Leitartikel von SummoningIsis (Küss mich bis zur Deadline) ================================================================================ Kapitel 6: Wohin du gehst ------------------------- MICHAEL Die dunklen Augen seines Lebensgefährten betrachteten ihn fast schon ein wenig müde, fast schon ein wenig traurig, blieben an dem ungeöffneten Umschlag für eine Weile heften, wonach sie den Boden anvisierten und Tim sich schweigend seiner Jacke und Schuhe entledigte. „Tim?“, fragte der Chefredakteur und hob seine Hand leicht, deutete auf das gut bepackte Kuvert, welches seine Finger immer noch umklammerten. Hätte Michael seine Gedanken, die sich in diesen Momenten in seinem Innern breit machten, beschreiben müssen, er hätte keine passenden Worte gefunden. Verwirrung? Überraschung? Antizipation? Angst? Verwunderung? Neugierde? All das waren passende Wörter, Hüllen für die sich dahinter verbergenden Gefühle, die man doch eigentlich niemals kategorisieren konnte. Einen Text emotional zu gestalten, ja, das hatte er von Profis beigebracht bekommen. Das konnte er. Doch sein momentanes Seelenleben zu beschreiben, dieses Unterfangen hätte man auch spitz mit dem Schlagwort „Unmöglichkeit“ beschriften können. Michael kannte Tim in- und auswendig. Und das Verhalten, welches ihm sein Freund jetzt demonstrierte, war beunruhigend. Der Mann mit den Locken hatte ganz offensichtlich etwas auf dem Herzen. Und was genau dies war, das wollte Michael so schnell es ging herausfinden. „Wie geht’s dir überhaupt?“, fragte er vorsichtig und legte den Umschlag zurück auf die Kommode. Umgehend griff Tim danach und blickte dem Journalisten in die Augen, es war ein Blick den Michael nicht deuten konnte. „Ein bisschen müde vom feiern“, setzte sein Lebensgefährte an und schaute sich den Brief nun genauer an, runzelte die Stirn leicht und seufzte schließlich. Er ließ seine Schultern sacken und kehrte Michael den Rücken zu, ging hinüber ins Wohnzimmer und setzte sich mit einem weiteren Seufzer auf das Sofa. Michael war im Türrahmen stehen geblieben und betrachtete ihn ruhig. Wartete. Erneut blickte Tim in ihn an und strich sich dann unsicher durchs eigene Haar, schloss seine Augen kurz. Eine unangenehme Stimmung machte sich breit, als hätte sie ein eiskalter Wind durch ein zu weit geöffnetes Fenster urplötzlich hinein getragen. Und nach längerer Zeit wurde der Satz, auf den Michael die ganze Zeit über gewartet hatte, artikuliert. „Wir müssen reden“, sprach Tim mit ernster Stimme, als seine Hände unsicher seine eigenen Knie umfassten und er den Journalisten ebenso ernsthaft anblickte. Michael folgte der nicht ausgesprochenen Einladung und nahm auf dem etwas kleineren Sofa platz, saß seinem Freund somit nun schräg gegenüber und fühlte sich, wie er sich eingestehen musste, in seiner eigenen Haut nicht wirklich wohl in diesem Augenblick. Eine unbehagliche Stille legte sich. Michael verdrängte die wilden Gedanken, die in einem turbulenten Tempo durch seinen Kopf rauschten. Unausgesprochene Ängste, welche ihm fremde Stimmen in seinem Innern plötzlich laut und hemmungslos entgegen schrien. All das versuchte er zu unterdrücken, blickte Tim starr an, lachte sich selbst ein wenig aus. Wie viele solcher „ernsthaften“ Gespräche hatten sie schon hinter sich gelassen? Sie waren erwachsen. Sie waren reif. Sie waren intelligent. Sie waren keine Teenager, die bei jedem noch so kleinen, zweideutigen Satz bereits das Ende der Welt vor sich erblicken konnten. Und irgendwie war ihm doch mulmig zu Mute. Und das schon den ganzen Tag. Die ganze Nacht. „Micha…“, setzte Tim letztendlich an. „Hey, ich weiß echt nicht, wie und wo ich anfangen soll.