The only memory von Friedi (Alices Geschichte) ================================================================================ Kapitel 1: Allein ----------------- Bilder strömten durch meinen Kopf. Ich konnte einen Jungen sehen. Vielleicht 19 oder 20 Jahre. Er war groß, schlank und hatte honigblonde Haare. Er schien etwas zu suchen. Doch was er suchte, das konnte ich nicht sagen. Er schien unglücklich. Unglücklich darüber, dass ihm etwas fehlte. Doch was fehlte ihm? Eine Ewigkeit sah ich ihm dabei zu. Ich konnte nicht zu ihm gehen. Ich wusste nicht, wie ich ihn auf mich aufmerksam machen sollte. Wusste auch überhaupt nicht ob er Traum war oder Wirklichkeit. … Dann verschwammen die Bilder. Und plötzlich war er weg. Ich war allein. Ich lag auf einer Wiese, auf einem kleinen Hügel. Ich konnte eine kleine Stadt sehen. Aber, wo ich war, das wusste ich nicht. Um mich herum blühte es. So viele Farben. Sie waren herrlich. Ich hörte Vögel zwitschern. Irgendwo hörte ich einen kleinen Bach rauschen. Ich war durstig. Ich näherte mich dem Bach, um etwas zu trinken. Auf der Wasseroberfläche sah ich ein Gesicht, das mich anguckte. Ein Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren. Ihre Haut war blass und ihre Augen schimmerten karmesinrot. Wer war dieses Mädchen? War ich das? Ich kannte dieses Gesicht nicht. Ihre Haut glitzerte. Tat sie das wirklich? Oder kam es mir nur so vor, weil auch die Wasseroberfläche glitzerte? Mein Durst wurde stärker. Doch als ich Wasser aus dem Bach trank, musste ich es wieder ausspucken. Es war nicht das richtige. Aber warum war es nicht richtig? Warum? Trank man denn kein Wasser? Was sollte man denn sonst trinken? Ich hätte gerne diesen Jungen gefragt, was ich denn trinken sollte, wenn denn kein Wasser. Aber wo war er? Wieso war er nicht hier? Wie hatte ich ihn gerade noch vor mir sehen können, wenn er doch gar nicht hier war? Verwirrt sah ich mich um. Niemand war hier, außer mir. Was machte ich eigentlich hier? Wie war ich hier her gekommen und wo war ich gewesen, bevor ich hier her kam? Dann sah ich ein kleines Mädchen über die Wiese spazieren. Sie blickte mich neugierig an. „Wer bist du?“, fragte sie. Ich antwortete nicht. „Wer bist du?“ Eigentlich sollte die Antwort auf diese Frage einfach sein. Aber ich kannte die Antwort nicht. Wer war ich? Ich dachte an das Gesicht, das ich im Wasser gesehen hatte. Aber wem gehörte dieses Gesicht? Und wenn es mir gehörte, was sagte es dann über mich? Hatte ich denn keinen Namen? Das kleine Mädchen schien ängstlich. Warum hatte sie Angst? Machte ich ihr Angst? Der Wind wehte mir ins Gesicht. Ein süßer Duft strömte auf mich ein. Ging er von diesem Mädchen aus? Der Duft war unwiderstehlich. Er ließ mir das Wasser im Mund zusammen laufen. Und dann sah ich plötzlich Bilder vor meinen Augen. Ich sah einen Mann und eine Frau, die verzweifelt nach jemandem riefen. Doch im nächsten Augenblick verschwammen die Bilder auch schon wieder und wie als ob ich nicht selbst über mich bestimmen würde, sprang ich auf das kleine Mädchen zu. Entsetzen stand in ihren Augen, doch es konnte nicht mehr weglaufen. Das süße Blut benetzte meine Lippen. Es löschte meinen Durst. Dann fiel das kleine Mädchen blutleer zu Boden. Im nächsten Moment fühlte ich mich schlecht. Warum, das konnte ich nicht sagen. Ich wusste nur, dass sie irgendwas in mir nicht richtig anfühlte. Etwas war falsch. Aber was? Wieder dachte ich an diesen Jungen. Konnte er mir vielleicht helfen? Aber wer war er? Wo war er? Ich rannte. Vielleicht konnte ich ihn finden. Ihn einholen. Scheinbar Stunden lang rannte ich. Den Jungen fand ich nicht. War ich in die falsche Richtung gerannt? Wie sollte ich wissen, ob ich richtig war? Ich rannte weiter. Immer weiter und ich wusste nicht wohin. Ich verlor das Zeitgefühl, wie lange ich bereits rannte. Die Sonne wanderte über den Himmel. Doch ich wusste nicht in welcher Richtung Norden war oder die anderen Himmelsrichtungen. