Your Smile von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 5: Friend ----------------- Widmung: Mi, weil sie mir die entscheidende Idee für das Kapitel gegeben hat. Danke schön :D , weil er vermutlich alle meine Shonen-Ai Storys gelesen hat und diese hier besonders mag. _______________________ FRIEND Regel Nummer dreizehn: Bereue nichts, was du tust. Ich beging ein schweres Verbrechen. Zumindest aus Sicht der Schule, der Lehrer, der Schulleitung und alles, was sonst noch in die Kiste gehörte: Ich schwänzte. Was mich betraf, ich sah es nicht als schüler-terroristisches Attentat auf die Autoritäten an, die sich dazu berufen fühlten, sämtliche Macht über Schüler an sich zu reißen. Eigentlich war ich kein notorischer Schwänzer. Das letzte Mal lag immerhin schon eine Woche zurück. Aber gut. Jetzt hatte ich einen wahrhaft triftigen Grund, warum ich Mathe schwänzte. Tess war heute nicht zur Schule gekommen. Und das nach unserer Versöhnung. Ich hatte ihr eine SMS geschrieben und gefragt, was los sei. Geantwortet hatte Julie, ihre Mutter. Tess lag im Krankenhaus. Ich hätte direkt den Tisch im Klassenraum umwerfen können, nachdem ich das gelesen hatte, weil ich im ersten Moment dachte, irgendein Irrer hätte einen Unfall gebaut, in den sie verwickelt worden war. Aber dem war nicht so, zum Glück. Ihre SMS war gerade erst angekommen. Es war ihr Blinddarm. Ich konnte mich erinnern, dass sie gestern kurz über Schmerzen geklagt hatte. Julie hatte sie heute Morgen ins Krankenhaus gefahren, als es nicht besser geworden war. Ich zockelte gerade eine belebte Straße entlang, als ich wieder eine SMS von Tess bekam. Ich hab Hunger. Aber diese Penner hier verbieten mir das Essen. Wenn ich erst hier raus bin, dann werde ich denen schon zeigen, was es bedeutet, mich hier hungern zu lassen! Ich lachte laut auf, als ich das las. Eines von Tess’ Hobbys war Essen. Sie liebte es. Es musste ihre persönliche Hölle sein, dass sie jetzt nichts zu sich nehmen durfte. Ich wusste zwar nicht, wann Tess operiert werden würde, aber bekanntlich durfte man vor Operationen nichts essen. Bevor ich meinen Weg ins Krankenhaus fortsetzte, machte ich einen Abstecher in den Supermarkt, der auf dem Weg lag, und kaufte fünf Tafeln Schokolade, alle in verschiedenen Sorten. Fünf, weil es Tess’ Lieblingszahl war. Auf die Sorten legte sie aber keinen Wert, weil sie eigentlich alle mochte. Ich stopfte die Tafeln in meine Tasche, ehe ich weiterstiefelte. So würde sie etwas haben, auf das sie sich freuen konnte, wenn sie die OP hinter sich gebracht hatte. Als ich an der Anmeldung nach dem Zimmer von Tess fragte, lächelte die Schwester mich an. Ich kannte dieses Lächeln zur Genüge. Es war wohl das, was weitläufig als Ach-wie-süß-er-besucht-seine-Freundin-im-Krankenhaus-und-leistet-seelischen-Beistand-Lächeln bekannt sein musste. Ich hätte mich daran gewöhnen sollen, dass alle Außenstehenden Tess und mich für ein Paar hielten. Als wären heterogeschlechtliche Freundschaften so eine extreme Rarität, eine Spezies, die vom Aussterben bedroht war; als würden Frauen und Kerle nicht einfach nur befreundet sein. Nein, es musste einfach immer mehr im Spiel sein. Sie nannte mir Tess’ Zimmernummer und ich folgte der Richtung, die die Schwester mir gewiesen