selben Augenblick hörte ich ein Aufjaulen, das weiche Kissen flog von meinem Kopf auf meinen Schoß. Ich fühlte einen unangenehmen Schmerz in meinen Beinen, als sich etwas durch den Stoff der Hose in meine Haut bohrte. Ein weißes Knäuel hockte auf meinem Schoß. Eine von Dions Katzen, wurde mir langsam klar. Sie hatte ihre Krallen in mich geschlagen. Ganz offensichtlich hatte ich sie erschrocken, als ich mich so abrupt aufgesetzt hatte. Ganz allmählich fing mein Hirn an zu kombinieren. Dions Party, Dions Wohnzimmer, Dions Katze … ich trug immer noch dieselben Klamotten und schlief auf einer Couch, notdürftig unbewegt und zugedeckt mit einer Decke und einer Katze, die meinte, meine Haare wären ein Kuschelkörbchen. (Das war also doch nicht mein Kissen auf meinem Kopf …) Scheiße. Ich hatte doch wohl nicht allen ernstes auf der verdammten Couch im Wohnzimmer von Dions Haus geschlafen …? Und noch dazu mit einer verfluchten Flohschleuder auf dem Kopf! Na herrlich. Ich musste wirken wie der letzte Junkie. So viel Alkohol hatte ich doch gar nicht getrunken. Ich pulte die Katze von meinen Beinen und hoffte doch stark für das Vieh, dass es meine Hose nicht zerstört hatte. Hatte es nicht. Glück für die Katze. Ihr Glöckchen klingelte hell, als sie auf allen Vieren auf dem Boden landete. Sie schüttelte ihren Kopf, sichtbar nicht begeistert darüber, dass ich sie herunter gefegt hatte. Ich fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht. Wie kam ich hier am schnellsten unbemerkt wieder weg? Durch den großen Bogen konnte ich das kleine Foyer des Hauses sehen. Auf der anderen Seite, gegenüber dem Wohnzimmer, befand sich die Küche, doch die war jetzt nicht einsehbar. Eine Schiebetür blockierte die Sicht, nur ein kleiner Spalt war offen, doch der bot keine Möglichkeit, um zu erkennen, was sich dahinter abspielte. Fest stand nur, dass das Geklapper und die Stimmen aus der Küche kamen. Während ich fieberhaft darüber nachdachte, was ich genau eigentlich noch hier machte; wie es dazu gekommen war, dass ich einfach so eingeschlafen war und niemand mich geweckt hatte und wie ich hier möglichst schnell unbemerkt verschwinden konnte, wurde die Tür zur Küche zur Seite geschoben. Unwillkürlich wandte ich den Kopf. Ich sah mich direkt mit Bambi konfrontiert, der gerade aus der Küche kam. So legere gekleidet hatte ich ihn noch nicht gesehen: Er trug etwas, das aussah wie eine Jogginghose und ein Shirt und darüber eine Stoffjacke, die offen zu beiden Seiten herabhing. Als er mich sah, hielt er einen Moment inne. Wir schauten einander wortlos an und während ich ihn ansah, rauschten die Bilder des vorangegangenen Abends durch meinen Kopf. Dions Kuss mit Alice, mein Kuss mit ihr und dann der Zeitpunkt, als sie neben mir saß und Dion zu uns herübergeschaut hatte. Ein unangenehmes Gefühl keimte in mir auf. Ich meinte, etwas wie Reue zu fühlen, Bedauern, aber auch das Bedürfnis, mich vor etwas, das ich nicht genau definieren konnte, verteidigen und rechtfertigen zu wollen. Ich wollte es aber nicht gegenüber Dion, sondern gegenüber mir selbst. Als wäre ich meine eigene Inquisition, vor die ich trat, um mein Handeln zu begründen. Das letzte Mal, als ich das Gefühl hatte, das tun zu müssen, war, nachdem ich mich mit Tess wegen Dion gestritten hatte. Irgendwie war es seltsam, dass in letzter Zeit so viel mit ihm zusammenhing. Er lächelte scheu. Und ich lächelte — einem Bauchgefühl folgend — zurück, auch wenn ich mir dabei ziemlich heuchlerisch vorkam nach dem gestrigen Abend. Dion schien es nicht weiter zu stören, sein Lächeln wurde in Erwiderung ein wenig breiter. Er hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. »Ausgeschlafen?«, fragte er mich, als er an der Couch angekommen war. »Kann man so sagen«, antwortete ich nachdenklich und schaute mich im Wohnzimmer um, bevor ich mich wieder an Bambi wandte. »Warum bin ich noch hier?« »Na ja …«, begann er und zögerte, als würde er nicht so recht wissen, was er sagen sollte. »Du bist eingeschlafen und wir wollten dich nicht wecken, deswegen … bist du noch hier.« »›Wir‹?«, wiederholte ich skeptisch. »Tess und ich.« Die Verräterin. Sonst scheute sie sich nicht davor, mich mit einer Ladung Dynamit aus dem Bett zu sprengen. Warum kam es mir so vor, dass alle um mich herum total seltsam waren, seitdem Dion in der Stadt war? Irgendwas schien da schief zu laufen oder ich war einfach zu blöd, um etwas zu begreifen, was für alle anderen scheinbar offensichtlich war. Ich wusste es wirklich nicht. Normalerweise war ich nicht schwer von Begriff. Ich strich mir durch die Haare und schlug anschließend die Decke zurück, um aufzustehen. Das Wohnzimmer sah ziemlich unordentlich aus, so wie nach einer Party eben. Ich räusperte mich leise, bevor ich ihn wieder ansah. Es herrschte wieder diese peinliche Stille zwischen uns. Ich hasste das. Warum konnte er nicht einfach irgendwas erzählen? Eigentlich wollte ich schnell nach Hause. Ich war wieder bei Dion zu Hause, nur diesmal hatte ich hier übernachtet. Okay, unfreiwillig, aber das zählte trotzdem. Abgesehen davon … hatte ich als einziger hier geschlafen. Das allein sprach schon für sich. Hier lagen keine anderen Schnapsleichen herum. Aber irgendwas hielt mich davon ab, mich schlicht zu verabschieden und dann die Beine in die Hand zu nehmen. Dion stand scheinbar ein wenig unschlüssig vor mir herum. Ich räusperte mich wieder. »Ich helfe dir beim Aufräumen«, sagte ich langsam und beobachtete, wie Dions Gesichtszüge von Verlegenheit zu Überraschung wechselten. Ich hatte keine Ahnung, warum ich ihm den Vorschlag — oder viel eher Beschluss — unterbreitet hatte, aber ich konnte Bambi ja nicht in dem von anderen verursachten Dreck ersticken lassen. Ich war kein Rehkitz-Mörder. »Danke«, sagte er verdutzt. Bambi sah mich mit seinen Rehaugen an und ich hatte Mühe, mich von seinem Blick zu lösen. Ich sah mich um und überlegte, was ich Nützliches tun könnte, bis mir schmutziges Geschirr ins Auge fiel. Kurzerhand sammelte ich herumstehende und teilweise umgekippte Gläser ein. Dion wuselte am Büfett herum, das aufgebaut worden war, und stapelte dort schmutzige Teller. Er warf mir ein flüchtiges Lächeln zu, als er die Teller hochhob und in die Küche hinüber ging. Schweigend folgte ich ihm. Die Küche war mit kaltem Sonnenlicht geflutet. An die Anrichte gelehnt stand eine jung aussehende Frau mit dichtem, blondem Haar, das ihr in angedeuteten Wellen über die Schultern fiel. Sie hatte eine Tasse in der einen und eine Zeitung in der anderen Hand. Während sie versunken an ihrer Tasse nippte, las sie gerade irgendeinen Artikel. Als wir hereinkamen, hob löste sie den Blick von der Zeitung und schaute zu uns herüber. Ihre Augen streiften Dion und blieben an mir hängen. Ich war so verblüfft, dass ich fast gegen Dion rannte, der scheinbar mitten im Weg stehen geblieben war. Sie hatte dieselben braunen Rehaugen wie Bambi und überhaupt sah sie ihm verdammt ähnlich. Ihre Haut war hell, genauso wie die von Dion. Das musste seine Mutter sein. Etwas anderes war völlig ausgeschlossen. Ich bemerkte kaum, wie Bambi mir die Gläser abnahm, während ich immer noch total perplex seine Mutter anstarrte, von der er so viel übernommen hatte. »Grace, das ist meine Mutter«, hörte ich Bambi schließlich sagen. Ich fokussierte meinen Blick auf ihn. Er lächelte verlegen. »Mom, das ist Grace.« Dions Mutter lächelte mich freundlich an, legte die Zeitung weg und stellte ihre Tasse ab, dann kam sie einige Schritte näher und streckte mir ihre Hand entgegen. Ich gab ihr ebenfalls meine. Sie hatte einen angenehm festen Händedruck. Kleine Lachfältchen hatten sich um ihre Augen gebildet und sie hatte leichte Grübchen an den Wangen. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Samantha.« War das ein Angebot oder einfach nur der Höflichkeit halber? Mrs van Dorve hatte eine ruhige, angenehme Stimme und ein wissender Ausdruck lag in ihren klugen Augen. Dieselben Züge kannte ich von Julie. Sie hatte genau dieselbe, gewisse Ausstrahlung und ich fragte mich unwillkürlich, ob wohl jede Mutter so etwas hatte. »Grace«, erwiderte ich schließlich, als mir eingefallen war, dass sie sich mir selbst noch einmal vorgestellt hatte. Ihr Lächeln wurde ein kleines bisschen breiter, dann ließ sie meine Hand los. »Ein ungewöhnlicher Name für einen Jungen«, sagte Dions Mutter. Sofort huschte ein entschuldigender Ausdruck über ihr Gesicht. »Entschuldige, das war unglücklich formuliert.« »Schon okay. Ich weiß, was Sie meinen«, entgegnete ich schulterzuckend. Julie hatte dasselbe gesagt, als ich damals das erste Mal bei Tess zu Hause gewesen war. Die Leute aus meinem Jahrgang waren auch nichts anders gewesen. Welcher Junge hieß denn schon Grace? Mir machte es nichts aus. Mir war es lieber, einen Mädchennamen zu haben, als nach einer Stadt oder einer Frucht benannt zu sein. »Dion hat schon erzählt, dass du ihm Nachhilfe in Mathe gibst«, erzählte Mrs van Dorve amüsiert und nahm wieder ihre Tasse, um davon zu trinken. »Er ist ein hoffnungsloser Fall, oder?« Ihre Frage klang eher scherzhaft und ich wusste, dass sie das nicht sagte, um Bambi zu beleidigen. Es war spielerisch gemeint, Dion sah peinlich berührt aus der Wäsche, während er sich mit einer Hand durch den Nacken fuhr. »Er bemüht sich«, antwortete ich grinsend. »Aber er hat eine Wand im Schädel, an der alles Mathematische abprallt. « Sie lachte amüsiert auf, klopfte ihrem Sohn sachte auf die Schulter. Dion schnaubte und sah dabei aus, wie ein kleines, bockiges Kind. Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Er schüttelte die Hand seiner Mutter ab, dann öffnete er den riesigen Geschirrspüler und fing an, das schmutzige Geschirr hineinzustellen. »Genug Witze auf meine Kosten«, sagte er, aber es klang nicht wirklich beleidigt. Mrs van Dorve warf mir einen belustigten Blick zu. Ich machte mich daran, Bambi beim Einräumen zu helfen. »Hast du Grace denn schon gefragt, ob er frühstücken möchte?«, hörte ich Dions Mom fragen, als ich gerade die Teller hintereinander einlud. Dion, der mir gegenüber auf der anderen Seite vom Geschirrspüler stand, sah auf und mich an. Ich erwiderte seinen Blick für einen Moment. »Ich helf’ dir erst mal. Essen kann ich später auch noch«, sagte ich schließlich. Bambi machte den Mund auf, um zu protestieren, doch ich wandte mich um, um noch mehr Geschirr aus dem Wohnzimmer zu holen. Ich hörte ihn hinter mir aufseufzen und dann seine Schritte, als er mir folgte; begleitet vom amüsierten Kichern von Mrs van Dorve. »Du musst nicht—« »Ich will aber«, unterbrach ich Bambi trotzig. Ich würde mich ganz bestimmt nicht hinsetzen und fressen, während er beständig hin und her lief, um aufzuräumen. Abgesehen davon hatte ich im Moment gar keinen Hunger. Ich verstand mich selbst nicht. Anstatt bei erster Gelegenheit die Flucht zu ergreifen, blieb ich hier und half ihm dabei, das Chaos der Party wieder in Ordnung zu bringen, und ich hatte indirekt zugestimmt, hier zu essen — was ich noch vor wenigen Tagen ausgeschlagen hatte. Es war verrückt. Eine wirre Unordnung in meinem Kopf. Ich wusste selbst nicht mehr genau, was ich wollte und was nicht. Regel Nummer einundzwanzig: Habe immer alles im Griff. Schweigend sammelten wir alles zusammen und brachten es in die Küche, nach und nach, bis kein benutztes Geschirr mehr im Wohnzimmer war. Mrs van Dorve half ebenfalls, bis wir fertig waren. Ich fegte den Müll vom Parkett zusammen und Dion saugte die Teppiche aus. Es sah nicht so aus, als hätte gestern Abend jemand seinen Mageninhalt entleert. Das konnte man nur als positiv vermerken. Das Büfett war bereits wieder abgebaut — von wem auch immer. Musste geschehen sein, als ich noch geschlafen hatte. Mrs van Dorve kam gerade mit einem Karton ins Wohnzimmer und stellte ihn auf dem kleinen Couchtisch ab. Ich linste neugierig hinein und stellte zu meinem Erstaunen fest, dass da allerhand Zeug drin war. Fotorahmen, eine Vase und Kristallgläser. Sie lächelte mich an, als ich verblüfft zu ihr aufsah. »Sicher ist sicher«, meinte sie grinsend. »Man kann vorher nie wissen, was alles passiert.« Ich nickte nur, dann half ich ihr dabei, die Gegenstände alle wieder auf ihren richtigen Platz zu stellen. Dion gesellte sich zu uns, nachdem er den Staubsauger weggebracht hatte, und stellte die Vase auf eine Kommode. Das Ding musste etwas Besonderes sein, sonst hätte Mrs van Dorve es bestimmt nicht in Sicherheit gebracht. Hier standen immerhin auch noch andere Vasen herum, die sie nicht versteckt hatte. Als wir schließlich fertig waren, sah ich, wie Dion sich mit beiden Händen über die Haare fuhr und sie in seinen Nacken legte. Er seufzte leicht. »Fertig«, stellte er sichtlich zufrieden fest. »Essen jetzt.« Ich musste lachen über die Bestimmtheit, mit der er den letzten Teil sagte. Er schaute mich ein wenig verwundert an, aber ich schüttelte nur den Kopf. Bambi grinste leicht. Zu dritt gingen wir in die Küche. Dion wies mir an, mich an den vergleichsweise kleinen Tisch zu setzen. Er war groß genug, dass vier Personen an ihm Platz haben konnten. Ich hatte, als ich das Haus von außen gesehen hatte, das klischeehafte Bild im Kopf gehabt, sie hätten ein Speisezimmer mit einem Hundert-Meter-Tisch, sodass sie ein Funkgerät brauchten, um mit einander sprechen zu können, weil sie weit voneinander entfernt saßen. Der Gedanke ließ mich kichern. Irgendwie hatte ich auf einmal gute Laune. Was war nur los mit mir? Solche Stimmungsschwankungen hatte ich selten. Dion deckte den Tisch für drei. Offenbar hatten er und seine Mom selbst noch nicht gegessen. Während wir aßen, strolchten die beiden Katzen in der Küche herum. Sie miauten leise, als wollten sie nach Futter fragen. Aber sowohl Bambi als auch Mrs van Dorve ignorierten die Tiere. Also tat ich es auch. Abgesehen davon hätte ich mein Frühstück sowieso nicht mit diesen Flohteppichen geteilt. Irgendetwas piepte kurz und Dions Mutter holte ein kleines Gerät aus ihrer Hosentasche, das an einen Pager erinnerte. Sie warf einen Blick drauf, dann erhob sie sich, trank ihre Tasse in einem Zug aus und stellte diese wieder auf den Tisch. »Ich muss dann mal los, Schatz«, sagte sie an Dion gewandt, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. So selbstverständlich, so vertraut, so mütterlich. So ein Kuss war einmalig in seiner Art, ging es mir durch den Kopf. »Alles klar«, meinte Bambi und schaute sie an. »Weißt du, wann Dad nach Hause kommt?« Sie zuckte die Achseln. »Wenn es keine Notfälle gibt, ist er heute Nachmittag wohl wieder da.« Mrs van Dorve wandte sich an mich, lächelte aufrichtig und reichte mir wieder ihre Hand. Ich wischte die Krümel des Brötchens an meiner Hose ab, bevor ich sie nahm, grinste verkniffen, um nicht den Inhalt meines Munds preiszugeben. »Es war schön, dich mal kennenzulernen«, meinte sie und drückte meine Hand leicht. »Danke dir, dass du geholfen hast. Wir sehen uns bestimmt irgendwann noch mal. Ich werde dann mal gehen, sonst komme ich zu spät.« Ich nickte, mein Mund war immer noch voll. Dions Mutter lächelte, dann eilte sie aus der Küche und wenig später hörte ich, wie die Haustür zufiel. Kurz darauf erklang der Motor draußen und das Knirschen von Reifen auf Kies war kurz zu hören. »Was machen deine Eltern eigentlich?«, fragte ich Dion, nachdem ich in den Bissen in meinem Mund geschluckt hatte. Ah, Interesse. So viel Interesse, so viel Neugier. Das war untypisch für mich. Aber ich wollte es trotzdem wissen. »Sie sind Ärzte«, antwortete Bambi gelassen. »Mom ist Onkologin und mein Dad arbeitet in der Pädiatriechirurgie.« »Wow«, machte ich beeindruckt. Ich ließ die Info sacken und dachte darüber nach. Vielleicht hätte es mich nicht überraschen sollen, dass Dion ein Ärztesohn war. Etwas in der Art hatte ich erwartet. Wer sonst konnte sich so ein Haus leisten? Und trotzdem überraschte es mich. »Arbeiten sie beide hier im Krankenhaus?« Bambi nickte. »Nenn es riesigen Zufall, dass gerade die beiden Stellen frei geworden sind, als meine Eltern den Umzug geplant haben. Das kam ihnen natürlich gelegen und eigentlich ist es auch ganz gut so, weil sie nicht suchen oder auf einen Job warten müssen.« »Wie ist das so, wenn die Eltern Ärzte sind?« Dion wirkte überrascht, dass ich ihn danach fragte. »Na ja. Früher war es schwerer für mich als jetzt. Als Kind versteht oder will man es nicht verstehen, wenn der Vater oder die Mutter mal nicht zu einem wichtigen Ereignis kommen können, weil sie im Krankenhaus eine wichtige Operation haben oder so. Mittlerweile ist das nicht mehr so tragisch für mich. Es ist auch nicht so, dass sie sich nie bemüht hätten, alle wichtigen Momente in meinem Leben wahrzunehmen. Manchmal hat es nur eben nicht geklappt. Dad kann ja schlecht ein Kind sterben lassen, das von einem Auto angefahren worden ist, nur weil ich … keine Ahnung … eine Theateraufführung oder so habe. Abgesehen von der zum Teil familiären Belastung kommt auch noch die psychische und physische dazu.« »Wie meinst du das?«, hakte ich nach. Ich versuchte mir Klein-Dion bei einer Theateraufführung vorzustellen und bei dem Gedanken hätte ich fast laut aufgelacht, aber das war der falsche Zeitpunkt dafür. Dion schwieg eine kleine Weile, während er seine Tasse langsam schwenkte. »Ein Arzt kann auch nicht jeden retten. Dad hat gesehen, wie kleine Kinder sterben. Er rennt dann zwar nicht mit Depri-Stimmung durch die Welt, aber das geht nicht spurlos an ihm vorüber. Er hat einmal zu mir gesagt: ›Jedes Mal, wenn ein Kind stirbt, stirbt ein Teil der Welt mit ihm‹«, erzählte Bambi langsam. Er hob den Blick, um mich anzuschauen. »Dafür ist er aber jedes Mal in Hochstimmung, wenn es einem Kind nach einer Behandlung oder OP wieder gut geht. Jeder Beruf hat so seine Höhen und Tiefen, aber die schwanken eben extrem. Nicht in jedem Job geht es um Leben und Tod.« Wir schwiegen wieder eine Weile und ich fragte mich still, ob es besser gewesen wäre, wenn ich Dion nicht gefragt hätte. Mir fiel zum ersten Mal auf, dass er nicht unbedingt zart besaitet war, sondern viel eher pragmatisch und besonnen. Bambi hatte wohl auch mal seine erwachsenen Momente. Hätte ich ihm nicht zugetraut. Einmal mehr stellte ich fest, dass ich kaum etwas über ihn wusste. Erst seine offene Seite auf der Party gestern und jetzt diese Pragmatik, wenn er über den Beruf eines Kinderarztes sprach. »Willst du auch mal Arzt werden?«, erkundigte ich mich, bevor ich einen Schluck von dem Wasser nahm, das vor mir stand. Dabei schaute ich Dion über den Rand hinweg an. Er war mittlerweile zu einem Joghurt übergangen und rührte nachdenklich in diesem herum. Offenbar dachte er über meine Frage nach. »Nein«, sagte er dann schließlich. »Ganz einfach, weil ich diese Verantwortung nicht annehmen könnte. Außerdem stumpft man als Arzt teilweise irgendwann ein wenig ab. Immerhin sieht man Tag für Tag so viel Leid und Tragik und Drama, irgendwann … hat man nicht mehr dieses Empfinden. Das ist wohl aber auch nötig, um all das nicht jedes Mal zu nah an sich heranzulassen. Daran würde man letzten Endes kaputt gehen. Andererseits ist das wohl wiederum auch von der Richtung der ärztlichen Tätigkeit abhängig. Mein Dad arbeitet schon ziemlich lange als Arzt, genauso wie meine Mom, und er verfügt immer noch über eine ausgeprägte Empathie. Na ja, aber … der Hauptgrund ist einfach die Verantwortung. Ich könnte es nicht ertragen, zu wissen, dass ich für das Leben und Sterben von Patienten verantwortlich bin.« Es herrschte wieder für eine Weile schweigen. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Abgesehen davon war ich der Meinung, dass ich genug Fragen gestellt hatte. Ein nicht unwesentlicher Teil meines Hirns bejubelte die Tatsache, dass ich so langsam mehr über Bambi erfuhr, während der andere Part sich fragte, woher dieses Interesse kam. Das letzte Mal, als ich so dringend mehr über jemanden erfahren wollte, lag schon eine Weile zurück. Damals war es bei Tess so gewesen, als wir uns angefreundet hatten. Ich wollte einfach alles wissen. Ähnlich war es jetzt bei Dion, bei einem Neuen, von denen ich sonst immer die Finger ließ; erst recht, wenn sie — so wie Bambi — jedermanns Liebling waren. »Was ist mit deinen Eltern?«, fragte Dion leise und sah mich direkt an. Ich schaute ihm in die Augen. Neugier lag darin, aber auch Zurückhaltung, als wollte er mir nicht zu nahe treten. Langsam dämmerte mir, dass Dion mein Prinzip von Nähe und Distanz verstanden hatte. Er ließ mir Platz. Er drängte nicht. »Meine Mutter ist Eventmanagerin und mein Dad Bauingenieur«, antwortete ich und klemmte den Rand des Wasserglases zwischen meine Lippen, bevor ich es in einem Zug leerte. Ich wandte den Blick von Dion ab und sah weg. »Wieso lebst du allein?« Die Frage und Bambis Stimme schallten durch die Küche. Ich stellte das Glas ab, biss die Zähne zusammen. Es war, als würde die Brücke, die über einen großen Graben in die Burg führte, hochgezogen werden. Der Informationsfluss stoppte unmittelbar. Ich spürte, wie die Abwehr und Passivität zu mir zurückkam. »Das geht dich nichts an«, sagte ich bissig. Bissiger, als ich gewollt hatte. Doch Dion sah nicht so aus, als würde er sich beleidigt fühlen. Stattdessen lag ein entschuldigender Ausdruck auf seinem Gesicht. Er kannte meinen wunden Punkt. Den Teil meines Lebens, über den ich nicht mit ihm sprechen würde, wenn er danach fragte. Doch ich sah in seinen Augen die stumme Frage. Die Frage, was geschehen war, dass ich so distanziert gegenüber den meisten Menschen war. Aber die Antwort war zu sensibel, als dass ich sie ihm hätte geben können. ___ tbc. Kapitel 10: Rollercoaster ------------------------- Dieses Kapitel geht an für den 222. Kommentar :) _____________________________________________________________ ROLLERCOASTER Ich war froh, dass ich die Rückbank für mich hatte. Meine Füße taten weh, meine Nase lief permanent und ich war todmüde. So konnte ich mich einigermaßen ausstrecken, genoss die Leichtigkeit, die meine Füße umfangen hatte, jetzt, wo ich nicht mehr laufen musste. Draußen rauschten die Lichter der anderen Autos an mir vorbei, ansonsten war alles dunkel. Die blaue Beleuchtung des Armaturenbretts war angenehm, Musik drang leise aus den Boxen im Auto. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, um wach zu bleiben. Es war gar nicht so einfach, meine Augenlider waren bleischwer. Aber wenn Tess und Dion beide wach waren, dann wollte ich nicht als einziger wegpennen. Für einen Moment schloss ich die Augen und ließ die Geschehnisse des Wochenendes Revue an mir passieren. Es war Freitag, Bio, die letzte Stunde. Ich war glücklich, dass endlich Wochenende war. Die Aussicht auf ein warmes, weiches Bett und die Möglichkeit, endlich wieder ausschlafen zu können, war ungemein verlockend. In meinem Kopf formten sich bereits Bilder davon, was ich an den freien Tagen tun würde: nämlich nichts. Wenn das nicht mal Einklang mit der Seele und Umwelt versprach, dann wusste ich auch nicht. Scheiß auf Yoga oder was auch immer — Ausschlafen war das Wunderheilmittel. »Wir fahren heute Abend in diesen neuen Vergnügungspark bei Memphis. Du weißt schon«, sagte Tess zu mir. Sie schien ganz aufgeregt zu sein. Kein Wunder, sie liebte Vergnügungsparks. Dass sie fast sechshundert Kilometer Fahrt vor sich hatte, war ihr dabei ziemlich egal. Die Verrückte. »Viel Spaß«, erwiderte ich ein wenig lahm, immer noch in Gedanken an mein tatenloses Wochenende. Wie lange dauerte es denn noch, bis diese verdammte Stunde endlich vorbei war? Unfassbar, der gesamte Tag zog sich heute hin wie zäher Kaugummi. Wie ich es hasste, wenn die Zeit einfach nicht vergehen wollte. Das war Folter. »Was heißt denn hier ›Viel Spaß‹?«, wollte Tess schnaubend wissen. Ich warf ihr einen Blick zu und zuckte die Achseln. Was sollte ich sonst sagen? »Pass auf, dass du deiner Familie nicht verloren gehst« oder doch besser »Es würde mich nicht wundern, wenn die dich da ›vergessen‹ würden«? Über ersteres würde sie lachen, bei letzterem wäre ich nur noch ein Häufchen Dreck unter ihrem Fingernagel. Also doch besser die Klappe halten. »Du kommst natürlich mit!«, zischte Tess zu mir hinüber. Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Spucke, als sie das sagte. Fassungslos starrte ich sie an, innerlich vehement hoffend, dass sie nur einen Witz gemacht hatte. Ihre Familie war fünfköpfig und sie hatten auch nur ein fünfsitziges Auto, ich konnte unmöglich mitkommen. »Wie denn?«, zischte ich zurück. »Wollt ihr mich als Geisel im Kofferraum transportieren oder mich doch eher als Gepäck auf dem Dach festschnallen?« »Red doch keinen Blödsinn«, meinte Tess, während sie die Augen verdrehte. Dann warf sie mir einen Blick zu, als würde sie mit einem kleinen Kind reden. Sie war der Teufel. Ich hatte es schon immer gewusst. Aber ich hatte nicht vor, mich meines wunderbaren Wochenendes berauben zu lassen. »Ich fahre nicht mit meiner Familie. Ich fahre mit dir«, stellte sie schließlich bestimmend fest. »Was dachtest du denn?« »Wer sagt denn, dass ich mitkommen will?«, erwiderte ich bockig. Ich hatte keine Ahnung, welches Gen dafür verantwortlich war, dass Frauen dazu neigten, einfach über die Köpfe der Männer zu entscheiden. Aber Tess machte das gern. Manchmal störte es mich nicht. In diesem Fall aber schon. »Na komm schon«, sagte sie und schlug einen versöhnlichen Ton an. Sie legte ihre Hand auf meinen Unterarm. Oh nein, nicht diese Umwerfende-Augenaufschlag-und-du-kannst-mir-nicht-widerstehen-Nummer, die nur Mädchen konnten. Tess war Meisterin. Ein unschuldiges Lächeln legte sie auf ihr Gesicht, als sie mich mit großen Augen anschaute. »Wann haben wir das letzte Mal wirklich was zusammen unternommen?«, wollte sie wissen. »Ich meine, so richtig. Ohne Verpflichtungen gegenüber anderen, nur mit Verantwortung für uns selbst, niemand, der uns im Nacken sitzt … Das Auto hab ich übers Wochenende auch, Dad hat sogar gesagt, er würde den Treibstoff bezahlen. Komm schon, Grace. Denk mal darüber nach. Das wird bestimmt lustig! Du musst nicht mal Fahrkosten aufbringen. Ich fahre.« »Ja, das macht mir ja gerade Angst«, meinte ich trocken. Tess verzog den Mund zu einem Strich, aber verkniff sich dabei ein Grinsen. Sie holte aus und boxte mir ihre Faust mit erstaunliche viel Kraft in den Oberarm. »Au!« Das kam lauter als gewollt. Alle drehten sich zu uns um und starrten uns an. Ich sah den pikierten Blick von Mrs Brewster. »Mister Ethan, Miss Goodchild. Gibt es etwas Weltbewegendes, was sie uns allen vielleicht mitteilen möchten?«, fragte sie in ihrer dünnen, strengen Lehrerstimme. Mrs Brewster war Mitte vierzig, sah aber aus, als wäre sie dreimal so alt. Ihre Mundwinkel zeigten stets nach unten und ihr Mund sah immer so aus, als wäre er ein Strich; fast so, als hätte sie gar keine Lippen. Beängstigend. Aber ihre Augen … ihre Augen waren klar, lebendig und kraftvoll. Sie war eine gute Lehrerin, ich mochte sie. Ein wenig schrullig war sie schon und vielen war Mrs Brewster unsympathisch. Aber alles das minderte ihre Fähigkeiten nicht. »Theresa und ich haben uns soeben verlobt. Schläge sind ihre Art, ihre Freude auszudrücken«, sagte ich nickend, während ich Tess' Hand in meine nahm und sie in die Höhe hob. »Na ja … und sie wird natürlich jedem, der den riesigen Bluterguss auf meinem Arm sieht, erzählen, es sei ein Knutschfleck von ihr.« Tess riss scharlachrot anlaufend ihre Hand los. »Sie ist ein bisschen störrisch, Sie wissen ja …«, fügte ich an Mrs Brewster gerichtet hinzu und deutete auf Tess. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass meine beste Freundin rot im Gesicht war, sich aber fest auf die Unterlippe gebissen hatte, um nicht sofort in schallendes Gelächter auszubrechen. Auf Mrs Brewsters Gesicht zeigte sich ein angedeutetes Lächeln. Sie mochte mich, ich wusste es schon immer. »Nun, dann gratuliere ich Ihnen zu Ihrer Verlobung. Ich hoffe, Sie warten mit den Kindern bis Sie mit Ihrem Studium fertig sind. Mister Ethan, stellen Sie die Translation des RNA-Stranges bitte an der Tafel dar«, meinte sie. Ihre Augen zeigten leichtes Amüsement, als sie auf meine Spielerei einging. Sollten alle sagen, was sie wollten, aber Mrs Brewster war humorvoller als viele andere Lehrer. Für den Rest der Stunde pendelte Tess zwischen Klagen und Überredungskunst, bis ich schließlich damit einverstanden war, alle Verlobungsgerüchte öffentlich wieder zu revidieren und in den Park mitzukommen. »Also gut. Wann willst du losfahren?«, fragte ich, als wir gerade den Bioraum nach Ende der Stunde gemeinsam verließen. Sechshundert Kilometer Fahrt. Ich würde sterben. Ich hasste lange Autofahrten. »Um sechs, heute Abend«, meinte Tess. »Wir können bei meiner Oma übernachten. Sie stellt uns ihr Gästezimmer zur Verfügung. Das heißt, Kosten für die Unterkunft entfallen auch.« »Meinst du, du schaffst es, die ganzen sechshundert Kilometer durchzufahren? Es ist regnerisch draußen, außerdem Wochenende und es sind …« »Sechshundert Kilometer, ich weiß. Das ist kein Problem. Dion kommt ja mit, wir wechseln uns ab beim Fahren«, sagte sie. Tess ließ diesen kleinen, aber durchaus bedeutenden Fakt fallen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit und nicht mal der Rede wert. Ich blieb abrupt stehen und starrte sie an. Warum hatte sie mir das vorenthalten? Wer hatte davon gesprochen, dass wir beide schon lange nichts mehr zusammen unternommen hatten? Da war nie die Rede von einer dritten Person gewesen. Und jetzt das. Na wunderbar. Warum war ich eigentlich nicht selbst darauf gekommen, dass Dion selbstredend dabei sein würde? »Dion kommt mit?«, fragte ich stumpfsinnig. Tess drehte sich zu mir um und tat überrascht. »Sicher. Warum auch nicht?«, meinte sie. Ich hätte gern auf diese Frage geantwortet, auch wenn sie rhetorisch gemeint war, aber ich unterließ es. Streit mit Tess konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Es war wohl leichtsinnig gewesen, nur an Tess und mich zu denken, jetzt, wo Bambi und sie doch so ein inniges Verhältnis hatten. Sie schleifte ihn überall hin mit, wie einen lebensgroßen Teddybären — oder Rehkitz in dem Fall. Ich seufzte tief auf. Na schön. Bambi also auch. Die frustrierendeste Tatsache von allen war aber, dass ich der einzige in diesem Trio war, der nicht Auto fahren konnte. Ich meine … sogar Bambi hatte einen Führerschein. BAMBI! Verdammt, noch mal. Was für eine Erniedrigung. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich unter anderem damit, mich mental auf eine sechshundert Kilometer lange Fahrt mit Bambi auf engstem Raum vorzubereiten. Es wollte mir nicht so recht gelingen, was wohl daran lag, dass ich es ihm immer noch übel nahm, dass er einen Führerschein hatte und ich — scheiße, noch mal — nicht. Ich stopfte ein paar Sachen in meinen Rucksack, packte etwas zu trinken, Portemonnaie, Schlüssel und MP3-Player ein. Tess hatte gesagt, wir würden einen Zwischenhalt bei McDonald’s machen, um uns mit Essen einzudecken, deswegen nahm ich nichts zu essen mit. Kurz vor sechs stand das Auto vor meiner Haustür. Dion saß bereits drin, auf dem Beifahrersitz natürlich. Verfluchtes Rehkitz. Ich warf meinen Rucksack auf die Rückbank, setzte mich und schnallte mich an. Es war bereits dunkel draußen, es nieselte leicht und über die Fenster des Autos liefen Wasserschlieren von den Regentropfen. Aus den Boxen des Autos schallte Kanye Wests Stimme. »Das Navi sagt, dass wir acht Stunden fahren«, verkündete Tess heiter und ich wäre beinahe wieder ausgestiegen. Acht Stunden Autofahrt. Es gab nichts Schlimmeres. Seufzend strich ich mir durch die Haare, ließ mich ein wenig tiefer in den Sitz rutschen und lehnte den Kopf hinten an. Die Wiedergabe sprang von Kanye West auf The All-American Rejects um. »Warum sind wir nicht einfach geflogen?«, fragte ich jammernd. Tess startete den Motor und fuhr los. Ich hörte Dion leise lachen, meine beste Freundin hingegen stöhnte nur genervt auf. In diesem Moment wurde ich mir gewahr, dass Dion tatsächlich da vorn auf dem Sitz saß. Ich war froh, dass er mich nicht sehen konnte, immerhin saß ich direkt hinter ihm. »Nörgel’ nicht rum, du Jammerlappen. Du kannst ja die ganze Zeit pennen. Dion und ich müssen fahren, also lehn dich zurück und entspann dich«, meinte Tess kopfschüttelend. Brummelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust. Das konnte heiter werden. Ich war noch kein bisschen müde. Tess fuhr bei McDonald’s an den Drive-In und wir machten eine Großbestellung. Zumindest würden mich eine ordentliche Portion Pommes und mindestens fünf Cheeseburger erst einmal ruhigstellen. In der nächsten halbe Stunde knisterte, raschelte und klapperte es ununterbrochen im Auto, während wir Burger um Burger auspackten, nach Pommes angelten und die Eiswürfel der Getränke gegen die Behälter stießen. Wenn es etwas außer Volleyball gab, das mir einen Schuss gab, dann war es Fast Food. Nach dem sechsten Burger gab ich schließlich auf, rieb mir den Bauch und rülpste. Erst herrschte für einen Moment eisige Stille im Wagen, dann brachen Tess und Dion in Gelächter aus. Was folgte, war so abwegig, dass ich zuerst dachte, ich würde träumen: Wir veranstalteten einen Rülps-Wettbewerb. Um Himmels Willen! Dion rülpste! Das war so irrsinnig, dass allein der Gedanke an ein rülpsendes Bambi mich lachend auf die Matte geschickt hatte. Ich wusste nicht mehr, wer oder wie wir auf diese bekloppte Idee gekommen waren, aber wir machten aus dem Rülps-Wettbewerb ein Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel. Wer in einer Runde den armseligsten Rülpser von sich gab, war fällig. Die Aufgaben beliefen sich dabei nur auf Dinge, die sich innerhalb des Autos problemlos ausführen ließen. Und Intimfragen mieden wir ebenfalls. Aber es lief über Sich-Pommes-in-die-Nase-stecken, sagen, was an Tess’ Fahrstil absolut katastrophal war und ein Anruf bei dem Radiosender, den wir gerade hörten, und dem munteren Moderator etwas vorstöhnen. In der folgenden Runde versagte ich kläglich. »Schön«, sagte Tess heiter. »Wahrheit oder Pflicht?« »Pflicht«, erwiderte ich und fragte mich, was jetzt wohl kommen würde. Tess schwieg eine Weile, offenbar dachte sie darüber nach, was sie mich machen lassen könnte. Und dann erhellte sich ihr Gesicht — ich sah es im Rückspiegel — und sie grinste. »Umarme Dion«, forderte sie dann. Ich erstarrte und biss die Zähne zusammen. Tess warf mir einen Blick durch den Rückspiegel zu, um zu sehen, wie ich reagierte. Ärgerlich schaute ich ihr entgegen, sie hingegen schien sehr erheitert zu sein. Bevor ich protestieren oder mich herausreden konnte, sagte sie: »Veto gibt’s nicht.« Einerseits hätte ich Tess jetzt gerne aus dem Wagen geworfen — was dann aber auch geheißen hätte, ich wäre mindestens sieben Stunden allein mit Dion in einem Auto —, andererseits befand ich, dass umarmen keine Tragödie war, zumal wir keinen Ganzkörperkontakt haben würden. Er saß immerhin auf dem Beifahrersitz und ich dahinter. Ich seufzte kurz lautlos auf, rutschte auf den äußersten Rand der Rückbank und lehnte mich vor, um die Arme irgendwie um Sitz und Dion legen zu können. Ich ertastete mit den Fingern die Knöpfe seines Hemdes, der Stoff des Oberteils war glatt, aber weich und warm, der Rest darunter war fest. Es musste seine Brust sein, die ich da gerade unter den Händen hatte. Ich hatte das Kinn auf den Sitz vor mir gelegt, so hatte ich ein paar Haarsträhnen von Dion im Gesicht. Sie kitzelten auf meiner Haut. Er schien nicht zu atmen, jedenfalls konnte ich keine Bewegung in die Richtung ausmachen. Vielleicht hatte ich ja doch seinen Bauch, aber dann müsste der ziemlich weit oben sein … aber abgesehen davon wusste ich sicher, dass es seine Brust war. Ich konnte sein Herz unter meiner Hand schlagen spüren. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich in diesem Moment, als ich seinen Herzschlag spürte. Ich fühlte mich, als würde ich etwas wie einen freien Fall erleben, ein Achterbahngefühl. Ich ließ ihn wieder los und erst da wurde mir bewusst, dass es totenstill im Auto gewesen war. Tess sah mich kurz durch den Spiegel an, ein gewisser Ausdruck lag in ihren Augen. Doch ich konnte ihn nicht deuten. Dann sah sie wieder auf die Straße vor sich. Für eine Weile blieb es weiterhin still, ich hatte mich zurückgelehnt und schaute teilnahmslos aus dem Fenster, hinter dem die Umgebung ein schwarzer Schleier war. Offenbar war die Umarmung der Endpunkt unseres Spiels gewesen. Tess eröffnete ein neues Gespräch und unterhielt sich mit Dion über die Lehrer unserer Schule, fragte ihn aus, wie es an seiner alten Schule in Peoria gewesen war. Klar, dass sie auch wusste, woher er kam. Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung, sondern lehnte die Schläfe gegen die kühle Fensterscheibe, bevor ich die Augen schloss. Ich döste eine ganze Weile und merkte nur, wie das Auto einmal kurz hielt. Tess und Dion wechselten die Plätze, sodass Tess sich ausruhen konnte. Keine Ahnung, ob das ein Klischee war, aber Dion fuhr schneller als Tess. Nicht halsbrecherisch, aber … eben anders. Doch viel bekam ich davon nicht mit. Nach dem einen Blick auf den Tacho schloss ich die Augen wieder und war ziemlich schnell eingeschlafen. Tess weckte mich, als wir am Haus ihrer Oma in Memphis angekommen waren. Sie hatte einen Schlüssel, wir schlichen leise hinein. Wir mussten uns zu dritt das Zimmer teilen, aber das war kein Problem. Ich ließ mich auf die Luftmatratze fallen, so konnte Tess und Dion sich das Bett teilen. Proteste gab es keine und wenn doch — dann hatte ich schon geschlafen und nichts mehr mitbekommen. Der nächste Morgen kam zu schnell. Um acht holte Tess sowohl Dion als auch mich aus dem Bett. Nicht, dass ich schlecht geschlafen hatte, es hätte ruhig noch länger sein können … Dion sah aus, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Seine Haare wirkten wir ein durchpflügter Heuhaufen. Er sah nicht minder verschlafen aus als ich wahrscheinlich. Ich gähnte herzhaft, dann hievte ich mich von dieser absolut göttlichen Luftmatratze hoch. Da ich mich nicht umgezogen hatte, bevor ich eingeschlafen war, befand ich mich noch in voller Montur. Aus meinem Rucksack holte ich mir frische Sachen und verschwand im Bad, um mich zu waschen und umzuziehen. Dion ging nach mir rein. Beim Frühstück unterhielten wir uns mit Tess’ Oma, die auch wach war. Sie hatte uns etwas zu essen vorbereitet und sie war so, wie eine typische Oma eben ist. Tess verdrehte die Augen, als ihre Großmutter fragte, ob sie denn auch genug aß. Ich grinste stumm vor mich hin, Dion sah ebenfalls amüsiert aus. Nach dem Essen machten wir uns direkt auf den Weg. Der Park lag ein wenig abseits von Memphis, aber die Fahrt dauerte nicht lange. Es war noch relativ leer, als wir ankamen, Tess schnappte sich einen nah gelegenen Parkplatz. Schon von Weitem hatte ich das Gerüst der berüchtigten Achterbahn gesehen. Es war Schicksalsbeschluss, dass ich dieses Teil ausprobieren würde. Wir liefen durch den Park, machten alles Mögliche, was uns vor die Nasen kam und ließen sogar unsere Gesichter bemalen. Keine Ahnung, wann ich so etwas das letzte Mal hatte machen lassen. Aber es war tatsächlich Spaß. Der Park füllte sich zunehmend und bei einigen Attraktionen mussten wir teilweise anstehen. Wir stopften haufenweise Zuckerwatte in uns hinein, aßen gebratene Mandeln und tonnenweise Fast Food. Zusammen besuchten wir ein Gruselkabinett. Ein echtes, eins mit Schauspielern und nicht irgendwelchen bescheuerten Plastikpuppen. Tess klammerte sich an mich wie eine Klette, als wir hindurchgingen. Sie kreischte immer wieder, wenn einer der Schauspieler aus heiterem Himmel irgendwo auftauchte. Dion ging dicht neben mir. Ich erschreckte mich einige Male ebenfalls, klar. So ohne war dieses Spukkabniett nicht. Als wir schließlich wieder draußen waren, lachten wir uns halbtot, weil wir uns zum Teil sogar bei Nichtigkeiten erschrocken hatten. Der Tag ging viel zu schnell rum. Tess erklärte, dass der Park nur bis neunzehn Uhr geöffnet hatte, in der letzten Phase der Herbstsaison. Es war schon dunkel draußen, die Laternen waren an und beleuchteten die Umgebung des Parks. Hier war immer noch einiges los. Leute, die ohne Kinder da waren, blieben bis zum Schluss. Eigentlich hatten wir uns wieder Richtung Ausgang begeben, als wir an der Achterbahn vorbeigingen. Sie ragte hoch über unsere Köpfe, als wir das Gerüst gerade passierten. Eine Waggonkette rauschte ratternd das Gleis hinab, aufgeregtes, begeistertes und zum Teil verängstigtes Gekreische war zu hören. Ich hob den Blick, versuchte zu schätzen, wie viele Meter es bis zu dem höchsten Punkt waren. Der Abgang in geschätzten sechzig bis fünfundsiebzig Grad abwärts. Fast senkrecht bis wenige Meter über den Boden und wieder ein Stück hinauf, bevor es in eine scharf schräge Kurve ging. »Oh nein!«, sagte Tess, als sie meinen Blick sah. Sie wusste, dass ich unbedingt eine Fahrt in diesem Monstrum wollte. Tess konnte nicht nachvollziehen, warum ich mich freiwillig in so ein Ding setzte; sie hasste solche hohen, schnellen, atemlosen Achterbahnen. Ich dafür stieg in jede. Sie sah mich an und ich grinste. »Du kannst ja hier warten. Ich gehe mit Dion«, meinte ich, schnappte mir seinen Arm und schleifte in mit mir zum Eingang. Es war nicht mehr so viel los, wir mussten kurz anstehen, bekamen dafür aber die Plätze an der Schnauze der Waggons. Ganz vorne. Erste Reihe. Besser hätte es gar nicht sein können. Dion war die gesamte Zeit verschwiegen gewesen. Vermutlich zerbrach Bambi sich gerade den Kopf darüber, wie es dazu gekommen war, dass ich Körperkontakt aufgebaut hatte — freiwillig — und —freiwillig — diese Achterbahnfahrt mit ihm machte. Wir standen vor der Absperrung, bis diese Drehdinger freigegeben wurden und wir uns in den Waggon setzen konnten. Ich ließ Dion durchgehen, dann folgte ich. Mein Herz schlug mir vor Aufregung bis zum Hals. Ich konnte beinahe fühlen, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. Hastig warf ich einen Blick über die Schulter. Die Kette war restlos ausgefüllt mit Fahrern. Die Halterungen, die uns in den Sitzen halten sollten, rasteten ein, es folgte eine kurze Pause. Ich starrte die kleine Ampel vor uns an, die von rot auf grün umsprang. Die Waggons setzten sich ratternd in Bewegung und wurden langsam die Rampe hinaufgezogen. Ich schätzte die Höhe auf etwa vierzig bis fünfzig Meter. Euphorie erfasste mich, ich lehnte den Kopf breit grinsend nach hinten, dann drehte ich mich um, um nach Dion zu schauen. Und das traf mich wie ein Schlag. Dion sah alles andere als begeistert aus. Er war kreidebleich, hatte die Hände so fest in die Halterung gekrallt, dass seine Knöchel weiß hervortraten und die Lippen so hart zusammen gepresst, dass sein Mund nur noch ein Strich war. Seine Augen waren fest verschlossen und er versuchte offensichtlich gleichmäßig zu atmen. »Hey!«, sagte ich erschrocken. »Was ist los?« Dion öffnete die Augen und schaute mich an wie ein verschrecktes Rehkitz. »Ich hab Höhenangst«, sagte er mit dünner Stimme. Er sah mich an, offenbar gab er sich allergrößte Mühe, sich nicht umzusehen. Mir sackte das Herz in die Hose. Ich fühlte mich auf einmal schuldig, aber ich merkte, wie meine Schutzschilder ausfuhren, als ich Mitleid für ihn empfinden wollte. Wir sahen einander an. Die Waggons hatten etwa die Hälfte des Weges hinauf geschafft. »Wieso hast mir das nicht gesagt?«, zischte ich. Dieser Trottel. »Ich wollte dir den Spaß nicht verderben«, erwiderte Bambi zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er atmete gehetzt mittlerweile. Pf. »Ich wäre auch allein gegangen, du Idiot. Glaubst du, ich hätte dich gezwungen, mitzukommen?«, entgegnete ich. Dieser Samariter. Was hatte er sich dabei gedacht? Tess hatte zwar keine Höhenangst, sie hatte im Allgemeinen etwas gegen so hohe und bahnbrechende Achterbahnen. Herrlich. Ich hatte jetzt also ein verschrecktes Rehkitz neben mir, dass kurz vor einem Kollaps stand und wohl davor, mich vollzukotzen … Regel Nummer zweiundzwanzig: Du bist nur für dich selbst verantwortlich. Eigentlich … Wir waren fast am höchsten Punkt angekommen. Ich liebte diese Stelle, wenn man noch kurz da oben schwebte und nach unten schauen konnte, bevor die Waggons losgelassen wurden und hinabrauschten. Mit Dion neben mir sah das aber ganz anders aus. Ein Teil in mir wollte sich dieses berauschende Gefühl aber nicht von ihm verderben lassen. »Schließ die Augen«, sagte ich schließlich. »Augen zu und durch. Es ist schnell wieder vorbei.