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, blieb ich stehen. Noch immer war ich allein. Noch immer hatte ich keine Antwort gefunden auf meinen vielen Fragen. Und noch immer wusste ich nicht wo dieser Junge war. Ich hätte zu gerne gewusst, ob er inzwischen gefunden hatte, wonach er suchte. Kaum hatte ich daran gedacht, da erschien sein Bild wieder vor mir, als wenn er gerade in diesem Moment genau vor mir säße. Auch er war noch immer allein. Er saß an einem Wegrand und beobachtete den Sonnenuntergang. Doch er sah nicht glücklich aus. Zum ersten Mal konnte ich nun auch sein Gesicht näher sehen. Er war blass und seine Augen waren rot, wie die des Mädchens, das ich im Wasser gesehen hatte. So rot wie meine. Ich wollte zu ihm gehen. Aber ich konnte nicht. Warum konnte ich es nicht? War er denn nicht real? Wieder verschwamm er vor meinen Augen. Ich war alleine. Ich wusste nicht, wer ich war. Ich wusste nicht, wo ich herkam. Ich wusste nichts. Niemand könnte mir Antworten geben und der einzige, von dem ich hoffte, dass er es könnte, war nicht da. Ich wollte weinen. Doch warum kamen keine Tränen? Ernüchternd ließ ich mich im Schatten eines Baumes nieder und starrte einsam in den Sonnenuntergang. Tage vergingen, Wochen vielleicht auch Monate. Ich hatte kein Zeitgefühl. Mein Tagesablauf verlief immer ähnlich. Ich hatte mittlerweile begriffen, dass ich, wenn ich Durst hatte, Blut brauchte, um ihn zu stillen. Doch jedes Mal, wenn ich ein Opfer gefunden hatte, sah ich erneut Bilder, die ähnlich denen waren, die ich auch bei dem kleinen Mädchen gesehen hatte. Manchmal sah ich diese Bilder, aus der Ferne auch tatsächlich so eintreffen. Langsam begriff ich etwas. Diese Bilder waren wirklich. Oder besser; sie wurden wirklich. Ich sah sie, bevor sie geschahen. Hieß das, dass auch die Bilder, die ich von diesem Jungen gesehen hatte, noch gar nicht eingetroffen waren? War es also sinnlos ihn zu suchen, wenn es noch gar nicht geschehen war? Aber bisher war alles irgendwann geschehen. Heißt das, dass die anderen dann auch irgendwann geschehen? Weitere Male sah ich diese verzweifelten Bilder, die mir die Zukunft zeigten, immer wenn ich meinen Durst stillen wollte. Ich wusste nicht, warum sie mir immer dann erschienen. Ich wusste nur, dass ich sie nicht mehr sehen wollte. Aber wie konnte ich es verhindern? Ich saß nachdenklich am Ufer eines Sees. Ich hatte die Beine angezogen und meine Arme um sie geschlungen. Hin und wieder sah ich, wie meine Haut anfing zu glitzern. Auch das hatte ich noch nicht verstanden. Ich wusste nicht, warum ich glitzerte. Warum glitzerte nur ich. Von meinen Opfern hatte bisher niemand geglitzert. Die Sonne verschwand hinter einer großen Wolke und warf einen Schatten auf mich. In diesem Moment bemerkte ich, dass auch das Glitzern wieder aufgehört hatte. Doch als die Wolke vorüber zog, fing es wieder an. Hatte es vielleicht etwas mit dem Sonnenlicht zu tun? Ich verzog mich in den Schatten einiger Bäume und betrachtete meine ausgestreckte Hand. Sie war blass, nichts weiter. Und als ich sie wieder in die Sonne hielt, glitzerte sie wieder. Doch nur die Hand. Der Rest meines Armes, der