hatte und schaute die kleinen Schilder neben den Türen an, auf denen die Zahlen standen. Tess’ Zimmer war recht mittig gelegen. Sie hatte noch eine Zimmernachbarin, die in einem Bett ihr gegenüber lag. Das Mädchen war wohl etwa im gleichen Alter wie wir. Ihr Bein war dick eingegipst und hing in einer Schlaufe. Sie las gerade in einem Buch, als ich hereinkam, und hob den Blick. Ein kurzes Lächeln glitt über ihr Gesicht, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. Ich richtete den Blick auf Tess, die nahezu überglücklich schien, mich zu sehen. Sie sah ein bisschen blass aus, ihre Haare waren zerwühlt, als hätte sie sich tagelang nicht gebürstet. Als ich mich auf den Bettrand setzte, umarmte sie mich kurz. »Wie geht’s dir?«, fragte ich sie, nachdem sie mich wieder losgelassen hatte. Sie lächelte matt. »Mir ging’s schon mal besser«, erwiderte sie. »Ich freu mich, dass du mich besuchst, auch wenn du dafür ganz offensichtlich Warners hochgradigen Matheunterricht schwänzt und Dion alleine dort versauern lässt.« Ich verkniff mir ein Augenrollen. Warum landeten wir eigentlich bei so gut wie jedem Thema bei Dion? Aber ich wollte mich nicht wieder mit meiner besseren Hälfte streiten, deswegen untersagte ich mir jede Geste und Mimik, die hätte andeuten können, dass es mich nervte. Ich hatte Tess versprochen, dass ich versuchen würde, nicht mehr so zickig zu sein. Dion hatte mir immerhin nichts getan — das war Tess’ Wortlaut, nicht meiner. Allerdings war mir klar, dass ich mich irgendwie mit Bambi arrangieren musste, wenn ich die Freundschaft zu Tess nicht überstrapazieren wollte. »Ich hab hier was für dich, was dich aufheitern dürfte«, sagte ich, um auf etwas anderes zu sprechen zu kommen. Ich grub die Schokoladentafeln aus meiner Tasche hervor und zeigte sie ihr. In Tess’ Augen glühte etwas Sehnsüchtiges auf. Sie griff nach den Tafeln und drückte sie an sich, als wären sie ihr ganz persönlicher Schatz. »Du Penner«, maulte sie dann verzweifelt und sah mich vorwurfsvoll an. »Wie soll mir das helfen? Ich darf die jetzt nicht essen und das ist schwerer, als du denkst!« »Ich weiß, aber die sollen dir ja auch als Lichtblick dienen. Denk dran, dass sie ganz allein dir gehören, und wenn du die OP überstanden hast, dann kannst du sie alle essen.« Tess’ Blick pendelte zwischen den Tafeln und mir. Dann betrachtete sie die Schokolade eine kleine Weile, seufzte, drückte jeder einzelnen Verpackung einen Kuss auf, ehe sie die Schublade zum Schrank neben ihrem Bett öffnete und die Schokolade dort verstaute. Dann schaute sie mich kurz an, beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht und genau diese Geste war es wohl auch, warum viele dachten, wir wären ein Paar. Manchmal fühlte es sich tatsächlich seltsam an, Tess einfach auf den Mund zu küssen. Aber es war — wie soll ich sagen? — schlimmer, als wir noch kein Paar gewesen waren. Erst nachdem wir unsere Beziehung geführt und beendet hatten, wusste ich, dass so ein Kuss zwischen uns eine rein platonische Bedeutung hatte; auch, wenn es für Außenstehende nicht so wirkte. Sie grinste kurz, nachdem wir uns voneinander gelöst hatten. Ich warf einen kurzen Blick zu Tess’ Zimmernachbarin. Sie hatte die Augen von ihrem Buch gelöst und schaute uns an. Doch