Your Smile von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 10: Rollercoaster ------------------------- Dieses Kapitel geht an für den 222. Kommentar :) _____________________________________________________________ ROLLERCOASTER Ich war froh, dass ich die Rückbank für mich hatte. Meine Füße taten weh, meine Nase lief permanent und ich war todmüde. So konnte ich mich einigermaßen ausstrecken, genoss die Leichtigkeit, die meine Füße umfangen hatte, jetzt, wo ich nicht mehr laufen musste. Draußen rauschten die Lichter der anderen Autos an mir vorbei, ansonsten war alles dunkel. Die blaue Beleuchtung des Armaturenbretts war angenehm, Musik drang leise aus den Boxen im Auto. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, um wach zu bleiben. Es war gar nicht so einfach, meine Augenlider waren bleischwer. Aber wenn Tess und Dion beide wach waren, dann wollte ich nicht als einziger wegpennen. Für einen Moment schloss ich die Augen und ließ die Geschehnisse des Wochenendes Revue an mir passieren. Es war Freitag, Bio, die letzte Stunde. Ich war glücklich, dass endlich Wochenende war. Die Aussicht auf ein warmes, weiches Bett und die Möglichkeit, endlich wieder ausschlafen zu können, war ungemein verlockend. In meinem Kopf formten sich bereits Bilder davon, was ich an den freien Tagen tun würde: nämlich nichts. Wenn das nicht mal Einklang mit der Seele und Umwelt versprach, dann wusste ich auch nicht. Scheiß auf Yoga oder was auch immer — Ausschlafen war das Wunderheilmittel. »Wir fahren heute Abend in diesen neuen Vergnügungspark bei Memphis. Du weißt schon«, sagte Tess zu mir. Sie schien ganz aufgeregt zu sein. Kein Wunder, sie liebte Vergnügungsparks. Dass sie fast sechshundert Kilometer Fahrt vor sich hatte, war ihr dabei ziemlich egal. Die Verrückte. »Viel Spaß«, erwiderte ich ein wenig lahm, immer noch in Gedanken an mein tatenloses Wochenende. Wie lange dauerte es denn noch, bis diese verdammte Stunde endlich vorbei war? Unfassbar, der gesamte Tag zog sich heute hin wie zäher Kaugummi. Wie ich es hasste, wenn die Zeit einfach nicht vergehen wollte. Das war Folter. »Was heißt denn hier ›Viel Spaß‹?«, wollte Tess schnaubend wissen. Ich warf ihr einen Blick zu und zuckte die Achseln. Was sollte ich sonst sagen? »Pass auf, dass du deiner Familie nicht verloren gehst« oder doch besser »Es würde mich nicht wundern, wenn die dich da ›vergessen‹ würden«? Über ersteres würde sie lachen, bei letzterem wäre ich nur noch ein Häufchen Dreck unter ihrem Fingernagel. Also doch besser die Klappe halten. »Du kommst natürlich mit!«, zischte Tess zu mir hinüber. Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Spucke, als sie das sagte. Fassungslos starrte ich sie an, innerlich vehement hoffend, dass sie nur einen Witz gemacht hatte. Ihre Familie war fünfköpfig und sie hatten auch nur ein fünfsitziges Auto, ich konnte unmöglich mitkommen. »Wie denn?«, zischte ich zurück. »Wollt ihr mich als Geisel im Kofferraum transportieren oder mich doch eher als Gepäck auf dem Dach festschnallen?« »Red doch keinen Blödsinn«, meinte Tess, während sie die Augen verdrehte. Dann warf sie mir einen Blick zu, als würde sie mit einem kleinen Kind reden. Sie war der Teufel. Ich hatte es schon immer gewusst. Aber ich hatte nicht vor, mich meines wunderbaren Wochenendes berauben zu lassen. »Ich fahre nicht mit meiner Familie. Ich fahre mit dir«, stellte sie schließlich bestimmend fest. »Was dachtest du denn?« »Wer sagt denn, dass ich mitkommen will?