im Schatten war, glitzerte nicht. Es machte mich glücklich allmählich die Dinge zu verstehen, auch wenn ich noch immer zu viele unbeantwortete Fragen hatte. Plötzlich war da wieder eine von diesen Visionen. Ich sah eine Gruppe von jungen Erwachsenen, die offenbar zusammen picknicken gehen wollten. Der Geruch ihres Blutes stieg mir schon jetzt in die Nase. Das Wasser lief mir wieder einmal im Munde zusammen. Wenig später sah ich sie den Weg entlang kommen. Ich versteckte mich hinter einem der Bäume und beobachtete sie. Sie schienen mich nicht zu bemerken und sie unterhielten sich angeregt über irgendwelche Dinge. Ich konnte sie hören. „Ich glaube, wenn ich diese letzte Semesterabschlussprüfung bestehe, dann steht mir die Welt offen.“ Ich hörte, wie einer der Jungen, vor seinen Freunden zu prahlen anfing. Sie lachten. Und dann sah ich erneut eine Vision von ihnen. Ihre Träume, die sich erfüllten. Es war eine schöne Vision. Sie war so voller Freude. Doch dann wurde ich durstig, berauscht von dem Duft ihres Blutes und die Vision wechselte. Und wieder waren es verzweifelte Bilder. Ich versuchte sie zu verdrängen. Ich wollte sie nicht sehen. Und dann verschwammen sie und ich sprang auf meine Opfer zu. Es war zu spät für sie, als sie mich bemerkten und keiner von ihnen hatte Zeit genug zu fliehen. Als ich mein Mahl beendet hatte, leckte ich mir begierig die letzten Bluttropfen von den Lippen. Erneut übermannten mich diese schrecklichen Bilder, die ich nicht sehen wollte. Trauer, Schmerz. Immer waren es diese Gefühle, die sie in mir auslösten. Ich wollte diese traurigen Bilder nicht mehr sehen. Ich wollte es nicht. … Und dann kam mir ein weiterer Gedanke. Ich war es, die diese Bilder auslöste. Ich war es, die all diese Trauer und den Schmerz in den Angehörigen meiner Opfer auslöste. Ich zerstörte die Träume so vieler Leute. Ich zerstörte ihre Zukunft. Ich nahm ihnen ihr Leben, in dem ich meinen Durst stillte. Und plötzlich hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen. Es fühlte sich falsch an, all diese Leben zu zerstören. Ich dachte wieder an das kleine Mädchen, das ich zuerst getötet hatte. Jetzt wusste ich, was sich damals falsch angefühlt hatte. Ich wollte es nicht. Ich wollte es richtig machen. Aber wie konnte ich es richtig machen? Wie sollte ich denn sonst meinen Durst stillen? War es bereits falsch diesen Durst zu verspüren? Durfte ich denn nicht trinken? Diese Antwort fühlte sich nicht richtig an. Ich musste trinken. Aber was? Warum konnte mir das keiner sagen? Niedergeschlagen verzog ich mich zurück in den Schatten der Bäume. Dann irgendwann fing ich an zu rennen. Wohin, das war mir egal. Nur weit weg von irgendwelchen anderen Leuten. Ich wollte niemandem mehr Schmerzen und Trauer zufügen. Als ich irgendwo in einer verlassenen Gegend war, wurde ich langsamer. Der Himmel hatte sich zugezogen, als teilte er meine Trauer. Ich setzte mich ins Gras und lehnte mich gegen einen Stein. Ich zog die Beine an und vergrub mein Gesicht. Mein schlechtes Gewissen machte mir noch immer Vorwürfe für all diese Morde. Und dann hatte ich wieder eine Vision. Doch dieses Mal waren es nicht die üblichen Visionen, dass jemand vorbei kam, dessen Blut so süß roch. Auch keine Bilder des Schreckens und auch nicht dieser Junge, von dem ich immer noch nicht wusste, wer er war und wo er war. Dieses Mal sah ich einen Mann vor mir. Er war groß und blond, wie der Junge, den ich bereits in meinen Visionen gesehen hatte und doch war er es nicht, er schien älter zu sein. „Es freut mich, euch in