Your Smile von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 7: Home --------------- HOME Es war düster draußen, als ich vom Krankenhaus nach Hause kam. Tess war heute entlassen worden und als sie mit Julie Heim gefahren war, ging ich ebenfalls. Die Wolken ballten sich am Himmel zu einer dunklen Front zusammen. Es war kalt. Dass der Herbst da war, war nun unmissverständlich klar. Jedes Jahr zu dieser Zeit fiel ich in ein Loch von Deprimiertheit; es machte mich krank zu sehen, wenn die Bäume kahl wurden und die Tage trüb. Ich sehnte den Frühling herbei. Und jedes Mal kam ich mir vor wie eine Mimose. Während ich die Straße entlang ging, kramte ich in meiner Tasche herum, auf der Suche nach meinem MP3-Player, der dort irgendwo drin liegen musste. Abgesehen davon, dass ich kein Fan davon war, überall zu Fuß hinzugehen, hasste ich es, wenn ich dabei nicht zumindest Musik hören konnte. Gerade war es der Fall, denn der Player war unauffindbar. Ich dachte darüber nach, ob ich ihn bei Tess vergessen hatte, aber da hatte ich ihn nicht mal in der Hand gehabt. Und heute Morgen …? Es fiel mir nicht ein. Vermutlich lag er irgendwo zu Hause rum. Gefrustet seufzte ich auf. Scheiß Wetter, Nachhauseweg ohne Musikbegleitung und auch noch eine bekloppte Hausaufgabe. Unsere Englischlehrerin verlangte einen Aufsatz über Familie von uns. Wunderbar. Damit war ich jedenfalls ausgelastet. Ich hasste Aufsätze. Als ich zu Hause war, drehte ich die Heizung auf. Es war recht kühl. Danach durchwühlte ich den Kühlschrank und beschloss im Endeffekt, Milchreis zu kochen. Ich hatte Mordshunger und Milchreis hatte ich schon lange nicht mehr. Nachdem ich aus dem Kühlschrank eine Packung Milch geholt hatte, zog ich eine Schublade auf und griff nach dem Reis. Ich goss die Milch in einen Topf und wollte die leere Verpackung wegschmeißen. Dabei musste ich zu meinem Verdruss feststellen, dass der Mülleimer mal wieder voll war. Seufzend stopfte ich die Verpackung hinein, zog die Tüte aus dem Eimer und band sie zu, bevor ich damit in den Flur ging, in meine Schuhe schlüpfte und die Tür öffnete. Mir fiel der Müll fast aus der Hand, als ich Dion vor mir stehen sah. Er sah sehr überrascht aus und peinlich berührt. Seine Hand war an der Klingel. Wir starrten uns gegenseitig für eine kleine Weile sprachlos an, beide stumm vor Überraschung, bis er schließlich langsam die Hand sinken ließ und sich räusperte. Was machte er denn hier? Und noch schlimmer: Woher, verdammte Scheiße, wusste er, wo ich wohnte? »Was machst du denn hier?«, fragte ich dann. Dion sah mich kurz an, wich dann aber meinem Blick aus und sah an mir vorbei in die Wohnung. Ich trat einen Schritt nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. Er schien mir nicht antworten zu wollen. Da ich weder Lust noch Zeit noch den Willen hatte, Wurzeln vor der Tür zu schlagen und übermäßig Keime an den Händen zu bekommen, ging ich an ihm vorbei, um den Müll wegzubringen. Bambi erwachte aus seiner Trance und folgte mir wie ein zahmes Tier. Ich verdrehte innerlich die Augen. Er antwortete immer noch nicht. Hatte wohl vergessen, wie man sprach. Na ja, das war nicht das erste Mal. Erst, als ich den Müll weggebracht hatte und an der Haustür stand, schien Bambi wieder eingefallen zu sein, wie man seine Stimme benutzte. Er räusperte sich wieder, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich tat ihm den Gefallen, drehte mich zu ihm um und sah ihn erwartungsvoll an. Er kramte in seiner Tasche und beförderte meinen MP3-Player zu Tage, den er mir reichte. »Du hast ihn in der Schule auf dem Tisch liegen lassen. Ich dachte, ich bring ihn dir vorbei, bevor du denkst, du hast ihn verloren oder so …«, murmelte er und hielt mir immer noch seinen ausgestreckten Arm mit dem Player entgegen. Ich sah zwischen ihm und dem Stück Technik hin und her, ehe