als sie bemerkte, dass ich sie anschaute, wanderte ihr Blick zurück zu ihrer Lektüre. Ja, Freundschaft war eben doch etwas Subjektives. Anfangs hatten sowohl Tess als auch ich mich darüber aufgeregt, dass die Leute uns sonst etwas nachsagten. Aber irgendwann haben wir den Tatsachen sozusagen ins Gesicht gesehen: Wir konnten ohnehin nichts dagegen tun. Wir wussten, was zwischen uns war und was nicht. Was sollte es uns kümmern, was alle anderen darüber dachten? In dem Moment ging die Tür zum Zimmer auf und als ich den Kopf drehte, blieb mir die Spucke weg. Dion drückte sich gerade in den Raum, er sah aus, als wäre er peinlichst darauf bedacht, dass niemand etwas mitbekam. Und ich wusste auch warum: Bambi schwänzte nämlich auch. Er wirkte ein wenig überrascht, als er mich sah. Leise schloss er die Tür hinter sich, dann kam er lächelnd auf uns zu. Vor dem Bett blieb er stehen, sah kurz zu mir und dann zu Tess. »Hey«, sagte er. »Wie geht’s?« Ich wollte ja nicht interpretieren, aber er hatte nicht direkt danach gefragt, wie es Tess ging. Er hatte die Frage nach meiner Auffassung in die Runde gestellt. Oder übertrieb ich gerade? Tess lächelte, während Dion sich einen Stuhl an die mir gegenüberliegende Bettseite zog. »Du schwänzt auch«, meinte Tess lediglich und grinste verschwörerisch. Ich hüstelte. Sherline Holmes, haha. Was für eine messerscharfe Kombinationsgabe sie doch hatte, ich war wie immer überwältigt. Sie warf mir kurz einen skeptischen Blick zu, dann zeigte sie mir ihre Zunge. Dion lächelte ertappt und kratzte sich am Hinterkopf. »Gerade Mathe sollte ich eigentlich nicht schwänzen, aber … ich bin aufgeschmissen. Unterm Strich kommt dasselbe dabei heraus, wenn ich da oder auch nicht da bin.« Ich biss mir auf die Zunge, um einen Kommentar bei mir zu behalten. Dion öffnete seine Tasche und — ich lachte auf, als ich es sah — holte fünf Tafeln Schokolade hervor, die er Tess hinhielt. »Du hast ja mal gesagt, dass du Schokolade magst und dass fünf deine Lieblings- und Glückszahl ist, deswegen dachte ich, würdest du dich vielleicht freuen … nach der OP natürlich.« Er sah mich kurz ein wenig verwirrt an. Offenbar verstand er nicht, warum ich lachte. Wie sollte er auch? Tess lachte auch kurz. »Das ist witzig. Grace hat mir nämlich auch fünf Tafeln mitgebracht«, erklärte sie ihm dann amüsiert und piekste mir mit dem Finger in die Wange. Währenddessen versuchte ich das in mir aufkeimende Gefühl zu unterdrücken. Er kannte sie noch gar nicht so lange und wusste schon, was ihr Lieblingsessen und was ihre Lieblingszahl war. Mir ging ein Bild durch den Kopf, in dem die beiden einander gegenüber saßen und sich aufzählten, was alles ihre Lieblingssachen waren. »Tatsächlich?«, murmelte Bambi verlegen, während er sich durch den blonden Schopf fuhr. Oh Gott, wie konnte man nur so hilfsbedürftig aussehen? Das war ja nicht zu glauben. »Danke schön«, meinte Tess lächelnd. Sie beugte sich vor — und ich hätte gern in die nächste Ecke gekotzt — und küsste ihn, ebenso wie mich nur kurz zuvor, auf den Mund. Ein Kuss auf den Mund war eine Sache, dabei sein Gesicht zwischen ihre Hände zu nehmen noch eine andere. Dion sah erschrocken aus, überrascht und überrumpelt. Das deutete darauf hin, dass er das von ihr noch nicht erlebt hatte. Er war also noch eine Tess-Jungfrau. