Your Smile von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 11: Chocolate --------------------- CHOCOLATE »Wo ist die verdammte Sternschnuppe?« »Wo ist dieser Scheißschlitten?« »Wo ist die bekloppte Colaflasche?« »Oh, die Cola ist hier«, meinte Tess und langte hinunter, neben ihren Stuhl, auf dem sie saß, und hob die Flasche in die Höhe, bevor sie sie Dion reichte. Der sah ziemlich erleichtert aus, als er endlich die Cola zurück hatte. Tess unterdessen ließ die Augen noch einmal gründlich über den Tisch gleiten, weiterhin auf der Suche nach der Sternschnuppen-Plätzchenform. Während sie nach der Sternschnuppe suchte, hielt ich nach dem Stechförmchen für den Schlitten Ausschau. Wir saßen in der van Dorve’schen Küche, am vierten Advent, und machten Plätzchen. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war, seitdem Tess und ich hier waren, aber draußen war es schon dunkel — das ließ darauf schließen, dass es doch schon eine ganze Weile war. Wir hatten uns zusammengeschmissen, um ein bisschen Weihnachtsbäckerei zu spielen. Daraus waren inzwischen Brownies, Lebkuchen, ein Lebkuchenhaus und nun Plätzchen erwachsen. Den Plätzchen hatten wir uns zu letzt gewidmet. Ich war anstandslos hierher gekommen. Der einfache wie lächerliche Grund war, dass ich schlichtweg käuflich war. Wenn es um Lebkuchen, Plätzchen und Ähnliches ging, konnte ich beim besten Willen nicht nein sagen. Selbst wenn es hieß, dass ich wieder zu Dion nach Hause musste. Das war dabei völlig egal, Hauptsache Weihnachtssüßzeug. Abgesehen davon war Tess dabei, es war also unmöglich, dass Dion und ich uns einmal mehr in eine peinliche Situation manövrierten. Und wenn doch, dann war Tess da, um uns zu retten. »Ich krieg hier noch das Kotzen mit diesem Schlitten«, fauchte ich angesäuert, als ich die blöde Form fünf Minuten später immer noch nicht in diesem unübersichtlichen Haufen aus Stechformen gefunden hatte. Tess und Dion stanzten mittlerweile fröhlich in ihrem Teig herum, während ich zunehmend depressiver wurde, weil ich keinen Schlitten machen konnte. Tess warf mir diesen besorgt-mahnenden Blick zu, aber ich ignorierte ihn. Ich wusste, was sie dachte, aber nicht sagte. »Warum nimmst du nicht einfach eine andere Form?«, klar. Ich wollte aber den Schlitten und ich würde kein anderes Plätzchen stechen, bis ich nicht zumindest einen davon hatte. Ich hörte ein amüsiertes Lachen hinter mir. Mr van Dorve wuselte am Tisch vorbei zu dem Blech mit den fertig gebackenen Plätzchen und schaufelte sich einige davon in seine Hand. Ich hatte Dions Vater kennengelernt, als Tess und ich heute bei Bambi angekommen waren. Genauso wie Bambis Mutter sah auch Vater Reh ziemlich jung für sein Alter aus. Gut, ich hatte nicht einmal annähernd eine Ahnung, wie alt Bambis Eltern waren, aber sie sahen beide gut erhalten aus. Mr van Dorve strahlte eine ungewöhnliche Ruhe und Gelassenheit aus, abgesehen davon hatte er die Art von angerauter Coolness, die mich an einen Surfer oder so was erinnerte. Tess lag ihm zu Füßen. Und die Schwestern und Ärztinnen im Krankenhaus wahrscheinlich auch. Es hatte mich nicht gewundert, dass Tess ihn bereits kannte. Aber erst in dem Moment heute Nachmittag war mir richtig bewusst geworden, dass Tess schon öfter hier gewesen sein musste. Sie hatte nie etwas gesagt. »Dad«, sagte Dion ärgerlich, als sein Vater Plätzchen klaute. »Die sind noch nicht fertig!« Mr van Dorve grinste breit, schob sich demonstrativ das nächste Plätzchen in den Mund und trat dann an den Tisch, um unsere Arbeit zu begutachten. »Bei dem Haufen, den ihr macht, fällt es gar nicht auf, wenn ich mal zwei stibitze«, erwiderte er schelmisch. Dion schnaubte verächtlich. »Zwei? Kannst wohl nicht mehr richtig zählen, was?