Your Smile von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 14: Birth ----------------- Für Lisa, weil sie den 333. Kommentar gemacht hat :) Und für alle fröhliche Weihnachten. _______________________________________________ BIRTH Regel Nummer siebenundzwanzig: Erkenne dich selbst. Normalerweise gehörte ich nicht zu dem Typ Mensch, der sich über alles regelrecht den Kopf zerbrach. Klar, gab es Dinge, mit denen ich mich gedanklich mehr beschäftigte als mit anderen, aber es kam so gut wie nie vor, dass es mir schlaflose Nächte bereitete. Und es kam ebenso selten vor, dass in meinem Kopf mindestens zehntausend verschiedene Unterthemen zu dem großen Thema herumschwirrten, noch dazu Fragen, die ich nicht mal mir selbst beantworten konnte. Es war mühselig. Es war anstrengend. Es bereitete Kopfschmerzen, von Entspannung war keine Rede. Ja, normalerweise brachte mich nichts so schnell aus der Fassung. Aber Dion hatte Chaos in meine Gefühls- und Gedankenwelt gebracht. Allein dafür hätte man ihn mit einem Award auszeichnen müssen. Es war halb vier morgens und ich stand unter der Dusche. An Schlaf war nicht mal zu denken, mein Schädel fühlte sich an, als hätte er den doppelten Umfang seines üblichen. Ich hatte wirklich versucht, alles auszublenden, aber es war einfach unmöglich. Toyota sollte vielleicht seinen Slogan überdenken. Das Ironische an dieser Sache jetzt war — und das fiel mir erst jetzt auf —, dass ich unter der Dusche stand, die eigentlich der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens gewesen war, dem ich so sehr versuchte zu entfliehen. Ich war daran gewöhnt, nicht vor irgendwelchen Dingen davonzulaufen. Aber ich wog Pro und Kontra gegeneinander ab, ob ich heute zur Schule gehen sollte oder nicht. Nach dieser Sache konnte ich wirklich nicht so tun, als wäre nichts geschehen. Doch was sollte ich dann tun? Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich mir schon mehrere plausible Ausreden dafür ausdachte, nicht in der Schule zu erscheinen. Warum war ich auch nicht krank geworden. Ich verfluchte mein viel zu stabiles Immunsystem (worauf ich sonst eigentlich stolz war). Andererseits würde ich damit auch nur das Unvermeidliche aufschieben, immerhin würde ich nicht ewig wegbleiben können, nur um Bambi nicht in die Augen sehen zu müssen. Außerdem würde Dion mich für einen Feigling halten, wenn ich nicht auftauchte. Aber … was, wenn er auch nicht kam? Vielleicht ging ihm dasselbe durch den Kopf wie mir. Würde er dann zur Schule gehen? Verdammt. Ich wusste es nicht. Ich hatte absolut keine Ahnung. Tess würde es sicherlich wissen. Ich grummelte. Jetzt war ich sogar schon an dem Punkt angelangt, wo ich tatsächlich etwas wie Eifersucht verspürte. Sie hatte mit ihrer Theorie wohl doch nicht ganz Unrecht gehabt, aber das tat jetzt auch nichts zur Sache. Wie ich es hasste, wenn sie mich durchschaute. Und das tat sie ohne Schwierigkeiten. Als würde sie direkt in meinen Schädel sehen können. Warum konnte sie das? Das war gruselig. Ich strich mir die nassen Haare aus der Stirn und im gleichen Augenblick rauschte das Bild aus der Dusche in der Umkleide von Bambis Gesicht durch mein Hirn. Es war nicht auszuhalten. Die Erinnerungen daran waren nicht mal das Schlimmste. Das Schlimmste war, dass ich das Gefühl vermisste, ihn bei mir zu haben. Diese eigenartige Zufriedenheit, die ich empfunden hatte, als ich ihn in der Dusche … Während ein Teil meiner Persönlichkeit beinahe schmerzhaft danach