«, erwiderte ich bockig. Ich hatte keine Ahnung, welches Gen dafür verantwortlich war, dass Frauen dazu neigten, einfach über die Köpfe der Männer zu entscheiden. Aber Tess machte das gern. Manchmal störte es mich nicht. In diesem Fall aber schon. »Na komm schon«, sagte sie und schlug einen versöhnlichen Ton an. Sie legte ihre Hand auf meinen Unterarm. Oh nein, nicht diese Umwerfende-Augenaufschlag-und-du-kannst-mir-nicht-widerstehen-Nummer, die nur Mädchen konnten. Tess war Meisterin. Ein unschuldiges Lächeln legte sie auf ihr Gesicht, als sie mich mit großen Augen anschaute. »Wann haben wir das letzte Mal wirklich was zusammen unternommen?«, wollte sie wissen. »Ich meine, so richtig. Ohne Verpflichtungen gegenüber anderen, nur mit Verantwortung für uns selbst, niemand, der uns im Nacken sitzt … Das Auto hab ich übers Wochenende auch, Dad hat sogar gesagt, er würde den Treibstoff bezahlen. Komm schon, Grace. Denk mal darüber nach. Das wird bestimmt lustig! Du musst nicht mal Fahrkosten aufbringen. Ich fahre.« »Ja, das macht mir ja gerade Angst«, meinte ich trocken. Tess verzog den Mund zu einem Strich, aber verkniff sich dabei ein Grinsen. Sie holte aus und boxte mir ihre Faust mit erstaunliche viel Kraft in den Oberarm. »Au!« Das kam lauter als gewollt. Alle drehten sich zu uns um und starrten uns an. Ich sah den pikierten Blick von Mrs Brewster. »Mister Ethan, Miss Goodchild. Gibt es etwas Weltbewegendes, was sie uns allen vielleicht mitteilen möchten?«, fragte sie in ihrer dünnen, strengen Lehrerstimme. Mrs Brewster war Mitte vierzig, sah aber aus, als wäre sie dreimal so alt. Ihre Mundwinkel zeigten stets nach unten und ihr Mund sah immer so aus, als wäre er ein Strich; fast so, als hätte sie gar keine Lippen. Beängstigend. Aber ihre Augen … ihre Augen waren klar, lebendig und kraftvoll. Sie war eine gute Lehrerin, ich mochte sie. Ein wenig schrullig war sie schon und vielen war Mrs Brewster unsympathisch. Aber alles das minderte ihre Fähigkeiten nicht. »Theresa und ich haben uns soeben verlobt. Schläge sind ihre Art, ihre Freude auszudrücken«, sagte ich nickend, während ich Tess' Hand in meine nahm und sie in die Höhe hob. »Na ja … und sie wird natürlich jedem, der den riesigen Bluterguss auf meinem Arm sieht, erzählen, es sei ein Knutschfleck von ihr.« Tess riss scharlachrot anlaufend ihre Hand los. »Sie ist ein bisschen störrisch, Sie wissen ja …«, fügte ich an Mrs Brewster gerichtet hinzu und deutete auf Tess. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass meine beste Freundin rot im Gesicht war, sich aber fest auf die Unterlippe gebissen hatte, um nicht sofort in schallendes Gelächter auszubrechen. Auf Mrs Brewsters Gesicht zeigte sich ein angedeutetes Lächeln. Sie mochte mich, ich wusste es schon immer. »Nun, dann gratuliere ich Ihnen zu Ihrer Verlobung. Ich hoffe, Sie warten mit den Kindern bis Sie mit Ihrem Studium fertig sind. Mister Ethan, stellen Sie die Translation des RNA-Stranges bitte an der Tafel dar«, meinte sie. Ihre Augen zeigten leichtes Amüsement, als sie auf meine Spielerei einging. Sollten alle sagen, was sie wollten, aber Mrs Brewster war humorvoller als viele andere Lehrer. Für den Rest der Stunde pendelte Tess zwischen Klagen und Überredungskunst, bis ich schließlich damit einverstanden war, alle Verlobungsgerüchte öffentlich wieder zu revidieren und in den Park mitzukommen. »Also gut. Wann willst du losfahren?