«, triezte Bambi und sah seinen Vater dabei an. Während ich zwischen den beiden hin und her sah, fiel mir auf, dass Dion das Grinsen eindeutig von seinem Dad übernommen hatte. Wenn sie grinsten, hätten sie Zwillinge sein können. Zwillinge mit beträchtlichem Altersunterschied. »Sprach der Experte«, stichelte Mr van Dorve zurück. Kurz herrschte Stille. Wir wussten alle, worauf er anspielte. Tess sah ein wenig betreten aus, Dions Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Ärger und Scham, Mr van Dorve grinste immer noch und ich … musste lachen. Tess sah mich völlig entgeistert an, Dion schaute im ersten Moment irritiert, während das Grinsen seines Vaters noch breiter wurde. Während ich lachte — und es schüttelte mich immer mehr —, fand ich auch endlich die Stechform in dem Haufen. »Wollt ihr auch Abendessen?«, fragte Mr van Dorve, nachdem ich mich beruhigt hatte. Wir bejahten einstimmig. Während wir weiter an unseren Plätzchen bastelten, wirtschaftete Dions Dad ebenfalls in der Küche herum. Ich schaute ihm hin und wieder dabei zu. Er warf zwei Beutel Reis in einen mit Wasser gefüllten Topf, stellte diesen auf dem Herd ab und holte dann eine Auflaufform aus einem der Schränke. In dem Moment hörte ich die Haustür aufgehen. Einige Momente später kam Dions Mutter in die Küche. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Offenbar kam sie gerade von der Arbeit nach Hause. Sie begrüßte uns, gab Dion einen Kuss auf die Stirn und wandte sich dann ihrem Mann zu. Der hatte inzwischen Lachs aus dem Tiefkühlschrank geholt und legte die einzelnen Stück in die Form. Mrs van Dorve umarmte ihn von hinten, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute ihm bei seinem Werkeln über die Schulter, bevor sie ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Wie ein verliebtes Pärchen. Wie Tess’ Eltern. »Probier mal die Plätzchen. Die sind echt gut«, meinte Bambis Dad, woraufhin Dion ein protestierendes »Nein!« von sich gab. Ich grinste stumm, legte meinen ausgestochenen Teig auf das Blech und rollte die übrigen Fetzen noch zusammen. Als Dion gerade nicht hinsah, mopste seine Mutter sich ein Plätzchen, grinste mich an und hielt sich den Finger vor die Lippen. Danach verschwand sie aus der Küche, mit der Begründung, sie wolle sich umziehen. Als wir geraden fertig mit dem letzten Teig und den letzten Plätzchen waren, nahm Mr van Dorve den Lachs aus dem Ofen, sodass wir die Bleche mit dem Gebäck hinein schieben konnten. Zu viert räumten wir schnell den Tisch von unserem Zeug frei, verstauten alles im Geschirrspüler und deckten den Tisch für das Abendessen. Tess schnippelte noch schnell einen Salat zusammen. Ich half ihr, als ich fertig war, beim Tischdecken zu helfen. Als ich den Salat mithilfe zweier Löffel durchmischte, räumte Tess das Messer in den Spüler und die Reste der Tomaten und Gurke weg. Gerade, als alles bereit war, kam Dions Mom zurück, sodass wir uns gemeinsam an den Tisch setzten. Mr van Dorve füllten jedem Reis auf und Tess übernahm den Lachs. »Dion, hast du Sally eigentlich schon angerufen?«, fragte Mrs van Dorve, während sie sich Reis auf die Gabel häufte. Dion sah von seinem Teller auf. Er sah ein wenig so aus, als hätte sie ihn beleidigt. »Natürlich. Schon heute Morgen«, antwortete er. Er stach sich ein Stückchen Gurke auf die Gabel. Ich runzelte die Stirn und fragte mich, wer Sally war. Seine Cousine vielleicht. Immerhin schienen seine Eltern sie auch zu kennen. Und warum überhaupt anrufen? Um zum vierten Advent zu gratulieren? Oder vielleicht hatte Sally Geburtstag? Das schien wahrscheinlicher, aber ich wusste schließlich auch nicht, was Familie van Dorve so für Traditionen pflegte. Vielleicht war es bei ihnen üblich, sich an einem Advent zu beglückwünschen. Tess wusste bestimmt, wer Sally war. Es interessierte mich, aber ich fragte nicht laut danach. »Und, hatte sie für heute etwas Schönes geplant?