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte oder nicht. Aber dann passierte etwas, was mich mehr irritierte, als der Kuss zwischen den beiden: Dions Augen huschten zu mir. Er sah mich an, als würde er … ja, als würde er was? Ich begriff nicht. Warum starrte er nicht das Mädchen an, das ihn gerade mit Hingabe — und ob die freundschaftlich oder sexuell war, wusste ich gerade nicht — küsste? Warum starrte er mich an? Ich begann mir im Klaren zu werden, was es wohl bedeutete, wenn es hieß: Die fatalsten Fehler, die Männer tun konnten. Als Tess sich von Dion löste, sah er sie wieder an. Der Kuss hatte höchstens wenige Sekunden gedauert, aber mir war es wie eine Ewigkeit vorgekommen, in der Dion und ich einander angestarrt hatten, während er an den Lippen meiner besten Freundin gehangen hatte. Ich stierte ihn weiterhin an und sah, dass er direkt nach dem Kuss die Zunge zwischen die Lippen schob. Mein Hirn drehte durch mit den verschiedensten Interpretationsansätzen, die ich versuchte, allesamt zu verdrängen. Regel Nummer vierzehn: Glaube nur, was du siehst, erlebst und greifen kannst. Ich wusste nicht, woher Tess diese Eigenschaft genommen hatte. Ich wusste nicht, warum. Sie war ein instinktiver, impulsiver Mensch. Manchmal tat sie Dinge ohne bestimmten, ersichtlichen Grund. Das sollte nicht etwa heißen, dass sie mir eine knallte, weil ihr gerade danach war. Aber manchmal konnte sie sich und andere mit ihrem Verhalten in Verlegenheit bringen, zumeist unbeabsichtigt. Sie knutschte keine fremden Menschen, sie knutschte auch nicht die Jungs aus der Volleyball AG. So etwas machte sie nur bei Leuten, bei Freunden, die ihr mindestens so nah standen wie ihre Familie. Bevor irgendjemand was sagen konnte, kam ein hochgewachsener Arzt mit ergrauten Haaren herein, gefolgt von einer Schwester. »So, Miss Goodchild«, sagte er, nachdem er Dion und mir kurz zugenickt hatte. »Ihre Operation steht. Dr. Moore wird sie vorbereiten.« Die Schwester war also eine Ärztin. Gut, das hätte ich nicht wissen können … ich konnte auch nicht wissen, warum in aller Welt Bambi mich mit Rehaugen angeglotzt hatte, als er von einem umwerfenden Mädchen geknutscht wurde. Der Arzt schien es eilig zu haben, denn er war schnell wieder weg. Dr. Moore lächelte und folgte ihm nach draußen. Als es wieder still im Zimmer war, schaute ich einen kleinen Moment zu Tess und dann zu Dion. Und dann … »Habt ihr eine Dreiecksbeziehung, oder was?« Ich starrte zu Tess’ Bettnachbarin, die uns mit großen Augen musterte. Und auch diesmal ging die Tür auf, bevor irgendjemand antworten konnte. Dr. Moore stand wieder im Raum, diesmal mit Julie, die eine Jacke über dem Arm trug. Sie lächelte, als sie uns sah. Sie sprach kurz mit Tess und mit der Ärztin, dann wandte sie sich zu Dion und mir. »So, Jungs, auf geht’s. Ich nehme euch mit.« Julie gab Tess einen Kuss auf die Stirn. »Ich ruf heute Abend mal an«, fügte sie hinzu, dann lächelte sie aufmunternd, strich kurz über die Wange ihrer Tochter und verließ den Raum wieder. Dion und ich sahen ihr nach, dann schaute ich zu Tess. »Wird schon alles«, sagte sie und nahm meine Hand. Ich nahm sie kurz in den Arm. »Morgen kannst du die Tafeln hamstern«, meinte ich. Ich spürte, wie Tess kurz von einem leichten Lachen geschüttelt wurde. Sie hatte Angst, das wusste ich. Aber ich wusste ebenso, dass sie es nicht deutlich und direkt zeigen würde. »Denk einfach an die Schokolade«, sagte ich, nachdem ich sie losgelassen hatte. »Denk dran, dass hier zehn wunderbare, köstliche Tafeln Schokolade nur auf dich warten.