« Dion hatte die Augen wieder geschlossen, doch gerade, als wir oben ankamen, kurz in der Luft verweilten, öffnete er sie wieder und starrte in die Tiefe. Wenn er noch bleicher werden konnte, dann wurde er es jetzt. Seine Augen waren riesig. Es war still um uns herum, alle Gespräche, die bis zu diesem Punkt noch hinter uns zu vernehmen gewesen waren, waren verstummt. Ich hörte das leise Klicken, als es losging. Die Waggons stürzten in die Tiefe, ich presste mich in den Sitz und trotz dem verstörten Bambi kam ich nicht umhin, loszulachen, als ich wieder dieses euphorische Gefühl vernahm. Die Abfahrt dauerte allerhöchstens zehn Sekunden, doch die Geschwindigkeit blieb ungebremst. Wir rauschten durch die Kurve, auf und ab, durch ein Looping und wieder eine scharfe Schrägkurve. Ich lachte die ganze Zeit, etwas anderes konnte ich gar nichts. Dieses Gefühl war einmalig. Ich liebte es. Die Fahrt war für meinen Geschmack viel zu schnell wieder vorbei. Als die Waggons wieder im Halteplatz einfuhren, drehte ich mich wieder zu Dion um. Er sah aus wie ein Zombie. Weiße Haut, gigantische Augen und ausdruckslos wie eh und je. Er hatte die Augen also doch nicht zugemacht. Ich seufzte. Selbst Schuld. Warum hatte er nichts gesagt? Warum hatte ich ihn überhaupt mitgenommen? Vermutlich würde er jetzt für den Rest seines Lebens einen Knacks weghaben. Wie automatisch stieg er aus dem Waggon, nachdem die Halterung sich gelöst hatte. Wackelig stiefelte er zum Ausgang und mir schien, als würde er erst draußen wieder zum ersten Mal Luft holen. Hatte er überhaupt während der Fahrt geatmet …? Nicht, dass er jetzt einen Hirnschaden hatte oder so. Tess sah erschrocken aus, als sie uns zurückkommen sah. Ich glaube, sie hätte mich in diesem Moment gerne verdroschen, als sie sah, wie verstört Dion aussah. Sie legte einen Arm um seine Schulter. »Alles okay?«, fragte sie ihn besorgt. Bambi nickte kurz, fragte nach Wasser und bekam es prompt. So was wollte ich auch. Ich beschloss, es direkt zu versuchen. »Wasser?« »In deiner Tasche ist noch eine Fl— WAS HAST DU MIT IHM GEMACHT, DU VOLLTROTTEL? ER SIEHT AUS WIE EINE LEICHE!« Es war mir immer noch ein Wunder, wie Tess von ruhig auf Furie umschalten konnte und das in einem Atemzug. Sie machte mir in diesem sogar mehr Angst als alles in diesem Horrorkabinett von vorhin. »Er hat Höhenangst! Woher hätte ich das wissen sollen? Er hat ja auch nichts gesagt, weil er den Helden spielen wollte!«, verteidigte ich mich trotzig. Ja, Tess, hätte mich gerne kalt gemacht in diesem Moment. Warum wurde Bambi immer von ihr verteidigt? Was konnte ich denn jetzt für seine missliche Lage? Tse. Dion bekam allerdings schnell wieder Farbe. Er erholte sich erstaunlich schnell und spätestens, als wir wieder im Auto saßen, ging es ihm wieder gut. Die Sache mit der Achterbahn war damit erledigt. Während wir in die Innenstadt von Memphis fuhren, dachte ich darüber nach, warum Dion nicht einfach gesagt hatte, dass er Höhenangst hatte. Aus Stolz? Blödsinn. Ich lachte doch niemanden wegen seiner Ängste aus. Aber gut, das konnte er nicht wissen. Wir hatten beschlossen, noch heute wieder nach Hause zu fahren, weil wir alle noch etwas für die Schule machen mussten. Aber wir wollten die Zeit noch etwas nutzen, um uns Memphis anzusehen. Deswegen verbrachten wir den Rest des Abends in der Stadt, aßen etwas, bummelten durch die Gegend und beobachteten die Leute. Tess kaufte kleine Souvenirs für ihre Brüder und Dion besuchte einen kleinen Schmuckladen, der handgefertigten Schmuck anbot, um seiner Mutter ein Paar Ohrringe zu kaufen. Tess’ Oma hatten wir schon heute Morgen Bescheid gesagt, sie wusste also, dass wir nicht noch mal zurückkommen würden. Gegen Mitternacht stiegen wir wieder ins Auto. Diesmal fuhr Dion zuerst. Heute war ich viel zu platt, um mich noch groß an einem Rülpswettbewerb beteiligen zu können. Matt hing ich auf der Rückbank und zählte die Laternen, die an mir vorbei flogen. Ich hatte mich auf der Rückbank ausgebreitet und meine Füße hochgelegt. Die taten reichlich weh nach diesem schrittreichen Tag heute. Ich versuchte wach zu bleiben, doch das hielt nur, bis ich mich wieder einigermaßen bequem hingesetzte und den Kopf hinten angelehnt hatte. Danach war ich sofort weg und schlief. Als ich das nächste Mal aufwachte, stand das Auto und draußen am Horizont war ein schmaler Streifen blaugrauen Lichts, das den Morgen ankündigte. Tau hatte sich auf den Scheiben des Wagens gebildet. Es war still, nur tiefe, gleichmäßige Atemzüge waren zu hören. Ich saß in der Mitte der Rückbank, halb liegend, halb sitzend. Links neben mir Tess, tief schlafend. Sie hatte ihren Kopf auf meine Schulter gelegt und mein Kinn lag an ihrer Stirn. Rechts neben mir saß Dion, ebenfalls im Tiefschlaf und seinen Kopf ebenfalls auf meiner Schulter. Sein Mund stand ein kleines Stück offen. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es mir auch ziemlich egal, ich war immer noch ziemlich müde. Ich lehnte den Kopf wieder an Tess’, schloss die Augen und driftete, mit einem Lächeln an die Erinnerungen an den vergangenen Tag auf den Lippen, wieder ab. ___ tbc. Kapitel 11: Chocolate --------------------- CHOCOLATE »Wo ist die verdammte Sternschnuppe?« »Wo ist dieser Scheißschlitten?« »Wo ist die bekloppte Colaflasche?« »Oh, die Cola ist hier«, meinte Tess und langte hinunter, neben ihren Stuhl, auf dem sie saß, und hob die Flasche in die Höhe, bevor sie sie Dion reichte. Der sah ziemlich erleichtert aus, als er endlich die Cola zurück hatte. Tess unterdessen ließ die Augen noch einmal gründlich über den Tisch gleiten, weiterhin auf der Suche nach der Sternschnuppen-Plätzchenform. Während sie nach der Sternschnuppe suchte, hielt ich nach dem Stechförmchen für den Schlitten Ausschau. Wir saßen in der van Dorve’schen Küche, am vierten Advent, und machten Plätzchen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war, seitdem Tess und ich hier waren, aber draußen war es schon dunkel — das ließ darauf schließen, dass es doch schon eine ganze Weile war. Wir hatten uns zusammengeschmissen, um ein bisschen Weihnachtsbäckerei zu spielen. Daraus waren inzwischen Brownies, Lebkuchen, ein Lebkuchenhaus und nun Plätzchen erwachsen. Den Plätzchen hatten wir uns zu letzt gewidmet. Ich war anstandslos hierher gekommen. Der einfache wie lächerliche Grund war, dass ich schlichtweg käuflich war. Wenn es um Lebkuchen, Plätzchen und Ähnliches ging, konnte ich beim besten Willen nicht nein sagen. Selbst wenn es hieß, dass ich wieder zu Dion nach Hause musste. Das war dabei völlig egal, Hauptsache Weihnachtssüßzeug. Abgesehen davon war Tess dabei, es war also unmöglich, dass Dion und ich uns einmal mehr in eine peinliche Situation manövrierten. Und wenn doch, dann war Tess da, um uns zu retten. »Ich krieg hier noch das Kotzen mit diesem Schlitten«, fauchte ich angesäuert, als ich die blöde Form fünf Minuten später immer noch nicht in diesem unübersichtlichen Haufen aus Stechformen gefunden hatte. Tess und Dion stanzten mittlerweile fröhlich in ihrem Teig herum, während ich zunehmend depressiver wurde, weil ich keinen Schlitten machen konnte. Tess warf mir diesen besorgt-mahnenden Blick zu, aber ich ignorierte ihn. Ich wusste, was sie dachte, aber nicht sagte. »Warum nimmst du nicht einfach eine andere Form?«, klar. Ich wollte aber den Schlitten und ich würde kein anderes Plätzchen stechen, bis ich nicht zumindest einen davon hatte. Ich hörte ein amüsiertes Lachen hinter mir. Mr van Dorve wuselte am Tisch vorbei zu dem Blech mit den fertig gebackenen Plätzchen und schaufelte sich einige davon in seine Hand. Ich hatte Dions Vater kennengelernt, als Tess und ich heute bei Bambi angekommen waren. Genauso wie Bambis Mutter sah auch Vater Reh ziemlich jung für sein Alter aus. Gut, ich hatte nicht einmal annähernd eine Ahnung, wie alt Bambis Eltern waren, aber sie sahen beide gut erhalten aus. Mr van Dorve strahlte eine ungewöhnliche Ruhe und Gelassenheit aus, abgesehen davon hatte er die Art von angerauter Coolness, die mich an einen Surfer oder so was erinnerte. Tess lag ihm zu Füßen. Und die Schwestern und Ärztinnen im Krankenhaus wahrscheinlich auch. Es hatte mich nicht gewundert, dass Tess ihn bereits kannte. Aber erst in dem Moment heute Nachmittag war mir richtig bewusst geworden, dass Tess schon öfter hier gewesen sein musste. Sie hatte nie etwas gesagt. »Dad«, sagte Dion ärgerlich, als sein Vater Plätzchen klaute. »Die sind noch nicht fertig!« Mr van Dorve grinste breit, schob sich demonstrativ das nächste Plätzchen in den Mund und trat dann an den Tisch, um unsere Arbeit zu begutachten. »Bei dem Haufen, den ihr macht, fällt es gar nicht auf, wenn ich mal zwei stibitze«, erwiderte er schelmisch. Dion schnaubte verächtlich. »Zwei? Kannst wohl nicht mehr richtig zählen, was?«, triezte Bambi und sah seinen Vater dabei an. Während ich zwischen den beiden hin und her sah, fiel mir auf, dass Dion das Grinsen eindeutig von seinem Dad übernommen hatte. Wenn sie grinsten, hätten sie Zwillinge sein können. Zwillinge mit beträchtlichem Altersunterschied. »Sprach der Experte«, stichelte Mr van Dorve zurück. Kurz herrschte Stille. Wir wussten alle, worauf er anspielte. Tess sah ein wenig betreten aus, Dions Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Ärger und Scham, Mr van Dorve grinste immer noch und ich … musste lachen. Tess sah mich völlig entgeistert an, Dion schaute im ersten Moment irritiert, während das Grinsen seines Vaters noch breiter wurde. Während ich lachte — und es schüttelte mich immer mehr —, fand ich auch endlich die Stechform in dem Haufen. »Wollt ihr auch Abendessen?«, fragte Mr van Dorve, nachdem ich mich beruhigt hatte. Wir bejahten einstimmig. Während wir weiter an unseren Plätzchen bastelten, wirtschaftete Dions Dad ebenfalls in der Küche herum. Ich schaute ihm hin und wieder dabei zu. Er warf zwei Beutel Reis in einen mit Wasser gefüllten Topf, stellte diesen auf dem Herd ab und holte dann eine Auflaufform aus einem der Schränke. In dem Moment hörte ich die Haustür aufgehen. Einige Momente später kam Dions Mutter in die Küche. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Offenbar kam sie gerade von der Arbeit nach Hause. Sie begrüßte uns, gab Dion einen Kuss auf die Stirn und wandte sich dann ihrem Mann zu. Der hatte inzwischen Lachs aus dem Tiefkühlschrank geholt und legte die einzelnen Stück in die Form. Mrs van Dorve umarmte ihn von hinten, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute ihm bei seinem Werkeln über die Schulter, bevor sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Wie ein verliebtes Pärchen. Wie Tess’ Eltern. »Probier mal die Plätzchen. Die sind echt gut«, meinte Bambis Dad, woraufhin Dion ein protestierendes »Nein!« von sich gab. Ich grinste stumm, legte meinen ausgestochenen Teig auf das Blech und rollte die übrigen Fetzen noch zusammen. Als Dion gerade nicht hinsah, mopste seine Mutter sich ein Plätzchen, grinste mich an und hielt sich den Finger vor die Lippen. Danach verschwand sie aus der Küche, mit der Begründung, sie wolle sich umziehen. Als wir geraden fertig mit dem letzten Teig und den letzten Plätzchen waren, nahm Mr van Dorve den Lachs aus dem Ofen, sodass wir die Bleche mit dem Gebäck hinein schieben konnten. Zu viert räumten wir schnell den Tisch von unserem Zeug frei, verstauten alles im Geschirrspüler und deckten den Tisch für das Abendessen. Tess schnippelte noch schnell einen Salat zusammen. Ich half ihr, als ich fertig war, beim Tischdecken zu helfen. Als ich den Salat mithilfe zweier Löffel durchmischte, räumte Tess das Messer in den Spüler und die Reste der Tomaten und Gurke weg. Gerade, als alles bereit war, kam Dions Mom zurück, sodass wir uns gemeinsam an den Tisch setzten. Mr van Dorve füllten jedem Reis auf und Tess übernahm den Lachs. »Dion, hast du Sally eigentlich schon angerufen?«, fragte Mrs van Dorve, während sie sich Reis auf die Gabel häufte. Dion sah von seinem Teller auf. Er sah ein wenig so aus, als hätte sie ihn beleidigt. »Natürlich. Schon heute Morgen«, antwortete er. Er stach sich ein Stückchen Gurke auf die Gabel. Ich runzelte die Stirn und fragte mich, wer Sally war. Seine Cousine vielleicht. Immerhin schienen seine Eltern sie auch zu kennen. Und warum überhaupt anrufen? Um zum vierten Advent zu gratulieren? Oder vielleicht hatte Sally Geburtstag? Das schien wahrscheinlicher, aber ich wusste schließlich auch nicht, was Familie van Dorve so für Traditionen pflegte. Vielleicht war es bei ihnen üblich, sich an einem Advent zu beglückwünschen. Tess wusste bestimmt, wer Sally war. Es interessierte mich, aber ich fragte nicht laut danach. »Und, hatte sie für heute etwas Schönes geplant?«, fragte Bambis Mom weiter, bevor sie sich Lachs in den Mund schob. Dion zuckte kurz die Schultern, während er kaute. »Sie war mit Freunden brunchen«, erzählte Dion. Sally schien also doch Geburtstag zu haben, dachte ich, während ich schweigend dem Gespräch folgte. Doch mit Dions Antwort war es beendet und wir wandten uns anderen Gesprächsthemen zu. Den Weihnachtsferien; was wir währenddessen machen wollten; wie wir feiern würden; was wir uns wünschten … Tess würde am Boxing Day zu einem Familientreffen fahren, wo der gesamte Goodchild-Clan anwesend sein würde. Sie hatte einen Haufen Cousins und Cousinen, die für Tess alle wie Geschwister waren. Vor Silvester würde sie aber wieder hier sein, hatte sie erzählt, weil sie es sich nicht nehmen lassen wollte, Neujahr mit mir zu feiern. Eigentlich hatte ich es ihr ausreden wollen, weil ich nicht darauf bestehen wollte, dass sie sich von ihrer Familie löste, nur um bei mir zu sein. Aber da ihre Eltern auch nicht vor hatten, bis über Silvester wegzubleiben, war es im Endeffekt kein Problem. Mr van Dorve sagte, dass er an Heilig Abend Bereitschaftsdienst habe und unter Umständen kurzfristig ins Krankenhaus müsse. Dion sah nicht sehr begeistert aus, als er das hörte. Sein Gesicht verdüsterte sich, aber er schwieg. Ich erinnerte mich daran, was er mir über den Beruf seiner Eltern erzählt hatte. Zumindest hatte er seine Mutter. Sie versicherte, dass sie zu Hause sein würde. Und dann kam der Teil, von dem ich gehofft hatte, er würde unter den Tisch fallen: Das Thema kam auf mich und meine Pläne für Weihnachten. Ich räusperte mich leise. Ich mochte es nicht, darüber zu reden, aber ich wollte auch nicht unhöflich sein. »Ich bin bei Tess«, sagte ich wahrheitsgemäß und warf ihr einen Blick zu. Sie hatte einen vorsichtigen Ausdruck in den Augen, weil sie wusste, wie ich zu diesem Thema stand. Nicht, dass es mich störte, Weihnachten bei Tess zu verbringen — ganz im Gegenteil —, ich redete nur nicht gern öffentlich darüber, dass ich nicht bei meiner Familie war. Mir fiel auf, dass Mr und Mrs van Dorve einen flüchtigen Blick tauschten, beide wirkten ein wenig überrascht. Doch dann lächelte Dions Mutter mich freundlich an. »Sind deine Eltern nicht da?«, fragte sie. Ich wusste, dass sie nicht bohrte. Sie fragte rein aus Höflichkeit, nicht, weil sie irgendwelchen Klatsch aus mir herausbekommen wollte. Es war ehrliches, aber nicht drängendes Interesse. Ich nickte nur und damit war das Thema auch schon beendet, als alle merkten, dass es ein sehr leidiges Gebiet für mich war. Wir aßen auf, danach deckten wir den Tisch wieder ab. Mr und Mrs van Dorve verschwanden ins Wohnzimmer und wir widmeten uns wieder den inzwischen fertigen Plätzchen, die wir noch dekorierten. Ich rührte Zuckerguss an, Tess verflüssigte in einem Topf auf dem Herd einen Klumpen Zartbitterschokolade, während Dion bunte Streusel, Schokostreusel und einen Haufen anderes Streuzeug ans Tageslicht beförderte. Es dauerte ein kleines Weilchen, bis wir dem Dekorieren fertig waren. Ich drehte mich gerade wieder zu Tess, weil ich mit meinem Blech fertig war, als sie mir mit jeweils zwei Fingern ihrer Hände je zwei Streifen Zartbitterschokolade indianer-like auf die Wangen malte. Ich starrte sie perplex an, sie starrte amüsiert, aber mit hochgezogenen Augenbrauen zurück. Dann fiel es mir wieder ein. Unser Ritual beim Backen von Plätzchen, sozusagen. Jedes Mal passierte eben das mindestens einmal — an Weihnachten, versteht sich. »Indianer-Zeit«, verkündete Tess breit grinsend. Ich tauchte meine Finger in die übrige Schokolade, drehte mich zu Dion um, der uns total verwirrt anschaute, und malte dem — bei meinem Anblick völlig fassungslosen — Bambi ebenfalls zwei Schokoladenstreifen über die Wangen. »Ich taufe dich auf den Namen …«, begann ich und hielt inne, während ich mir einen Namen ausdachte. »Schokoladiges Reh.« »Schokoladiges Reh?«, echote Bambi irritiert. »Was?« »Wer bin ich?«, fragte ich, als ich den Blick zu Tess wandte. Sie tippte sich den Zeigefinger an die Lippen, das Gesicht zu einer Grüblermiene verzogen. »Süßlicher Stier«, meinte sie dann jovial. Ich drehte mich wieder zu Dion, der noch immer aussah, als hätte man ihm eiskalt eine Pfanne über den Schädel gezogen. Vielleicht sollten Tess und ich uns angewöhnen, ihn vorzuwarnen, bevor wir uns in irgendeiner Weise an ihm vergingen. Auf Dauer konnte das so immerhin nicht gut gehen. Irgendwann würde Bambi noch einen Herzinfarkt oder so bekommen. Eigentlich musste Dion Tess jetzt die Zeichnungen aufs Gesicht schmieren, aber da er gerade in seinem Verblüffungs-Modus war, übernahm ich seine Aufgabe. Als Tess genauso aussah, wie wir, schaute ich Dion an. Die Namensgebung fiel aber eindeutig an ihn. »Name?« Dion starrte mich an wie eine Kuh, wenn es donnert. Er blinzelte verwirrt. »Zuckriger … Hase …?« Ich drehte mich wieder zu Tess, klopfte ihr auf die Schultern und sagte: »Nun, Zuckriger Hase, du bist offiziell in unsere Gemeinde aufgenommen worden.« Nachdem unser Weihnachts-Indianer-Ritual abgeschlossen war und wir Dion schließlich eingeweiht hatten — es amüsierte ihn ausgesprochen —, räumten wir alles, was wir nicht mehr brauchten weg. Wir häuften einen Teil der Gebäcke in eine große Schüssel, weil wir beschlossen hatten, uns zusammen auf die Veranda zu setzen, süßes Zeug in uns hineinzustopfen und uns dabei irgendwelche lustigen YouTube Videos anzusehen. Tess setzte heißes Wasser auf, damit wir uns Tee mit nach draußen nehmen konnten, und Dion eilte nach oben, um seinen Laptop und eine Decke zu holen. Wir zogen uns im Flur an, Tess nahm zwei Teetassen, ich eine Teetasse und die Schüssel mit dem Gebäck und Dion hielt sein MacBook und die Decke im Arm. Zusammen setzten wir uns in die Hollywoodschaukel auf der Veranda, ich irgendwie in der Mitte mit dem Laptop auf dem Schoß, jeder von uns eine Tasse Tee in der Hand und die Schüssel zwischen uns. Unsere Kriegsbemalung war mittlerweile trocken, aber es störte sich niemand daran, denn eigentlich — und das wusste Dion noch nicht —, war das Ritual noch nicht abgeschlossen. Wir klickten uns durch diverse Videos, die wir so kannten. Tess zeigte uns eins von der Internetwahl zwischen Kerry und Bush, wie es hätte gewesen sein können — wie Bush unter dubiosen Umständen die Stimmen bekommen hatte. Dion und ich brüllten vor Lachen, als wir uns den Spot ansahen. Eigentlich kannte ich das Video schon, weil Tess es mir schon einmal gezeigt hatte, aber es war trotzdem immer wieder witzig. Schließlich landeten wir bei Achmed the Dead Terrorist. Tess und ich konnten den Text auswendig mitsprechen — Bambi ebenfalls. So hockten wir auf der Hollywoodschaukel und sprachen den Text mit, teilweise unter ersticktem Lachen. Diese Puppe war der absolute Hammer. »A terrifying terrorissssst«, sagte Tess mit verstellter Stimme, während Dion und ich um die Wette lachten. »SILENCE! I KILL YOU!« Ich musste aufpassen, dass ich meinen Tee nicht versehentlich über den Laptop goss. »But you’re all bone«, meinte Tess verwundert. »It’s a flesh wound«, erwiderte Dion heiter. Ich johlte und warf den Kopf lachend in den Nacken. Ich bekam kaum ordentlich Luft, zum Atmen hatte ich einfach keine Zeit. Als der ziemlich rassistische Juden-und-Christenwitz von Achmed kam, brachen wir zu dritt in schallendes Gelächter aus. Zu guter Letzt stimmten wir Jingle Bombs an. Ich wischte mir die Lachtränen aus den Augenwinkeln, als das Video vorbei war. Tess verabschiedete sich aufs Klo, während Dion und ich schnaufend nach Luft rangen. Ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so gelacht hatte. Solche Momente waren wirklich nicht oft. Nachdem Dion und ich uns schließlich beruhigt hatten, war es kurz still zwischen uns. Da war sie wieder, diese peinliche Stille, die ständig zwischen uns entstand, wenn wir allein waren. Ich hatte keine Ahnung, woran es lag, dass wir nicht vernünftig miteinander kommunizieren konnten, wenn sonst niemand dabei war. Das Problem hatte ich eigentlich nie, so war es nur mit Bambi. Schweigend nippte ich an meinem Tee. »Grace?«, fragte Dion testend. Ich hob den Blick und schaute Dion über den Rand der Tasse hinweg an. Er sah ein wenig verlegen aus, vielleicht kam es mir aber auch nur im Dunkeln so vor. Kurz schwieg er, als wäre er unschlüssig, ob und was er sagen sollte. Ich hörte ihn tief Luft holen, bevor er wieder sprach. »Du … na ja … du bist herzlich eingeladen herzukommen, wenn … wenn Tess … du weißt schon … zu ihrem Familientreffen fährt …«, brachte er schließlich hervor. Ich war so überrascht, dass ich aufhörte, an dem Tee zu nippen; ich konnte fühlen, wie die Flüssigkeit gegen meine Oberlippe schwappte. Wortlos starrte ich geradeaus, während mein Hirn die Information verarbeitete, die Dion mir gerade gegeben hatte. Hatte er mich gerade über Weihnachten zu sich eingeladen …? Regel Nummer dreiundzwanzig: Weihnachten ist ein Familienfest. Und Freunde sind Familie. »Ich hab ein Geschenk für dich«, fuhr Dion leise fort, als ich nichts sagte. Diesmal klappte ich den Mund fast auf und Tee floss hinein, sodass ich mich beinahe verschluckte. »Na ja, aber … es wäre schön, wenn du … vielleicht vorbeikommen würdest … wenn du Lust hast … und Zeit.