«, fragte Bambis Mom weiter, bevor sie sich Lachs in den Mund schob. Dion zuckte kurz die Schultern, während er kaute. »Sie war mit Freunden brunchen«, erzählte Dion. Sally schien also doch Geburtstag zu haben, dachte ich, während ich schweigend dem Gespräch folgte. Doch mit Dions Antwort war es beendet und wir wandten uns anderen Gesprächsthemen zu. Den Weihnachtsferien; was wir währenddessen machen wollten; wie wir feiern würden; was wir uns wünschten … Tess würde am Boxing Day zu einem Familientreffen fahren, wo der gesamte Goodchild-Clan anwesend sein würde. Sie hatte einen Haufen Cousins und Cousinen, die für Tess alle wie Geschwister waren. Vor Silvester würde sie aber wieder hier sein, hatte sie erzählt, weil sie es sich nicht nehmen lassen wollte, Neujahr mit mir zu feiern. Eigentlich hatte ich es ihr ausreden wollen, weil ich nicht darauf bestehen wollte, dass sie sich von ihrer Familie löste, nur um bei mir zu sein. Aber da ihre Eltern auch nicht vor hatten, bis über Silvester wegzubleiben, war es im Endeffekt kein Problem. Mr van Dorve sagte, dass er an Heilig Abend Bereitschaftsdienst habe und unter Umständen kurzfristig ins Krankenhaus müsse. Dion sah nicht sehr begeistert aus, als er das hörte. Sein Gesicht verdüsterte sich, aber er schwieg. Ich erinnerte mich daran, was er mir über den Beruf seiner Eltern erzählt hatte. Zumindest hatte er seine Mutter. Sie versicherte, dass sie zu Hause sein würde. Und dann kam der Teil, von dem ich gehofft hatte, er würde unter den Tisch fallen: Das Thema kam auf mich und meine Pläne für Weihnachten. Ich räusperte mich leise. Ich mochte es nicht, darüber zu reden, aber ich wollte auch nicht unhöflich sein. »Ich bin bei Tess«, sagte ich wahrheitsgemäß und warf ihr einen Blick zu. Sie hatte einen vorsichtigen Ausdruck in den Augen, weil sie wusste, wie ich zu diesem Thema stand. Nicht, dass es mich störte, Weihnachten bei Tess zu verbringen — ganz im Gegenteil —, ich redete nur nicht gern öffentlich darüber, dass ich nicht bei meiner Familie war. Mir fiel auf, dass Mr und Mrs van Dorve einen flüchtigen Blick tauschten, beide wirkten ein wenig überrascht. Doch dann lächelte Dions Mutter mich freundlich an. »Sind deine Eltern nicht da?«, fragte sie. Ich wusste, dass sie nicht bohrte. Sie fragte rein aus Höflichkeit, nicht, weil sie irgendwelchen Klatsch aus mir herausbekommen wollte. Es war ehrliches, aber nicht drängendes Interesse. Ich nickte nur und damit war das Thema auch schon beendet, als alle merkten, dass es ein sehr leidiges Gebiet für mich war. Wir aßen auf, danach deckten wir den Tisch wieder ab. Mr und Mrs van Dorve verschwanden ins Wohnzimmer und wir widmeten uns wieder den inzwischen fertigen Plätzchen, die wir noch dekorierten. Ich rührte Zuckerguss an, Tess verflüssigte in einem Topf auf dem Herd einen Klumpen Zartbitterschokolade, während Dion bunte Streusel, Schokostreusel und einen Haufen anderes Streuzeug ans Tageslicht beförderte. Es dauerte ein kleines Weilchen, bis wir dem Dekorieren fertig waren. Ich drehte mich gerade wieder zu Tess, weil ich mit meinem Blech fertig war, als sie mir mit jeweils zwei Fingern ihrer Hände je zwei Streifen Zartbitterschokolade indianer-like auf die Wangen malte. Ich starrte sie perplex an, sie starrte amüsiert, aber mit hochgezogenen Augenbrauen zurück. Dann fiel es mir wieder ein. Unser Ritual beim Backen von Plätzchen, sozusagen. Jedes Mal passierte eben das mindestens einmal — an Weihnachten, versteht sich. »Indianer-Zeit«, verkündete Tess breit grinsend. Ich tauchte meine Finger in die übrige Schokolade, drehte mich zu Dion um, der uns total verwirrt anschaute, und malte dem — bei meinem Anblick völlig fassungslosen — Bambi ebenfalls zwei Schokoladenstreifen über die Wangen. »Ich taufe dich auf den Namen …«, begann ich und hielt inne, während ich mir einen Namen ausdachte. »Schokoladiges Reh.