«, fragte ich, als wir gerade den Bioraum nach Ende der Stunde gemeinsam verließen. Sechshundert Kilometer Fahrt. Ich würde sterben. Ich hasste lange Autofahrten. »Um sechs, heute Abend«, meinte Tess. »Wir können bei meiner Oma übernachten. Sie stellt uns ihr Gästezimmer zur Verfügung. Das heißt, Kosten für die Unterkunft entfallen auch.« »Meinst du, du schaffst es, die ganzen sechshundert Kilometer durchzufahren? Es ist regnerisch draußen, außerdem Wochenende und es sind …« »Sechshundert Kilometer, ich weiß. Das ist kein Problem. Dion kommt ja mit, wir wechseln uns ab beim Fahren«, sagte sie. Tess ließ diesen kleinen, aber durchaus bedeutenden Fakt fallen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit und nicht mal der Rede wert. Ich blieb abrupt stehen und starrte sie an. Warum hatte sie mir das vorenthalten? Wer hatte davon gesprochen, dass wir beide schon lange nichts mehr zusammen unternommen hatten? Da war nie die Rede von einer dritten Person gewesen. Und jetzt das. Na wunderbar. Warum war ich eigentlich nicht selbst darauf gekommen, dass Dion selbstredend dabei sein würde? »Dion kommt mit?«, fragte ich stumpfsinnig. Tess drehte sich zu mir um und tat überrascht. »Sicher. Warum auch nicht?«, meinte sie. Ich hätte gern auf diese Frage geantwortet, auch wenn sie rhetorisch gemeint war, aber ich unterließ es. Streit mit Tess konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Es war wohl leichtsinnig gewesen, nur an Tess und mich zu denken, jetzt, wo Bambi und sie doch so ein inniges Verhältnis hatten. Sie schleifte ihn überall hin mit, wie einen lebensgroßen Teddybären — oder Rehkitz in dem Fall. Ich seufzte tief auf. Na schön. Bambi also auch. Die frustrierendeste Tatsache von allen war aber, dass ich der einzige in diesem Trio war, der nicht Auto fahren konnte. Ich meine … sogar Bambi hatte einen Führerschein. BAMBI! Verdammt, noch mal. Was für eine Erniedrigung. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich unter anderem damit, mich mental auf eine sechshundert Kilometer lange Fahrt mit Bambi auf engstem Raum vorzubereiten. Es wollte mir nicht so recht gelingen, was wohl daran lag, dass ich es ihm immer noch übel nahm, dass er einen Führerschein hatte und ich — scheiße, noch mal — nicht. Ich stopfte ein paar Sachen in meinen Rucksack, packte etwas zu trinken, Portemonnaie, Schlüssel und MP3-Player ein. Tess hatte gesagt, wir würden einen Zwischenhalt bei McDonald’s machen, um uns mit Essen einzudecken, deswegen nahm ich nichts zu essen mit. Kurz vor sechs stand das Auto vor meiner Haustür. Dion saß bereits drin, auf dem Beifahrersitz natürlich. Verfluchtes Rehkitz. Ich warf meinen Rucksack auf die Rückbank, setzte mich und schnallte mich an. Es war bereits dunkel draußen, es nieselte leicht und über die Fenster des Autos liefen Wasserschlieren von den Regentropfen. Aus den Boxen des Autos schallte Kanye Wests Stimme. »Das Navi sagt, dass wir acht Stunden fahren«, verkündete Tess heiter und ich wäre beinahe wieder ausgestiegen. Acht Stunden Autofahrt. Es gab nichts Schlimmeres. Seufzend strich ich mir durch die Haare, ließ mich ein wenig tiefer in den Sitz rutschen und lehnte den Kopf hinten an. Die Wiedergabe sprang von Kanye West auf The All-American Rejects um. »Warum sind wir nicht einfach geflogen?