« »Halt die Schnauze, sonst zimmer’ ich mir die sofort rein …!«, sagte sie wehleidig. Ich musste lachen, als ich ihr Gesicht sah. Zumindest hatte ich sie ein wenig ablenken können. Dion saß schweigend daneben. Sein Sprachzentrum war wohl ausgefallen. Kein Wunder. »Gut. Ich werde mal los, sonst köpft deine Mutter mich, wenn ich nicht gleich erscheine«, meinte ich grinsend, während ich mich erhob. Ich gab Tess einen Kuss auf die Stirn, sie feixte vor sich hin. Dion verabschiedete sich ziemlich unbeholfen von Tess. Als hätte man das Fohlen gerade auf Eis geschickt, obwohl es kaum ordentlich auf normalem Grund laufen konnte. Armes Bambi. Das Leben war eben gemein. Ich fragte mich, ob Tess das mit Absicht gemacht hatte, oder ob sie sich völlig unbewusst dessen war, was sie bei Dion damit angerichtet hatte. Vielleicht sollte man Tess zugute halten, dass sie nicht ihre Zungentechnik ausgepackt hatte, denn dann wäre aus Bambi wohl irgendeine zähe Rehmasse entstanden, die man vom Boden hätte kratzen müssen. Ab wann waren Rehe eigentlich geschlechtsreif …? Er ging schweigend neben mir her, während wir nach draußen gingen, um Julie zu suchen. Auch während der Autofahrt verhielt er sich weitgehend ziemlich still. Augenscheinlich hatte Tess etwas wie ein schweres Trauma in ihm hervorgerufen oder so. Geschah es unter Rehen, dass sie sich sexuell missbrauchten? Ich neigte doch stark dazu, das zu bezweifeln. Abgesehen davon war Tess kein Reh. Tess war … eher eine Hummel. Friedliebend, aber bissig, wenn es sein musste. Außerdem waren Hummeln plüschig. Julie ließ uns im Stadtzentrum raus, als ich sie darum bat. Nach Hause wollte ich noch nicht. Dion stieg mit mir zusammen aus. Gemeinsam verabschiedeten wir uns von Tess’ Mutter. Ich schaute mich kurz um, dann beschloss ich, bei McDonald’s essen zu gehen. Gerade hatte ich keine Lust auf Kochen, was ich zu Hause hätte tun müssen, um etwas zu essen zu haben. Bevor ich losging, wandte ich mich noch mal an Dion, um mich zu verabschieden, doch ehe ich einen Ton herausgebracht hatte, fragte er: »Kann ich mitkommen?« Er nickte Richtung McDonald’s. Scheinbar war ihm aufgefallen, dass ich dort hin wollte. Ich sah ihn kurz an. Eigentlich stand ich kurz davor, nein zu sagen, aber irgendwie sah er so verloren aus, dass ich schließlich nur nickte. Er lächelte erleichtert, dann machten wir uns auf den Weg. Die ganze Prozedur aus anstellen, bestellen und Platz suchen verlief schweigend. Er sagte nichts, ich sagte nichts. Irgendwie mochte ich dieses Schweigen nicht, auch wenn ich keine Ahnung hatte, worüber ich mit ihm hätte reden sollen. Vielleicht wusste er ja, wann Rehe geschlechtsreif waren, aber die Frage konnte ich gerade noch unterdrücken, bevor sie tatsächlich über meine Lippen rollte. Wir saßen einander an einem Ecktisch gegenüber. Dion starrte so konzentriert seine Pommes an, dass ich befürchtete, er würde versuchen, mit ihnen telepatisch Kontakt aufzunehmen. Ein bisschen irre schien er schon zu sein. Ich kaute gedankenverloren an einer Pommes, während ich ihn dabei beobachtete, wie er den Blick hob, um irgendwo anders hinzusehen. Aha, Telepathie also mit Menschen, das war sinnvoller als mit Kartoffeln. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er versuchte, meinem Blick auszuweichen und alles dafür zu tun, um mich nicht anzusehen. Letztendlich versagte er kläglich, als er mir einen flüchtigen Blick zu warf. Er schlug die Augen sofort nieder, als er merkte, dass ich ihn anstarrte. Wieder begann er seine stille Null-Kommunikation mit den Pommes. »Ab wann sind Rehe eigentlich geschlechtsreif?« Ich hätte mir gern den Burger, der vor mir lag, im Ganzen in den Mund gestopft, aber das hätte nichts mehr gebracht. Verwirrt hob Dion den Kopf und schaute mich irritiert an. Ich hob die Augenbrauen und tat so, als wäre die Frage völlig berechtigt und nicht in einem Moment geistiger Umnachtung aus meinem Mund gekommen. »Was?«, fragte er perplex. Na, zumindest hatte er die Pommes vergessen und ging zur verbalen Kommunikation mit Menschen über. Das war schon mal ein Fortschritt. »Nichts, schon gut«, wehrte ich ab. »Was sagen die Pommes?« Ich konnte die Fragezeichen über seinem Kopf sehen. Wahrscheinlich dachte er gerade, ich verarschte ihn. Oder Bambi dachte, ich meinte es völlig ernst. »Ich … äh … hä?« »Na ja, du hast die Dinger so angestrengt angestarrt, dass ich dachte, du würdest mit ihnen telepatisch sprechen oder so«, erklärte ich schlicht und zuckte mit den Schultern. Ich war auch irre. So ziemlich. Vielleicht sollte ich eine Therapie in Betracht ziehen. Wir starrten einander eine Weile lang schweigend an. Wieder mal. »Sag mal …«, begann er schließlich. »Macht Tess … das … ehm … öfter? Also das …?« Er fuchtelte mit den Fingern vor seinen Lippen herum. Ich verkniff mir ein amüsiertes Grinsen. »Ja. Macht sie. Wenn sie das bei mir macht, dann ist das nur freundschaftlich. Wenn sie es bei dir macht … tja, dann weiß ich das nicht. Vielleicht ist sie in dich verknallt.« »Wenn es in die Richtung ginge, dann hätte der Kuss länger gedauert. Hier war es nur eine kurze Lippenberührung, wie unter Freunden. Ein Kuss mit einem sexuellen Aspekt hätte länger gedauert und —« »Dion«, unterbrach ich ihn in seinem Redeschwall. Er hielt sofort inne und sah mich an. Er wollte mir doch wohl nicht etwa erzählen, dass er ein verkapptes Genie war, das kein Mathe beherrschte? Ich seufzte kurz, fuhr mir durch die Haare und sah ihn dann wieder an, während ich den Strohhalm meiner Cola zwischen die Lippen nahm und trank. »Sieh es als Ausdruck der Dankbarkeit. Wenn Tess es ernst mit dir meinen würde, dann würde sie dich nicht so offensiv anfallen«, meinte ich. Dion starrte mich immer noch an, dann nickte er langsam, nachdem die Info zu ihm hindurchgesickert war. Er wirkte fast erleichtert. »Sie ist also nicht …?« »Nein. Sie ist eine dieser Kampflesben, die jeden Kerl knutscht, damit nur niemand auf die Idee kommt, sie könnte auf Mädchen stehen«, antwortete ich trocken und saugte wieder an dem Strohhalm, während ich Bambi nicht aus den Augen ließ. Seine Gesichtszüge entgleisten für einen Moment vollkommen. Er sah aus, als hätte er gerade eine Flasche über den Kopf gezogen bekommen oder etwas dergleichen. »Tess ist … ich meine, sie ist … lesbisch?