verlangte, einfach zu ihm zu gehen und ihn noch mal … na ja, dachte ein anderer Teil in mir, dass es ziemlich egoistisch wäre, immerhin hatte ich Dion einfach so stehen lassen. Was sollte ich denn tun? Mich entschuldigen, war wohl das Mindeste. Aber was dann? Ich beschloss, zur Schule zu gehen und mich zu entschuldigen. Alles Weitere würde sich ergeben. Pläne schmieden hätte nichts gebracht, es kam sowieso immer anders, als man es sich vorgestellt hatte. Gewisse Sachen musste ich einfach dem Zufall überlassen … Der Tag war schlimmer, als ich gedacht hatte. Unerträglichkeit hatte einen neuen Grad an Grausamkeit erreicht. Oder so. Das merkte ich allein daran, dass ich gebadet hatte. Ich hatte in den letzten acht Jahren nicht gebadet. Ich stieg aus der Wanne, ließ das Wasser ab und wickelte mir ein Handtuch um die Hüfte. Eigentlich hätte ich mich gern ins Bett geworfen und geschlafen, aber da ich sowieso nicht zur Ruhe kommen konnte, zumindest nicht in der Form von Schlaf, ließ ich es sein und beschloss, mir irgendeinen möglichst handlungsarmen Film anzusehen. Als ich mein Wohnzimmer betrat, blieb ich erstarrt stehen. Tess hockte auf der Couch, kaute offensichtlich auf einem Kaugummi und blätterte in der Fernsehzeitung. Was zum …? »Wie in aller Welt bist du hier reingekommen?«, fragte ich sie entgeistert. Sie schaute auf. Im ersten Moment wirkte Tess so, als würde sie nicht wissen, ob sie sauer sein oder sich freuen sollte. Dann entschied sie sich für ein Grinsen. »Ich hab den Zweitschlüssel benutzt, den du mir gegeben hast«, antwortete sie schulterzuckend, dann warf sie die Zeitung auf den kleinen Tisch vor ihr und erhob sich. Ach ja. Ich erinnerte mich dunkel, ihr das Ding gegeben zu haben — für Notfälle. War ja klar, dass sie ihre Privilegien missbrauchte. Doch der Gedanke wurde schnell von etwas anderem verdrängt. Ich wandte mich ab und ging in mein Zimmer, um mich anzuziehen. Tess folgte mir, ließ sich auf mein Bett sinken und schaute mir schweigend dabei zu, wie ich Sachen aus meinem Schrank fischte. »Du warst heute nicht in der Schule«, begann sie schließlich und ich sah durch den Spiegel des Schrankes ihren skeptischen Blick. Dass sie damit meinen Hinterkopf noch nicht aufgebohrt hatte, grenzte an ein Wunder. Mein Beschluss zur Schule zu gehen hatte sich auf Montag belaufen. Das hatte diesen Tag nicht leichter gemacht. Nicht zu wissen, was auf der anderen Seite geschah, machte mich fast wahnsinnig. »Ja, ich … ich hab mich nicht gut gefühlt«, log ich und gab mir dabei Mühe, Tess nicht anzusehen. »Komisch. Dion war heute auch nicht da«, stellte sie verdächtig ruhig fest. War sie in ihrem früheren Leben eigentlich mal ein Spürhund gewesen, oder was? Ich versuchte, zu erahnen, ob Dion ihr Bericht erstattet hatte oder nicht. Dass er nicht in der Schule gewesen war, hatte nichts zu sagen. Sie hatten schließlich ihre Telefonnummern und irgendwie zweifelte ich daran, dass Dion so etwas für sich behalten konnte. Andererseits … sagte ich das lieber nicht Tess, vermutlich würde sie mir dann noch eine knallen. »Das ist ja wirklich … schockierend«, meinte ich, während ich mir einen Pullover über den Kopf zog. »Was hast du schon wieder mit ihm gemacht?«, fragte sie mich dann vorwurfsvoll. Das war ja wieder mal klar, dass ich als der Böse hingestellt wurde. Warum musste sie ihn immer in Schutz nehmen? Warum ging sie immer davon aus, ich hätte etwas getan? Das war eindeutig unfair. Ich sah sie durch den Spiegel an, schluckte meinen ersten Protest hinunter und zog eine Hose aus dem Schrank, nachdem ich meine Boxershorts angezogen hatte. Während ich den Bund der Jeans schloss, drehte ich mich zu Tess um. »Warum gehst du immer davon aus, dass ich ihm was tue?