ich zögernd danach griff. »Danke …«, sagte ich und versuchte mich zu erinnern, wie ich es um alles in der Welt fertig gebracht hatte, eines meiner heiligsten Stücke einfach irgendwo liegen zu lassen. Diese Überlegung führte mich zu dem Gedanken, dass ich Bambi wohl was schuldig war, immerhin hatte er sich die Mühe gemacht, ihn extra zu mir nach Hause zu bringen und nichts zu warten, bis wir uns am Montag wieder in der Schule sahen. Draußen begann es in Strömen zu regnen und die Straßen waren binnen weniger Sekunden überschwemmt mit kleineren und größeren Pfützen, die sich schnell zu kleinen Seen entwickelten. Das Trommeln der unzähligen Tropfen hallte dumpf vom Asphalt wider. Die Straße schien in ständiger Bewegung zu sein, wie eine optische Täuschung dadurch, dass die Tropfen so unmittelbar nacheinander auf die Schicht Wasser trafen. Dion sah recht leidig aus, als er sich umsah. Durch den kleinen Vorsprung waren wir beide größtenteils geschützt, aber ich fühlte das feine Sprühwasser, das der Wind trug, auf meinem Gesicht. Ich öffnete die Haustür und machte einen Schritt hinein. Dion stand immer noch an Ort und Stelle, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er gehen oder bleiben sollte. Nur langsam dämmerte mir, warum er immer noch da war: Offenbar hatte er keinen Schirm bei sich und wenn er jetzt in den Regen trat, dann würde er innerhalb weniger Moment wie ein nasses Rehkitz aussehen. Ich hatte keine Ahnung, welche Art geistiger Umnachtung mich in dem Moment ergriff. »Willst du … mit raufkommen …?« Dions Gesichtsausdruck glitt von Überraschung hinüber zu Unsicherheit und Erleichterung. Er nickte schließlich nur, dann folgte er mir in den Hausflur und wir gingen gemeinsam die Stufen hinauf. Wir schwiegen wieder beide und ich sah mein Angebot als Ausgleich dafür, dass er mir den MP3-Player gebracht hatte. Hoffentlich ging er auch davon aus, nicht, dass er noch annahm, ich würde das aus Überzeugung tun. Ich öffnete die Wohnungstür, ließ ihn zuerst hineingehen und folgte dann. Bambi stand ein wenig verloren in meinem Flur und sah mich mit großen, runden Augen an, als würde er nicht wissen, was er jetzt tun sollte. Warum in aller Welt führte er sich auf wie ein Kind? Wie Bambi, als er über einen vereisten See rutschte. Vielleicht war ich nicht ganz unschuldig daran. Konnte es sein, dass es ihn verwirrte, dass ich in den letzten Tagen zeitweise freundlich zu ihm gewesen war? Dass ich ihm anbot, ihm Nachhilfe zu geben und ihn jetzt auch auf einmal zu mir einlud, schien etwas wie ein Weltwunder für ihn zu sein. Wann würde Bambi nur erwachsen werden …? »Soll ich dir beim Ausziehen helfen?«, fragte ich ihn mit gerunzelter Stirn, während er hilflos dastand. Dion starrte mich wie eine Erscheinung an. Erst wurde er blass und dann schoss ihm in Rekordschnelle Röte ins Gesicht. Er wirkte verstört, verunsichert, ungläubig, fassungslos. Alles auf einmal. Verständnislos sah ich ihm entgegen und versuchte, diese Reaktion zu deuten und zu verstehen. Doch als Dion meinem Blick auswich, dämmerte mir, was los war. Er hatte meinen Sarkasmus wohl mal wieder ernst genommen. Er dachte vermutlich, dass ich es ernst gemeint hatte — zumindest bis jetzt. Jetzt schien er begriffen zu haben, dass ich ihn wieder aufzog; er hatte den Blick gesenkt. Es war ihm peinlich. Zugegeben, ich sah in vielen Worten Zweideutigkeit und benutzte sie teilweise auch selbst — aber in dieser Frage hatte nichts davon gesteckt. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass Bambi diese Zweideutig erkannt hatte — allerdings den versauten Teil und nicht den, den ich gemeint hatte. Wunder, oh, Wunder, Bambi hatte schweinische Gedanken. So jung und schon so verdorben. Lag das an mir? Betretenes Schweigen trat ein, während Dion stumm zu Boden starrte. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte und ich wusste auch nicht, wer von uns beiden denn jetzt eigentlich ins Fettnäpfchen getreten war. Vielleicht wir beide. Keine Ahnung. Ich stemmte eine Hand in die Hüfte, mit der anderen fuhr mir durch den Nacken. Irgendetwas hinderte mich einfach daran, einer peinlichen Situation mit Bambi aus dem Weg zu gehen, wenn wir beide allein waren. Warum war Tess nicht hier, um ihn aufzufangen? Um zu schlichten und diese peinliche Stille wieder umzulenken. Sie wusste, wie man mit einem unerfahrenen Rehkitz umgehen musste, um ihn nicht zu verunsichern. Ich wusste es nicht. Verdammt. Was machte er denn auch hier …? Egal, er war da und er war noch keine fünf Minuten hier drin. Eigentlich hätte ich ihn gern wieder rausgeworfen, aber vermutlich würde er draußen im Regen über seine eigenen Füße stolpern, hinfallen und in irgendeiner Pfütze ertrinken. Das Risiko wollte ich nicht eingehen. Nachher galt ich als Verdächtiger an seinem Tod, weil ich der Letzte war, der Dion lebend gesehen hatte. Pf. »Nein«, murmelte Dion schließlich so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er überhaupt gesprochen hatte. »Du musst mir nicht helfen … mich … auszuziehen …« Das wiederum traf mich wie ein Schlag. Vielleicht war ich einfach nur wahnsinnig bekloppt, dass ich da etwas heraushörte. Bambi klang so verschämt, dass er mir fast leid tat. Ich starrte ihn sprachlos an, während mir seine Worte wie ein geisterhaftes Echo durch den Kopf hallten. Warum hatte er ›musste‹ gesagt? Das klang fast so, als … als … Ach, verdammt, das war doch absurd. Ich war einfach nur bekloppt und der durch und durch männliche Teil meines Hirn schien sich mal wieder im ausgeprägten Maße angesprochen zu fühlen. Was im Endeffekt die Folge hatte, dass ich für einen winzigen Moment ein gewisses Bild vor Augen hatte. Nämlich, wie ich Bambi tatsächlich dabei half, sich auszuziehen … sich komplett auszuziehen. Jetzt hätte ich mich gern in einer Pfütze ertränkt. Das verlangte eindeutig nach Tess’ weiblichem Feingefühl, aber sie war eben erst aus dem Krankenhaus entlassen worden, draußen schüttete es wie aus Eimern. Ich konnte nicht verlangen, dass sie jetzt hier auftauchte, um Bambi und mich aus unserer selbstverschuldeten, misslichen Lage zu befreien. Immerhin waren wie Kerle … wir würden das irgendwie selbst auf die Reihe bekommen. Eben einfach mit männlichem … mit unseren Methoden. Ich räusperte mich schließlich, straffte kurz die Schultern und stakste an Dion vorbei in die Küche. Schnell wusch ich mir die Hände über der Spüle. Der Topf mit der Milch fiel mir ins Auge, den ich auf dem Herd abgestellt hatte, bevor ich mich dazu aufgemacht hatte, den Müll rauszubringen. Ich schaltete die nötige Platte ein und lauschte auf die Geräusche, die Dion im Flur verursachte, als er sich auszog. »Willst du auch Milchreis?«, fragte ich ihn, als er zögerlich auf der Schwelle zur Küche erschien. Er schaute vom Topf zu mir und sah aus, als hätte er mir nicht zugetraut, dass ich kochen konnte. Aber dann nickte er kurz, blieb sonst allerdings unbewegt auf der Schwelle stehen. »Hat Tess dir meine Adresse gegeben?«, wollte ich mit einem Seitenblick auf ihn wissen. Wieder nickte er kurz, als wäre er nicht zu mehr fähig. Irgendwas Seltsames lag in seinen Rehaugen, während er mir dabei zusah, wie ich kurz in der Milch rührte. Seine Lider flackerten kurz, dann schaute er mir ins Gesicht. Es blieb eine Weile still, in der ich den Reis in die Milch gab und rührte. Dion schien sich nicht zu trauen, in die Küche zu kommen und sich an den Tisch zu setzen. Die ganze Zeit stand er an den Rahmen gelehnt. »Sind deine Eltern gar nicht da?