«, fragte ich jammernd. Tess startete den Motor und fuhr los. Ich hörte Dion leise lachen, meine beste Freundin hingegen stöhnte nur genervt auf. In diesem Moment wurde ich mir gewahr, dass Dion tatsächlich da vorn auf dem Sitz saß. Ich war froh, dass er mich nicht sehen konnte, immerhin saß ich direkt hinter ihm. »Nörgel’ nicht rum, du Jammerlappen. Du kannst ja die ganze Zeit pennen. Dion und ich müssen fahren, also lehn dich zurück und entspann dich«, meinte Tess kopfschüttelend. Brummelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust. Das konnte heiter werden. Ich war noch kein bisschen müde. Tess fuhr bei McDonald’s an den Drive-In und wir machten eine Großbestellung. Zumindest würden mich eine ordentliche Portion Pommes und mindestens fünf Cheeseburger erst einmal ruhigstellen. In der nächsten halbe Stunde knisterte, raschelte und klapperte es ununterbrochen im Auto, während wir Burger um Burger auspackten, nach Pommes angelten und die Eiswürfel der Getränke gegen die Behälter stießen. Wenn es etwas außer Volleyball gab, das mir einen Schuss gab, dann war es Fast Food. Nach dem sechsten Burger gab ich schließlich auf, rieb mir den Bauch und rülpste. Erst herrschte für einen Moment eisige Stille im Wagen, dann brachen Tess und Dion in Gelächter aus. Was folgte, war so abwegig, dass ich zuerst dachte, ich würde träumen: Wir veranstalteten einen Rülps-Wettbewerb. Um Himmels Willen! Dion rülpste! Das war so irrsinnig, dass allein der Gedanke an ein rülpsendes Bambi mich lachend auf die Matte geschickt hatte. Ich wusste nicht mehr, wer oder wie wir auf diese bekloppte Idee gekommen waren, aber wir machten aus dem Rülps-Wettbewerb ein Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel. Wer in einer Runde den armseligsten Rülpser von sich gab, war fällig. Die Aufgaben beliefen sich dabei nur auf Dinge, die sich innerhalb des Autos problemlos ausführen ließen. Und Intimfragen mieden wir ebenfalls. Aber es lief über Sich-Pommes-in-die-Nase-stecken, sagen, was an Tess’ Fahrstil absolut katastrophal war und ein Anruf bei dem Radiosender, den wir gerade hörten, und dem munteren Moderator etwas vorstöhnen. In der folgenden Runde versagte ich kläglich. »Schön«, sagte Tess heiter. »Wahrheit oder Pflicht?« »Pflicht«, erwiderte ich und fragte mich, was jetzt wohl kommen würde. Tess schwieg eine Weile, offenbar dachte sie darüber nach, was sie mich machen lassen könnte. Und dann erhellte sich ihr Gesicht — ich sah es im Rückspiegel — und sie grinste. »Umarme Dion«, forderte sie dann. Ich erstarrte und biss die Zähne zusammen. Tess warf mir einen Blick durch den Rückspiegel zu, um zu sehen, wie ich reagierte. Ärgerlich schaute ich ihr entgegen, sie hingegen schien sehr erheitert zu sein. Bevor ich protestieren oder mich herausreden konnte, sagte sie: »Veto gibt’s nicht.« Einerseits hätte ich Tess jetzt gerne aus dem Wagen geworfen — was dann aber auch geheißen hätte, ich wäre mindestens sieben Stunden allein mit Dion in einem Auto —, andererseits befand ich, dass umarmen keine Tragödie war, zumal wir keinen Ganzkörperkontakt haben würden. Er saß immerhin auf dem Beifahrersitz und ich dahinter. Ich seufzte kurz lautlos auf, rutschte auf den äußersten Rand der Rückbank und lehnte mich vor, um die Arme irgendwie um Sitz und Dion legen zu können. Ich ertastete mit den Fingern die Knöpfe seines Hemdes, der Stoff des Oberteils war glatt, aber weich und warm, der Rest darunter war fest. Es musste seine Brust sein, die ich da gerade unter den Händen hatte. Ich hatte das Kinn auf den Sitz vor mir gelegt, so hatte ich ein paar Haarsträhnen von Dion im Gesicht. Sie kitzelten auf meiner Haut. Er schien nicht zu atmen, jedenfalls konnte ich keine Bewegung in die Richtung ausmachen. Vielleicht hatte ich ja doch seinen Bauch, aber dann müsste der ziemlich