« Ich löste die Lippen von meiner Tasse und drehte den Kopf, um Bambi wieder anzuschauen. Er erwiderte meinen Blick. Im ersten Moment war ich so sprachlos, dass ich nicht wusste, was ich hätte sagen können. Aber dann fiel mir wieder ein, was man in so einer Situation als normaler, sozialkompetenter Mensch sagte. »Danke«, meinte ich. »Ich hab auch ein Geschenk für dich …« Hatte ich wirklich. Warum ich ein Geschenk für Dion hatte, wusste ich selber nicht mal so genau, aber in einer Kurzschlussreaktion und in meinem Weihnachtsshopping-Wahn hatte ich einfach etwas besorgt. Genauso, wie Dion sich über meine Offenbahrung zu wundern schien, wunderte ich mich darüber, dass er ein Geschenk für mich hatte. Ich war wirklich nicht davon ausgegangen. Zwar hatte ich erwartet, dass er Tess etwas schenken würde — immerhin waren sie gut befreundet — aber mir … Ich betrachtete die Schokoladenstreifen auf seinen Wangen. In diesem Augenblick war ich kaum zu einem klaren Gedanken fähig. In meinem Kopf schwirrte alles wie eine Horde Kolibris. »Du kannst auch vorbeikommen, wenn du mal nichts zu tun hast oder so …«, bot ich an. Es war, als würde ich mir selbst als Außenstehender zuhören. Dion war der zweite Mensch neben Tess, den ich zu mir nach Hause eingeladen hatte. »Gern«, murmelte Dion leise. Er klang verwundert, aber auch irgendwie erfreut. Wir beschlossen, zusammenzupacken und wieder reinzugehen, als es draußen zu kalt wurde. Tess kam gerade wieder aus dem Bad. Ich zog mir die Schuhe von den Füßen, bevor ich die Schüssel und meine inzwischen leer getrunkene Tasse in die Küche brachte. Danach gingen wir gemeinsam hinauf in Dions Zimmer, wo Tess freudestrahlend verkündete, dass wir unser Weihnachts-Indianer-Ritual zum Abschluss bringen würde. Ich verkniff es mir, mit der Hand über das Gesicht zu fahren. Dieser Part würde Dion wohl wieder ganz schön aus der Bahn werfen. »Abschluss? Ich dachte, es wäre schon alles gewesen …«, meinte Dion irritiert, bekam allerdings nur ein Kopfschütteln von Tess als Antwort. Sie grinste breit und ich bereitete mich darauf vor, dass sie an mir vorführte, womit wir abschlossen, doch da beugte Tess sich schon zu Bambi und leckte ihm die Schokolade mit ausgefahrener Zunge von der Wange. Bambi war erstarrt, hatte die Augen aufgerissen und saß völlig unbeweglich da. Wie elektrisiert. Tess nahm seinen Kopf zwischen die Hände und drehte ihn, damit sie den Vorgang auf der anderen Seite wiederholen konnte. Dion war in seinem Schockzustand und ließ es wie ein Püppchen über sich ergehen. »D-Das ist euer … A-Abschluss?«, stotterte er, nachdem Tess von ihm abgelassen hatte und er aus seiner Paralyse erwacht war. Tess nickte — grinsend, wie immer bei solchen Sachen. Während ich verarbeitete, dass sie Bambi mal wieder ohne Vorwarnung angefallen hatte, dämmerte mir etwas anderes: Bambi würden den Abschluss nämlich an mir machen. Dieses Wissen ließ mich erstarren. »Du bist dran«, hörte ich Tess zu Dion sagen. Ich sah auch, wie sie auf mich deutete; sah Dions unsicheren wie ungläubigen Blick, den er mir zuwarf. In diesem Moment schien alles in Zeitlupe zu laufen. Langsam kroch Dion zu mir herüber und beugte sich zu mir vor, bis er mir so nah war, dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten. Ich konnte seinen kühlen Atem auf meiner Haut spüren und fühlte, wie meine Nackenhärchen sich aufstellten. Ein eigenartiger Schauer erfasste mich. Dion beugte den Kopf ein kleines Stückchen zur Seite, dann verschwand sein Gesicht aus meinem unmittelbaren Blickfeld und ich konnte seine Zunge auf meiner Wange spüren. Meine Haut kribbelte ganz seltsam. Es war, als wäre seine Zunge das einzige, was ich in diesem Moment fühlen konnte. Sie schob sich über meine Wange, leckte den braunen, süßen Film weg, der dort getrocknet war. Ich schloss die Augen. Ein sanfter Lufthauch strich über meine Augenlider, als Dion sich zu meiner anderen Gesichtshälfte wandte und dort denselben Vorgang wiederholte. Ein einziger Gedanke blinkte hell in meinem Kopf: Warum tat Dion das freiwillig und ohne Proteste? Er leckte gerade einem anderen Kerl Schokolade vom Gesicht. Würde ihn jetzt abgesehen von Tess irgendjemand sehen, dann wäre er sofort als Schwuchtel und ähnliches verschrien. Vielleicht machte er es deshalb — weil niemand zusah, der Gerüchte verbreiten würde. Weil er kein Spielverderber sein wollte, so wie im Vergnügungspark bei der Achterbahn. Unter Freunden musste einem nichts peinlich sein … aber wusste Dion das? Aber … würden zwei beste Freunde sich Schokolade vom Gesicht lecken? Etwas anderes schob sich von weit her aus meinem Bewusstsein nach vorne, doch es versank wieder auf halber Strecke, als Dion sich wieder von mir löste. Eine scheinbare Ewigkeit starrten wir einander wortlos an. Mein Hirn arbeitete fieberhaft, aber es schien weit entfernt und vergeblich zu sein. Es war, als würde ein kleines Teilchen fehlen, um ein Gesamtbild zu erstellen. Nein, nicht ein Teilchen. Mehrere Teilchen. Kleine Dinge. Irgendetwas, das ich nicht fassen konnte. Wie mechanisch leckte ich Tess die Schokolade von den Wangen, anschließend gingen wir unsere Gesichter waschen. Nicht aus Ekel, sondern einfach um die zuckrigen, klebrigen Reste von der Haut zu lösen. Als ich in dieser Nacht im Bett lag und den hell leuchtenden Stern, den ich vor mein Fenster gehängt hatte, ansah, fragte ich mich, was ich in all dem Ganzen mit Dion übersah. Irgendetwas … es war, als würde einem das Wort auf der Zunge liegen, aber man kam einfach nicht drauf. Meine kleine Welt stand Kopf. Und ich wusste nicht, wieso. Regel Nummer vierundzwanzig: Weihnachten ist das Fest der Liebe. ___ tbc. Kapitel 12: Family ------------------ FAMILY DION VAN DORVE Ich sah Tess schon von Weitem. Sie wirkte unruhig und angespannt, wie sie da vor der gläsernen Flügeltür auf und ab lief. Eigentlich hatten wir uns für heute zu einem Nachmittag im Factory verabredet, doch kurz vor der geplanten Zeit, hatte sie mich angerufen und gesagt, es würde heute ausfallen. Dann hatte sie mich hierher gebeten. Ihre Stimme hatte am Telefon so geklungen, wie sie jetzt wirkte: unruhig und angespannt. Ich hatte keine Ahnung, warum sie mich zum Krankenhaus gelotst hatte. Ebenso wenig wusste ich, warum sie mich gebeten hatte zu kommen und nicht Grace. Nicht, dass ich mich nicht darüber freute, dass sie dabei an mich dachte, aber … es war einfach ungewöhnlich. Eilig lief ich auf sie zu. Krankenhäuser waren noch nie mein Ding gewesen. So hilfreich sie auch waren, sie wurden trotzdem von einer unangenehmen Note umgeben. Diese ganz eigene Atmosphäre, die nur ein Krankenhaus hatte. Es war etwas, was man eher unterbewusst wirklich wahrnahm und nur richtig bemerkte, wenn man speziell darüber nachdachte. So, wie ein Krankenhaus ein Ort des Lebens war, so war es auch ein Ort des Todes. Mir war klar, dass das ziemlich abgedroschen klang, aber für mich war das nun mal Fakt. Krankenhaus bedeutete eben nicht nur Heilung, Genesung und Rehabilitation. Es bedeutete auch Krankheit, Leiden und Schmerzen. Und dass Tess mich zum Krankenhaus gerufen hatte, ließ mich kalt erschauern. Ich folgte ihrer Bitte zu kommen in völliger Ungewissheit, weswegen. Als sie mich kommen sah, kam Tess mir entgegen. Ihre Bewegungen wirkten fahrig, so hatte ich sie in der Zeit, in der ich sie kannte, noch nicht erlebt. Irgendetwas musste geschehen sein. »Dion, gut, dass du da bist«, begrüßte Tess mich hastig und lächelte flüchtig. Sie umfasste meine Handgelenke. So etwas beherrscht Aufgelöstes kannte ich auch von Sally. Selbst in Momenten offensichtlicher Verzweiflung fuchtelten Mädchen nicht wie irre mit den Armen in der Luft herum. Tess sah mich eindringlich an, dann ließ sie mich wieder los und holte ihr Handy aus der Hosentasche. Ihre Finger zitterten, als sie durch das Menü blätterte. Es war kalt draußen und ich hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier draußen auf mich wartete. Doch ich hatte keine Zeit, um weiter darüber nachzudenken, denn in dem Moment hielt Tess mir ihr Telefon hin. Sie hatte eine eingegangene SMS geöffnet. Sie war von Grace. Dad ist eingeliefert worden. Dad ist eingeliefert worden. Der Satz schien sich in mein Hirn zu brennen. Nur allmählich sickerte mir ins Bewusstsein, was das bedeutete. Hierbei ging es um Grace. Tess war wegen Grace hier und hatte mich gerufen. Abgesehen davon, dass mein Puls allein deswegen in die Höhe schnellen könnte, wurde mir mit ziemlicher Wucht klar, dass es hier nicht nur um Grace allein ging, sondern auch um seine Familie. Ich sah vom Display auf und schaute Tess an. Sie hatte die Augenbrauen besorgt zusammengezogen, dann nahm sie mir das Handy wieder ab, schloss das Menü und steckte es wieder weg. Mit beiden Händen fuhr sie sich durch die Haare, als sie ausatmete, stieg eine Dampfwolke in die Luft auf. »Also … bevor wir reingehen … solltest du vielleicht etwas wissen …«, meinte sie. Tess warf einen Blick auf das Krankenhaus, bevor sie fortfuhr. »Du hast bestimmt schon mitbekommen, dass das Thema Familie bei Grace … eine sehr eigene Reaktion auslöst. Egal, wie sehr man ihn auch aus seinem Schneckenhaus lockt, wenn man dieses Thema anschneidet, verkriecht er sich sofort wieder. Du musst wissen, bevor er mir etwas über sein Familienleben erzählt hat, ist eine Ewigkeit vergangen. Und wir haben auch nur exakt zwei Mal darüber geredet. Grace redet nicht über seine Familie. Er vermeidet es, jedes Mal, wenn es um irgendwas Familiäres geht, weicht er ihm aus, er lenkt von sich ab, damit nur niemand nachfragt. Also … wenn wir da jetzt reingehen, dann … dann bitte, Dion, bitte frag ihn nicht. Ich weiß nicht, was uns da drinnen erwartet, ich weiß nicht, wie Grace reagieren wird auf diese Situation. Ich kann es mir nur vorstellen und ehrlich gesagt … bin ich mir nicht mal sicher, ob meine Vorstellung auch irgendwie der Realität entsprechen könnten. Vielleicht wird er uns rausschmeißen, vielleicht wird er sauer sein, vielleicht wird er auch einfach nur apathisch in einer Ecke sitzen. Nur bitte, bitte, bitte … frag ihn nicht aus. Sei einfach nur da. Ich bin sicher, er wird dankbar sein … wenn nicht jetzt, dann später.« Tess’ kleine Ansprache verunsicherte mich ein wenig. Dass Familie für Grace ein Tabuthema war, war mir schon bewusst. Ich hatte es immerhin selbst erlebt, dass er sofort abblockte, wenn es auch nur in die Richtung ging. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder Angst haben sollte. Einerseits brannte ich regelrecht darauf, etwas mehr über Grace zu erfahren, andererseits fragte ich mich, ob es mich mit ihm ein Stück weiterbringen würde, wenn ich in diese offensichtlich sehr empfindliche Sache eintauchte. Vielleicht blieb mir nichts anderes übrig, als auf das Beste zu hoffen. Doch wenn selbst Tess nicht wusste, worauf wir gefasst sein mussten — Tess, der einzige Mensch, der Grace wirklich kannte —, reichte es dann zu hoffen? Ich atmete tief durch, bevor Tess und ich gemeinsam durch die Glastür gingen. Tess steuerte auf den Service Point zu, und ich folgte ihr schweigend. Die Frau hinter dem Tresen sah reichlich gelangweilt aus. Ihr lichtes, mausbraunes Haar war achtlos nach hinten frisiert und ihre Mundwinkel zeigten nach unten. »Hi. Wir suchen jemanden«, sagte Tess und trommelte mit den Fingern beider Hände auf dem Tresen herum. Sie war ungeduldig, sie wollte so schnell wie möglich zu Grace. Die Frau hob die Augen und sah Tess abwartend an. Ihr Blick sagte alles. Sie hasste es, von Jugendlichen angesprochen zu werden. Vermutlich hasste sie auch ihren Job, aber das spielte im Moment keine Rolle. Vielleicht sollte das Krankenhaus mal über kompetenteres Personal für den Service Point nachdenken … »Grace«, sagte Tess. »Everett.« Während die Frau auf ihre Tastatur nach dem Ein-Finger-Such-System einhakte, fragte ich mich, ob Tess den richtigen Namen genannt hatte. Es ergab keinen Sinn. Grace, Everett oder Everett Grace. Beides war unlogisch. Grace hieß doch Ethan mit Nachnamen … Die Tresenfrau unterbrach mich in meinem konfusen Gedankengang, als sie mit gelangweilter Stimme fragte: »Sind Sie Angehörige?« »Nein«, antwortete Tess schnell. Die Frau verzog keine Miene. »Dann dürfen Sie nicht zu ihm.« Ich machte schon den Mund auf, um irgendwas Dummes zu sagen, als Tess mir zuvorkam. Sie schien die Reaktion erwartet zu haben, denn sie beugte sich ein Stück zu der Dame vor und senkte die Stimme. »Wir wollen auch nicht zu ihm. Wir suchen seinen Sohn. Er muss hier sein und wir denken, dass er bei seinem Vater ist«, erklärte sie. Die Alte zeigte sich unbeeindruckt. Innerlich fing ich an zu brodeln. Verdammt, als hätten wir vor, jemanden umzubringen! Auf der anderen Seite schien es ernst um Grace’ Vater zu stehen. Offenbar gab es eine Freigabe, wer zu ihm durfte und wer nicht und das war für gewöhnlich nur … auf der Intensivstation üblich … Mir sackte das Herz ab. »Gehen Sie zur Intensiv und fragen Sie da nach«, erwiderte die Frau nur, wandte den Blick ab und damit schien das Thema offensichtlich beendet zu sein. Für Tess war es genug, sie löste sich vom Tresen, schnappte nach meiner Hand und hastete zum Gebäudeplan des Krankenhauses, um zu sehen, wo die Intensivstation war. Sie riss mich nahezu mit sich und es überraschte mich, wie viel Kraft in Tess steckte. Zusammen studierten wir den Plan, dann stach sie mit dem Finger auf die Karte, rief »Da!« und hastete mit mir im Schlepptau zum Fahrstuhl. Wir eilten so schnell wie möglich durch die Flure ohne dabei zu rennen. Mir fiel es schwer, nicht einfach loszulaufen und Tess schien es dabei nicht anders zu gehen. Im Vorbereich zur Intensivstation ging Tess wieder zur Information. Mit einer Hand strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn, lächelte flüchtig den Krankenpfleger an, der dort stand. »Everett Grace?«, fragte sie atemlos. »Sind Sie Angehörige?« So langsam kotzte diese Frage mich an. Sahen wir denn aus, als wären wir Geschwister? Tess hatte offensichtlich einen plötzlichen Gefühlsausbruch, denn sie knallte ihre flachen Handflächen auf den Tresen, holte tief Luft und ratterte in einem Mordstemo dieselbe Erklärung runter, die sie wenige Minuten noch der Frau am Service Point gegeben hatte. Der Blick des Pflegers pendelte misstrauisch zwischen Tess und mir. Vermutlich hätte er uns am liebsten auf Waffen kontrolliert. Mein Gott, manchmal konnte einen diese Krankenhauspolitik wirklich krank machen. Ich drehte der Info den Rücken zu und spielte einen Moment mit dem Gedanken, Mom oder Dad ausrufen zu lassen, als mein Blick durch die Glastüren fiel, die zum Flur der Intensivstation führten. Dort, ein Stück von den Türen entfernt, saß Grace auf einer Bank an der Wand, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen verborgen. Er wiegte sich leicht vor und zurück, seine Haare fielen über seine Finger. Alles andere schien auf einmal wie aus meiner Umgebung ausgeblendet. Da saß nur Grace auf dieser weißen Bank in diesem weißen Flur. Nur diese verdammte Tür trennte uns. Die Tür trennte uns körperlich, aber geistig … da trennte uns noch sehr, sehr viel mehr. Die Umgebung nahm wieder Gestalt an, als ein Arzt aus dem Grace’ gegenüberliegenden Raum kam. Grace hob den Kopf und war sofort auf den Beinen als er den in weiß gepackten Menschen sah. Sie unterhielten sich, kurz, der Arzt schüttelte nur leicht den Kopf. Grace senkte den Blick, ließ die Schultern hängen und dann fiel er wie ein nasser Sack auf den Sitz zurück. Kurz legte er den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er hatte die Beine ausgestreckt. Vermutlich wäre jeder vorbeieilende Arzt darüber gestolpert. Der Arzt, der eben noch mit Grace gesprochen hatte, verließ die Intensiv durch die Tür, während er durch die Akte blätterte, die er in der Hand hatte. Er hob kurz den Blick, sah zuerst mich und dann Tess an. Als er an den Tresen herantrat und die Akte dem Pfleger übergab, warf ich einen Blick auf das Namensschild des Kittelträgers. Dr. Baldwin. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, wandte Dr. Baldwin sich an Tess und mich. Noch bevor einer von uns antworten konnte, ergriff der Pfleger hinter der Info das Wort und erklärte dem Doktor kurz, worum es ging. Dr. Baldwin sah von Tess zu mir und dann durch die Glastür zu Grace. Tess folgte seinem Blick. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich auf eine Weise, die einem fast das Blut gefrieren ließ. Sie sah aus, als hätte sie ernsthaft Angst um ihn. Dr. Baldwin seufzte. »Gehen Sie zu ihm«, meinte er schließlich zu uns. »Ich denke, er braucht jetzt die Gesellschaft seiner Freunde.« Der Doktor nickte dem Pfleger kurz zu, gab ein paar Anweisungen, einige davon auch an uns und wandte sich dann ab. Tess und ich hätten vermutlich fast die Tür eingerannt, aber wir beherrschten uns mühsam. Schnell betraten wir den Flur der Intensiv und hasteten zu Grace, der immer noch ziemlich kraftlos auf der Bank mehr lag, als saß. »Hey«, sagte Tess leise, als sie sich langsam neben ihm niederließ. Grace hatte die Augen geschlossen, die Hände über der Stirn gefaltet. »Hey«, murmelte er ohne die Augen zu öffnen. Ich setzte mich auf den anderen freien Platz neben ihn. Als er langsam die Lider aufschlug, setzte er sich auch auf, beugte sich vor und stützte sich wieder auf die Knie. Fast hätte ich gesagt, dass neben mir eine völlig fremde Person saß. Grace war blass und wirkte, als hätte er einige Tage nicht geschlafen. Seine Augen — seine sonst so kraftvollen, charismatischen Augen — sie waren trüb und ausdruckslos. Mit den Händen pflügte er durch seinen Schopf, dann faltete er die Hände über dem Kopf und hielt so zusammengeklappte inne. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht einmal, was genau los war. Aber Tess hatte gesagt, ich sollte einfach da sein. Sie sagte ebenfalls nicht, sondern legte ihm nur die Hand auf den Rücken und strich behutsam darüber. Grace rührte sich nicht. Während Tess geduldig dasaß, schaute ich durch das Fenster in den gegenüberliegenden Raum. Die Zimmertür war zu und die Blenden des Sichtfensters nicht geschlossen. In dem Bett lag ein Mann, dessen Alter ich schwer schätzen konnte. Seine Züge waren ausdruckslos, doch obwohl sein Gesicht keine Regung zeigte, sah er irgendwie ziemlich mitgenommen aus. Die Wangen waren eingefallen und er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sein Körper hing an vielen Geräten, ein Monitor zeichnete seinen Herzschlag auf. Zahlreiche Katheter waren gelegt worden, die alle an irgendwelchen Tröpfen hingen. Trotz all dem war die Ähnlichkeit zwischen ihm und Grace unverkennbar. Irgendwie war es ein seltsames Gefühl, einen von Grace’ Elternteilen zu sehen. Sie waren vorher so etwas wie eine Abstraktion gewesen und man hätte fast meinen können, Grace hätte gar keine Eltern. Zu gerne hätte ich den Grund erfahren, warum Grace’ Dad hier auf der Intensivstation lag, was geschehen war; warum Grace nicht über seine Familie sprach und allein lebte … es gab noch so vieles, was ich gern über ihn gewusst hätte. Ich ertappte mich jedes Mal aufs Neue dabei, wie ich Tess um ihre Vertrautheit mit ihm beneidete. Selbst jetzt wusste sie vermutlich immer noch mehr als ich. Grace regte sich und setzte sich wieder auf, lehnte sich gegen die Wand in seinem Rücken und starrte auf seine Hände. »Er braucht ’ne neue Leber, hat der Arzt gesagt. Eine verdammte neue Leber …« Tess streichelte durch seine Haare, aber er schien es gar nicht zu merken. Sein Blick war starr, trüb. Er wirkte wie jemand, der nichts mehr hatte, was ihn hielt. So … verlassen, getroffen … am Boden zerstört. Das hier war ein Teil seiner wahren Persönlichkeit. Etwas sehr Privates, Intimes; etwas, was er vor der ganzen Welt versteckt hielt. Den zerbrechlichen Teil seines Seins. Mir war es immer so vorgekommen, dass die meisten dachten, dass Grace’ Charakter sehr oberflächlich wäre; dass er nur die wenigen Charakterzüge hatte, die er der Öffentlichkeit zeigte. Dabei war es genau das Gegenteil. Sein Charakter war alles andere als oberflächlich. Er machte jedem einfach nur etwas vor und war dabei so gut in seiner Rolle, dass es niemanden gab, der daran zweifelte. »Es wird wieder«, murmelte Tess beruhigend. Ärger flackerte in Grace’ Augen auf. »Ach ja? Wie lange wird es wohl dauern, bis er die nächste Leber braucht und die nächste und dann wieder die nächste? Er hat doch Übung, nächstes Mal wird es bestimmt schneller gehen. Und er muss dann immer und immer wieder auf eine gesunde, neue Leber warten, die ihm irgendein armes, gutes Schwein abtritt, damit er sie wieder unrettbar zerstören kann«, sagte er verächtlich, doch der Ärger klang in seiner Stimme nicht einmal annähernd so sehr mit wie sonst, wenn er wütend war. Mir wurde langsam klar, worum es ging. Es brannte auf meiner Zunge, dieses Wort, dieser Begriff … Alkoholiker. »Es ist nicht deine Schuld …«, entgegnete Tess ruhig, immer noch leise. Doch das schien Grace nicht im Geringsten zu beruhigen. Ich verstand noch viel zu wenig von ihm, um zu begreifen, warum Tess es jetzt gesagt hatte. Grace starrte immer noch ins Nichts, als wäre er völlig allein, nur Tess’ Stimme in seinem Ohr. »Nein, ist es nicht. Was hätte ich auch tun sollen? Er hat doch nie begriffen, was er tat«, murmelte Grace kraftlos, seine Augen fokussierten sich wieder. Er war zurück auf der Intensivstation, sein Blick wanderte zum Sichtfenster. Grace musste nichts sagen, er musste nicht mal das Gesicht verziehen und trotzdem strömte Trauer und Verzweiflung aus jeder einzelnen Pore. Ich hatte keine Ahnung, woran das lag, dass es so offensichtlich war, obwohl er doch eigentlich nichts tat. Während ich über diesen Fakt grübelte, kam mir ein anderer Gedanke, nämlich dass Grace — obwohl er allein lebte — seinen Vater sehr lieben musste. Sonst würde er jetzt nicht wie eine fremde Person wirken. Tess seufzte lautlos. »Ich hol dir was zu trinken«, sagte sie leise und erhob sich. Dann ging sie schnell den Flur entlang und verschwand, um für Grace etwas Flüssiges zu besorgen. Ich fühlte mich auf einmal seltsam verlassen. Leider gab es keine Gebrauchsanweisung für einen starren Grace, der wie ein Häufchen Elend auf der Bank saß, und ich hatte absolut keine Ahnung, was ich jetzt hätte tun können, außer wie ein Idiot neben ihm zu sitzen. Tess hatte gesagt, ich solle einfach da sein, aber einfach da sein war noch nie meine Stärke gewesen sein. Ich konnte Freunden nicht einfach beim Trauern zusehen und dabei still und tatenlos daneben sitzen. Ich wusste, was ich bei Tess getan hätte, wenn sie traurig wäre, bei Sally … aber bei Grace? Fieberhaft überlegte ich, was ich hätte tun können. Etwas Harmloses, was ihn nicht dazu verleiten würde, mich zu töten, wenn ich ihm noch näher kam. »Du weißt nicht zufällig, wo ich auf die Schnelle eine neue, passende Leber herbekomme?