“ „Wie wäre es denn mit dem Anfang?“, versuchte der Journalist zu scherzen und brachte damit tatsächlich ein kleines Lächeln auf Tims Gesicht zustande. Ein Lächeln, welches so schnell wieder verschwand, wie es überhaupt aufgetaucht war. „Ich weiß gar nicht, wo der Anfang ist. Und ob das ganze überhaupt ein Ende hat und…“, Tim lacht etwas kalt auf und blickte den Tisch starr an. „Das wird jetzt…“, er brach ab, lehnte sich frustriert gegen das Sofa und blickte seinen Lebensgefährten an. „Ich höre dir zu…“, brachte Michael heraus und betrachtete seinen Freund innig. „Micha, ich…“, fing Tim erneut an und holte zunächst tief Luft. „Der Umschlag. Der ist für mich“, sagte er und öffnete das mitgebrachte Objekt nun vor Michaels Augen, holte einige Prospekte und wichtig aussehende Papiere heraus. „Ein potenzieller Arbeitsvertrag“, erklärte er. Michael setzt zu einer Antwort an, doch Tim unterbrach ihn. „Ich habe ihn angenommen. KPMG ist eine große, internationale Firma. Die wollen mich. Und zwar nicht als dummen Elektrik-Meister“, erneut schaute er Michael in die Augen, der still da saß und seinem Freund versuchte zu folgen. „Sondern als Wirtschaftsingenieur.“ „Was?“, platzte es verwundert aus Michael heraus. Tim rückte näher an die Sofakante heran, während er weiter erklärte: „Ich wollte dir eine Überraschung machen. Ich… Ich hab die Fernuni gemacht. Du weißt doch, der Meister ermöglicht es einem, einige Fächer zu studieren, ohne vorher die ganze Abendschulegeschichte durchzukauen… Und ich hatte mir gedacht… Ich wollte dich stolz machen. Mich selbst natürlich auch. Ich wollte etwas erreichen, ich wollte es mir selbst beweisen. Ich hab den Abschluss jetzt in der Tasche.“ „Aber das ist doch großartig!“, fiel Michael seinem Freund ins Wort, lächelte Tim an, freute sich über diesen riesigen Schritt, den sein Lebenspartner gegangen war. Und er wunderte sich ebenfalls. „Aber, wieso hast du mir nichts gesagt??? Wie hast du das geschafft geheim zu halten? Ich hab wirklich nicht mitbekommen!“ Tim lächelte leicht und betrachtete seine eigenen Hände. „Ich war nicht immer mit meinen Freunden unterwegs, oder im Fitnessstudio“, erklärte er ruhig. „Außerdem kommst du oft genug erst spät abends nach Hause, da hatte ich immer genügend Zeit meine Hausarbeiten zu schreiben und zu lernen.“ „Und die Bücher? Ich meine, ich hab nie welche hier gesehen!“ „Alle im Keller. Da guckst du ja eh nie rein“, Tim grinste leicht, setzte umgehend jedoch wieder eine ernste Miene auf. Michael hob die Unterlagen vom Tisch auf und studierte sie kurz. „Das ist wirklich eine große Firma und eine wundervolle Position, die du mit deinem Abschluss haben wirst.“ Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass der Umschlag aus München stammte. Er runzelte die Stirn. „Aber… München?“ Sein Kopf fing direkt an zu arbeiten. „München ist definitiv eine Medienstadt, da finde ich sicherlich schnell einen Job, und wenn’s für ein erbärmliches Online-Magazin wäre, Print, Online, Audio. Was spielt das schon für eine Rolle. Ich denke…“ „Nein“, unterbrach Tim ihn schroff, ohne Michael dabei anzusehen. „Nein?