weit oben sein … aber abgesehen davon wusste ich sicher, dass es seine Brust war. Ich konnte sein Herz unter meiner Hand schlagen spüren. Ein eigenartiges Gefühl überkam mich in diesem Moment, als ich seinen Herzschlag spürte. Ich fühlte mich, als würde ich etwas wie einen freien Fall erleben, ein Achterbahngefühl. Ich ließ ihn wieder los und erst da wurde mir bewusst, dass es totenstill im Auto gewesen war. Tess sah mich kurz durch den Spiegel an, ein gewisser Ausdruck lag in ihren Augen. Doch ich konnte ihn nicht deuten. Dann sah sie wieder auf die Straße vor sich. Für eine Weile blieb es weiterhin still, ich hatte mich zurückgelehnt und schaute teilnahmslos aus dem Fenster, hinter dem die Umgebung ein schwarzer Schleier war. Offenbar war die Umarmung der Endpunkt unseres Spiels gewesen. Tess eröffnete ein neues Gespräch und unterhielt sich mit Dion über die Lehrer unserer Schule, fragte ihn aus, wie es an seiner alten Schule in Peoria gewesen war. Klar, dass sie auch wusste, woher er kam. Ich beteiligte mich nicht an der Unterhaltung, sondern lehnte die Schläfe gegen die kühle Fensterscheibe, bevor ich die Augen schloss. Ich döste eine ganze Weile und merkte nur, wie das Auto einmal kurz hielt. Tess und Dion wechselten die Plätze, sodass Tess sich ausruhen konnte. Keine Ahnung, ob das ein Klischee war, aber Dion fuhr schneller als Tess. Nicht halsbrecherisch, aber … eben anders. Doch viel bekam ich davon nicht mit. Nach dem einen Blick auf den Tacho schloss ich die Augen wieder und war ziemlich schnell eingeschlafen. Tess weckte mich, als wir am Haus ihrer Oma in Memphis angekommen waren. Sie hatte einen Schlüssel, wir schlichen leise hinein. Wir mussten uns zu dritt das Zimmer teilen, aber das war kein Problem. Ich ließ mich auf die Luftmatratze fallen, so konnte Tess und Dion sich das Bett teilen. Proteste gab es keine und wenn doch — dann hatte ich schon geschlafen und nichts mehr mitbekommen. Der nächste Morgen kam zu schnell. Um acht holte Tess sowohl Dion als auch mich aus dem Bett. Nicht, dass ich schlecht geschlafen hatte, es hätte ruhig noch länger sein können … Dion sah aus, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Seine Haare wirkten wir ein durchpflügter Heuhaufen. Er sah nicht minder verschlafen aus als ich wahrscheinlich. Ich gähnte herzhaft, dann hievte ich mich von dieser absolut göttlichen Luftmatratze hoch. Da ich mich nicht umgezogen hatte, bevor ich eingeschlafen war, befand ich mich noch in voller Montur. Aus meinem Rucksack holte ich mir frische Sachen und verschwand im Bad, um mich zu waschen und umzuziehen. Dion ging nach mir rein. Beim Frühstück unterhielten wir uns mit Tess’ Oma, die auch wach war. Sie hatte uns etwas zu essen vorbereitet und sie war so, wie eine typische Oma eben ist. Tess verdrehte die Augen, als ihre Großmutter fragte, ob sie denn auch genug aß. Ich grinste stumm vor mich hin, Dion sah ebenfalls amüsiert aus. Nach dem Essen machten wir uns direkt auf den Weg. Der Park lag ein wenig abseits von Memphis, aber die Fahrt dauerte nicht lange. Es war noch relativ leer, als wir ankamen, Tess schnappte sich einen nah gelegenen Parkplatz. Schon von Weitem hatte ich das Gerüst der berüchtigten Achterbahn gesehen. Es war Schicksalsbeschluss, dass ich dieses Teil ausprobieren würde. Wir liefen durch den Park, machten alles Mögliche, was uns vor die Nasen kam und ließen sogar unsere Gesichter bemalen. Keine Ahnung, wann ich so etwas das letzte Mal hatte machen lassen. Aber es war tatsächlich