«, erkundigte er sich. Es klang, als würde er angestrengt versuchen, einen Plauderton einzuschlagen. Ich hob den Blick, um ihn anzusehen. Wieder wirkte er unsicher, rollte die Lippen übereinander und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Nein«, antwortete ich steif. Dion hatte offenbar bemerkt, dass ich nicht mehr dazu sagen wollte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er sich kurz umschaute, einen Blick über die Schulter in den Flur warf. Er hatte außer dem Flur und der Küche noch nichts von der Wohnung gesehen, aber vermutlich war ihm schon aufgefallen, dass es nicht danach aussah, als würden drei Leute hier wohnen; dass die Wohnung auf nur eine Person ausgerichtet war. »Hast du Geschwister?« Offenbar wollte er unbedingt Small Talk halten. Ohne aufzusehen verneinte ich seine Frage. Ich hatte keine Geschwister. Zumindest keine, von denen ich wusste. Und im Grunde wollte ich auch keine haben. Und ich auch nichts von irgendwelchen eventuellen Brüdern oder Schwestern oder was auch immer wissen. »Ich auch nicht.« »Ich weiß.« Schlaumeier. Ich war schon bei ihm zu Hause gewesen und es wäre mir sicherlich aufgefallen, wenn er Geschwister gehabt hätte. »Woher?« Ich rollte die Augen, bevor ich Bambi ansah. Diese naive Frage konnte wirklich nur von ihm kommen. Es überraschte mich, dass er ziemlich selbstbewusst aussah, als ich ihn anschaute. Offensichtlich schien er die Frage für berechtigt zu halten. »Ich war bei dir zu Hause, schon vergessen? Es wäre wohl aufgefallen, wenn du Geschwister hättest.« »Und was, wenn ich eine ältere Schwester oder Bruder hätte, die gar nicht mehr zu Hause wohnen würden? Oder kleinere Geschwister, die noch irgendwo zur AG waren oder Ähnliches? Meine Eltern hast du auch nicht gesehen und trotzdem lebe ich mit ihnen in dem Haus.« Verblüfft schaute ich Bambi an. Das war eine schlüssige Argumentation, die er da geführt hatte, mit einem Anflug von unerwarteter Selbstsicherheit, die ich bei ihm — mir gegenüber zumindest — noch nie erlebt hatte. Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass er Recht mit dem hatte, was er mir soeben erklärt hatte. Irgendetwas hatte mir einfach das Gefühl gegeben, dass er genauso ein Einzelkind war wie ich. Seine kleine Ansprache ließ mich für einen Moment sprachlos. Dann wandte ich mich dem Milchreis zu, rührte und schaltete dann die Herdplatte wieder ab, bevor ich den Topf auf eine unbeheizte Stelle stellte. »Zimt oder Kirschen?«, fragte ich, während ich zwei Teller hervorholte und Löffel aus der Schublade nahm. Ich stellte das Geschirr auf den Tisch, dann holte ich einen Untersetzer, legte ihn zwischen die Teller und setzte den Topf darauf ab. Danach holte ich eine kleine Schöpfkelle. Zögernd setzte Dion sich endlich in Bewegung und trat einen Schritt in die Küche. Er war glücklicherweise nicht mit dem Rahmen verwachsen, wie ich zunächst befürchtet hatte. Eine Sorge weniger, wunderbar. »Kirschen«, sagte er dann langsam. »Heiß oder kalt?« Er schien sich nicht entscheiden zu können. Fast ging ich davon aus, er würde mir irgendwelchen Aufwand ersparen wollen, als er auf kalt bestand. Schulterzuckend holte ich eine Tüte gefrorener Kirschen aus der Kühltruhe und schnitt sie auf. Ich warf Dion einen kurzen Blick zu. Er sah ein wenig leidig aus, als er mir dabei zuschaute, wie ich einen Teil Kirschen in eine kleine Schale kippte. »Doch heiß?«, fragte ich. »Ja«, gestand er kleinlaut. »Wusste ich’s doch«, meinte ich leise. Dann stellte ich die Schale in die Mikrowelle und machte diese an. Während die Kirschen aufgewärmt wurden, suchte ich mir meinen Zimt und Zucker zusammen, stellte ihn auf dem Tisch ab und lehnte mich an die Anrichte, während ich darauf wartete, dass die Mikrowelle ihren Dienst abschloss. Als ich die Schale herausholte, dampften die Kirschen ein wenig. Ihr Saft war ausgelaufen. Ich stellte sie vor Dion auf dem Tisch ab, dann setzte ich mich ihm gegenüber auf den Stuhl und ließ mir von Bambi seinen Teller geben, um Reis aufzufüllen. Während wir — im Schweigen, wie so oft — aßen, dachte ich darüber nach, dass ich erst kürzlich fluchtartig das Weite gesucht hatte, um nicht bei Dion, einem mir so gut wie Fremden, essen zu müssen, und jetzt saß genau er bei mir und aß. Das erschien widersprüchlich, sogar mir gegenüber. Dion starrte konzentriert seinen Teller an. Ich befürchtete, er würde wieder mal Telepathie mit Nahrung versuchen, aber dann hob er den Blick und wir sahen einander kurz an. »Wo hast du eigentlich vorher gelebt?