«, wollte ich schnippisch wissen. Meine Fresse, Tess entwickelte sich immer mehr zu meiner persönlichen Inquisition. Abgesehen davon, dass ich es zum Kotzen fand, war es auch nicht gerade hilfreich für mich, dass sie statt hinter mir zu stehen, immer wieder für Bambi einsprang. »Weil meistens du irgendeine Dummheit machst, die ihm mehr zusetzt, als dir klar ist. Außerdem ist es schon sehr eigenartig, dass ihr beide nach dem gestrigen Tag nicht zur Schule kommt. Und ich bezweifle, dass deine bescheuerte Aktion beim Volleyball wirklich der unmittelbare Grund dafür ist.« »Natürlich. Und das weißt du so genau, weil …?« »Weil ich dich kenne und weil ich Zeit genug hatte, euch bei euren Interaktionen zu beobachten. Deine Aktionen und seine Reaktionen. Außerdem würde dich dein Tobsuchtsanfall von gestern sicherlich nicht daran hindern, mit erhobenem Haupt wieder in die Schule zu marschieren und deine Leckt-mich-alle-mal-am-Arsch-Einstellung heraushängen zu lassen. Du weißt doch selber, dass das, was du gestern getan hast, unter aller Sau war und du weißt auch, dass sich dieser kleine Vorfall wieder mal wie ein Lauffeuer in der Schule verbreitet hat. Alle reden darüber und es hat Sprüche und Bemerkungen gegen dich gehagelt heute. Weißt du, wie anstrengend es manchmal ist, dich in Schutz zu nehmen, selbst nach solchen Aktionen?«, meinte sie ruhig. »Mich in Schutz nehmen?«, wiederholte ich ungläubig. »Ja, natürlich. Ich hatte deinen Handabdruck bis heute Morgen in meinem Gesicht. Toll hast du mich in Schutz genommen. Sollen die doch denken, was sie wollen.« »Genau das meinte ich. Deine Trotzigkeit. Es hängt mir zum Hals raus. Aber ist es dir auch so egal, dass der Schulleiter dich heute eigentlich sehen wollte? Der Coach hat ihm erzählt, was passiert ist«, erzählte Tess, immer noch ruhig. Es wunderte mich, dass sie so still war heute, nach ihrer Ohrfeige gestern. Überhaupt, dass sie hierher kam und so mit mir sprach, als hätte sie mich gestern nicht halb vermöbelt, wunderte mich ein wenig. Die Info über den Rektor machte die Sache allerdings nicht besser. Ich hatte sonst alles Mögliche dafür getan, um nicht vor den Schulleiter treten zu müssen — das musste wirklich nicht sein —, aber ich wäre auch nicht davon ausgegangen, dass so eine Aktion wie die von gestern einen Ruf ins Rektorzimmer einbringen würde. »Also, was ist gestern passiert, dass euch beide in eure Mauselöcher getrieben hat?«, wollte sie schließlich wieder wissen. »Hast du ihn geküsst und stehen gelassen, oder was?« »Er hat es dir also erzählt«, stellte ich angesäuert fest und wollte mich gerade wieder über Dion aufregen, als ich Tess’ fassungslosen Gesichtsausdruck sah. Sie wirkte so erschrocken und überrascht, dass mir schlagartig klar wurde, dass er es ihr nicht erzählt hatte. Herrlich. Zumindest hatte ich mich selbst in die Scheiße geritten und es blieb nur zu hoffen übrig, dass Tess jetzt nicht anfing, mich als Strafe mit Messern zu bewerfen. »Du … du … Arschloch …«, hauchte Tess entsetzt. »Wie konntest du ihn einfach stehen lassen?« »Es wundert dich, dass ich ihn stehen gelassen habe, aber nicht, dass ich ihn geküsst hab?