« Ich wäre fast zusammengezuckt. Als ich den Blick hob, starb ich beinahe. Grace sah mich direkt an, konzentrierte Aufmerksamkeit lag in seinen Augen. Gut, spätestens jetzt hatte er meine Anwesenheit also bemerkt. Dass er mich noch nicht von der Station gejagt hatte, konnte nur ein gutes Omen sein. »Bei eBay vielleicht …« Ach. Du. Scheiße. Geh und schaufel’ dir selbst ein Grab, Dion, etwas Taktloseres hättest du wirklich nicht sagen können, dachte ich. In dem Moment verspürte ich für wenige Sekunden den Drang, mir selbst die Leber aus dem Körper zu reißen und sie Grace kriechend anzubieten. Das wäre das Mindeste gewesen, was ich ihm nach meiner dummen Aussage hätte anbieten können. Ich hätte mich ohrfeigen sollen, den Kopf gegen die Wand hämmern, ich hätte Grace die Füße küssen und ihn um Verzeihung bitten müssen, aber ich war selbst so geschockt von mir selbst, dass ich nichts davon tat. Mit aufgerissenen Augen sah ich ihn an — und stutzte. Grace lächelte schwach. Ein Anflug ehrlichen Amüsements war zu erkennen, aber es reichte bei Weitem noch nicht aus, um seine Laune wirklich zu heben. Aber … abgesehen davon … er … er … na ja … er lächelte. Er raste nicht vor Wut, er schrie nicht, er sah auch nicht aus, als wollte er mich umbringen. Seine Züge waren ein wenig weicher geworden, aber sie verhärteten sich schnell wieder, als die Erheiterung abklang. »Ja«, meinte Grace beinahe lautlos. »Bestimmt.« Vorsichtig legte ich probehalber einen Arm um seine Schulter. Er ließ es geschehen. »Tut mir leid«, murmelte ich entschuldigend. »Das war … unangebracht.« Grace schaute mich an, ich hatte keine Ahnung, woran er wohl gerade dachte, aber er sagte nichts. Zu gern hätte ich ihm geholfen, hätte irgendetwas gesagt, was ihn aufbauen würde. Aber ich wusste nichts. Ich wusste nicht mal, was ihm in dieser Situation geholfen hätte. Tess hätte es gewusst, aber sie war gerade nicht da. Sie hätte bestimmt auch keinen eBay-Spruch geliefert. Es wäre besser gewesen, wenn ich das Wasser holen gegangen wäre. Doch das war der Moment, in dem mein Hirn unwillkürlich sagte: »Nein, es ist gut so, dass Tess gegangen ist.« Denn in diesem Augenblick beugte Grace sich vor und umarmte mich. Er. Umarmte. Mich. Ich konnte fühlen, wie seine Finger den Stoff meines Hemds an meinem Rücken rauften, als er sich hineinkrallte. Ich konnte seine Wärme an mir spüren. Ich fühlte seinen kühlen Atem auf meinem Nacken, fühlte sein Herz gegen meine Brust schlagen. Ich roch ihn. Und, oh, Gott, er roch so gut. Mein Kopf war blank, so leer, wie schon lange nicht mehr. Für einen kleinen Augenblick kam es mir so vor, als wäre jede Funktion meines Körpers für mindestens einen Herzschlag ausgesetzt. Erst dann schickte mein Hirn das Signal an meine Arme und ich legte sie um Grace. Es fühlte sich berauschend an. Nicht nur, weil er mich von sich aus umarmte. Rein von der Fläche her betrachtet, war dies die größte Umarmung. Noch nie hatte ich so viel Grace in den Armen gehabt wie jetzt. Nicht mal, als ich ihm zu Weihnachten die Schokolade vom Gesicht gele— oh … jetzt nur nicht daran denken. Und obwohl damals sogar Zungeneinsatz gewesen war, war diese Umarmung jetzt besser als alles Vorangegangene. Einfach nur, weil Grace es aus freiem Willen von sich aus tat. Ich wusste nicht, wie lange wir so dasaßen, aber die Umarmung war viel zu schnell wieder vorbei. Sein Duft kribbelte immer noch in meiner Nase. Jetzt würde es nur noch schlimmer werden, bei ihm zu sein und ihn einfach nur anzusehen und zu hoffen, dass er meine Nähe akzeptierte. Jetzt, wo ich wusste, wie es sich anfühlte, ihn festzuhalten. Und obwohl es das noch schwerer machte, war ich froh, dass ich überhaupt wusste, was es für ein Gefühl war, Grace zu umarmen, richtig zu umarmen. Mein gesamter Körper schien darauf zu brennen, ihn bei der nächsten Gelegenheit wieder in den Arm zu nehmen. Es würde nur keine nächste Gelegenheit geben … Ich fuhr Grace nach Hause, nachdem Tess viel Überzeugungskraft hatte aufbringen müssen, ihn überhaupt aus dem Krankenhaus zu bekommen. Vermutlich wäre er die ganze Nacht dortgeblieben, für den Rest der Woche … bis sein Vater eine neue Leber bekommen hatte. Tess hielt ihn fest, als er wieder reingehen wollte, sie klammerte sich regelrecht an ihn und bettelte förmlich, dass er sich das nicht antat, auf ewig auf der Intensivstation zu sitzen und zu warten, bis die notwendige Rettung für seinen Dad kam. In solchen Momenten wurde einem erst wahrhaftig bewusst, welche Ausmaße und Tiefe die Freundschaft zwischen Tess und Grace hatte. Es gab niemanden, der ihn besser kannte, und ebenso wenig gab es jemanden, der sie besser kannte. Tess verbrachte im Anschluss zehn Minuten damit, sich bei Grace zu entschuldigen, dass sie los musste. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, ihre Brüder von ihren AGs abzuholen, da ihre Eltern heute verreist waren und es sonst niemanden gab, der die Aufgabe hätte übernehmen können. Aber Grace beruhigte sie, gab ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn und winkte, als sie davon ging. Ich hatte fast die Befürchtung, er würde sich sofort wieder ins Krankenhaus stürzen, aber er blieb einfach stehen und starrte wieder vor sich her. Solange, bis ich ihm anbot, ihn nach Hause zu bringen. Grace wirkte, als wäre er versucht gewesen, abzulehnen, aber er stimmte zu. Ich folgte ihm in die Wohnung. Er streifte sich die Schuhe von den Füßen und warf sie achtlos von sich. Seine Jacke glitt von seinen Schultern und Armen. Grace ließ sie dort liegen, wo sie den Boden berührte. Ich konnte verstehen, warum ihm im Moment einige Dinge einfach egal waren. Leise zog ich die Haustür hinter mir zu. Mir war klar, dass ich mich gerade selbst eingeladen hatte, aber … Freunde mit Problemen ließ man nicht einfach so allein. Grace war aus dem Flur verschwunden, aber ich lief ihm nicht nach. Stattdessen bog ich in die Küche ab, füllte Wasser in den Wasserkocher, bevor ich diesen anstellte, und suchte dann nach einem Becher und einem Teebeutel. Die Küche war erstaunlich gut aufgeräumt und sortiert. Alles schien seinen Platz zu haben. Ich warf den Beutel in den Becher und wartete, bis der Kocher fertig war. Ich füllte das Wasser ein, dann ließ ich den Tee für einige Minuten ziehen. In der Wohnung war es still, als wäre niemand außer mir hier. Insgeheim hoffte ich, dass Grace gerade nicht im Bad über der Wanne hing und sich die Pulsadern aufschnitt, aber das war wohl viel eher eine Klischeevorstellung aus irgendwelchen Filmen. Ich zog den Beutel aus dem heißen Wasser und warf ihn in die Spüle. Mit dem Becher in der Hand trat ich in den Flur. Da sickerte mir ins Gedächtnis, dass ich bis jetzt nur einmal hier gewesen war und über die Küche und den Flur war ich damals nicht hinausgekommen. Zwei weitere Türen führten vom Flur ab, eine davon war offen. Ich warf einen Blick in den geöffneten Raum. Es war das Wohnzimmer. Leise schlich ich weiter, bis zur geschlossenen Tür und blieb davor stehen. Kurz starrte ich sie an, dann holte ich tief Luft und klopfte. Es kam keine Antwort. Ich klopfte noch mal und es blieb wieder still. Vorsichtig drehte ich die Klinke und öffnete die Tür, um einen Blick hineinzuwerfen. Als ich erkannte, was sich dahinter befand, stieß ich sie ganz auf. Eigentlich hätte ich mir getrost die Hand vor die Stirn schlagen können. Da stand ich vor Grace’ Badezimmer und dachte, es wäre sein Schlafzimmer. Kein Wunder, dass keine Antwort gekommen war. Peinlicher wäre es wohl gewesen, wenn er mich a) dabei gesehen hätte, wie ich vor dem Klo stand und klopfte oder/und b) er tatsächlich auf der Toilette gewesen wäre, während ich hier stand und gegen die Tür hämmerte. Aber es war mir, trotz dem niemand mich dabei gesehen hatte, peinlich. Ich betrat das Wohnzimmer und schaute mich um. Eine angelehnte Tür führte in einen weiteren Raum. Um sicherzugehen, dass ich diesmal richtig war, vergrößerte ich den Spalt, um hineinzublicken. Grace lag zugedeckt im Bett, mit dem Rücken zur Tür. Ich klopfte leise, als Ankündigung, dass ich reinkam. Er blieb still liegen. Schlief er schon? Wäre wohl nicht undenkbar. Vorsichtig stellte ich den Becher mit dem Tee auf dem kleinen Nachttisch ab, der neben dem Bett stand, und wollte mich wieder umdrehen und gehen, als er sich mir zuwandte. Er schlief also doch nicht. »Grace, ich hab dir Tee gemacht«, sagte ich und deutete dabei auf den kleinen Tisch. Er folgte meinem Wink kurz mit den Augen, dann sah er mich wieder an. Da er wach war, würde ich also wohl noch bleiben können … Grace hätte es mir sicherlich gesagt, wenn er wollte, dass ich ging. Ich zog mir einen Stuhl ans Bett, über dessen Rückenlehne ein paar seiner Sachen lagen. Grace hatte in dieser Situation etwas von einem kleinen, kranken, hilfsbedürftigen Kind. Aber das hätte ich ihm niemals gesagt. Nach der eBay-Nummer dürfte ich eigentlich gar nichts mehr sagen. Wir schwiegen eine Weile. Wie so oft, wenn wir allein waren. Irgendwie gab es immer eine Barriere zwischen uns. Aus irgendeinem Grund konnten wir kein fließendes Gespräch führen, wenn sonst niemand dabei war. Es gab zwar auch diese angenehmen Stillen zwischen Freunden, wo man einfach nichts sagen musste, aber so etwas war es zwischen ihm und mir nie. Zumindest sah ich das so. Das Schweigen, das immer zwischen uns herrschte, war unangenehm. Ich wollte immer etwas sagen, aber nichts erschien richtig. »Du kannst mich Ethan nennen«, sagte er dann auf einmal. Ich schaute ihn überrascht an. Mir war schleierhaft, wie er jetzt darauf gekommen war. Warum sollte ich ihn denn mit seinem Nachnamen anreden …? Störte es ihn, wenn ich ihn bei seinem Vornamen rief? Offensichtlich. »O-Okay …«, murmelte ich. Ich kam mir vor wie ein Vollidiot. Irgendwie war das kränkend. Ich senkte den Blick auf meine Hände, um ihn nicht ansehen zu müssen; um ihm keine Angriffsfläche zu bieten. Grace hätte es sicherlich erkannt, dass ich mich … dass mich seine Bitte nicht gerade glücklich machte. »Mein Vorname«, meinte er und ich sah wieder auf. Er verwirrte mich immer wieder. Irgendwie hatte er diese eigenartige Eigenschaft, ständig aus dem Stegreif irgendwelche zusammenhanglosen Dinge zu sagen, die ich nicht verstehen konnte. »Was?« Meine Standardantwort. Oder Frage. Wie auch immer. »Ethan … eigentlich heiße ich Ethan …« Ich fühlte mich, als wäre neben meinem Kopf irgendwas explodiert. Also … nicht so körperteile-abreißen-mäßig, sondern na ja … gedankliche Volltrefferdetonation oder so was. Ach. Verdammt. Gedankengülle. »Ich … ich glaube, ich … verstehe nicht. Ich meine, doch … doch, ich verstehe schon … aber … hä?«, stotterte ich hervor, während ich ihn irritiert ansah. Irgendetwas huschte kurz über seine Züge, aber es war zu schnell weg, als dass ich es hätte deuten können. Grace sah mich aufmerksam an. Ein winziges Grinsen legte sich auf seine Lippen. Wirklich minimalistisch, aber … er grinste. »Ich heiße nicht Grace Ethan, wie es auf meiner Schulakte steht, oder in den Kursbüchern oder Arbeiten. Das ist nur so etwas wie ein Pseudonym«, erklärte er ruhig. Leben war in seine Augen zurückgekehrt. Sie wirkten nicht mehr so trüb wie noch kurz zuvor, aber sie hatten auch nicht ihre volle Stärke und Ausdruckskraft zurück. »Soll das heißen, du heißt eigentlich Peter Parker und bist Spiderman?« Gedankengülle und Wortkotze. Eine wirklich ernsthaft bedenkliche Kombination. Ganz, ganz schlimm. Grace’ Grinsen wurde breiter, als er den Kopf schüttelte. Na, zumindest einer von uns hatte seinen Spaß. Der, der dringend Ablenkung brauchte. Das war ein tröstender Gedanke, auch wenn ich mich gerade wieder vor ihm zum Affen machte. »Nein. Ich hab kein Alter-Ego, da muss ich dich enttäuschen«, meinte er und zog die Decke bis unter sein Kinn. Sein Grinsen verblasste, als er weiter sprach. »Ich heiße — und so steht es auf meiner Geburtsurkunde — Ethan Grace. Mein Vorname ist Ethan, nicht Grace.« »A-Aber … wieso …?« Warum machte er das? Vermutlich hätte er mich ausgelacht, wenn er jetzt die Kraft dazu gehabt hätte. Jedes Mal, wenn ich dachte, zumindest etwas über ihn zu wissen oder verstanden zu haben, kam er mit irgendwelchen anderen Dingen und rammte mich wieder aus der Bahn, so dass ich im Prinzip wieder bei Null anfangen musste. Das war eindeutig ungerecht. »Na ja … das hat mit meiner Familiengeschichte zu tun«, sagte er, leiser diesmal. Jede Erheiterung war wieder verglommen und Grace wirkte wieder, wie ein fragiles Porzellanpüppchen, wie meine Oma sie sammelte. Was machten die jetzt eigentlich in meinem Kopf …? Gab es eigentlich Pillen gegen Gedankenkontrollverlust? Aber ich hielt die Klappe und den Atem an, als ich meinte, den Ansatz einer Erklärung herauszuhören. Zumindest verstand ich jetzt, warum Tess nach einem Everett Grace gefragt hatte. Das erklärte die Sache natürlich. »Meine Mom hat meinen Dad und mich verlassen, als ich zehn war. Damals ist meine kleine Welt zusammengebrochen. Ich dachte, sie wäre wegen mir gegangen. Aber als ich älter wurde, ist mir klar geworden, dass es nicht an mir lag. Dass es nicht meine Schuld gewesen ist. Ich konnte nicht verstehen, warum Dad nie um sie gekämpft hat, nicht mal versucht hat, sie zurückzugewinnen. Er hat es einfach akzeptiert, dass sie gegangen ist. Als die Scheidungspapiere kamen, hat er sie sofort unterschrieben. Er hat einfach losgelassen. Ich war damals wütend auf ihn, weil er nichts unternahm, um sie mir zurückzugeben. Wir haben uns zwar nie deswegen gestritten, aber ich denke, es hat ihn ziemlich verletzt, was ich ihm mit zehn oder elf so alles an den Kopf geworfen habe.« Ich schwieg, um ihn nicht am Reden zu hindern. Er sprach über sich. Er sprach über seine Familie. Dann war das jetzt wohl das dritte Mal, dass er das tat und ich war die zweite Person, die davon erfuhr. Das musste ein weiteres, gutes Omen sein. »Irgendwann hat Dad angefangen zu trinken. Ich weiß nicht mal mehr genau, wie es dazu gekommen ist. Er verlor seinen Job und trank noch mehr. Ich versuchte da immer, so viel Zeit wie möglich außerhalb des Hauses oder nur in meinem Zimmer zu verbringen, damit ich ihm nicht über den Weg lief. Ich hatte Angst, dass er mich anschreien würde. Aber das hat er nie getan. Es war eigenartig … aber er war nie … aggressiv oder gewalttätig. Er war fröhlich, lachte viel. Er kaufte mir auf seinen Streifzügen nach Alkohol eine Menge Zeug, mit dem meisten konnte ich nichts anfangen. Irgendwann … war seine Trunkenheit der Normalzustand. Er merkte nicht mal, was er da tat. Wodka musste für ihn wie Wasser geschmeckt haben. Trotz allem … war er liebevoll. Es ist schwer zu glauben, aber das war er wirklich. Immer gewesen, auch bevor er zum Alkoholiker wurde. Aber das war der Zeitpunkt, wo ich begann, ihn von meinem Leben auszugrenzen.« Mein Hirn sog jedes Wort auf wie ein Schwamm. So wenig ich mir Matheformeln merken konnte, umso besser behielt ich Grace’ Erzählung. »Sein Alkoholismus war mir peinlich. Ich schämte mich für ihn, auch wenn er nichts … na ja … er tat nichts. Aber wer geht schon öffentlich damit prahlen, dass der Vater ein Alki ist? Ich fälschte seine Unterschrift, gab Zettel für Elternversammlungen oder so etwas nicht weiter. Ein paar Mal nahm ich den Anlauf, um ihn dazu zu bewegen, einen Entzug zu machen. Aber er hat immer nur gelacht und gefragt: ›Entzug? Wovon? Von dir?‹ und dann hat er wieder gelacht und gesagt, dass er es doch gar nicht ohne mich aushalten könne.« Grace setzte sich langsam auf und nahm den Tee. Vorsichtig nippte er an dem heißen Wasser, sein Blick wie vorhin auf ein Bild gerichtet, das nur er allein sehen konnte. Zu gern hätte ich jetzt in seinen Kopf geschaut, um zu wissen, was er sah. Ich blieb stumm. »Mit vierzehn … zog ich aus. Ich konnte nicht mehr. Ich konnte ihm nicht dabei zusehen, wie er sich Tag um Tag betrank und sich selbst zerstörte. Ich war ein Kind, ich wusste nicht, was ich hätte tun sollen. Ich wusste nur, dass ich ihm nicht seinen Alkohol liefern wollte. Die Wohnung und der Unterhalt … das finanzieren meine Großeltern mütterlicherseits. Sie mögen meinen Dad sehr und konnten nie verstehen, warum Mom einfach so gegangen ist. Ihre Versuche Dad zu einem Entzug zu bewegen, sind genauso gescheitert wie meine. Sie haben ihn auch nicht zwangseinweisen lassen, weil es keinen Sinn gehabt hätte. Zuerst wollten sie, dass ich bei ihnen einziehe, aber das hätte bedeutet, dass ich eine völlig fremde Stadt ziehen müsste und das wollte ich nicht. Auf die Art und Weise wollte ich ihn nicht verlassen. Ich blieb in der Stadt, ich behielt meinen Vater in meiner Nähe, aber ich drehte meinen Namen um. Ich meldete mich auf einer anderen Schule an und lebte die erste Zeit unter der Aufsicht von den Freunden meiner Großeltern. Sie kamen regelmäßig, um nach mir zu sehen und so weiter. Wie das nun mal ist bei einem Vierzehnjährigen. Mit sechzehn hörte es auf. Es ist nicht gerade das Ideal auf Kosten meiner Großeltern zu leben, auch wenn sie durchaus bereit sind, mir mehr zu geben, als das, worum ich bitte. Na ja … jedenfalls … rede ich nicht über meine Familie. Ich habe eine flatterhafte Mutter und einen alkoholkranken Vater. Damit will ich mich nicht brüsten.« Grace trank weiter von seinem Tee. Es blieb wieder still zwischen uns, während ich darüber nachdachte, was er mir erzählt hatte. Mir schwirrte der Kopf vor lauter Freude, weil er mir dieses Geheimnis anvertraut hatte. Etwas, worüber er sonst nie sprach. Das musste einfach ein Schritt nach vorn sein. Ich verurteilte ihn nicht für seine Familie. Dazu hatte ich nicht einmal das Recht. Jeder von uns hatte wohl seine Abgründe und Dinge, über die er nicht gern sprach. Aber für Grace musste dieses Thema ausgesprochen schwierig sein, sonst hätte er sich nicht so verschlossen. Vermutlich hatte ich nicht einmal annähernd eine Vorstellung davon, wie es für ihn war, so zu leben. Er hüllte sich in Schweigen und zeigte sich so anders. Ich fragte mich unwillkürlich, ob es jemanden in seinem Bekanntenkreis gab, der überhaupt vermutete, dass hinter Grace’ sarkastischer und manchmal doch sehr verletzender Art eine solche Geschichte steckte. So war es doch meistens und trotzdem … trotzdem dachte niemand wirklich darüber nach. Es war ein unsichtbarer Teil einer Person, die wir kannten und vielleicht auch ›Freund‹ nannten, aber deren unsichtbarer Part einfach unsichtbar bleiben sollte. »Was ist jetzt mit deiner Mom?«, fragte ich zögerlich. Eigentlich hätte ich keine Fragen stellen sollen, aber ich hatte die Möglichkeit, etwas über ihn zu erfahren, was es mir vielleicht leichter machte, ihn zu verstehen. Diese Gelegenheit wollte und konnte ich nicht einfach so verstreichen lassen. »Weiß ich nicht«, antwortete Grace langsam. »Ich hab seit acht Jahren nichts von mehr von ihr gehört oder gesehen. Ich weiß nicht, wo sie wohnt; ich weiß nicht, was sie macht.« »Willst du es denn gar nicht wissen? Ich meine, sie ist deine Mutter.« Grace lächelte flüchtig, humorlos. »Meine Mutter, die mich verlassen hat, als ich sie gebraucht habe. Weißt du, ich denke, eine Mutter, die ihr Kind einfach so verlässt, kann es nicht aufrichtig genug lieben. Sie ist gegangen und ich hatte nicht mal die Option, ob ich mitgehen konnte oder nicht. Das hätte es nicht leichter gemacht, aber ebenso wenig, wie Dad sich darum bemüht hat, sie zurückzubekommen, ebenso wenig hat Mom Wert darauf gelegt, mich bei sich zu haben. Also … nein, ich will es nicht wissen. Sie hat sich in den acht Jahren kein einziges Mal gemeldet. Für mich heißt das, dass sie genauso wenig über mich wissen will wie ich über sie. Ich hab mich damit abgefunden. Abgesehen davon lasse ich mich irgendwann von den Goodchilds adoptieren, dann ist alles wieder in Butter.« Den letzten Satz sprach er wieder mit dieser vertrauten Art, die ich von ihm kannte. Ich kam nicht umhin, ihn auf gewisse, stille, traurige Art und Weise dafür zu bewundern, wie er seine Situation meisterte. Vielleicht war ich ihm nicht so ganz unähnlich. Meine Eltern haben mich zwar nicht verlassen und waren auch keine Alkoholiker, aber dass sie Ärzte waren, hat es nicht immer einfach gemacht. Aber es ist wohl einfach so, dass man die Dinge besser verstehen lernt und lernt, mit ihnen umzugehen, wenn man älter wird. So bitter diese Tatsache auch war. Aus Grace hatte dieses Lernen einen sehr unabhängigen Menschen gemacht, dafür aber auch einen sehr verschlossenen, für den es ausgesprochen schwer war, Vertrauen zu jemandem zu fassen. Aber es machte mich glücklich, dass er mir dieses Vertrauen schenkte. Eine Geste, die in seiner Welt mehr Wert war als alles andere überhaupt. ___ tbc. Kapitel 13: Grace ----------------- Wieder etwas länger geworden, aber ich denke, es wird euch gefallen :) Der Song zu diesem Kapitel — das muss ich dazu sagen — gehört zum letzten Teil dieses Kapitels. Während des Schreibens dieser Szene habe ich ihn die ganze Zeit gehört. Er passt einfach wunderbar und ist auch Namensgeber diesmal :D Dieses Kapitel ist für: Lisa, die sich bereit erklärt hat, für mich zu betan und die auch ganz tolle Geschichten schreibt und deren Kommentare mich jedes Mal zum Lachen bringen. Mi, die den 300. [Schummel-]Kommentar gemacht hat, über den ich mich trotzdem wie Sau gefreut habe, und die mir eine ständige Stütze und Hilfe beim Schreiben und Inspirieren ist und weil sie ihre fünf Minuten Grace/Dion Lime-Phase hatte :D und , über deren Kommentare ich mich sehr gefreut habe, für so viel Aufmerksamkeit, für die Zeit, die sie sich genommen haben, um ihre Gedanken mitzuteilen und die Freude, die sie mir damit gemacht haben. _________________________________________________ GRACE Ich war keine fünf Minuten aus dem Krankenhaus zurück, als es an der Wohnungstür klingelte. Seufzend fuhr ich mir durch die Haare, blieb im Flur zur Tür gewandt stehen und überlegte, ob ich öffnen sollte oder nicht. Im Moment war mir nicht danach, jemanden zu sehen. Im Grunde konnte es nur eine von zwei Personen oder gegebenenfalls auch beide sein. Ich hob die Hand an die Klinke und zögerte kurz, schloss die Augen, atmete einmal tief durch und öffnete dann. Tess hielt mir zwei Blätter Papier mit schwarzen Klecksen drauf entgegen, als sie hereinkam und mich rücklings zurück drängte. Ihre Miene war todernst und ich fragte mich, was ihr schon wieder über die Leber gerannt war. »Wir machen einen Rorschachtest*«, bestimmte sie und warf mit dem Fuß die Tür hinter sich zu. Ich zog die Augenbrauen irritiert zusammen. Manchmal hatte sie wirklich sehr absurde Einfälle. »Ich hab nicht versucht, mich umzubringen, Tess«, sagte ich abwinkend und ging in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen. »Nur weil ich die Woche über nicht in der Schule war, heißt das nicht, dass ich darüber nachdenke, Suizid zu begehen. So gut solltest du mich dann doch schon kennen. Außerdem … du könntest doch sowieso nichts von dem deuten, was ich sage.