“, fragte Michael und grinste etwas belustigt, wollte gerade mit seinen Erklärungen der Medienwelt fortfahren, da fuhr sein Lebensgefährte bereits fort. „Ich will nicht, dass du mitkommst“, sagte er. Stille. Michael verstand nicht, fragte sich, ob der Satz, den Tim gerade von sich gegeben hatte, ernst gemeint war. War es vielleicht nur sein Streich seiner Vorstellung gewesen? Hatte er sich die ausgesprochenen Worte nur ausgedacht? Oder würde Tim jetzt einfach anfangen zu lachen, ihn kameradschaftlich gegen die Schulter boxen und mit seiner süßen Stimme sagen „Hey, das war doch nur Spaß!“…? Nichts dergleichen geschah. Tim hob seinen matten Blick vorsichtig und schaute Michael an, der sich nicht bewegen konnte, der etwas sagen wollte, doch auch an dieser Aufgabe scheiterte. „Ich…“, setzte der Mann mit den Locken an. „Mann, ich weiß auch nicht, wie ich dir das alles erklären soll, ohne dabei wie ein Idiot zu klingen.“ Er erhob sich und fing an auf und ab im Zimmer zu gehen. „Ich glaube auch nicht, dass du das verstehen wirst“, fuhr der nun Studierte fort. „Weißt du, ich habe keine Lust mehr in deinem Schatten zu stehen. Ich habe keine Lust mehr, dass du meinen Freundeskreis umgehst wie ein stinkendes Stück Scheiße, nur weil sie deiner Meinung nach wohl „einfache Leute“ sind.“ „W-Was?“, stammelte Michael, doch Tim schien seinen doch recht misslungenen Einwand gar nicht wahrzunehmen. „Ich ertrage es einfach nicht länger, dass du mich manchmal wie ein Kind behandelst. Mich kotzt es an, dass du fast niemals mit weg kommst, dass du das ganze Tanzen belächelst und dich lieber in irgendwelchen feinen Lokalen rum treibst.“, sprach Tim mit einer immer mehr erregt klingenden Stimme, immer lauter werdend. „Das… Was für einen Unsinn redest du da eigentlich gerade?!“, fuhr Michael ihn mit einer verzweifelten Stimme an, stand nun ebenfalls auf. Tim funkelte ihn an und seufzte. „Ich sagte doch, dass du es wahrscheinlich nicht verstehen wirst, weil du es einfach nicht siehst, Michael“, entgegnete er kalt. „Du denkst wir führen eine gleichberechtigte Beziehung, in der wir auf einer Stufe stehen, aber das tun wir nicht. Ich…“, Tim gestikulierte nun mit seinen Armen. „Ich hab es einfach satt immer unter dir zu stehen und mich manchmal wie ein Mensch zweiter Klasse zu fühlen.“ „Mensch zweiter Klasse?!“, wiederholte Michael die ihm entgegen geworfenen Wörter ungläubig und blinzelte. „Was für… Tim! Was ist mit dir los?! Das ergibt alles überhaupt gar keinen Sinn!“ „Für dich vielleicht nicht“, antwortete Tim kalt. „Für mich schon.“ Die beiden Männer blickten sich an. In Michael tobte ein Sturm, ein Unwetter aus Schmerz, Verwunderung und Wut. Und welchem Gefühl er Vorrang gewähren sollte, wusste er momentan nicht. „Seit… Und seit wann… Denkst du nun schon so über mich?“, brachte der Journalist endlich heraus. „Ach, Micha, so was kann man doch nicht genau sagen!“, fuhr Tim ihn an. „Keine Ahnung. Ich hab schon länger über… über alles nachgedacht.“ „Was heißt schon länger?“ „Musst du immer alles so genau wissen?“, zischte Tim plötzlich. „Ich glaube wenn es um meine Beziehung geht, ja, Tim, ja, dann möchte ich es genau wissen. Ich dachte wir hatten abgemacht uns immer alles zu sagen! Ich dachte wir wollten immer über alles diskutieren?