Spaß. Der Park füllte sich zunehmend und bei einigen Attraktionen mussten wir teilweise anstehen. Wir stopften haufenweise Zuckerwatte in uns hinein, aßen gebratene Mandeln und tonnenweise Fast Food. Zusammen besuchten wir ein Gruselkabinett. Ein echtes, eins mit Schauspielern und nicht irgendwelchen bescheuerten Plastikpuppen. Tess klammerte sich an mich wie eine Klette, als wir hindurchgingen. Sie kreischte immer wieder, wenn einer der Schauspieler aus heiterem Himmel irgendwo auftauchte. Dion ging dicht neben mir. Ich erschreckte mich einige Male ebenfalls, klar. So ohne war dieses Spukkabniett nicht. Als wir schließlich wieder draußen waren, lachten wir uns halbtot, weil wir uns zum Teil sogar bei Nichtigkeiten erschrocken hatten. Der Tag ging viel zu schnell rum. Tess erklärte, dass der Park nur bis neunzehn Uhr geöffnet hatte, in der letzten Phase der Herbstsaison. Es war schon dunkel draußen, die Laternen waren an und beleuchteten die Umgebung des Parks. Hier war immer noch einiges los. Leute, die ohne Kinder da waren, blieben bis zum Schluss. Eigentlich hatten wir uns wieder Richtung Ausgang begeben, als wir an der Achterbahn vorbeigingen. Sie ragte hoch über unsere Köpfe, als wir das Gerüst gerade passierten. Eine Waggonkette rauschte ratternd das Gleis hinab, aufgeregtes, begeistertes und zum Teil verängstigtes Gekreische war zu hören. Ich hob den Blick, versuchte zu schätzen, wie viele Meter es bis zu dem höchsten Punkt waren. Der Abgang in geschätzten sechzig bis fünfundsiebzig Grad abwärts. Fast senkrecht bis wenige Meter über den Boden und wieder ein Stück hinauf, bevor es in eine scharf schräge Kurve ging. »Oh nein!«, sagte Tess, als sie meinen Blick sah. Sie wusste, dass ich unbedingt eine Fahrt in diesem Monstrum wollte. Tess konnte nicht nachvollziehen, warum ich mich freiwillig in so ein Ding setzte; sie hasste solche hohen, schnellen, atemlosen Achterbahnen. Ich dafür stieg in jede. Sie sah mich an und ich grinste. »Du kannst ja hier warten. Ich gehe mit Dion«, meinte ich, schnappte mir seinen Arm und schleifte in mit mir zum Eingang. Es war nicht mehr so viel los, wir mussten kurz anstehen, bekamen dafür aber die Plätze an der Schnauze der Waggons. Ganz vorne. Erste Reihe. Besser hätte es gar nicht sein können. Dion war die gesamte Zeit verschwiegen gewesen. Vermutlich zerbrach Bambi sich gerade den Kopf darüber, wie es dazu gekommen war, dass ich Körperkontakt aufgebaut hatte — freiwillig — und —freiwillig — diese Achterbahnfahrt mit ihm machte. Wir standen vor der Absperrung, bis diese Drehdinger freigegeben wurden und wir uns in den Waggon setzen konnten. Ich ließ Dion durchgehen, dann folgte ich. Mein Herz schlug mir vor Aufregung bis zum Hals. Ich konnte beinahe fühlen, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. Hastig warf ich einen Blick über die Schulter. Die Kette war restlos ausgefüllt mit Fahrern. Die Halterungen, die uns in den Sitzen halten sollten, rasteten ein, es folgte eine kurze Pause. Ich starrte die kleine Ampel vor uns an, die von rot auf grün umsprang. Die Waggons setzten sich ratternd in Bewegung und wurden langsam die Rampe hinaufgezogen. Ich schätzte die Höhe auf etwa vierzig bis fünfzig Meter. Euphorie erfasste mich, ich lehnte den Kopf breit grinsend nach hinten, dann drehte ich mich um, um nach Dion zu schauen. Und das traf mich wie ein Schlag. Dion sah alles andere als begeistert aus. Er war kreidebleich, hatte die Hände so fest in die Halterung gekrallt, dass seine Knöchel weiß hervortraten und die Lippen so hart zusammen gepresst, dass sein Mund nur noch ein Strich war. Seine Augen waren fest verschlossen und er versuchte offensichtlich gleichmäßig zu atmen. »Hey!