unserer Familie begrüßen zu können, Alice“, hörte ich seine sanfte Stimme zu mir sprechen. „Ich bin so glücklich, hier zu sein“, antwortete eine Frauenstimme. War das meine Stimme? Viel länger hielt die Vision nicht. Ich war verwirrt. Wieder eine Vision, deren Bedeutung ich nicht zuordnen konnte. Wer war dieser Mann? Er hatte etwas davon gesagt, er freue sich mich in seiner Familie zu begrüßen. Hieß das, ich würde nicht ewig allein sein? Ich hoffte es. Ich sehnte mich so sehr nach jemanden. Und dann hatte er einen Namen genannt. „Alice“. War ich Alice? Mir gefiel dieser Name. Er klang schön, in meinen Ohren. Ich hieß Alice. Endlich hatte ich eine Antwort auf die Frage gefunden, wer ich war. Endlich wusste ich meinen Namen. Hoffnung machte sich in mir breit. Ich würde also eine Familie finden. Ich würde nicht mehr allein sein müssen. Doch dann überkam mich auch schon wieder eine Spur des Zweifels. Woher sollte ich wissen, wie ich ihn und seine Familie finden konnte? Hier würde ich ihn sicher nicht finden. Es war wie immer. Ich war allein. Ich konnte nicht hier bleiben. Soviel stand fest. Sonst würde ich ihn nie finden. Aber wenn ich wieder zu den anderen Leuten ging, würde ich sicher wieder durstig werden und ich würde sicher wieder jemanden töten. Was musste ich tun, um ihn zu finden, ohne noch mehr Unschuldige zu töten. Vielleicht gab es noch etwas anderes. Vielleicht war Blut nicht das einzige, was ich trinken konnte. Aber was wäre dieses andere? Die nächsten Tage verbrachte ich damit nach etwas zu suchen, das ich statt Blut trinken könnte. Wasser kam offenbar nicht in Frage. Aber etwas anderes wollte mir nicht einfallen. Mein Durst war mittlerweile nicht mehr auszuhalten. Ich wusste, wenn ich rannte, würde ich in Kürze wahrscheinlich irgendeine Stadt oder ein Dorf erreichen. Doch von denen wollte ich mich fern halten. Dann nach einer Ewigkeit sah ich wieder diesen Mann in meiner Vision. Er jagte. Das Tier, ein Wolf, hatte keine Chance ihm zu entkommen. Ich sah ihn, wie er das Blut des Wolfes trank. Sollte ich also Tierblut trinken? Aus irgendeinem Grund kam es mir seltsam vor, auch wenn ich nicht sagen konnte, warum. Aber wenn der Mann in meiner Vision Tierblut trank, was konnte dann falsch daran sein? Und vielleicht würden dann die grausamen Bilder fortbleiben. Kein Schmerz, kein schlechtes Gewissen. Ich sah mich um. Ganz in der Nähe war ein Wald. Und wenn ich es ganz einfach mal versuchte? … Also rannte ich wieder. Es dauerte keine zwei Minuten und ich hatte den Wald erreicht. Ich fand einen Hirsch, der gerade an einem Bach, der durch den Wald floss, trank. Das Wild bemerkte mich und rannte zwischen den Büschen davon, doch ich war schneller als das Tier. Offensichtlich konnte ich sein Blut tatsächlich trinken. Doch ich verzog das Gesicht. Es schmeckte bei weitem nicht so gut, wie das Blut, das ich bisher getrunken hatte. Doch es fühlte sich richtiger an. Endlich hatte ich meinen Durst wenigstens etwas stillen können, ohne dabei diese schrecklichen Bilder zu sehen. Ich freute mich. Der Gedanke all das Leid nicht mehr sehen zu müssen, machte mich glücklich. Ich rannte weiter durch den Wald. Da waren genug Tiere und ich konnte meinen Durst stillen. Der Geschmack jedoch kam nicht an Menschenblut heran. Doch es war mir in diesem Moment egal. Solange ich diese schrecklichen Visionen nicht mehr haben musste, nahm ich es in Kauf. __________________________________________________________________________ --> Geschrieben: --> Beta: Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)