“, schrie Michael jetzt schon fast. „Ja, ich weiß“, antwortete Tim ruhig und schaute seinen Lebensgefährten an. „Und es tut mit Leid. Es ist… Nun mal so passiert. Das hat sich alles so aufgebaut, auf Kleinigkeiten. Die jetzt für mich einfach unüberbrückbar sind. Ich dacht es geht wieder vorbei! Ich hab versucht das alles zu ignorieren. Ich hab gedacht, wenn wir einfach so weiter machen, kommen meine „normalen“ Gefühle einfach wieder zurück. Aber… Hm.“ „Was… Was machen wir denn jetzt?“, fragte Michael, der sich kraftlos wieder auf das Sofa niederließ und nicht wusste, wohin er blicken sollte. Zu verwirrt war er, um alles verstehen zu können, um klar denken zu können. Was passierte hier gerade? „Ich gehe nach München. Ohne dich“, kam die knappe Antwort. „Und…“, der Journalist blickte wieder auf. „Wie jetzt. Das war’s, oder was? Du sagst nach fünf Jahren, völlig aus dem Nichts, urplötzlich: Jetzt ist Schluss, oder was? Ohne mir einen wirklichen Grund liefern zu können?“ Tim seufzte und massierte sich leicht die Schläfen. „Einige Gründe habe ich dir bereits genannt, Michael. Das sind alles so Kleinigkeiten, die mich in den letzten Monaten einfach… Die das Fass für mich zum Überlaufen gebracht haben. Ich brauch einfach ne Auszeit. Es kommt mir einfach vor, als würdest du mich manchmal belächeln und von oben herab betrachten. Dein ganze Familie.“ „W-Was?!“, schrie Michael, der erneut aufgestanden war. „Tim, ich kapiere hier echt gar nichts mehr. Ich schaue nicht auf dich herab, für mich warst du von Anfang an ein intelligenter, selbstbewusster Mann! Deswegen habe ich mich in dich verliebt! Ich habe mich nie auch nur irgendwie besser gefühlt als du, wie kannst du mir so was nur unterstellen?!“ Tim schüttelte den Kopf. „Du kannst dich leider nicht selbst beobachten, Michael. Du benimmst dich einfach oft, als wärst du etwas Besseres. Vielleicht ja auch ohne es zu merken. Ich kann das einfach nicht länger ertragen. Ich… Ich brauch einfach Abstand zu dir. Ich will… Erstmal wieder alleine sein. Und das musst du akzeptieren.“ „Ja!“, schrie Michael, seine Stimme triefend vor Sarkasmus gemischt mit einer guten Portion Wut. „Das muss ich wohl! Mann, ich reiße mir täglich den Arsch auf, damit ich früh aus der Redaktion komme, um die Zeit mit dir zu verbringen, ich gebe dir Freiraum, so viel zu willst, ich denke die ganze Zeit eigentlich nur an dich und jetzt kommst du hier an und schmeißt mit so einen Haufen… Bullshit an den Kopf!“ „Das muss ich mir jetzt nicht geben!“, keifte Tim zurück. „Du kannst wirklich keine Kritik ab, oder?!“ „Kritik ist etwas anderes als frei erfundener Nonsens, der einem giftig ins Gesicht geschmettert wird!“, brüllte Michael. „Oh, wie POETISCH wir doch heute wieder sind, Herr Chefredakteur!“, giftete Tim ihn an. Michael erkannte weder Tim noch sich selbst in dieser misslichen, dieser unangenehm schmerzlichen Lage wieder. Wie Teenager brüllten sie sich an, wie pubertierende Jungen reagierte sie aufeinander. „Tim, ich kapier das einfach nicht! Was meinst du mit „Mensch zweiter Klasse“, was meinst du mit „etwas Besseres“? Nenn mir doch einfach mal ein Beispiel! Ich entsinne mich nicht, dich jemals aufgrund deines Bildungsgrades schlechter behandelt zu haben. Wenn ich dich für dumm halten würde, was du mir scheinbar unterstellst, wäre ich dann mit dir zusammen?