«, erwiderte ich kraftlos, während ich mir durch meine nassen Haare strich. So langsam wurde die ganze Sache wirklich unangenehm. Verdammt. »Ich glaub das einfach nicht. Es wundert mich, dass es so lange gedauert hat, bis du ihn endlich küsst, aber das … das ist wirklich nicht zu fassen. Man sollte dich wirklich steinigen für dein Verhalten«, sagte Tess kopfschüttelnd. Ich stand verwirrt vor meinem Schrank und starrte sie an, während ich versuchte, Sinn in ihre Worte zu bringen. Das war doch verrückt. »Dion ist unrettbar verliebt in dich und du tust ihm das an? Wenn es einen Preis für das arschlochigste Arschloch geben würde, du würdest mit Abstand gewinnen!« Ich wusste nicht, was in diesem Moment schlimmer war: Das Gefühl der zwanzigtausend Schmetterlinge in meinem Kopf und meinem Bauch oder das Gefühl, als ob jemand mir den Teppich unter den Füßen weggezogen hätte. Dion war verliebt in mich? Das war doch absurd. Warum sollte jemand wie er sich in jemanden wie mich verlieben …? Aber die Tatsache machte es auch nicht gerade einfacher für mich. Ich fühlte wieder den Wunsch ihn bei mir zu haben, vermisste das Gefühl von seiner Nähe … ich wurde wieder kitschig. Ich hatte wohl am Abgrund zum Kitsch gestanden und war nun einen Schritt weitergegangen. »Sag mal, fütterst du ihn mit Wahrheitspillen oder woher nimmst du immer dein Wissen?«, brachte ich schließlich hervor. Das war vermutlich die Frage, die ich in diesem Fall nicht hätte stellen sollen, aber was sollte ich denn darauf erwidern, Bambi wäre … wäre … verliebt … in mich? Tess seufzte und verdrehte die Augen. »Er hat es mir nicht erzählt. Das musste er gar nicht. Es war von Anfang an so offensichtlich. Du bist vermutlich der einzige, der es nicht gesehen hat, besser gesagt, nicht sehen wollte. Dion hat alles dafür getan, damit du ihn beachtest. Warum, glaubst du wohl, hat er all deine arroganten Bemerkungen und abweisenden Gesten über sich ergehen lassen, ohne dich anzufeinden? Er wollte einfach in deiner Nähe sein. Und wenn es dabei nur um Freundschaft gegangen wäre, dann hätte er es längst aufgegeben.« »Blödsinn.« Etwas anderes konnte es gar nicht sein … Sie verdrehte wieder die Augen. »Bist du wirklich so blöd? Mich brauchst du doch nicht anzulügen. Du hast ihn geküsst, du hast es selbst zugegeben, und das bedeutet schon eine Menge. Würde er dir nichts bedeuten — und das ist schon deshalb abwegig, weil du ihn in dein größtes Geheimnis eingeweiht hast —, dann hättest du ihn nicht geküsst. Gib es doch einfach mal zu. Es tut doch nicht weh. Niemand wird die Todesstrafe dafür über dich verhängen. Du magst ihn, Grace, ich weiß es. Du weißt es auch. Ich verstehe nur nicht, warum du es nicht zugeben willst.« Ich schwieg. Vermutlich wäre aus meinem Mund sowieso nur Kauderwelsch gekommen. Zu viel ging mir durch den Kopf. »Sieh mal, was denkst du, warum Dion sich mit mir angefreundet hat?« »Weil du nicht so aufdringlich gewesen bist wie die anderen Mädchen. Das hat er mir mal erzählt.« Bei McDonald’s nach dem Besuch im Krankenhaus, nachdem du ihn geküsst hast und er mich angestarrt hatte … scheiße. »Ja, vielleicht. Aber wir haben uns an seinem ersten Tag nur einmal unterhalten. Erst, als er gesehen hat, dass ich mit dir befreundet bin, ist er auf mich zugekommen. Wenn man es genau betrachtet, hat er mich als Alibi benutzt. Das ist mir erst später aufgefallen, aber das spielt mittlerweile auch keine Rolle mehr. Und du mochtest ihn auch, aber hast dich wie eine Zicke verhalten, weil du Angst hattest, ihn an dich ranzulassen. Aber warum jetzt noch? Du weißt doch, dass du ihm vertrauen kannst.