«, presste er hervor. Ich seufzte tief. Also offenbar musste ich ihm neben Mathe auch noch Sarkasmus beibringen. Der arme Junge stolperte völlig blind durch die Welt, so konnte das nicht mit ihm weitergehen. Ich beugte mich zu ihm über den Tisch, er kam mir ein kleines Stück entgegen. »Dion. Das erste, was du über mich wissen solltest, ist, dass ich hemmungslos sarkastisch bin. Du solltest also nicht immer alles für bahre Münze nehmen, was ich sage. Das ist Punkt eins; und Punkt zwei ist: Tess ist ein Kampfweib und … flexibel. Das heißt nicht, dass sie lesbisch oder bisexuell ist. Das heißt nur, dass sie kein Problem damit hätte, ein Mädchen zu küssen. Aber glaub mir, wenn ich sage, dass ich sie lange genug kenne, um zu wissen, dass sie so hetero ist, wie man als Frau nur sein kann. Und ich weiß, dass sie dich nicht einfach ohne weiteres knutschen würde, wenn sie mehr als nur freundschaftliches Interesse an dir hätte.« Dion grübelte für den Rest der Zeit über meine Worte und trotzdem war er nicht mehr so wortkarg wie vorher. Er erzählte mir, dass er wohl ein typisches Einzelkind war und dass er Angst vorm Zahnarzt hatte. Ich hatte ihn noch nicht einmal danach gefragt; irgendwie waren wir auf das Thema zu sprechen gekommen. Es wunderte mich ein wenig, dass ich ihm interessiert zuhören konnte. Er war ein Mensch, der beim Reden dazu neigte, zu gestikulieren. Irgendwie war er ganz niedlich, wenn er das machte. Ein Rehkitz eben. Er sagte auch, dass es ihn ausgesprochen nervte, dass die Mädchen ihn belagerten. Deswegen war Tess ihm auch zu Beginn sehr sympathisch gewesen. Sie war distanziert freundlich gewesen und war ihm nicht auf die Pelle gerückt. Aus diesem Grund hatte er sich mit ihr angefreundet. Dion mochte keine aufdringlichen Menschen. »Was ist mit dir?«, fragte er dann schließlich. Ich schaute ihn verwundert an. »Hast du Geschwister? Was machen deine Eltern?« Ich biss auf den Strohhalm in meinem Mund. »Soll ich dir Mathe Nachhilfe geben?« Einige Augenblicke lang sah er mich verwundert schweigend an. Ich wusste nicht, warum ich ausgerechnet diese Frage gestellt hatte, um das Thema zu umgehen. Damit hatte ich mich immerhin selbst irgendwie … in die Scheiße geritten. »Ja, das wäre nett«, sagte Dion schließlich lächelnd. Ich war froh darüber, dass er den Themenwechsel akzeptierte und nicht weiter nach meiner Familie fragte. Ich lächelte gezwungen. »Danke«, fügte er hinzu. In dem Moment dachte ich, dass er vielleicht gar nicht so schrecklich war, wie ich mir immer eingeredet hatte. Er war freundlich und nett, er war aufmerksam. Und er versuchte nicht, sich zwischen Tess und mich zu stellen. Ich wusste nicht, woher diese plötzliche Erkenntnis kam. Aber vielleicht war es ganz einfach, mit ihm befreundet zu sein. Vielleicht musste ich einfach nur aufhören, in ihm den Neuen mit dem ›van‹ im Nachnamen zu sehen, sondern jemanden, der genauso wie ich einmal neu an die Schule gekommen war und jetzt seinen Platz in der Gemeinschaft brauchte. Regel Nummer fünfzehn: Ehrliche Menschen sind natürlich. Daran erkennst du deine Freunde. ___ tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)