« Tess war mir in die Küche gefolgt und ließ sich auf einen der Stühle am Tisch fallen. Sie legte die Blätter ab, dann seufzte sie und schaute mich an. Eine Weile lang sagte sie nichts, aber ich sah ihren besorgten Blick. Ich wusste, dass sie mir unbedingt irgendwie helfen wollte, die Sache mit meinem Vater zu überstehen. Aber was sollte sie schon tun? Ich musste da allein durch, mir reichte es schon zu wissen, dass sie da war, wenn ich mal mit jemandem reden musste. Das war mir die größte Hilfe. Aber sonst … verkroch ich mich den ganzen Tag in der Wohnung und ging jeden Tag ins Krankenhaus, um nach Dad zu sehen und nach Fortschritten bei der Spende zu fragen. »Wie geht’s dir?«, fragte Tess nach einer Weile. Ich drehte mich zu ihr um, dann setzte ich mich zu ihr an den Tisch. Sie sollte sich nicht so viele Sorgen um mich machen. Ich wollte auch nicht unbedingt meine Jammerlappen-Nummer auspacken, mit der ich die letzten paar Tage durch die Welt gelaufen war. Einen besseren Start ins neue Jahr hätte es gar nicht geben können. Gedanklich seufzend schob ich meinen Dad aus meinem Kopf, um mich zusammenzureißen und Tess nicht den Eindruck zu vermitteln, dass ich neunzig Prozent des Tages damit verbrachte, Trübsal zu blasen. »Ganz gut soweit. Ab Montag gehe ich wieder zur Schule, sonst fällt mir die Decke auf den Kopf«, sagte ich lächelnd. Das war eine Lüge. Sowohl meine Aussage, als auch das Lächeln. Ich wäre gern eine Weile länger für mich geblieben und mir war schon gar nicht nach lächeln zumute, aber Tess musste sich nicht rund um die Uhr um mich Riesenbaby kümmern. Ich wollte nicht, dass sie dachte, sie müsste ständig bei mir sein, weil ich sonst sauer wäre, dass sie mich vernachlässigen würde oder sonst was. Zur Schule würde ich gehen, ja, aber mir ging es ganz gut allein zu Hause. Die Decke fiel mir nicht auf den Kopf. Zumindest nicht jetzt. »Dion lässt dich grüßen«, meinte Tess beiläufig. Ich wandte den Blick aus dem Fenster. Dion war ein immer wiederkehrendes Thema in meinen Gedanken. Es gab Momente, in denen es mich auf eine unerklärliche Art und Weise befriedigte, dass ich Bambi alles erzählt hatte, aber es gab auch Momente, in denen ich mich fragte, was um alles in der Welt in mich gefahren war, ihm das alles aufzutischen und ihm auch noch anzubieten, mich bei meinem richtigen Vornamen zu nennen. Was ging es Dion denn an, was mit meinem Dad war? Was ging es ihn an, ob Grace mein Nachname oder mein Vorname war? Aber er wusste es jetzt, ich konnte das alles nicht mehr zurücknehmen. »Danke«, sagte ich stumpf und stützte mein Kinn in meine Handfläche. »Ethan, hm?«, fragte sie. Ich schaute sie wieder an, ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen. Tess streckte ihre Hände nach meiner freien aus. Ich konnte spüren, wie sich ihre warmen Finger um meine schlossen. »Bis du mir erzählt hast, dass das dein eigentlicher Vorname ist, hat es viel länger gedauert.« »Was willst du mir damit sagen?«, wollte ich skeptisch wissen. Doch Tess ließ meine Hand wieder los, ihr Lächeln aber blieb. Sie fuhr sich durch die Haare. »Gar nichts«, meinte sie. »Ich war nur positiv überrascht darüber, dass du Dion das Angebot gemacht hast. Dass du ihm von dir erzählt hast. Immerhin hast du damals bei unserem ersten Treffen mit ihm im Factory ziemlich giftig reagiert, als er dir erzählt hat, er würde wissen, dass du Gitarre spielst. Ich bin froh, dass du ihm eine Chance gibst.« »Er erzählt dir auch alles, oder? Er ist wie ein kleines Kind, das sofort zu seiner Mutter rennt, wenn es etwas Neues entdeckt hat«, brummte ich verstimmt. Konnte Bambi denn nicht einmal die Klappe halten? Es war zwar nicht so, dass Tess das alles nicht schon wusste, aber es war klar, dass sie mich darauf ansprach. Immerhin waren sie und Dion jetzt die einzigen beiden Eingeweihten. »Bist du eifersüchtig?«, fragte Tess. Als ich aufsah, hatte sie einen eigenartigen Ausdruck in den Augen. Irgendetwas Verstecktes lag in ihrem Ausdruck, etwas Wissendes. Aber was genau es war, konnte ich nicht sagen. »Auf wen sollte ich denn eifersüchtig sein?«, entgegnete ich. Tess zuckte kurz die Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht auf Dion.« »Blödsinn. Warum sollte ich eifersüchtig auf ihn sein?« »Hm. Dann bist du vielleicht … eifersüchtig auf mich?« Ich starrte sie ungläubig an. Wo führte das denn hin? Wie kam sie auf diese wahnwitzige Idee, ich wäre eifersüchtig auf sie? Welchen Grund hätte ich dafür? Mädchen waren wirklich seltsam, wenn sie irgendwo irgendwas reininterpretierten. Es war nicht auszuhalten. Ich konnte es nicht verstehen. Was dachte sie denn? »Gibt es einen Grund, warum ich eifersüchtig auf dich sein sollte?«, wollte ich wissen. Tess lächelte wieder ihr rätselhaftes Lächeln, während sie mit ihren Fingern spielte. Manchmal war es anstrengend, eine beste Freundin zu haben. »Na ja … weil Dion mehr Zeit mit mir verbringt als mit dir oder weil … ich mehr über ihn weiß als du«, meinte Tess. Sie meinte es völlig ernst. Was war denn auf einmal mit ihr los? Irritiert schaute ich sie an, während ich versuchte, herauszufinden, was sie auf diesen schwachsinnigen Gedanken gebracht hatte. Sie war meine beste Freundin, warum in aller Welt sollte ich eifersüchtig auf sie sein? Sicher nicht. Aber anstatt ihr das auszureden, kam etwas anderes über meine Lippen: »Was soll das heißen?« Tess stützte sich auf ihre Unterarme und beugte sich ein Stück über den Tisch. »Ich denke, dass du eifersüchtig auf mich bist und nicht auf Dion, weil er mir so gut wie alles erzählt, weil ich also auch viel mehr über ihn weiß als du und weil ich ein besseres Verhältnis zu ihm habe. Deswegen denke ich, bist du eifersüchtig auf mich. Ich glaube, du möchtest mehr über ihn wissen, aber ich stehe dazwischen, weil Dion eher zu mir geht als zu dir.« »Was interessiert Dion mich?«, fragte ich giftig. Ihre kleine Ansprache machte mich wütend. Was dachte Tess sich dabei? Wenn ich Dion besser kennen wollen würde, dann hätte ich mich sicherlich darum bemüht, ihn besser kennenzulernen. Aber da mein Bedürfnis nicht danach stand, fragte ich ihn auch nicht aus. Sollte er soviel Zeit mit Tess verbringen, wie er wollte. Sollte er ihr doch erzählen, wonach ihm der Sinn stand. Was kümmerte es mich? »Wenn du ihn wirklich nicht mögen würdest — wie du immer betonst, ob nun verbal oder körperlich —, dann hättest du ihn im Krankenhaus weder umarmt, noch hättest du ihn bei dir sein lassen oder hättest ihm deine Familiengeschichte erzählt. Hör auf immer alles runterzuspielen, das ist dumm. Gib doch einfach zu, dass du ihn magst und dass du gern mehr über ihn erfahren möchtest.« »Schön, er weiß es. Na und? Das muss noch lange nichts bedeuten!«, fauchte ich sauer. »Natürlich nicht«, erwiderte Tess mit vor Ironie triefender Stimme. Blöde Zicke. »Deswegen weiß ja auch jeder alles über dich. Warum fällt es dir so schwer, einfach mal etwas zuzugeben?« »Ich muss überhaupt nichts zugeben. Es gibt nichts zuzugeben, also hör auf mit dieser Kacke. Aber sollte ich erfahren, dass Dion es irgendjemandem weitererzählt hat, dann—« Tess war so schnell auf den Beinen, dass der Stuhl hinter ihr umkippte. Sie stützte sich mit den Handflächen auf den Tisch, jetzt war sie auch sauer. Ein angepisster Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine Kobra, die gleich angreifen wollte. Tess war selten wirklich äußerlich sauer, so, dass man es ihr auch ansah. Ich wusste nicht, was sie eigentlich von mir wollte. Okay, ich hatte es Bambi erzählt. Ich war nicht ganz bei mir gewesen, als ich ihm darüber berichtet hatte. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Zeit zurückzudrehen und es ungeschehen zu machen — ich hätte es getan. »DION IST DEIN FREUND, DU EGOISTISCHER BASTARD! DENKST DU ERNSTHAFT, ER WÜRDE MIT DEM HAUSIEREN GEHEN, WAS DU IHM ANVERTRAUT HAST? GLAUBST DU, ER WÜSSTE NICHT, WIE DU DRAUF BIST? DU BIST SO BLIND, ETHAN GRACE, DAS SOLLTE DIR WIRKLICH PEINLICH SEIN!«, schrie Tess auf einmal los. Ich wich unwillkürlich vor ihr zurück, so überrascht und erschrocken war ich über ihren Ausbruch. Sie holte tief Luft, als sie fertig war, ihr Kopf sank zwischen ihre Arme. Fassungslos starrte ich sie an, nach hinten gepresst an die Rückenlehne des Stuhls. Tess atmete tief durch, richtete sich dann auf und zupfte an dem Saum ihres Oberteils. Sie wirkte wieder völlig gefasst. »Dion ist aufmerksam genug, um zu bemerken, dass das, was du ihm erzählt hast, ein sehr empfindliches Thema ist. Er hat begriffen, dass dieses Wissen nur für ihn bestimmt war. Im Gegensatz zu vielen anderen und vor allem im Gegensatz zu dir, ist er ein aufrichtiger Mensch. Aber du bist nicht mal ehrlich zu dir selbst. Wenn Dion wie ein kleines Kind ist, dass seiner Mutter von allen neuen Dingen, die es gesehen hat, berichtet, dann bist du das kleine Kind, das phlegmatisch in der Ecke sitzt und die Welt nicht mal entdecken will!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ die Küche. Wenige Augenblicke später hörte ich, wie sie die Wohnungstür mit offenbar aller Kraft zuschlug. Ich zuckte kurz zusammen. Tess zu unterschätzen war eine gefährliche Sache. Vor allem, wenn sie wütend war. Seufzend fuhr ich mir mit beiden Händen durch die Haare und fragte mich, warum sie so ausgerastet war. Okay, vielleicht war es wirklich falsch von mir, anzunehmen, Dion würde keine Geheimnisse für sich behalten können, aber das war doch noch lange kein Grund, um so dermaßen an die Decke zu gehen. Langsam erhob ich mich, ging um den Tisch herum und hob den Stuhl wieder auf, den Tess umgeworfen hatte. Ich konnte wohl von Glück reden, dass sie den nicht nach mir geworfen hatte. Zuzutrauen war es ihr jedenfalls. Überhaupt, was war das denn für eine Argumentation? Ich und eifersüchtig auf sie? Das war mitunter der größte Blödsinn, den ich bis jetzt gehört hatte. Während ich darüber nachdachte, machte es mich wieder wütend, dass Tess schon wieder maßlos ins Nichts argumentiert hatte. Ich konnte verstehen, warum Dion viel Zeit mit ihr verbrachte. Das einzige, was mich an der ganzen Sache störte, war, dass ich — seitdem er da war — nichts mehr mit Tess allein unternommen hatte. Bambi war immer dabei gewesen. Bei der Volleyball AG, der Ausflug in den Vergnügungspark, das Weihnachtsbacken, Silvester, die Zeit um Weihnachten und Tess hatte es sich selbstverständlich auch nicht nehmen lassen, Bambi zu benachrichtigen, als es um das Geheimste meiner Existenz ging. Warum um Himmels Willen musste Dion denn überall dabei sein? Es war schon Monate her, dass Tess und ich mal allein was zusammen gemacht hatten. Wenn ich eifersüchtig war, dann allenfalls auf Bambi, weil er Tess anhaftete wie … wie … ach, egal. Regel Nummer fünfundzwanzig: Geheimnisse machen einen Menschen interessant. Je mehr man an ihm entdecken kann, desto spannender ist es. Die folgende Woche war alles andere als einfach. Ich wusste nicht, wie ich Bambi gegenübertreten sollte, nach der ganzen Geschichte, die sich ereignet hatte. Es war verrückt. Außer Tess hatte es sonst niemanden gegeben, der so viel über mich wusste. Jetzt war er ebenfalls eingeweiht und irgendwie empfand ich es als ungewohnt, dass es noch jemanden gab, der jetzt mehr über mich wusste als der Rest der Welt. Ich hatte beschlossen, einfach so zu tun, als wäre nichts geschehen. Als wäre Dion nie mit Tess zusammen im Krankenhaus gewesen, als wäre er anschließend nicht bei mir zu Hause gewesen, als hätte ich ihm nie von meiner Familie erzählt … Anfangs lief es auch ganz gut, bis Dion schließlich entschied, dass er da nicht mehr mitmachen wollte. »Wie geht’s deinem Dad?«, fragte er mich am Donnerstag, als wir auf dem Flur der Sporthalle auf dem Weg zur Umkleide waren. Die Volleyball AG war diese Woche der einzige Lichtblick gewesen. Etwas, was mich für zwei Stunden genug ablenken würde, dass ich mir weder den Kopf über meinen Vater noch über Bambi zerbrechen konnte. Glück für Bambi, dass außer uns niemand im Flur war, sonst hätte ich ihm sonst was angetan. Irgendwie wackelte er mir schon die ganze Woche hinterher, als hätte Tess ihre Mutterfigur an mich abgetreten. Hatte ich einen Magneten im Arsch oder warum hielt Dion es auf einmal für nötig mich anstatt Tess zu verfolgen? »Unverändert«, informierte ich ihn knapp. Ich wollte das Thema schnell abhaken. Ich wusste nicht, warum er es zur Sprache gebracht hatte. Was hatte Tess doch gleich gesagt? Dion würde wissen, wie ich ticke, als hätte er doch auch wissen müssen, dass ich nicht darüber reden wollte; und sei es eine Frage zum Befinden meines Dads. So viel dazu. »Das tut mir leid«, murmelte Bambi entschuldigend. Ich warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Er gab sich geknickter, als ich es war. Als wäre eine seiner dämlichen Katzen gestorben … oder beide. »Hm«, machte ich lediglich und sah unser Gespräch über meinen Vater damit als beendet an. Nicht so Bambi. »Wenn ich irgendwas für dich tun kann …«, begann er, aber ich fiel ihm ins Wort, als wir an der Umkleide angekommen waren. Ich drückte die Klinke hinunter, lehnte mich gegen die Tür und schob sie auf, während ich Dion ansah. »Kannst du nicht«, erwiderte ich nur, wandte den Blick von ihm ab und suchte mir meinen Platz zum Umziehen. Das war einer der Gründe, warum ich es nicht mochte, wenn ich in zu viel Drama seitens meiner Familie verwickelt war und wenn jemand das dann auch noch erfuhr. Dieses Gefasel, dieses Mitleid, diese obligatorischen Hilfsangebote, die man dann immer bekam. Verdammt, ich kam schon klar. Ich wollte kein Mitleid und keine Hilfsangebote. Aber Bambi sah sich offenbar verpflichtet, mir seine Hilfe anzubieten, nur, weil er jetzt meinen Hintergrund kannte. So gut kannte er mich eben doch nicht. Wissen allein brachte einen auch nicht weiter. Ich verließ die Umkleide Richtung Halle, als Dion mir zum wiederholten Male nachgelaufen kam. Ich unterdrückte ein genervtes Aufstöhnen, rollte aber die Augen zur Decke. Konnte er es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Ich brauchte keine Begleitung, um mich besser zu fühlen. »Ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten, entschuldige«, versicherte er mir und klang dabei unsicher. Ich zwang mich, stur geradeaus zu sehen. Dieser Junge hatte wirklich die ärgerliche wie nervige Eigenschaft sich ständig zu entschuldigen, ob er nun musste oder nicht. Was hatte er für ein Problem? Hatte ich etwa vergessen mir meinen Lasst-mich-in-Ruhe-und-sprecht-mich-nicht-an-Sticker auf die Stirn zu kleben? Zu dumm. Würde ich schleunigst nachholen müssen. »Wenn das wirklich so wäre, dann hättest du das Thema gar nicht erst aufgerollt«, sagte ich kurz. »Ich dachte nur—« »Dion, denk, was immer du willst. Du kannst mir deine Gedanken auch mitteilen — aber alles, was mit dem zu tun hat, was du neulich gesehen und gehört hast, das behalt in deinem Kopf. Darüber will ich weder mit dir noch mit irgendjemandem sonst reden. Alles, was es über das Thema zu wissen gibt, weißt du schon. Wenn du trotzdem der Meinung bist, dir würde irgendein Detail fehlen, dann ist das Pech. Rede, worüber du willst mit mir, nur nicht über meine Familie. Alles klar?« Ich wandte mich von ihm ab und holte mir einen Ball. Es fühlte sich gut an, einen Volleyball in der Hand zu halten. Ich dribbelte den Ball neben mir her, während ich zu den anderen aufs Feld ging. Dion stand mittlerweile bei Tess, sie unterhielten sich über sonst was. Ich kehrte den beiden den Rücken zu. Irgendwie gab es inzwischen keinen Ort und kaum eine Tätigkeit mehr, der nichts mit Dion zu tun hatte. Schule, Volleyball, meine Wohnung, das Krankenhaus, Mathe … alles hing irgendwie mit ihm zusammen. Sogar Tess und alle Leute, mit denen ich sonst irgendwie freundschaftlich zu tun hatte. Überall hatte er seinen prägenden Stempel hinterlassen. Als der Ball neben mir vom Boden abprallte und wieder zu mir nach oben geflogen kam, schlug ich mit der flachen Hand mit plötzlich aufkeimendem Ärger dagegen. Wut rauschte getragen durch das Blut durch meine Adern. Ich hatte auf einmal das dringende Bedürfnis mir irgendwo Dampf zu machen, an irgendwas … oder irgendjemandem. Vielleicht war es Ironie, dass gerade Dion sich anbot, sich gemeinsam mit mir aufzuwärmen. Tess hatte sich mit einem der wenigen anderen Mädchen der Volleyball AG zusammengeschlossen. Meine Hände kribbelten eigenartig, als ich Bambi in einiger Entfernung mir gegenüber stehen sah. Ich konnte meinen rasenden Herzschlag spüren, aufgedreht durch diesen eigenartigen Gefühlsausbruch in meinem Inneren. Ich prellte den Ball einmal, dann warf ich ihn hoch. Es kam mir vor, als würde er sich in Zeitlupe bewegen, aber dann segelte er wieder zu mir hinunter — und dann war es, als hätte jemand auf die Vorspultaste gedrückt. Es ging sehr schnell. Ich fühlte, wie ich mit meiner Hand den Ball traf, spürte den festen Stoff auf meiner Haut und hörte das Geräusch, das dadurch entstand. Und ich sah, wie der Ball auf Dion zuflog. Es war nicht so, dass ich das geplant oder bewusst gewollt hätte. Zumindest nicht zu Beginn. Der Ball kam kurz und Dion musste hechten, um ihn baggern zu können. Es gab einen unangenehmen Laut, als der Ball auf seine nackten Unterarme knallte. In diesem Momente setzte bei mir irgendetwas aus, ich wusste nicht, was es war, aber ich wollte einfach nur auf diesen Ball eindreschen und Bambi damit treffen. Ich spielte die Bälle kurz und hart. Dion war gezwungen, sie im Bagger anzunehmen. Er nahm sie jedes Mal an und mit jedem Mal, schlug ich fester zu. Es machte mich wütend, dass er die Bälle einfach zurückspielte und nichts sagte. Seine Arme glühten bald scharlachrot, doch er beklagte sich nicht. Er wollte auch nicht, dass wir die Rollen wechselten. Ich schlug die Bälle, er baggerte sie zu mir zurück. Jedes Mal knallte der weiße Stoff scharf auf seine Unterarme und jedes Mal erklang ein abartiger Laut, der Schmerz vermuten ließ. Beim letzten Ball keuchte er leise auf, ich sah, wie für einen kurzen Moment offener Schmerz in seinen Augen aufflammte. Doch offenbar wollte Bambi sich zusammenreißen. Mein Puls raste noch immer. Ich war wütend, aber meine Gedanken waren so durcheinander, dass ich noch nicht einmal genau sagen konnte, was genau eigentlich mit mir los war. Es machte mich sauer, dass Dion so viel wusste; dass er alles klaglos über sich ergehen ließ; dass er mehr über mich wusste als ich über ihn; dass er einfach viel zu freundlich zu mir war, obwohl ich es eigentlich nicht verdient hatte. Ich wusste nicht, wie lange unser kleines Spektakel dauerte. Dion hockte auf den Knien auf dem Boden, nachdem er gerade wieder den Ball zu mir zurück gespielt hatte. Ein bläulicher Schimmer lag auf seinen Unterarmen. Die Röte zog sich von seinen Handgelenken bis hin zu seinen Ellbogenbeugen. Er atmete schwer. »Hast du völlig den Verstand verloren?«, hörte ich Tess’ vertraute Stimme irgendwo in der Nähe hysterisch kreischen. Dann war sie bei mir, riss mir den Ball aus den Händen und schob sich zwischen Bambi und mich. Anstatt Tess anzusehen, starrte ich die ganze Zeit Dion an, der den Blick zu mir gehoben hatte. Er zeigte nicht, dass er Schmerzen hatte, seine Miene war unergründlich. Tess bugsierte mich von ihm weg. »ETHAN!« Ich zuckte unwillkürlich zusammen und wandte den Blick sofort in die Richtung, aus der mein Name gerufen worden war. Unser Coach kam mit rot angelaufenem Gesicht auf uns zugeeilt, die Züge wutentbrannt. Erst da wurde mir wieder klar, dass er ja dachte, es wäre mein Nachname, den er da gerade geschrien hatte. Er kniete sich neben Dion und legte ihm die Hand auf den Rücken. Alle anderen hatten sich mittlerweile auch ums versammelt. Ich fing einige Blicke auf, die Fassungslosigkeit, Ärger oder sonst was zeigten. Es gab Getuschel, aber ich konnte keine Worte ausmachen. Aber das musste ich auch nicht. Sie sprachen über mich arrogantes Arschloch. Ich sah Dion nicken. »RAUS!«, brüllte der Coach mich an, nachdem er mit Dion fertig war. Ich starrte ihn an, während ich versuchte, zu begreifen, was mit mir los war, was überhaupt los war. Hilfesuchend schaute ich zu Tess, aber sie sah nicht weniger wütend aus als unser Coach. »Nein, Coach! Es ist in Ordnung, wirklich. Im Spiel kann man auch keine Rücksicht nehmen«, sagte Dion schnell. Ich hatte für einen kurzen den Eindruck, als würde Bambi den Coach davon abhalten, auf mich loszugehen. Doch ich begriff auch nicht ganz, warum er mich auf einmal verteidigte. Ich sah die Nasenflügel des Coachs gefährlich zittern, doch dann schnauzte er mich an, ich solle mich für den Rest der Zeit auf die Bank setzen und mich nicht bewegen. Volleyball war für mich heute beendet. Mein Kopf war total leer. Ich versuchte, mich selbst zu verstehen, warum ich diesen Aussetzer gehabt hatte. Aber ich kam nicht darauf. Wut hatte mich angetrieben, aus vielen verschiedenen Gründen, aber … warum? Das war doch irrsinnig. Ich neigte nicht dazu, mich so dermaßen zu verlieren. Ich hatte keine gewaltsame Ader und es brachte mir auch keine Befriedigung, irgendjemandem wehzutun. Das war so untypisch für mich, dass es mich selbst schockierte, was ich getan hatte. Doch das Schockierendste war, dass Dion weder einen Ton gesagt hatte, noch, dass er zugelassen hatte, dass der Coach mich rauswarf. Ich an seiner Stelle wäre wohl schon tausend Mal auf mich losgegangen. Aber er … er hielt einfach still, als hätte ich ihn mit einer Feder gestreichelt. Als die Zeit um war, erhob ich mich langsam, als Tess mir entgegentrat. »Te—« Weiter kam ich nicht, denn in dem Moment knallte sie mir eine. Tess hatte mehr Kraft, als man ihr ansah. Dementsprechend zog sich der Schmerz prickelnd durch meine Gesichtshälfte. Das war das erste Mal in unserer Freundschaft, dass sie mich ernsthaft und mit aller Kraft ohrfeigte. Sie hatte es immer wieder mal getan, aber niemals wirklich so, dass es wehgetan hatte und niemals, weil sie wirklich sauer gewesen war. Jetzt aber reichte allein diese Geste, um zu sagen, was wohl gerade in ihr vorging. Es überraschte mich, wie sie reagierte; es verletzte mich mindestens genauso sehr. »Denkst du eigentlich auch mal daran, wie es anderen Leuten dabei geht, wenn du dich wie die letzte Sau auf Erden benimmst? Ich war noch nie so enttäuscht von dir wie jetzt, Ethan«, sagte sie leise, dann ging sie an mir vorbei und verschwand in der Mädchenumkleide. Ich fühlte mich eigenartig dumpf, als ich zurück in die Umkleide ging. Langsam ließ ich mich auf die Bank nieder und strich mir mit beiden Händen über das Gesicht. Konnte das Jahr noch schlimmer anfangen? Das konnte nur ein schlechtes Omen sein. Irgendjemand klopfte mir auf den Rücken. »Das war wirklich mies, Grace«, hörte ich Geoff sagen. »Lass mich in Ruhe.