«, fragte ich ihn in einem Anflug von Neugier und dem dümmlichen Bestreben, seinen fremden Status mir gegenüber etwas aufzulösen. Dion sah genauso perplex aus, wie kurz zuvor, als ich ihn gefragt hatte, ob er mit mir hochkommen wollte. Er hielt mitten in der Bewegung inne und zugegebenermaßen sah er doch witzig aus, wie er dasaß und mich verwirrt anschaute; den Mund geöffnet, der Löffel auf dem Weg zu den Lippen und den Arm halb gehoben. Langsam ließ er den Löffel wieder sinken und klappte hastig den Mund zu. »Peoria«, antwortete er schließlich. Peoria, dachte ich und wühlte in meinem Hirn nach meinen spärlichen geografischen Kenntnissen. Der Name sagte mir was, ich hatte ihn schon mal gehört, aber ich wusste die Stadt nicht einzuordnen. Weder klimatisch noch geografisch noch sonst irgendwie. »Illinois«, erklärte Dion mir fachkundig, bevor er sich den nächsten Löffel Milchreis in den Mund schob. »Nicht sehr weit weg von Chicago.« Ich nickte. Chicago konnte ich zumindest einordnen. Das war mir noch geblieben von Geografie. Herrlich. Während ich in meinem Milchreis rührte, hoffte ich darauf, dass Bambi von sich aus erzählen würde, so wie er es im McDonald’s getan hatte. Ich wollte ihm nicht alles aus der Nase ziehen, schon gar nicht wollte ich heucheln. Er sollte einfach reden, das konnte er sonst so gut. Es erschien mir, wie ein verzweifelter Versuch meinerseits, ihn irgendwie besser kennenzulernen. Warum auch immer. Das Wetter schien sich auf unübliche Weise auf mich auszuwirken … Aber er sprach nicht weiter. Ich seufzte innerlich. Eigentlich wollte ich ihn nicht ausfragen. Ich wollte, dass er von sich aus erzählte. Seit ich neulich sein Haus verlassen hatte, fragte ich mich schon, was wohl seine Vergangenheit war. Es war nicht so, dass es mich nachts wach hielt, es war einfach Neugier. Und es war das erste Mal, dass mich die Vorgeschichte eines Neuen interessierte. Dieses Interesse hatte sich erst geregt, als ich die Fotos in Bambis Zimmer gesehen hatte, die eine so andere Persönlichkeit zeigten als die, die er jetzt zu haben schien. »Und warum seid ihr umgezogen?«, fragte ich dann doch. Dion schien die Frage wieder unvorbereitet getroffen zu haben, aber er sah nicht mehr ganz so verwirrt aus, wie bei den ersten beiden Malen. Dann zuckte er gleichgültig die Schultern. Er rührte mit der Löffelspitze in dem Reis und ein Strudel aus weiß und rot bildete sich darin. »Meine Eltern haben dieselbe Berufsrichtung und wurden versetzt. Sie haben sich darüber gefreut, weil sie sowieso geplant hatten, umzuziehen. Da kam es ihnen recht, so mussten sie sich nicht nach neuen Jobs umsehen«, erwiderte Dion. Er klang recht eindruckslos, aber ein frustrierter Unterton lag dennoch in seiner Stimme. Klar. Warum auch nicht? Immerhin hatte er seine Freunde in Peoria gehabt und war gezwungen gewesen, sie alle hinter sich zu lassen. Das war nicht einfach. Ich wusste das. »Vermisst du dein altes Zuhause?