“, versuchte Michael das Gespräch wieder ruhiger zu gestalten. Tim schnaubte. „Vielleicht gefällt es dir ja einfach mit jemandem zusammen zu sein, der unter dir steht, damit du dich jeden Tag besser fühlen kannst. So frustriert wie du manchmal über deinen Job bist, würde mich das gar nicht wundern. Vielleicht brauchst du ja einfach diese Art der Bestätigung“, entgegnete der Dunkeläugige kalt. Michaels Kopf war völlig leer, er konnte sich an keinem einzigen Gedanken länger festhalten, keine Fakten aneinander knüpfen. Seine Hände zitterten. Was war nur mit Tim los? „Hast du nen anderen?“, kam es schließlich aus dem Mund des Journalisten. Sein Freund schnaubte erneut, lachte laut auf. „Da sieht man es ja, du brauchst unbedingt die Bestätigung, dass du der Beste bist. Nur weil du den dummen Posten als Ressortleiter verloren hast und dich jetzt mit nem Haufen Scheiße im „Fly“ rumschlagen musst.“ Abermals schrien sie sich wie Jugendliche an, die noch niemals in ihrem Leben einen Konflikt gelöst hatten, warfen sich im Grunde genommen Nichtigkeiten an den Kopf, Kleinigkeiten, die sie an ihrem Partner störten. Sinnlose und dennoch verletzende Sätze. Letztendlich schnappte Tim sich einige seiner Sachen und verließ mit einem kalten „Tschüss“ die noch gemeinsame Wohnung. Die nächsten Wochen würde er bei Sascha und Mirko verbringen, die ihn ohne zu Meckern aufgenommen hatten. Wie schön für ihn… Stundenlang saß Michael regungslos auf dem Sofa, starrte die sich überhaupt nicht verändernde Decke an. Wie betäubt saß er da, spürte seinen eigenen Körper nicht, ignorierte dieses nervende Ziehen in seiner Brust, beachtete die seine Wangen leise herunterkullernden Tränen nicht. Dementierte den salzigen Geschmack, der sich in seinem Mund breit machte. Nein, all das war eben nicht passiert. Nein, Tim war nicht fort. Nein, sein Lebensgefährte würde nicht allein nach München gehen. Morgen würde der Lockenkopf wieder auftauchen. Sie würden reden. In Ruhe all diese Missverständnisse, denn mehr als das waren Tims Behauptungen nicht, aus der Welt schaffen. Und dann wäre alles wieder in Ordnung. Sie hatten doch eine wunderschöne Beziehung! Eine Bindung, um die sie schon viele Männer beneidet hatten. Eine Partnerschaft, die vielen als Vorbild galt! Das konnte doch nicht einfach so vorbei sein… Oder? SEBASTIAN/JADE Wirklich. Er hatte schon gedacht dieser Tag würde nie enden. Die Aspirintabletten hatten ihm überhaupt gar kein Wohlergehen beschert. Wenn er es nicht besser wüsste, hätte er sogar behauptet, die Dinger hätten seinen Zustand verschlechtert. Wobei das auch auf die nervige Kundschaft und seine Kollegen, die sich unentwegt über seinen leicht verkaterten Zustand lustig gemacht hatten, zurückzuführen sein könnte. Seine Beine gaben fast unter ihm nach, als er sich zu seinem Wagen schleppte und es, einem Wunder sei Dank, ohne einen Unfall zu verursachen nach Hause schaffte. Seine Augen waren schwer, alles, an was er noch einigermaßen klar danken konnte, war Schlaf. Süßer, geruhsamer Schlaf in seinem warmen und weichen Bett. „Hey, Jade!“, begrüßte Torsten ihn mit einem breiten Lächeln, als der Schwarzhaarige an der Küche vorbeiging. Es roch nach Spaghetti Bolognese. Ihm wurde schlecht. „Hallo, Torsten. Gute Nacht, Torsten“, entgegnete der Barista mit einer trägen Stimme und schloss seine Zimmertür hinter sich, schaffte es gerade noch so Brummer neues Heu in den Käfig zu füllen, und ließ sich dann einfach ins Bett fallen. Schloss die Augen und atmete ruhig ein und aus. Seine Zimmertür wurde ohne ein Klopfen geöffnet. Der Tontechniker betrat den Raum und setzte sich neben Jade, der noch immer mit geschlossenen Augen regungslos auf der Matratze lag. „Kurze Nacht gehabt, was?