« Regel Nummer sechsundzwanzig: Das Chaos ist willkommen, denn die Ordnung hat versagt. Langsam begann ich, mich umzuziehen. Die Umkleide leerte sich, bis nur noch ich da war. Nein, außer mir noch jemand, denn aus dem Waschraum hörte ich die Dusche laufen. Als ich mich umschaute, stellte ich fest, dass Dions Sachen noch da waren. Für einen Moment setzte irgendwas in meinem Kopf wieder aus. Ich erhob mich, dann ging ich zur Tür, die die Umkleide vom Waschraum trennte. Langsam stieß ich sie auf und schaute meinem Spiegelbild entgegen. Gegenüber der Tür waren die Waschbecken angebracht, rechts waren die Klos und links bildete eine rechteckige Öffnung in der gefliesten Wand den Durchgang zu dem quadratischen Duschbereich. Leise trat ich an die Wand am Duschbereich. Dion stand mit dem Rücken zu mir, während ihm das Wasser über den Kopf lief. Er trug eine Unter- oder Badehose, wie auch immer. Seine hellen Haare wirkten ungewöhnlich dunkel und breiteten sich wie ein Fächer in seinem Nacken aus; sie waren länger, als sie wirkten, wenn sie trocken waren. Bambi hob die Arme und fuhr sich vermutlich über das Gesicht, ich verfolgte das Muskelspiel auf seinem Rücken. Ich erschauerte. Es fühlte sich so unecht an, diese Situation. Langsam ging ich auf ihn zu, das Geräusch des Wassers rauschte in meinen Ohren. Ich fühlte mich eigenartig schwerelos, als wäre die Umgebung um mich herum aufgehoben worden. Als gäbe es nur diesen Duschraum, Dion und … mich. Etwas Ruheloses hatte mich ergriffen, Ungeduld vielleicht … oder Sehnsucht. Vielleicht auch alles davon … Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte nicht klar denken. Meine Füße bewegten sich, ohne dass ich überhaupt das Signal dazu gegeben hatte. Ich ging einfach. Getrieben von irgendwas in mir, das nach Vervollkommnung strebte. So fühlte es sich an. So … kitschig. So ungewohnt. Dion drehte sich um und hielt abrupt inne, als er mich sah. Überraschung spiegelte sich in seinen Augen. Kleine Wassertropfen hingen in seinen Wimpern und perlten von seiner Nase. Ich war ihm mittlerweile so sah, dass ich das feine Sprühwasser auf meinem Gesicht fühlten konnte. Warmes Wasser … ich konnte die Wärme auf meiner Haut spüren. So schwerelos. So losgelöst. Ebenso wenig wie ich ihn aus den Augen ließ, ließ Dion mich aus den Augen. Das Wasser aus der Brause strömte in kleinen Bächen von seinem Körper. Die Erinnerung an die Umarmung im Krankenhaus rauschte durch meinen Kopf, das Gefühl, das ich empfunden hatte dazu; wie es war, Dion zu umarmen, wie es sich anfühlte. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, aber … in genau diesem Augenblick fühlte ich mich so klar, wie schon lange nicht mehr. So … eigenartig hoffnungsvoll. Dicht trat ich ihm gegenüber. So dicht, dass ich einen Teil des Wasserstrahls abbekam. Die Nässe sickerte schnell durch meine Haare, durch meine Kleidung, aber was spielte das für eine Rolle? Dion stand reglos vor mir und ich konnte zuerst nichts anderes, als ihn einfach nur anzustarren. Mir fiel auf, dass er einen kleinen Leberfleck am Ansatz der rechten Augenbraue hatte, über dem Nasenrücken. Seine Augen wirkten hier dunkler als gewöhnlich. Fast schwarz. Ich hob meine Hände und schob sie von seinen Wangen aus in seine nassen Haare. So, als wäre es eine völlig natürliche Geste, als hätte ich es schon zig Mal gemacht. Als wäre nichts dabei, als wären wir langjährige Freunde, die es einfach mal hin und wieder so machten. Aber das alles war es eben nicht. Es war weder eine völlig natürliche Geste, noch hatte ich das jemals bei ihm getan. Es war etwas dabei, aber wir waren keine langjährigen Freunde. Dion hielt still, aber ein Anflug von Erstaunen zeigte sich in seinen dunklen Rehaugen. Ich zog ihn zu mir und küsste ihn. In dem Moment, als unsere Lippen sich berührten, ließ ich seine Haare los und schlang meine Arme stattdessen um Dions Körper. Es war unüberlegt und vermutlich mal wieder total egoistisch, aber Dion würde mich im Anschluss noch in aller Ruhe verdreschen können, wenn ihm der Wunsch danach stand. Doch der Gedanke verflog im selben Augenblick, in dem er gekommen war, als Dion nämlich die Umarmung erwiderte. Ich fühlte einen seiner Arme um meinen Nacken, die andere Hand in meinen Haaren. Ich küsste ihn. Er küsste mich. Nicht auf so eine langsam-tastende Art, viel eher, als wäre es nicht unser erster Kuss. Fordernd bewegte ich meine Lippen gegen seine. Dion war der erste von uns beiden, der den Mund öffnete. Ich war viel zu benebelt, um mich darüber zu wundern, erst im Nachhinein dachte ich darüber nach. Während seine Zunge meiner entgegen kam — mein gesamter Körper wurde von einem erregenden Kribbeln erfasst, als sich unsere Zungenspitzen berührten —, fuhr ich mit den Händen über seinen Rücken bis zu Dions Steißbein, strich über seine Seiten und seine Hüfte. Ich fühlte das Wasser zwischen uns, fühlte seine Hände in meinen Haaren. Er wühlte in meinem Schopf, dann fuhr er mit den Fingern über meinen Hals, meine Schultern. Tastend schob er die Fingerspitzen unter meinen Pullover und ich entließ ein hingerissenes Aufseufzen, als ich seine Haut auf meiner spürte. Es fühlte sich so … bombastisch an, so umwerfend gut. Der Gedanke, dass genau das hier das war, was ich von Anfang an gewollt hatte, traf mich mit überwältigender Gewissheit. In all der Zeit … hatte ich ihn einfach nur bei mir haben wollen. Aber ich war viel zu sehr in meinem Allein-Sein-Modus gefangen, als dass ich es mir eingestanden hätte. Dummerweise hatte es einen Aussetzer unangenehmer Art gebraucht, um mich das feststellen zu lassen. Dions Lippen waren weich und sündhaft verlockend. Ich konnte mich nicht von ihnen lösen. Seine Hände schoben sich mittlerweile ganz unter meinen Pullover, ich konnte seine Finger auf meinem Bauch fühlen. Ein derartig berauschendes Gefühl hatte ich so lange nicht mehr erlebt, dass es mir fremd und zugleich vertraut erschien. Für einen winzigen Moment lösten wir unsere Münder voneinander. Ich schaute Dion an und er mich, nur um uns dann wieder aufeinander zu stürzen wie hungrige Tiere. Hoffentlich fiel das hier gerade nicht unter Verführung minderjähriger Rehe. Ganz so sehr Bambi wie ich immer angenommen hatte, war Bambi offensichtlich doch nicht. Ich legte meine Lippen auf seine und fühlte, wie er den Druck erwiderte. Behutsamer als vorhin und nicht mehr so stürmisch. Vorsichtig strich ich Dions Haare aus seinem Gesicht, als wir wieder eine kleine Pause machten. Seine Hände fuhren zu meinem Rücken und mit den Fingern zeichnete er meine Wirbelsäule nach. Wieder erschauerte ich kurz, aber es fühlte sich gut an. Doch während ich ihn anschaute, legte sich ein Schalter in meinem Kopf um und im nächsten Moment fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat. Ich griff nach seinen Armen und zog seine Hände unter meinem vollgesogenen Pullover hervor. Erschrocken und verwirrt betrachtete ich Dions Gesicht, wie sich seine Züge von offensichtlicher Freude zu … Irritation wandelten. Ich wich ein paar Schritte von ihm zurück. Ich fühlte mich noch immer benommen und berauscht, völlig außer Stande auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, der mir auch nur halbwegs erklären konnte, was mit mir los war. Hastig wandte ich den Blick von Dion ab, als ich die Enttäuschung in seinen Augen erkannte. Dann hastete ich in die Umkleide, klaubte mein Zeug zusammen und rannte aus der Umkleide nach draußen. Die eisige Kälte außerhalb traf mich wie eine Abrissbirne, aber genauso klärte sie schlagartig meinen Kopf. Ich wollte Dion. ___ tbc. Kapitel 14: Birth ----------------- Für Lisa, weil sie den 333. Kommentar gemacht hat :) Und für alle fröhliche Weihnachten. _______________________________________________ BIRTH Regel Nummer siebenundzwanzig: Erkenne dich selbst. Normalerweise gehörte ich nicht zu dem Typ Mensch, der sich über alles regelrecht den Kopf zerbrach. Klar, gab es Dinge, mit denen ich mich gedanklich mehr beschäftigte als mit anderen, aber es kam so gut wie nie vor, dass es mir schlaflose Nächte bereitete. Und es kam ebenso selten vor, dass in meinem Kopf mindestens zehntausend verschiedene Unterthemen zu dem großen Thema herumschwirrten, noch dazu Fragen, die ich nicht mal mir selbst beantworten konnte. Es war mühselig. Es war anstrengend. Es bereitete Kopfschmerzen, von Entspannung war keine Rede. Ja, normalerweise brachte mich nichts so schnell aus der Fassung. Aber Dion hatte Chaos in meine Gefühls- und Gedankenwelt gebracht. Allein dafür hätte man ihn mit einem Award auszeichnen müssen. Es war halb vier morgens und ich stand unter der Dusche. An Schlaf war nicht mal zu denken, mein Schädel fühlte sich an, als hätte er den doppelten Umfang seines üblichen. Ich hatte wirklich versucht, alles auszublenden, aber es war einfach unmöglich. Toyota sollte vielleicht seinen Slogan überdenken. Das Ironische an dieser Sache jetzt war — und das fiel mir erst jetzt auf —, dass ich unter der Dusche stand, die eigentlich der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens gewesen war, dem ich so sehr versuchte zu entfliehen. Ich war daran gewöhnt, nicht vor irgendwelchen Dingen davonzulaufen. Aber ich wog Pro und Kontra gegeneinander ab, ob ich heute zur Schule gehen sollte oder nicht. Nach dieser Sache konnte ich wirklich nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Doch was sollte ich dann tun? Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich mir schon mehrere plausible Ausreden dafür ausdachte, nicht in der Schule zu erscheinen. Warum war ich auch nicht krank geworden. Ich verfluchte mein viel zu stabiles Immunsystem (worauf ich sonst eigentlich stolz war). Andererseits würde ich damit auch nur das Unvermeidliche aufschieben, immerhin würde ich nicht ewig wegbleiben können, nur um Bambi nicht in die Augen sehen zu müssen. Außerdem würde Dion mich für einen Feigling halten, wenn ich nicht auftauchte. Aber … was, wenn er auch nicht kam? Vielleicht ging ihm dasselbe durch den Kopf wie mir. Würde er dann zur Schule gehen? Verdammt. Ich wusste es nicht. Ich hatte absolut keine Ahnung. Tess würde es sicherlich wissen. Ich grummelte. Jetzt war ich sogar schon an dem Punkt angelangt, wo ich tatsächlich etwas wie Eifersucht verspürte. Sie hatte mit ihrer Theorie wohl doch nicht ganz Unrecht gehabt, aber das tat jetzt auch nichts zur Sache. Wie ich es hasste, wenn sie mich durchschaute. Und das tat sie ohne Schwierigkeiten. Als würde sie direkt in meinen Schädel sehen können. Warum konnte sie das? Das war gruselig. Ich strich mir die nassen Haare aus der Stirn und im gleichen Augenblick rauschte das Bild aus der Dusche in der Umkleide von Bambis Gesicht durch mein Hirn. Es war nicht auszuhalten. Die Erinnerungen daran waren nicht mal das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich das Gefühl vermisste, ihn bei mir zu haben. Diese eigenartige Zufriedenheit, die ich empfunden hatte, als ich ihn in der Dusche … Während ein Teil meiner Persönlichkeit beinahe schmerzhaft danach verlangte, einfach zu ihm zu gehen und ihn noch mal … na ja, dachte ein anderer Teil in mir, dass es ziemlich egoistisch wäre, immerhin hatte ich Dion einfach so stehen lassen. Was sollte ich denn tun? Mich entschuldigen, war wohl das Mindeste. Aber was dann? Ich beschloss, zur Schule zu gehen und mich zu entschuldigen. Alles Weitere würde sich ergeben. Pläne schmieden hätte nichts gebracht, es kam sowieso immer anders, als man es sich vorgestellt hatte. Gewisse Sachen musste ich einfach dem Zufall überlassen … Der Tag war schlimmer, als ich gedacht hatte. Unerträglichkeit hatte einen neuen Grad an Grausamkeit erreicht. Oder so. Das merkte ich allein daran, dass ich gebadet hatte. Ich hatte in den letzten acht Jahren nicht gebadet. Ich stieg aus der Wanne, ließ das Wasser ab und wickelte mir ein Handtuch um die Hüfte. Eigentlich hätte ich mich gern ins Bett geworfen und geschlafen, aber da ich sowieso nicht zur Ruhe kommen konnte, zumindest nicht in der Form von Schlaf, ließ ich es sein und beschloss, mir irgendeinen möglichst handlungsarmen Film anzusehen. Als ich mein Wohnzimmer betrat, blieb ich erstarrt stehen. Tess hockte auf der Couch, kaute offensichtlich auf einem Kaugummi und blätterte in der Fernsehzeitung. Was zum …? »Wie in aller Welt bist du hier reingekommen?«, fragte ich sie entgeistert. Sie schaute auf. Im ersten Moment wirkte Tess so, als würde sie nicht wissen, ob sie sauer sein oder sich freuen sollte. Dann entschied sie sich für ein Grinsen. »Ich hab den Zweitschlüssel benutzt, den du mir gegeben hast«, antwortete sie schulterzuckend, dann warf sie die Zeitung auf den kleinen Tisch vor ihr und erhob sich. Ach ja. Ich erinnerte mich dunkel, ihr das Ding gegeben zu haben — für Notfälle. War ja klar, dass sie ihre Privilegien missbrauchte. Doch der Gedanke wurde schnell von etwas anderem verdrängt. Ich wandte mich ab und ging in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Tess folgte mir, ließ sich auf mein Bett sinken und schaute mir schweigend dabei zu, wie ich Sachen aus meinem Schrank fischte. »Du warst heute nicht in der Schule«, begann sie schließlich und ich sah durch den Spiegel des Schrankes ihren skeptischen Blick. Dass sie damit meinen Hinterkopf noch nicht aufgebohrt hatte, grenzte an ein Wunder. Mein Beschluss zur Schule zu gehen hatte sich auf Montag belaufen. Das hatte diesen Tag nicht leichter gemacht. Nicht zu wissen, was auf der anderen Seite geschah, machte mich fast wahnsinnig. »Ja, ich … ich hab mich nicht gut gefühlt«, log ich und gab mir dabei Mühe, Tess nicht anzusehen. »Komisch. Dion war heute auch nicht da«, stellte sie verdächtig ruhig fest. War sie in ihrem früheren Leben eigentlich mal ein Spürhund gewesen, oder was? Ich versuchte, zu erahnen, ob Dion ihr Bericht erstattet hatte oder nicht. Dass er nicht in der Schule gewesen war, hatte nichts zu sagen. Sie hatten schließlich ihre Telefonnummern und irgendwie zweifelte ich daran, dass Dion so etwas für sich behalten konnte. Andererseits … sagte ich das lieber nicht Tess, vermutlich würde sie mir dann noch eine knallen. »Das ist ja wirklich … schockierend«, meinte ich, während ich mir einen Pullover über den Kopf zog. »Was hast du schon wieder mit ihm gemacht?«, fragte sie mich dann vorwurfsvoll. Das war ja wieder mal klar, dass ich als der Böse hingestellt wurde. Warum musste sie ihn immer in Schutz nehmen? Warum ging sie immer davon aus, ich hätte etwas getan? Das war eindeutig unfair. Ich sah sie durch den Spiegel an, schluckte meinen ersten Protest hinunter und zog eine Hose aus dem Schrank, nachdem ich meine Boxershorts angezogen hatte. Während ich den Bund der Jeans schloss, drehte ich mich zu Tess um. »Warum gehst du immer davon aus, dass ich ihm was tue?«, wollte ich schnippisch wissen. Meine Fresse, Tess entwickelte sich immer mehr zu meiner persönlichen Inquisition. Abgesehen davon, dass ich es zum Kotzen fand, war es auch nicht gerade hilfreich für mich, dass sie statt hinter mir zu stehen, immer wieder für Bambi einsprang. »Weil meistens du irgendeine Dummheit machst, die ihm mehr zusetzt, als dir klar ist. Außerdem ist es schon sehr eigenartig, dass ihr beide nach dem gestrigen Tag nicht zur Schule kommt. Und ich bezweifle, dass deine bescheuerte Aktion beim Volleyball wirklich der unmittelbare Grund dafür ist.« »Natürlich. Und das weißt du so genau, weil …?« »Weil ich dich kenne und weil ich Zeit genug hatte, euch bei euren Interaktionen zu beobachten. Deine Aktionen und seine Reaktionen. Außerdem würde dich dein Tobsuchtsanfall von gestern sicherlich nicht daran hindern, mit erhobenem Haupt wieder in die Schule zu marschieren und deine Leckt-mich-alle-mal-am-Arsch-Einstellung heraushängen zu lassen. Du weißt doch selber, dass das, was du gestern getan hast, unter aller Sau war und du weißt auch, dass sich dieser kleine Vorfall wieder mal wie ein Lauffeuer in der Schule verbreitet hat. Alle reden darüber und es hat Sprüche und Bemerkungen gegen dich gehagelt heute. Weißt du, wie anstrengend es manchmal ist, dich in Schutz zu nehmen, selbst nach solchen Aktionen?«, meinte sie ruhig. »Mich in Schutz nehmen?«, wiederholte ich ungläubig. »Ja, natürlich. Ich hatte deinen Handabdruck bis heute Morgen in meinem Gesicht. Toll hast du mich in Schutz genommen. Sollen die doch denken, was sie wollen.« »Genau das meinte ich. Deine Trotzigkeit. Es hängt mir zum Hals raus. Aber ist es dir auch so egal, dass der Schulleiter dich heute eigentlich sehen wollte? Der Coach hat ihm erzählt, was passiert ist«, erzählte Tess, immer noch ruhig. Es wunderte mich, dass sie so still war heute, nach ihrer Ohrfeige gestern. Überhaupt, dass sie hierher kam und so mit mir sprach, als hätte sie mich gestern nicht halb vermöbelt, wunderte mich ein wenig. Die Info über den Rektor machte die Sache allerdings nicht besser. Ich hatte sonst alles Mögliche dafür getan, um nicht vor den Schulleiter treten zu müssen — das musste wirklich nicht sein —, aber ich wäre auch nicht davon ausgegangen, dass so eine Aktion wie die von gestern einen Ruf ins Rektorzimmer einbringen würde. »Also, was ist gestern passiert, dass euch beide in eure Mauselöcher getrieben hat?«, wollte sie schließlich wieder wissen. »Hast du ihn geküsst und stehen gelassen, oder was?« »Er hat es dir also erzählt«, stellte ich angesäuert fest und wollte mich gerade wieder über Dion aufregen, als ich Tess’ fassungslosen Gesichtsausdruck sah. Sie wirkte so erschrocken und überrascht, dass mir schlagartig klar wurde, dass er es ihr nicht erzählt hatte. Herrlich. Zumindest hatte ich mich selbst in die Scheiße geritten und es blieb nur zu hoffen übrig, dass Tess jetzt nicht anfing, mich als Strafe mit Messern zu bewerfen. »Du … du … Arschloch …«, hauchte Tess entsetzt. »Wie konntest du ihn einfach stehen lassen?« »Es wundert dich, dass ich ihn stehen gelassen habe, aber nicht, dass ich ihn geküsst hab?«, erwiderte ich kraftlos, während ich mir durch meine nassen Haare strich. So langsam wurde die ganze Sache wirklich unangenehm. Verdammt. »Ich glaub das einfach nicht. Es wundert mich, dass es so lange gedauert hat, bis du ihn endlich küsst, aber das … das ist wirklich nicht zu fassen. Man sollte dich wirklich steinigen für dein Verhalten«, sagte Tess kopfschüttelnd. Ich stand verwirrt vor meinem Schrank und starrte sie an, während ich versuchte, Sinn in ihre Worte zu bringen. Das war doch verrückt. »Dion ist unrettbar verliebt in dich und du tust ihm das an? Wenn es einen Preis für das arschlochigste Arschloch geben würde, du würdest mit Abstand gewinnen!« Ich wusste nicht, was in diesem Moment schlimmer war: Das Gefühl der zwanzigtausend Schmetterlinge in meinem Kopf und meinem Bauch oder das Gefühl, als ob jemand mir den Teppich unter den Füßen weggezogen hätte. Dion war verliebt in mich? Das war doch absurd. Warum sollte jemand wie er sich in jemanden wie mich verlieben …? Aber die Tatsache machte es auch nicht gerade einfacher für mich. Ich fühlte wieder den Wunsch ihn bei mir zu haben, vermisste das Gefühl von seiner Nähe … ich wurde wieder kitschig. Ich hatte wohl am Abgrund zum Kitsch gestanden und war nun einen Schritt weitergegangen. »Sag mal, fütterst du ihn mit Wahrheitspillen oder woher nimmst du immer dein Wissen?«, brachte ich schließlich hervor. Das war vermutlich die Frage, die ich in diesem Fall nicht hätte stellen sollen, aber was sollte ich denn darauf erwidern, Bambi wäre … wäre … verliebt … in mich? Tess seufzte und verdrehte die Augen. »Er hat es mir nicht erzählt. Das musste er gar nicht. Es war von Anfang an so offensichtlich. Du bist vermutlich der einzige, der es nicht gesehen hat, besser gesagt, nicht sehen wollte. Dion hat alles dafür getan, damit du ihn beachtest. Warum, glaubst du wohl, hat er all deine arroganten Bemerkungen und abweisenden Gesten über sich ergehen lassen, ohne dich anzufeinden? Er wollte einfach in deiner Nähe sein. Und wenn es dabei nur um Freundschaft gegangen wäre, dann hätte er es längst aufgegeben.« »Blödsinn.« Etwas anderes konnte es gar nicht sein … Sie verdrehte wieder die Augen. »Bist du wirklich so blöd? Mich brauchst du doch nicht anzulügen. Du hast ihn geküsst, du hast es selbst zugegeben, und das bedeutet schon eine Menge. Würde er dir nichts bedeuten — und das ist schon deshalb abwegig, weil du ihn in dein größtes Geheimnis eingeweiht hast —, dann hättest du ihn nicht geküsst. Gib es doch einfach mal zu. Es tut doch nicht weh. Niemand wird die Todesstrafe dafür über dich verhängen. Du magst ihn, Grace, ich weiß es. Du weißt es auch. Ich verstehe nur nicht, warum du es nicht zugeben willst.« Ich schwieg. Vermutlich wäre aus meinem Mund sowieso nur Kauderwelsch gekommen. Zu viel ging mir durch den Kopf. »Sieh mal, was denkst du, warum Dion sich mit mir angefreundet hat?« »Weil du nicht so aufdringlich gewesen bist wie die anderen Mädchen. Das hat er mir mal erzählt.« Bei McDonald’s nach dem Besuch im Krankenhaus, nachdem du ihn geküsst hast und er mich angestarrt hatte … scheiße. »Ja, vielleicht. Aber wir haben uns an seinem ersten Tag nur einmal unterhalten. Erst, als er gesehen hat, dass ich mit dir befreundet bin, ist er auf mich zugekommen. Wenn man es genau betrachtet, hat er mich als Alibi benutzt. Das ist mir erst später aufgefallen, aber das spielt mittlerweile auch keine Rolle mehr. Und du mochtest ihn auch, aber hast dich wie eine Zicke verhalten, weil du Angst hattest, ihn an dich ranzulassen. Aber warum jetzt noch? Du weißt doch, dass du ihm vertrauen kannst.« Ich ließ mich aufs Bett fallen und fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht. Tess krabbelte zu mir herüber, setzte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schulter. »Du hast versucht, uns zu verkuppeln?