« Ich hatte keine Ahnung, welche Art sentimentaler Stimmung mich ergriffen hatte, dass ich danach fragte. Ich kam mir vor wie ein kitschiges Mädchen, wie in irgendwelchen Soaps und Filmen, die dem traurigen Kerl tröstend eine Hand auf den Arm legte. Bambi schaute mich an. So, wie es wirkte, dachte er über die Frage nach. Eine Weile verging, in der er mir nicht antwortete. Er schien tief in Gedanken, noch immer rührte er in seinem Reis, als würde er hoffen, daraus eine Antwort herauslesen können. Seine Miene war unbewegt. »Mein Zuhause ist dort, wo meine Freunde sind«, antwortete Bambi schließlich mit so ruhiger und ernster Stimme, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Sonst war er immer in seinem Sonnenschein-Modus und strahlte mit der Kraft von mindestens zehn Atomkraftwerken, aber in diesem Augenblick war alle Leuchtkraft auf ein Minimum heruntergefahren. Mensch, wenn die ganzen sabbernden Mädchen aus der Schule ihn jetzt sehen würden … Wer wusste, wie viele von diesen Weibern Dion mit seinem Strahlen versorgte? Wahrscheinlich knockte er gerade viele weibliche Wesen aus. »Und meine Freunde sind hier.« Seine Miene war zur Abwechslung unergründlich. Der Ausdruck, mit dem er mich ansah, war mir schleierhaft. Bambi schien an etwas Geheimes, Sensibles zu denken, an etwas, dass jedem anderen so fern war wie die Sonne selbst. »Tess, die Leute aus der Volleyball AG … du.« Regel Nummer achtzehn (neu): Mein Zuhause ist dort, wo meine Freunde sind. Ich war mir sicher, wenn ich etwas in Mund gehabt hätte, dann wäre ich daran erstickt. Ich starrte Bambi so entgleist an, dass ich dachte, bei mir wäre hirntechnisch Endstation. Sackgasse. Hirntod. Aber wenige Augenblicke später konnte ich immer noch atmen, mein Herz schlug, Kreislauf lief. Abgesehen von den lebenserhaltenden Maßnahmen schien mein Hirn allerdings auch nicht mehr zu funktionieren. Dions letzte Worten schallten irgendwo hinter meiner Stirn wider. Wie eine Endlosschleife spulten sie sich ab, solange, bis irgendein geheimer Schalter umgelegt wurde und meine graue Masse wieder über die lebensnotwendigen Anweisungen hinaus zu arbeiten begann. Erst dann ergaben die Worte auch einen Sinn. Einen, den ich nicht wirklich nachvollziehen konnte, aber sie ergaben einfach einen Sinn. Bambi sah mich als Freund an. Diese Tatsache schien mir so abwegig, wie der Gedanke, Rotkäppchen könnte den Wolf und ihre Großmutter fressen. Aber Dion sah nicht so aus, als hätte er einen Witz gemacht. Ganz im Gegenteil, er schien sie ziemlich ernst zu meinen. »Ich?«, echote ich schließlich stumpfsinnig. Dion zögerte. »Nicht?«, meinte er und Verunsicherung nahm Einzug in seiner Stimmlage. »Ich dachte nur … weil du … nicht mehr versuchst, mich oder meine Nähe zu meiden.« Wie vom Donner gerührt, saß ich am Tisch und starrte Dion an. Das war vermutlich das Ehrlichste, was ich von ihm bisher zu hören bekommen hatte. Nicht, dass er mich bezüglich irgendetwas angelogen hätte, aber einfach … die Art, wie er das sagte; was er überhaupt sagte. Er hatte immer so nichtsahnend gewirkt, wenn ich ihn angezischt oder versucht hatte, ihm offensichtlich zu zeigen, dass ich ihn nicht in meiner Nähe haben wollte. Diesmal war ich wohl der Naive, der in seiner kindhaften Boshaftigkeit davon ausgegangen war, dass Dion dumm genug war, um nichts als die Abneigung wahrzunehmen, die ich ihm zu zeigen versucht hatte. Er hatte sich nie oder so gut wie nie etwas anmerken lassen. Mir gegenüber nicht. Während er in mir offensichtlich gelesen hatte wie in einem Buch, war er für mich undurchschaubar geblieben. Nicht, weil er sich verschloss, sondern einfach nur, weil ich nie darauf geachtet hatte. »Ich weiß, du machst das auch Tess zuliebe. Aber ich dachte, dass wir vielleicht doch … irgendwie … na ja«, fügte Bambi nach einiger Zeit hinzu. Er bekam viel mehr mit, als ich immer gedacht hatte. Er war so viel empfänglicher für so empfindliche Sachen als ich. Ich hatte es nie bemerkt. Was mir entging, das fiel ihm auf. Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. Es kam von ganz hinten, von sehr tief heraus und es war durchaus ernst gemeint, als ich sagte: »Lass mir Zeit.« ___ tbc. Hosted by Animexx e.V. 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