“, fragte der Rotschopf direkt. „Oh, ja...“, antwortete Jade. Im selben Moment fiel ihm Jana wieder ein. „Und du? Ich hoffe wir haben euch nicht gestört...“ „Jana hat gar nicht hier geschlafen. Sie ist gegen 2 Uhr abgehauen. Aber heute Abend gehen wir ins Kino. Ich hab mir grad noch schnell was zu Essen gekocht, willst du auch gleich was abhaben?“ Jade öffnete die Augen leicht. „Torsten, bist du krank?“, fragte er und blickte seinen etwas verwirrt dreinschauenden Mitbewohner an. „Wieso?“, fragte dieser erstaunt. „Du sagst mir „das ist DIE Frau“ und erzählst mir, dass sie gestern NICHT hier geschlafen hat?!“, fuhr der Schwarzhaarige lachend fort. Torsten verdrehte die Augen. „Ja, gerade deswegen hat sie ja nicht hier geschlafen, du Idiot. Ich will bei Jana nichts überstürzen“, sagte der 28-Jährige mit ernster Stimme und fing an Jades Arm etwas abwesend zu streicheln. „Sie ist echt toll… Wir haben uns gestern stundenlang unterhalten. Wir haben echt viel gemeinsam. Hey, sie steht sogar auf Ego-Shooter! Und Tarantino-Filme! Wir haben schon einen Monster DVD-Abend geplant, wenn sie ihre Prüfungen hinter sich gebracht hat. Und sie lacht sogar über meine dämlichen Witze!“ „Süß“, kommentierte Jade das Schwärmen seines Mitbewohners und grinste frech, schloss die Augen erneut, musste sich eingestehen, dass er die leichte Streicheleinheit genoss. Wenn es doch nur Michaels Hand wäre...Er seufzte. „Und? Wie wars bei dir, du Luder?“, fragte Torsten und grinste. „Frag nicht“, lautete Jades Antwort. „War er wenigstens gut? So laut wart ihr nämlich gar nicht...“, hakte Torsten weiter nach. „Hockst du nachts an deiner Wand und versuchst den Geräuschpegel meiner nächtlichen Eskapaden zu messen, oder was?!“, zischte Jade leicht belustigt. „Das nicht unbedingt“, sagte Torsten. „Aber ich hab ja schon so einiges mitbekommen. Da zieht man automatisch Vergleiche.“ „Arschloch“, brummte Jade und drehte sich auf die Seite, kehrte Torsten seinen Rücken zu. „Aber ich freu mich für dich wegen Jana. Ein bisschen.“ „Danke, Hoheit“, entgegnete Torsten und gluckste. Und dann fing er an Jades Rücken zu streicheln, fuhr mit seiner Hand langsam auf und ab, massierte Jades Nacken leicht, erntete mit seinen Bewegungen leichte Seufzer vom Schwarzhaarigen. „Tony hätte da übrigens nen kleinen Job für nächstes Wochenende. Er braucht etwas Hilfe bei nem Event. Wär das für dich? Er zahlt echt gut“, sprach Torsten, ohne mit seinen Bewegungen aufzuhören. „Hmmmmm...“, kam die Antwort. „War das ein Ja?“ „Mhhmmm...“, Jade nickte leicht. „Dann sag ich ihm zu, deine Nummer hat er ja noch.“ Wieder nickt Jade leicht mit dem Kopf, merkte, wie er langsam aber sicher in den Schlaf abdriftete, wie sich die Realität und konfuse Traumwelt langsam vermischten, wie die Geräusche seiner Umwelt in seinem Kopf in leichte Musik umgewandelt worden, die ihn in die Ruhe wiegte. Plötzlich spürte er Torstens Atem an seinem Ohr. „Weißt du, was ich lustig finde?“, sprach sein Mitbewohner leise. „...hmm...?“, brummte Jade, zu müde um sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, geschweige denn momentan auch nur ein richtiges Wort auszusprechen. „Du hast hier mit verschiedenen Männern geschlafen. Nur nicht mit mir..