« Ich ließ mich aufs Bett fallen und fuhr mir mit einer Hand über das Gesicht. Tess krabbelte zu mir herüber, setzte sich neben mich und legte einen Arm um meine Schulter. »Du hast versucht, uns zu verkuppeln?«, fragte ich und dachte dabei an all die unzähligen Dinge, zu denen Tess Dion oder mich getrieben hatte. Die Umarmung im Auto, unser Weihnachtsindianer-Ritual und — oh. Vermutlich hatte Tess mich damals auf der Party deswegen nicht geweckt, damit ich bei Bambi blieb. »Ich hab versucht, dir endlich die Augen zu öffnen, damit du endlich begreifst, was du wirklich möchtest; damit du auch dazu stehst«, antwortete sie, während sie mein Gesicht zwischen ihre Hände nahm. Ich schaute Tess an und konnte sehen, dass sie es ernst meinte. Sachte lehnte sie ihre Stirn gegen meine. Ich fühlte die Wärme ihrer Haut, spürte, wie sie behutsam mit den Fingern über meine Wangen strich. Regel Nummer achtundzwanzig: Wenn du nur tust, was du immer tust, dann erreichst du nur das, was du immer erreichst. »Ich will ihn, Tess«, sagte ich leise. Tess verzog den Mund. Ich wusste, dass sie gerade versuchte ein Grinsen zu verkneifen. Jetzt, wo ich es laut ausgesprochen hatte, erschien es so … natürlich. »Es ist lange her, dass du etwas wolltest«, stellte Tess fest. Sie lächelte. »Weißt du, wenn Dion nicht von Anfang an für dich geschwärmt hätte, dann hätte ich selbst versucht, ihn für mich zu gewinnen. Aber gegen dich hab ich dann wohl doch keine Chance.« Ich musste grinsen. »Was hindert dich daran, ihm jetzt zu sagen, was du denkst? Du schuldest ihm eine Entschuldigung und eine Erklärung«, fügte sie hinzu, ließ mich los und sah mich abschätzend an. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Wie würde Dion wohl reagieren? Nach all dem … was dachte er jetzt? »Er hasst mich jetzt bestimmt«, murmelte ich, als ich Tess wieder anschaute. Tess zog eine Augenbraue kurz hoch. »Eigentlich müsste er dich auch verdreschen. Das wäre nur gerecht. Aber wenn er dich doch einfach so mit einer schlichten Entschuldigung deinerseits zurücknimmt, dann müsstest du ihm dafür den Hintern küssen … oder noch was ganz anderes …«, meinte sie und verzog die Lippen zu einem Grinsen. Ich boxte ihr sachte gegen den Oberarm. »Wird mal Zeit, dass dich jemand aus deinem Loch holt. Geh schon, Romeo«, meinte Tess, klopfte mir auf die Schulter und lehnte sich dann zurück. Ich stand auf und ging in den Flur, um mich anzuziehen. Auf einmal schien alles so einfach zu sein, so selbstverständlich und auf der anderen Seite doch immer noch wahnsinnig kompliziert. Dion wusste durch Tess und seine eigene Aufmerksamkeit vermutlich mehr über mich als ich über ihn. Ich hatte nicht mal den blassesten Schimmer, wie das alles ausgehen würde. Wie es ausgehen könnte, ja. Während ich zu Dion ging, dachte ich über alle möglichen Dinge nach. Jetzt, nach dem Gespräch mit Tess, war es, als wäre alles so einleuchtend und offensichtlich, so idiotensicher, dass ich mir wie der letzte Volltrottel vorkam. In diesem Moment kam es mir vor, als wäre ich losgelöst von meinem eigenen Körper und würde wie ein Geist von oben mich selbst dabei beobachten, wie ich auf dem Weg zu Dion war. Warum war ich nur so ein Idiot gewesen? Was meine Neugier, mein Interesse an seinem Leben in Peoria nicht ein sicherer Beweis dafür gewesen, dass ich ihn mochte oder zumindest, dass er mir nicht ganz so egal war, wie ich immer versucht hatte, allen