« »Schokoladiges Reh?«, echote Bambi irritiert. »Was?« »Wer bin ich?«, fragte ich, als ich den Blick zu Tess wandte. Sie tippte sich den Zeigefinger an die Lippen, das Gesicht zu einer Grüblermiene verzogen. »Süßlicher Stier«, meinte sie dann jovial. Ich drehte mich wieder zu Dion, der noch immer aussah, als hätte man ihm eiskalt eine Pfanne über den Schädel gezogen. Vielleicht sollten Tess und ich uns angewöhnen, ihn vorzuwarnen, bevor wir uns in irgendeiner Weise an ihm vergingen. Auf Dauer konnte das so immerhin nicht gut gehen. Irgendwann würde Bambi noch einen Herzinfarkt oder so bekommen. Eigentlich musste Dion Tess jetzt die Zeichnungen aufs Gesicht schmieren, aber da er gerade in seinem Verblüffungs-Modus war, übernahm ich seine Aufgabe. Als Tess genauso aussah, wie wir, schaute ich Dion an. Die Namensgebung fiel aber eindeutig an ihn. »Name?« Dion starrte mich an wie eine Kuh, wenn es donnert. Er blinzelte verwirrt. »Zuckriger … Hase …?« Ich drehte mich wieder zu Tess, klopfte ihr auf die Schultern und sagte: »Nun, Zuckriger Hase, du bist offiziell in unsere Gemeinde aufgenommen worden.« Nachdem unser Weihnachts-Indianer-Ritual abgeschlossen war und wir Dion schließlich eingeweiht hatten — es amüsierte ihn ausgesprochen —, räumten wir alles, was wir nicht mehr brauchten weg. Wir häuften einen Teil der Gebäcke in eine große Schüssel, weil wir beschlossen hatten, uns zusammen auf die Veranda zu setzen, süßes Zeug in uns hineinzustopfen und uns dabei irgendwelche lustigen YouTube Videos anzusehen. Tess setzte heißes Wasser auf, damit wir uns Tee mit nach draußen nehmen konnten, und Dion eilte nach oben, um seinen Laptop und eine Decke zu holen. Wir zogen uns im Flur an, Tess nahm zwei Teetassen, ich eine Teetasse und die Schüssel mit dem Gebäck und Dion hielt sein MacBook und die Decke im Arm. Zusammen setzten wir uns in die Hollywoodschaukel auf der Veranda, ich irgendwie in der Mitte mit dem Laptop auf dem Schoß, jeder von uns eine Tasse Tee in der Hand und die Schüssel zwischen uns. Unsere Kriegsbemalung war mittlerweile trocken, aber es störte sich niemand daran, denn eigentlich — und das wusste Dion noch nicht —, war das Ritual noch nicht abgeschlossen. Wir klickten uns durch diverse Videos, die wir so kannten. Tess zeigte uns eins von der Internetwahl zwischen Kerry und Bush, wie es hätte gewesen sein können — wie Bush unter dubiosen Umständen die Stimmen bekommen hatte. Dion und ich brüllten vor Lachen, als wir uns den Spot ansahen. Eigentlich kannte ich das Video schon, weil Tess es mir schon einmal gezeigt hatte, aber es war trotzdem immer wieder witzig. Schließlich landeten wir bei Achmed the Dead Terrorist. Tess und ich konnten den Text auswendig mitsprechen — Bambi ebenfalls. So hockten wir auf der Hollywoodschaukel und sprachen den Text mit, teilweise unter ersticktem Lachen. Diese Puppe war der absolute Hammer. »A terrifying terrorissssst«, sagte Tess mit verstellter Stimme, während Dion und ich um die Wette lachten. »SILENCE! I KILL YOU!