«, sagte ich erschrocken. »Was ist los?« Dion öffnete die Augen und schaute mich an wie ein verschrecktes Rehkitz. »Ich hab Höhenangst«, sagte er mit dünner Stimme. Er sah mich an, offenbar gab er sich allergrößte Mühe, sich nicht umzusehen. Mir sackte das Herz in die Hose. Ich fühlte mich auf einmal schuldig, aber ich merkte, wie meine Schutzschilder ausfuhren, als ich Mitleid für ihn empfinden wollte. Wir sahen einander an. Die Waggons hatten etwa die Hälfte des Weges hinauf geschafft. »Wieso hast mir das nicht gesagt?«, zischte ich. Dieser Trottel. »Ich wollte dir den Spaß nicht verderben«, erwiderte Bambi zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er atmete gehetzt mittlerweile. Pf. »Ich wäre auch allein gegangen, du Idiot. Glaubst du, ich hätte dich gezwungen, mitzukommen?«, entgegnete ich. Dieser Samariter. Was hatte er sich dabei gedacht? Tess hatte zwar keine Höhenangst, sie hatte im Allgemeinen etwas gegen so hohe und bahnbrechende Achterbahnen. Herrlich. Ich hatte jetzt also ein verschrecktes Rehkitz neben mir, dass kurz vor einem Kollaps stand und wohl davor, mich vollzukotzen … Regel Nummer zweiundzwanzig: Du bist nur für dich selbst verantwortlich. Eigentlich … Wir waren fast am höchsten Punkt angekommen. Ich liebte diese Stelle, wenn man noch kurz da oben schwebte und nach unten schauen konnte, bevor die Waggons losgelassen wurden und hinabrauschten. Mit Dion neben mir sah das aber ganz anders aus. Ein Teil in mir wollte sich dieses berauschende Gefühl aber nicht von ihm verderben lassen. »Schließ die Augen«, sagte ich schließlich. »Augen zu und durch. Es ist schnell wieder vorbei.« Dion hatte die Augen wieder geschlossen, doch gerade, als wir oben ankamen, kurz in der Luft verweilten, öffnete er sie wieder und starrte in die Tiefe. Wenn er noch bleicher werden konnte, dann wurde er es jetzt. Seine Augen waren riesig. Es war still um uns herum, alle Gespräche, die bis zu diesem Punkt noch hinter uns zu vernehmen gewesen waren, waren verstummt. Ich hörte das leise Klicken, als es losging. Die Waggons stürzten in die Tiefe, ich presste mich in den Sitz und trotz dem verstörten Bambi kam ich nicht umhin, loszulachen, als ich wieder dieses euphorische Gefühl vernahm. Die Abfahrt dauerte allerhöchstens zehn Sekunden, doch die Geschwindigkeit blieb ungebremst. Wir rauschten durch die Kurve, auf und ab, durch ein Looping und wieder eine scharfe Schrägkurve. Ich lachte die ganze Zeit, etwas anderes konnte ich gar nichts. Dieses Gefühl war einmalig. Ich liebte es. Die Fahrt war für meinen Geschmack viel zu schnell wieder vorbei. Als die Waggons wieder im Halteplatz einfuhren, drehte ich mich wieder zu Dion um. Er sah aus wie ein Zombie. Weiße Haut, gigantische Augen und ausdruckslos wie eh und je. Er hatte die Augen also doch nicht zugemacht. Ich seufzte. Selbst Schuld. Warum hatte er nichts gesagt? Warum hatte ich ihn überhaupt mitgenommen? Vermutlich würde er jetzt für den Rest seines Lebens einen Knacks weghaben. Wie automatisch stieg er aus dem Waggon, nachdem die Halterung sich gelöst hatte. Wackelig stiefelte er zum Ausgang und mir schien, als würde er erst draußen wieder zum ersten Mal Luft holen. Hatte er überhaupt während der Fahrt geatmet …? Nicht, dass er jetzt einen Hirnschaden hatte oder so. Tess sah erschrocken aus, als sie uns zurückkommen sah. Ich glaube, sie hätte mich in diesem Moment gerne verdroschen, als sie sah, wie verstört Dion aussah. Sie legte einen Arm um seine Schulter. »Alles okay?