weiszumachen? Ich war viel zu abgestumpft für solche Dinge, viel zu … misstrauisch und einfach nicht gewohnt daran, dass jemand so geduldig versuchte, mich zu erreichen. Dion hatte mehr Geduld als sonst jemand, den ich kannte. Nicht mal Tess war im Umgang mit mir so ausdauernd ruhig wie Bambi. Ich war so ein Vollidiot. Ich fühlte mich wie in irgendeinem billigen Hollywoodfilm oder ein Soap oder so was. Warum wandelte ich gelegentlich eigentlich in einem Milieu voller Klischees, die ich dann auch noch schaffte, alle zu erfüllen? Das war peinlich. Dion hatte wirklich allen Grund, wütend auf mich zu sein. Es hätte mich gewundert, wenn er es nicht gewesen wäre. All das, was ich seit unserem Kennenlernen getan hatte und dann hatte ich ihn geküsst und war danach einfach gegangen. Wie musste das auf ihn gewirkt haben? Vielleicht wie eine Verarsche. Als mir dieser Gedanke kam, hätte ich mich selbst ohrfeigen können. Es gab wohl eine Menge, das ich irgendwie wieder gutmachen musste. Ich hoffte wirklich, dass ich das irgendwie schaffen würde. Als ich schließlich vor dem van Dorve’schen Anwesen stand, verließ mich der Mut, Bambi gegenüberzutreten. Was sollte ich ihm sagen? Was, wenn er mir die Tür vor der Nase wieder zuschlug? Ich stand auf der Veranda vor der Tür und war mittlerweile zum dritten Mal versucht, zu klingeln, ließ die Hand dann aber doch wieder sinken. Das war schrecklich. Vermutlich würde ich alles vergessen, was ich sagen wollte, wenn ich ihn sah. Was, wenn er die Tür öffnete und mir direkt mit einem japanischen Küchenmesser den Schädel spaltete? Okay, das war wahrscheinlich maßlos übertrieben. Ich bezweifelte, dass Bambi um den Gebrauch eines japanischen Küchenmessers wusste. Gut, ich sollte Dion wohl weniger naiv einschätzen, aber es fiel mir immer noch schwer, in ihm nicht das kleine unschuldige Rehkitz zu sehen, dem ich vor ein paar Monaten zum ersten Mal begegnet war. Unruhig lief ich auf der Veranda auf und ab, als auf einmal ein Auto in die Auffahrt rollte. Dions Mutter stieg aus und kam die Verandastufen hoch, sie lächelte mich freundlich an. »Hallo, Grace«, sagte sie und ich erwiderte ihr Lächeln ein wenig nervös. Konnte es noch peinlicher werden? Darüber wollte ich nicht nachdenken, sonst würde es noch schlimmer werden, als ich es mir vorstellte. »Überhört Dion mal wieder die Klingel?« »Ich … hab eigentlich noch gar nicht geklingelt. Bin auch … gerade erst angekommen«, schwindelte ich und nickte vehement. Lüge. Ich war seit mindestens fünfzehn Minuten hier und hatte es immer noch nicht fertig gebracht zu klingeln. Aber das musste Mrs van Dorve auch nicht unbedingt wissen. Wahrscheinlich hätte sie mich schon erwürgt, wenn sie wüsste — ich ging davon aus, dass sie es nicht wusste —, dass ich ihren Sohn geküsst und dann stehen gelassen hatte. »Oh, na dann lass ich dich mal rein«, meinte sie heiter und schloss die Haustür auf. Ich lächelte gezwungen. »Ja«, meinte ich bemüht erfreut. »Ist ja … toll.« Scheiße. Jetzt hatte ich absolut keine Wahl mehr. Ich zog mir schnell Jacke und Schuhe aus, dann ging ich — Mrs van Dorve noch ein Lächeln zuwerfend — die Treppe hinauf und den Flur entlang zu Dions Zimmer. Unschlüssig blieb ich davor stehen und starrte die Tür mit blankem Kopf an, als sie plötzlich schwungvoll geöffnet wurde. Das war der Moment, in dem ich Dion gegenüberstand und nicht mehr weglaufen konnte. Der einzige Weg war nach vorn. ___ tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)