« Ich musste aufpassen, dass ich meinen Tee nicht versehentlich über den Laptop goss. »But you’re all bone«, meinte Tess verwundert. »It’s a flesh wound«, erwiderte Dion heiter. Ich johlte und warf den Kopf lachend in den Nacken. Ich bekam kaum ordentlich Luft, zum Atmen hatte ich einfach keine Zeit. Als der ziemlich rassistische Juden-und-Christenwitz von Achmed kam, brachen wir zu dritt in schallendes Gelächter aus. Zu guter Letzt stimmten wir Jingle Bombs an. Ich wischte mir die Lachtränen aus den Augenwinkeln, als das Video vorbei war. Tess verabschiedete sich aufs Klo, während Dion und ich schnaufend nach Luft rangen. Ich hatte keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so gelacht hatte. Solche Momente waren wirklich nicht oft. Nachdem Dion und ich uns schließlich beruhigt hatten, war es kurz still zwischen uns. Da war sie wieder, diese peinliche Stille, die ständig zwischen uns entstand, wenn wir allein waren. Ich hatte keine Ahnung, woran es lag, dass wir nicht vernünftig miteinander kommunizieren konnten, wenn sonst niemand dabei war. Das Problem hatte ich eigentlich nie, so war es nur mit Bambi. Schweigend nippte ich an meinem Tee. »Grace?«, fragte Dion testend. Ich hob den Blick und schaute Dion über den Rand der Tasse hinweg an. Er sah ein wenig verlegen aus, vielleicht kam es mir aber auch nur im Dunkeln so vor. Kurz schwieg er, als wäre er unschlüssig, ob und was er sagen sollte. Ich hörte ihn tief Luft holen, bevor er wieder sprach. »Du … na ja … du bist herzlich eingeladen herzukommen, wenn … wenn Tess … du weißt schon … zu ihrem Familientreffen fährt …«, brachte er schließlich hervor. Ich war so überrascht, dass ich aufhörte, an dem Tee zu nippen; ich konnte fühlen, wie die Flüssigkeit gegen meine Oberlippe schwappte. Wortlos starrte ich geradeaus, während mein Hirn die Information verarbeitete, die Dion mir gerade gegeben hatte. Hatte er mich gerade über Weihnachten zu sich eingeladen …? Regel Nummer dreiundzwanzig: Weihnachten ist ein Familienfest. Und Freunde sind Familie. »Ich hab ein Geschenk für dich«, fuhr Dion leise fort, als ich nichts sagte. Diesmal klappte ich den Mund fast auf und Tee floss hinein, sodass ich mich beinahe verschluckte. »Na ja, aber … es wäre schön, wenn du … vielleicht vorbeikommen würdest … wenn du Lust hast … und Zeit.« Ich löste die Lippen von meiner Tasse und drehte den Kopf, um Bambi wieder anzuschauen. Er erwiderte meinen Blick. Im ersten Moment war ich so sprachlos, dass ich nicht wusste, was ich hätte sagen können. Aber dann fiel mir wieder ein, was man in so einer Situation als normaler, sozialkompetenter Mensch sagte. »Danke«, meinte ich. »Ich hab auch ein Geschenk für dich …« Hatte ich wirklich. Warum ich ein Geschenk für Dion hatte, wusste ich selber nicht mal so genau, aber in einer Kurzschlussreaktion und in meinem Weihnachtsshopping-Wahn hatte ich einfach etwas besorgt. Genauso, wie Dion sich über meine Offenbahrung zu wundern schien, wunderte ich mich darüber, dass er ein Geschenk für mich hatte. Ich war wirklich nicht davon ausgegangen. Zwar hatte ich erwartet, dass er Tess etwas schenken würde — immerhin waren sie gut befreundet — aber mir … Ich betrachtete die Schokoladenstreifen auf seinen Wangen. In diesem Augenblick war ich kaum zu einem klaren Gedanken fähig. In meinem Kopf schwirrte alles wie eine Horde Kolibris. »Du kannst auch vorbeikommen, wenn du mal nichts zu tun hast oder so …«, bot ich an. Es war, als würde ich mir selbst als Außenstehender zuhören. Dion war der zweite Mensch neben Tess, den ich zu mir nach Hause eingeladen hatte. »Gern«, murmelte Dion leise. Er klang verwundert, aber auch irgendwie erfreut. Wir beschlossen, zusammenzupacken und wieder reinzugehen, als es draußen zu kalt wurde. Tess kam gerade wieder aus dem Bad. Ich zog mir die Schuhe von den Füßen, bevor ich die Schüssel und meine inzwischen leer getrunkene Tasse in die Küche brachte. Danach gingen wir gemeinsam hinauf in Dions Zimmer, wo Tess freudestrahlend verkündete, dass wir unser Weihnachts-Indianer-Ritual zum Abschluss bringen würde. Ich verkniff es mir, mit der Hand über das Gesicht zu fahren. Dieser Part würde Dion wohl wieder ganz schön aus der Bahn werfen. »Abschluss? Ich dachte, es wäre schon alles gewesen …«, meinte Dion irritiert, bekam allerdings nur ein Kopfschütteln von Tess als Antwort. Sie grinste breit und ich bereitete mich darauf vor, dass sie an mir vorführte, womit wir abschlossen, doch da beugte Tess sich schon zu Bambi und leckte ihm die Schokolade mit ausgefahrener Zunge von der Wange. Bambi war erstarrt, hatte die Augen aufgerissen und saß völlig unbeweglich da. Wie elektrisiert. Tess nahm seinen Kopf zwischen die Hände und drehte ihn, damit sie den Vorgang auf der anderen Seite wiederholen konnte. Dion war in seinem Schockzustand und ließ es wie ein Püppchen über sich ergehen. »D-Das ist euer … A-Abschluss?«, stotterte er, nachdem Tess von ihm abgelassen hatte und er aus seiner Paralyse erwacht war. Tess nickte — grinsend, wie immer bei solchen Sachen. Während ich verarbeitete, dass sie Bambi mal wieder ohne Vorwarnung angefallen hatte, dämmerte mir etwas anderes: Bambi würden den Abschluss nämlich an mir machen. Dieses Wissen ließ mich erstarren. »Du bist dran«, hörte ich Tess zu Dion sagen. Ich sah auch, wie sie auf mich deutete; sah Dions unsicheren wie ungläubigen Blick, den er mir zuwarf. In diesem Moment schien alles in Zeitlupe zu laufen. Langsam kroch Dion zu mir herüber und beugte sich zu mir vor, bis er mir so nah war, dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten. Ich konnte seinen kühlen Atem auf meiner Haut spüren und fühlte, wie meine Nackenhärchen sich aufstellten. Ein eigenartiger Schauer erfasste mich. Dion beugte den Kopf ein kleines Stückchen zur Seite, dann verschwand sein Gesicht aus meinem unmittelbaren Blickfeld und ich konnte seine Zunge auf meiner Wange spüren. Meine Haut kribbelte ganz seltsam. Es war, als wäre seine Zunge das einzige, was ich in diesem Moment fühlen konnte. Sie schob sich über meine Wange, leckte den braunen, süßen Film weg, der dort getrocknet war. Ich schloss die Augen. Ein sanfter Lufthauch strich über meine Augenlider, als Dion sich zu meiner anderen Gesichtshälfte wandte und dort denselben Vorgang wiederholte. Ein einziger Gedanke blinkte hell in meinem Kopf: Warum tat Dion das freiwillig und ohne Proteste? Er leckte gerade einem anderen Kerl Schokolade vom Gesicht. Würde ihn jetzt abgesehen von Tess irgendjemand sehen, dann wäre er sofort als Schwuchtel und ähnliches verschrien. Vielleicht machte er es deshalb — weil niemand zusah, der Gerüchte verbreiten würde. Weil er kein Spielverderber sein wollte, so wie im Vergnügungspark bei der Achterbahn. Unter Freunden musste einem nichts peinlich sein … aber wusste Dion das? Aber … würden zwei beste Freunde sich Schokolade vom Gesicht lecken? Etwas anderes schob sich von weit her aus meinem Bewusstsein nach vorne, doch es versank wieder auf halber Strecke, als Dion sich wieder von mir löste. Eine scheinbare Ewigkeit starrten wir einander wortlos an. Mein Hirn arbeitete fieberhaft, aber es schien weit entfernt und vergeblich zu sein. Es war, als würde ein kleines Teilchen fehlen, um ein Gesamtbild zu erstellen. Nein, nicht ein Teilchen. Mehrere Teilchen. Kleine Dinge. Irgendetwas, das ich nicht fassen konnte. Wie mechanisch leckte ich Tess die Schokolade von den Wangen, anschließend gingen wir unsere Gesichter waschen. Nicht aus Ekel, sondern einfach um die zuckrigen, klebrigen Reste von der Haut zu lösen. Als ich in dieser Nacht im Bett lag und den hell leuchtenden Stern, den ich vor mein Fenster gehängt hatte, ansah, fragte ich mich, was ich in all dem Ganzen mit Dion übersah. Irgendetwas … es war, als würde einem das Wort auf der Zunge liegen, aber man kam einfach nicht drauf. Meine kleine Welt stand Kopf. Und ich wusste nicht, wieso. Regel Nummer vierundzwanzig: Weihnachten ist das Fest der Liebe. ___ tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)