«, fragte sie ihn besorgt. Bambi nickte kurz, fragte nach Wasser und bekam es prompt. So was wollte ich auch. Ich beschloss, es direkt zu versuchen. »Wasser?« »In deiner Tasche ist noch eine Fl— WAS HAST DU MIT IHM GEMACHT, DU VOLLTROTTEL? ER SIEHT AUS WIE EINE LEICHE!« Es war mir immer noch ein Wunder, wie Tess von ruhig auf Furie umschalten konnte und das in einem Atemzug. Sie machte mir in diesem sogar mehr Angst als alles in diesem Horrorkabinett von vorhin. »Er hat Höhenangst! Woher hätte ich das wissen sollen? Er hat ja auch nichts gesagt, weil er den Helden spielen wollte!«, verteidigte ich mich trotzig. Ja, Tess, hätte mich gerne kalt gemacht in diesem Moment. Warum wurde Bambi immer von ihr verteidigt? Was konnte ich denn jetzt für seine missliche Lage? Tse. Dion bekam allerdings schnell wieder Farbe. Er erholte sich erstaunlich schnell und spätestens, als wir wieder im Auto saßen, ging es ihm wieder gut. Die Sache mit der Achterbahn war damit erledigt. Während wir in die Innenstadt von Memphis fuhren, dachte ich darüber nach, warum Dion nicht einfach gesagt hatte, dass er Höhenangst hatte. Aus Stolz? Blödsinn. Ich lachte doch niemanden wegen seiner Ängste aus. Aber gut, das konnte er nicht wissen. Wir hatten beschlossen, noch heute wieder nach Hause zu fahren, weil wir alle noch etwas für die Schule machen mussten. Aber wir wollten die Zeit noch etwas nutzen, um uns Memphis anzusehen. Deswegen verbrachten wir den Rest des Abends in der Stadt, aßen etwas, bummelten durch die Gegend und beobachteten die Leute. Tess kaufte kleine Souvenirs für ihre Brüder und Dion besuchte einen kleinen Schmuckladen, der handgefertigten Schmuck anbot, um seiner Mutter ein Paar Ohrringe zu kaufen. Tess’ Oma hatten wir schon heute Morgen Bescheid gesagt, sie wusste also, dass wir nicht noch mal zurückkommen würden. Gegen Mitternacht stiegen wir wieder ins Auto. Diesmal fuhr Dion zuerst. Heute war ich viel zu platt, um mich noch groß an einem Rülpswettbewerb beteiligen zu können. Matt hing ich auf der Rückbank und zählte die Laternen, die an mir vorbei flogen. Ich hatte mich auf der Rückbank ausgebreitet und meine Füße hochgelegt. Die taten reichlich weh nach diesem schrittreichen Tag heute. Ich versuchte wach zu bleiben, doch das hielt nur, bis ich mich wieder einigermaßen bequem hingesetzte und den Kopf hinten angelehnt hatte. Danach war ich sofort weg und schlief. Als ich das nächste Mal aufwachte, stand das Auto und draußen am Horizont war ein schmaler Streifen blaugrauen Lichts, das den Morgen ankündigte. Tau hatte sich auf den Scheiben des Wagens gebildet. Es war still, nur tiefe, gleichmäßige Atemzüge waren zu hören. Ich saß in der Mitte der Rückbank, halb liegend, halb sitzend. Links neben mir Tess, tief schlafend. Sie hatte ihren Kopf auf meine Schulter gelegt und mein Kinn lag an ihrer Stirn. Rechts neben mir saß Dion, ebenfalls im Tiefschlaf und seinen Kopf ebenfalls auf meiner Schulter. Sein Mund stand ein kleines Stück offen. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Es mir auch ziemlich egal, ich war immer noch ziemlich müde. Ich lehnte den Kopf wieder an Tess’, schloss die Augen und driftete, mit einem Lächeln an die Erinnerungen an den vergangenen Tag auf den Lippen, wieder ab. ___ tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)