«, fragte ich und dachte dabei an all die unzähligen Dinge, zu denen Tess Dion oder mich getrieben hatte. Die Umarmung im Auto, unser Weihnachtsindianer-Ritual und — oh. Vermutlich hatte Tess mich damals auf der Party deswegen nicht geweckt, damit ich bei Bambi blieb. »Ich hab versucht, dir endlich die Augen zu öffnen, damit du endlich begreifst, was du wirklich möchtest; damit du auch dazu stehst«, antwortete sie, während sie mein Gesicht zwischen ihre Hände nahm. Ich schaute Tess an und konnte sehen, dass sie es ernst meinte. Sachte lehnte sie ihre Stirn gegen meine. Ich fühlte die Wärme ihrer Haut, spürte, wie sie behutsam mit den Fingern über meine Wangen strich. Regel Nummer achtundzwanzig: Wenn du nur tust, was du immer tust, dann erreichst du nur das, was du immer erreichst. »Ich will ihn, Tess«, sagte ich leise. Tess verzog den Mund. Ich wusste, dass sie gerade versuchte ein Grinsen zu verkneifen. Jetzt, wo ich es laut ausgesprochen hatte, erschien es so … natürlich. »Es ist lange her, dass du etwas wolltest«, stellte Tess fest. Sie lächelte. »Weißt du, wenn Dion nicht von Anfang an für dich geschwärmt hätte, dann hätte ich selbst versucht, ihn für mich zu gewinnen. Aber gegen dich hab ich dann wohl doch keine Chance.« Ich musste grinsen. »Was hindert dich daran, ihm jetzt zu sagen, was du denkst? Du schuldest ihm eine Entschuldigung und eine Erklärung«, fügte sie hinzu, ließ mich los und sah mich abschätzend an. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Wie würde Dion wohl reagieren? Nach all dem … was dachte er jetzt? »Er hasst mich jetzt bestimmt«, murmelte ich, als ich Tess wieder anschaute. Tess zog eine Augenbraue kurz hoch. »Eigentlich müsste er dich auch verdreschen. Das wäre nur gerecht. Aber wenn er dich doch einfach so mit einer schlichten Entschuldigung deinerseits zurücknimmt, dann müsstest du ihm dafür den Hintern küssen … oder noch was ganz anderes …«, meinte sie und verzog die Lippen zu einem Grinsen. Ich boxte ihr sachte gegen den Oberarm. »Wird mal Zeit, dass dich jemand aus deinem Loch holt. Geh schon, Romeo«, meinte Tess, klopfte mir auf die Schulter und lehnte sich dann zurück. Ich stand auf und ging in den Flur, um mich anzuziehen. Auf einmal schien alles so einfach zu sein, so selbstverständlich und auf der anderen Seite doch immer noch wahnsinnig kompliziert. Dion wusste durch Tess und seine eigene Aufmerksamkeit vermutlich mehr über mich als ich über ihn. Ich hatte nicht mal den blassesten Schimmer, wie das alles ausgehen würde. Wie es ausgehen könnte, ja. Während ich zu Dion ging, dachte ich über alle möglichen Dinge nach. Jetzt, nach dem Gespräch mit Tess, war es, als wäre alles so einleuchtend und offensichtlich, so idiotensicher, dass ich mir wie der letzte Volltrottel vorkam. In diesem Moment kam es mir vor, als wäre ich losgelöst von meinem eigenen Körper und würde wie ein Geist von oben mich selbst dabei beobachten, wie ich auf dem Weg zu Dion war. Warum war ich nur so ein Idiot gewesen? Was meine Neugier, mein Interesse an seinem Leben in Peoria nicht ein sicherer Beweis dafür gewesen, dass ich ihn mochte oder zumindest, dass er mir nicht ganz so egal war, wie ich immer versucht hatte, allen weiszumachen? Ich war viel zu abgestumpft für solche Dinge, viel zu … misstrauisch und einfach nicht gewohnt daran, dass jemand so geduldig versuchte, mich zu erreichen. Dion hatte mehr Geduld als sonst jemand, den ich kannte. Nicht mal Tess war im Umgang mit mir so ausdauernd ruhig wie Bambi. Ich war so ein Vollidiot. Ich fühlte mich wie in irgendeinem billigen Hollywoodfilm oder ein Soap oder so was. Warum wandelte ich gelegentlich eigentlich in einem Milieu voller Klischees, die ich dann auch noch schaffte, alle zu erfüllen? Das war peinlich. Dion hatte wirklich allen Grund, wütend auf mich zu sein. Es hätte mich gewundert, wenn er es nicht gewesen wäre. All das, was ich seit unserem Kennenlernen getan hatte und dann hatte ich ihn geküsst und war danach einfach gegangen. Wie musste das auf ihn gewirkt haben? Vielleicht wie eine Verarsche. Als mir dieser Gedanke kam, hätte ich mich selbst ohrfeigen können. Es gab wohl eine Menge, das ich irgendwie wieder gutmachen musste. Ich hoffte wirklich, dass ich das irgendwie schaffen würde. Als ich schließlich vor dem van Dorve’schen Anwesen stand, verließ mich der Mut, Bambi gegenüberzutreten. Was sollte ich ihm sagen? Was, wenn er mir die Tür vor der Nase wieder zuschlug? Ich stand auf der Veranda vor der Tür und war mittlerweile zum dritten Mal versucht, zu klingeln, ließ die Hand dann aber doch wieder sinken. Das war schrecklich. Vermutlich würde ich alles vergessen, was ich sagen wollte, wenn ich ihn sah. Was, wenn er die Tür öffnete und mir direkt mit einem japanischen Küchenmesser den Schädel spaltete? Okay, das war wahrscheinlich maßlos übertrieben. Ich bezweifelte, dass Bambi um den Gebrauch eines japanischen Küchenmessers wusste. Gut, ich sollte Dion wohl weniger naiv einschätzen, aber es fiel mir immer noch schwer, in ihm nicht das kleine unschuldige Rehkitz zu sehen, dem ich vor ein paar Monaten zum ersten Mal begegnet war. Unruhig lief ich auf der Veranda auf und ab, als auf einmal ein Auto in die Auffahrt rollte. Dions Mutter stieg aus und kam die Verandastufen hoch, sie lächelte mich freundlich an. »Hallo, Grace«, sagte sie und ich erwiderte ihr Lächeln ein wenig nervös. Konnte es noch peinlicher werden? Darüber wollte ich nicht nachdenken, sonst würde es noch schlimmer werden, als ich es mir vorstellte. »Überhört Dion mal wieder die Klingel?« »Ich … hab eigentlich noch gar nicht geklingelt. Bin auch … gerade erst angekommen«, schwindelte ich und nickte vehement. Lüge. Ich war seit mindestens fünfzehn Minuten hier und hatte es immer noch nicht fertig gebracht zu klingeln. Aber das musste Mrs van Dorve auch nicht unbedingt wissen. Wahrscheinlich hätte sie mich schon erwürgt, wenn sie wüsste — ich ging davon aus, dass sie es nicht wusste —, dass ich ihren Sohn geküsst und dann stehen gelassen hatte. »Oh, na dann lass ich dich mal rein«, meinte sie heiter und schloss die Haustür auf. Ich lächelte gezwungen. »Ja«, meinte ich bemüht erfreut. »Ist ja … toll.« Scheiße. Jetzt hatte ich absolut keine Wahl mehr. Ich zog mir schnell Jacke und Schuhe aus, dann ging ich — Mrs van Dorve noch ein Lächeln zuwerfend — die Treppe hinauf und den Flur entlang zu Dions Zimmer. Unschlüssig blieb ich davor stehen und starrte die Tür mit blankem Kopf an, als sie plötzlich schwungvoll geöffnet wurde. Das war der Moment, in dem ich Dion gegenüberstand und nicht mehr weglaufen konnte. Der einzige Weg war nach vorn. ___ tbc. Kapitel 15: Heart ----------------- Für alle fleißigen Kommentarschreiber, die mich beim Schreiben dieser Geschichte unterstützt haben. Vielen Dank. _______________________________________ HEART So viel Dramatik war wirklich nichts für mich. Die Zeit schien still zu stehen, als ich Dion vor mir stehen sah. Er sah erstaunt aus und ich fühlte mich ertappt. Es kam selten vor, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte, aber gerade jetzt schien es, als hätte ich vergessen, wie man sprach. »Ich … äh … ich …« Verdammt, seit wann stotterte ich denn? »Hallo, Grace«, sagte Dion ruhig. Was für eine Blamage. »Hey«, murmelte ich, während ich mir durch den Nacken strich. Wie fing man so eine Entschuldigung an? Zwischen Tess und mir gab es Entschuldigungen nicht, zumindest nicht direkt. Wir verziehen uns jedes Mal im Stillen, aber bei Dion konnte das nicht so ablaufen. Ich hasste es, mich bei jemandem entschuldigen zu müssen. Dabei fühlte ich mich ausgeliefert und musste eingestehen, dass ich dumm gehandelt hatte. Sich das selbst einzugestehen war eine Sache, aber es vor anderen zuzugeben etwas ganz anderes. Dion trat zur Seite, um mich in sein Zimmer zu lassen. Ich wusste nicht, ob ich wirklich hineingehen sollte. War ich hier, um mich nur zu entschuldigen? Oder war ich hier, um noch etwas anderes zu klären? Ich riss mich zusammen und betrat den Raum. Dion schloss die Tür hinter mir, ich hörte, wie sie leise ins Schloss fiel. Ich schaute mich in seinem Zimmer um. Nichts hatte sich seit meinem letzten Besuch verändert. Warum sollte es auch? Ich wandte mich zu Dion um, der jetzt mit verschränkten Armen dastand und mich misstrauisch ansah. So einen ernsthaft skeptischen Ausdruck hatte ich noch nie auf Bambis Gesicht gesehen. Es überraschte mich jedes Mal aufs Neue, wenn er mir so eine seriöse, gefasste und selbstbewusste Seite zeigte, die ich überhaupt nicht von ihm gewohnt war. Regel Nummer neunundzwanzig: Meine es ernst, wenn du dich entschuldigst. »Eigentlich … na ja, ich wollte mich bei dir entschuldigen … für gestern«, sagte ich langsam, während ich mir mit den Händen über den Bauch strich. Ich hatte keine Ahnung, wohin mit meinen Armen oder Händen, die reinste Katastrophe. »Eigentlich?«, wiederholte Dion mit hochgezogenen Augenbrauen. »Für gestern?« Bambi schien eine sadistische Ader zu haben. Wer hätte das gedacht? Aber Psychosen entwickelten sich bekanntlich schon früh. »Es tut mir leid, dass ich …« Ich hielt inne und atmete einmal durch. »Dass ich dich stehen gelassen habe.« Dion schwieg, sah mich aber unentwegt an. Seine Züge wirkten allerdings wieder weicher und nicht mehr so verzerrt von Skepsis. Warum war es nur so verdammt schwer, sich bei jemandem zu entschuldigen? Einfach »Es tut mir leid« zu sagen konnte jeder, aber es wirklich so zu meinen … und ich meinte es ernst. Dion löste die Arme aus seiner Verschränkung und ich sah die leichte bläuliche Verfärbung an seinen Unterarmen. »Dass mit deinen Armen tut mir leid. Ich war so wütend und irritiert, keine Ahnung, was genau los war. Du hast nichts gesagt, das hat mich verwirrt. Und als ich dich geküsst habe, ich konnte nicht anders. Es hat mich überkommen. Ich weiß, ich hätte dich da nicht einfach stehen lassen sollen, das war rücksichtslos. Keine Ahnung, was ich sagen soll. Es war dumm.« »Dumm. Das nächste Mal solltest du vorher nachdenken, bevor du jemanden küsst, nur weil es dich überkommt«, erwiderte Dion und ich konnte den säuerlichen Unterton in seiner Stimme erkennen. Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Es war beinahe verstörend, dass Dion dachte, ich entschuldigte mich für den Kuss. Aber dann war es ganz leicht, so als hätte ich nur darauf gewartet, es laut auszusprechen. »Es tut mir nicht leid, dass ich dich geküsst habe«, sagte ich entschlossen. »Das bereue ich nicht, ganz im Gegenteil. Der Fehler lag darin, einfach davonzulaufen. Dafür entschuldige ich mich. Ich entschuldige mich dafür, dass ich dich mit dem Volleyball … verdroschen habe. Und für alle anderen, gemeinen Sachen, die ich getan habe. Für alles entschuldige ich mich, nur nicht für den Kuss.« Bambi schwieg und sah mich stumm an. Irgendwas Forschendes lag in seinen Augen, aber vielleicht kam mir das auch nur so vor. Ich starrte zurück, während sich in meinem Kopf unweigerlich die Frage formte, ob es ein Fehler gewesen war, zu sagen, ich würde den Kuss nicht bereuen. Dion fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, er seufzte und wandte sich dann um, ging zu seinem Bett und setzte sich. Ich blieb starr stehen, sah ihn aber weiterhin an. Was ging wohl in ihm vor? Woran dachte er? Mir wurde wieder klar, dass ich wenig über Dion wusste. »Hast du eine Ahnung, wie das ist, wenn man versucht, wütend zu sein, aber es einfach nicht sein kann?«, fragte Bambi schließlich ruhig und hob den Kopf, um mich anzuschauen. Verdattert blickte ich zurück. »So oft habe ich mir gesagt, dass es keinen Sinn hat, dich auf mich aufmerksam zu machen. So oft habe ich versucht, mir einzureden, dass es besser wäre, wenn ich nicht ständig versuchen würde, dich von mir zu überzeugen. Es hatte ja doch keinen Zweck. Egal, was ich gesagt oder getan habe; egal, wie … freundlich ich zu dir war oder versucht habe, dir zu zeigen, dass ich es wert bin, von dir bemerkt zu werden … du hast es nie zur Kenntnis genommen. Du warst … arrogant und hochnäsig, stolz und unnahbar. Immer gab es irgendwas an mir, das dir nicht gefallen hat. Ständig hast du etwas an mir kritisiert, immer diese giftigen Blicke, die ich von dir bekommen hatte. Irgendwann konnte ich genau vorhersagen, was du wann tun würdest. Du warst permanent genervt von mir und du hast es mich spüren lassen, auf welche Art auch immer: ob es nun irgendeine blöde Bemerkung war, ein Zug um deinen Mund oder der Ausdruck in deinen Augen.« Ich fühlte mich, als hätte mir jemand mit voller Kraft ein Brett gegen den Schädel geschlagen. Mein Hirn war wieder total leer gefegt, ich war so perplex, dass mir nichts zu dem einfiel, was Dion soeben gesagt hatte. »Beim Volleyball wollte ich dich beeindrucken — du hast dich nur angegriffen gefühlt. Als ich dir bezüglich Warner vor Tess Recht gegeben habe — du hast dich nur bestätigt gefühlt und warst froh über deinen Triumph über Tess. Dabei war ich eigentlich Tess’ Meinung, aber ich hab dir Recht gegeben, weil ich dachte, es würde mich irgendwie bei dir weiterbringen. Die ganze Zeit habe ich versucht, irgendwie in deiner Nähe zu sein und es dir recht zu machen. Ich hab dich nicht gedrängt, ich hab dich nie in irgendwelche Lagen gelenkt, aus denen du nicht mehr rausgekommen wärst. Wenn du über etwas nicht reden wolltest, habe ich nicht weiter nachgefragt. Immer wieder habe ich mich gefragt, was du gegen mich haben könntest, was ich wohl getan hatte, dass du mich offensichtlich nicht mochtest. Ich hab deine Beleidigungen hingenommen, deine Launen und Stimmungen, ich hab es hingenommen, wenn dir schon wieder was nicht an mir passte. Ich hab es hingenommen, als du dieses Mädchen auf der Party geküsst hast … Jedes Mal wollte ich wütend auf dich sein, jedes verdammte Mal. Jede deiner dummen Aktionen, die gegen mich gerichtet war, war wirklich verletzend. Aber ich konnte nicht sauer auf dich sein. Ich weiß nicht mal, warum. Trotz all dieser Dinge, trotz all deiner Bemühungen, mich loszuwerden, konnte ich nicht anders, als immer und immer wieder zu versuchen, dich irgendwie … zu beruhigen.« Dion atmete tief durch. »Als du mich dann zu dir in die Wohnung gelassen hast, war ich froh darüber. Du hattest mich akzeptiert, und obwohl ich das endlich erreicht hatte, war es mir nicht genug. Dann die Umarmung im Auto … ich wäre fast gestorben, als du es wirklich getan hast. Oder dieses Weihnachtsritual. Ich dachte, du würdest mich auslachen und wegschubsen, aber du hast einfach da gesessen und mich die Schokolade von deinem Gesicht lecken lassen. Als Tess mich ins Krankenhaus gerufen hat und du mich dort auch umarmt hast — ohne irgendeinen Anlass —, das hat mich einfach nur unglaublich glücklich gemacht. Genauso die Tatsache, dass du mir freiwillig von deiner Familie erzählt hast. Ich hätte wirklich platzen können vor Freude. Du hast mir vertraut und du sahst in mir offensichtlich einen Freund. Dann kam deine Volleyball Aktion. Ich hab nichts gesagt, ich hab dich verteidigt, ich hab dich gelassen. Ich dachte, du hättest es bereut, mir von dir erzählt zu haben. Das war ein überaus schmerzhafter Gedanke. Aber deswegen habe ich nichts gesagt, weil ich davon ausging, dass es wohl besser wäre, wenn du deine Wut direkt an mir auslässt als an Tess oder irgendjemandem, den es gar nicht betraf.« Es entstand eine Pause. Ich senkte den Blick, weil ich Dions Augen nicht standhalten konnte. Irgendwie kam es mir so vor, als würde ich völlig schutzlos vor ihm stehen. Ein Teil in mir wollte sich rechtfertigen, aber das war der falsche Zeitpunkt. Dion hatte Recht mit dem, was er sagte. Ich hatte mich wie ein Arschloch benommen, die ganze Zeit über. Dass er immer noch hier war, mir zugehört hatte und mir jetzt all seine Gedanken erzählte, war vermutlich mehr, als ich verdiente. »Aber als du mich geküsst hast«, sagte Dion und machte erneut eine kleine Pause, als würde er nicht glauben, dass er das gerade wirklich sagte. »Da hatte ich alles vergessen und verziehen, was in den letzten Monaten, Wochen, Tagen oder Stunden geschehen war. Dieser Kuss war mehr, als ich mir von dir erhofft hatte, weil du mir so oft zu verstehen gegeben hattest, dass du kein Interesse an … na ja, an mir hättest. Es hat sich so überwältigend gut angefühlt, viel besser als alles andere, was ich bis dahin von dir kannte. Ich war fest davon ausgegangen, dass ich niemals mehr von dir bekommen würde als eine Umarmung. Dieser Augenblick … dich zu fühlen, völlig … frei, ohne deinen immerwährenden Schutzschuld, ohne deinen Sarkasmus und dein unantastbares Gehabe, das war unbeschreiblich schön. Aber als du auf einmal einfach so gegangen bist … ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Ich weiß nicht mal, ob ich das beschreiben kann. Es klingt so kitschig und theatralisch. Es war irgendeine skurrile Mischung aus einem Haufen Gefühle. Ich hab mich verarscht gefühlt. Abgesehen davon war ich überaus enttäuscht, weil ich erfahren hatte, wie es sich anfühlte, dich zu küssen und wusste, dass es nicht noch einmal geschehen würde. Der Gedanke, dich heute in der Schule zu sehen, war unerträglich. Du hättest wahrscheinlich mal wieder so getan, als wäre nie etwas gewesen und das wollte ich nicht mitspielen. Ehrlich gesagt, hat es mich sehr überrascht, dass du hergekommen bist. Dass du dich auch noch entschuldigst … Ich dachte immer, dass ein Ethan Grace sich für gar nichts entschuldigen würde.« Irgendwie traf es mich, dass Dion so über mich dachte. So viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Im Prinzip war er sogar aus denselben Gründen heute nicht zur Schule gegangen wie ich. Ich versuchte, mir irgendeine geistreiche Erwiderung einfallen zu lassen, aber in meinem Schädel herrschte pures Chaos. Bambi kannte mich besser, als ich es erwartet hatte und offensichtlich sogar ohne, dass Tess ihm irgendetwas stecken musste. Ein Bild zuckte durch meine Erinnerung: Dion hatte mich angesehen, als Tess ihn im Krankenhaus geküsst hatte. Warum er mich angesehen hatte, wurde mir jetzt bewusst. Vermutlich war es mir schon viel länger klar gewesen, unterbewusst vielleicht. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gestand ich schließlich kleinlaut. »Es tut mir ehrlich und aufrichtig leid, dass ich so ein Idiot war. Aber davon hast du wohl nicht viel …« »Was willst du denn wirklich, Grace?«, fragte Dion. Ich hob den Blick, um ihn wieder anzusehen. »Ich meine, du stehst jetzt hier, du hast dich entschuldigt, obwohl für dich die Sache ebenso gut abgehakt hätte sein können. Irgendeinen Grund muss es ja haben, dass du trotzdem hergekommen bist. Eine Entschuldigung hättest du mir auch schriftlich geben können oder in der Schule oder du hättest Tess schicken können.« »Ich will, dass du meine Entschuldigung annimmst«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Mittlerweile war der Gedanke, dass Dion es nicht tat, nicht zu ertragen. »Ich will, dass du weißt, dass ich … deine Geduld inzwischen zu schätzen weiß. Als ich dich geküsst habe, da … wurde mir klar, dass ich das schon die ganze Zeit tun wollte. Du warst immer da, während alle anderen schon längst gegangen wären. Ich war dir nicht egal und du warst hartnäckig genug, um dich nicht einfach … wegekeln zu lassen, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin es nicht gewohnt, dass jemand so stur versucht, etwas über mich zu erfahren. Ich meine, jemand, der nicht irgendwelche oberflächlichen Dinge wissen wollte, sondern die … elementaren Sachen. Ich war schwer von Begriff, ich habe mich wie ein Arschloch benommen, nicht nur dir gegenüber. Ich habe dich nicht stehen gelassen, weil ich dir eins reinwürgen wollte oder so. Das ist wie ein Klischee, ich weiß das. Aber es kommt selten vor, dass ich mich einfach … fallen lasse. Wenn es unvorhergesehen passiert, dann versetzt mich das oft in Panik. Dann laufe ich davon. Es tut mir leid, Dion, ehrlich. Es war ein Fehler und ich bereue, dass ich nicht erst nachgedacht habe, bevor ich einfach davongerannt bin. Aber du sollst wissen, dass es — so abgedroschen es auch klingen mag — nichts mit dir selbst zu tun hatte.« »Was willst du?«, flüsterte Dion wieder und beugte sich ein Stück vor. Er wirkte angespannt, aufgeregt-angespannt. Ich hockte mich direkt vor ihm hin, um ihn besser ansehen zu können. Die blonden Haare hingen ihm in die Stirn. »Ich … will dich«, wisperte ich. Ich spürte mein Herz schnell gegen meine Brust schlagen. Irgendwas kribbelte in mir, als ich das sagte. Auf einmal war nur noch Dions Antwort wichtig, alles andere war so unbedeutend. »Ich will dich kennenlernen. Ich will dich mich kennenlernen lassen. Ich will, dass du so oft wie möglich in meiner Nähe bist, ohne dass du dafür die Welt auf den Kopf stellen musst. Ich will dich umarmen, grundlos, weil ich es möchte oder weil du es möchtest; weil es sich gut anfühlt, dich zu umarmen. Ich will, dass du mir immer die Schokolade vom Gesicht leckst und ich will, dass du statt irgendwelcher Mädchen … mich küsst …« Ich hob meine offene Handfläche und hielt sie Dion entgegen. Er legte seine Hand behutsam gegen meine, seine Finger waren genauso lang wie meine. Und dann verschränkten wir sie miteinander. Bambi beugte sich noch ein kleines Stückchen vor, sodass unsere Nasenspitzen sich fast berührten. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren. Behutsam lehnte ich mich ihm entgegen und verschränkte auf die Finger meiner anderen Hand mit seinen. Unsere Nasen berührten sich jetzt ganz, ich fühlte, wie er den Kopf ein kleines Stück drehte. Blut rauschte in meinen Ohren, mein Herz flatterte ruhelos in meiner Brust. Mir war warm. Ein Gedanke blinkte wie die Werbeanzeigen am Times Square in meinem Kopf: Dion nahm meine Entschuldigung an. »Das will ich auch«, sagte er leise gegen meine Lippen. Ich konnte die Bewegungen seines Mundes auf meinem spüren. Kurz schaute ich ihm in die Augen, er lächelte leicht. Dann schloss ich langsam die Augen und fühlte im nächsten Augenblick seine Lippen auf meinen. Dasselbe Gefühl wie in der Dusche rauschte wie eine Welle über mich hinweg. Es war nur ein sanfter Kuss auf den Mund, aber mehr brauchte es in diesem Moment auch nicht. »Dion?«, sagte ich, als wir uns für ein paar Millimeter von einander lösten. »Hm?« »Danke, dass du durchgehalten hast.« Bambi lächelte strahlend das Lächeln, das mich damals — an seinem ersten Tag — schon für ihn gewonnen hatte. Regel Nummer dreißig: Ein Herz, das für dich schlägt, ist unbezahlbar. _______ THE END Wer noch fragen kann, kann sie mir gerne stellen. ;) Danke fürs Durchhalten & für die Unterstützung. Ich freue mich, dass die Geschichte euch gefallen hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)