“, sprach der Rothaarige mit ruhiger Stimme weiter. „Und jetzt werde ich wohl nie erfahren, wie es ist, dich zu nehmen...“ Jade zuckte leicht zusammen, bekämpfte die ihn in den Schlaf zwingende Schwere seines Körpers und die sich durch Torsten Worte entfachte, verbreitende Wärme und schaffte es noch zu murmeln: „Verpiss dich, Torsten.“ Sein Mitbewohner verließ grinsend das Zimmer. Jade träumte von Brummer, der ein Loch ins Parkett buddelte und in die Wohnung unter ihnen stürzte. Von Kaffeetassen mit Löchern, die dazu führten, dass sich die Kunden mit den heißen Getränken bekleckerten. Von Sex mit Torsten... Verschwitzt erwachte er und setzte sich auf. Das Kaninchen starrte ihn erwartungsvoll an, nagte leicht an dem Gitter, als Jade es anblickte. Nachdem er das Tier rausgelassen hatte, setzte er sich erneut aufs Bett. Es war 21 Uhr. Die Wohnung war leer. „Was für ein Traum...“, murmelte der junge Mann vor sich hin und schüttelte leicht lachend den Kopf. In seinem Traum hatte Torsten ihn an den Küchentisch gekettet, ihm das Augenlicht durch ein dunkles Stofftuch gestohlen und ihn unverhohlen von hinten ins Nirvana gefickt... Nein, das würde er nicht mit sich machen lassen! Nicht mit Torsten! Jade gluckste und schüttelte erneut den Kopf. Nein, nicht mit Torsten. Aber mit Michael... Er brauchte eine Dusche. Jetzt. Und seine eigene Hand. Das Wochenende was ruhig und er verbrachte es mit stundenlangem Lesen. Als die neue Woche begann war er ausgeruht, er fühlte sich fit, gesund, aufgeweckt, vital. Und eigentlich wartete er jeden Tag nur auf den Moment, in dem Michael Zannert das Lokal betreten würde. Den Moment, in dem er seine Augen auf dem Körper des Journalisten legen konnte, seine vollkommene Erscheinung in Betracht ziehen konnte, dieser ihn so aus der Fassung bringenden Stimme lauschen konnte… Doch Michael kam nicht. Nicht am Montag. Nicht am Dienstag. Nicht am Mittwoch. Und Donnerstag blieb er auch fern. Und am kommenden Freitag hatte er vielleicht einen anderen Job. Wenn Tony sich endlich melden würde… Es war eine Scheißwoche. MICHAEL Tim meldete sich nur ein Mal. Per SMS kündigte er den Tag an, an welchem er seine restlichen Sachen aus der Wohnung holen würde. Eine neue Bleibe hätte er in München über seinen neuen Arbeitgeber bereits gefunden und wollte den Umzug in den kommenden Wochen vollziehen. Michaels Hilfe brauchte er dabei nicht. Genügend Freunde hätten sich bereits als Möbelpacker angekündigt. Außerdem sei es „besser so für Michael.“ Der Chefredakteur fühlte sich leer. Als hätte ihm jemand seiner kompletten Lebensenergie beraubt. Das Essen schmeckte nicht mehr, der Kaffee half nicht ihn wach zu halten. Das Leben zog momentan wie ein stiller, dichter Nebel an ihm vorbei, in dem Geräusche, sowie Bilder der Wirklichkeit, schlicht und einfach verschwanden. Die Realität war sowieso eher wie ein Alptraum für ihn. Es war gut, dass er sich von ihr distanzieren konnte. Jedenfalls versucht er das. Stürzte sich kopfüber in die vor ihm liegende Arbeit, prüfte jeden eingehenden Artikel doppelt. Redigieren war eine schwere Arbeit, wenn man sie genau ausführte, peinlich auf jeden erdenklichen Fehler achtete. Es konnte Stunden dauern. Stunden, für die Michael momentan mehr als dankbar war. Auch in den Pausen verließ er die Redaktion nicht, starrte auf den riesigen Bildschirm auf seinem Schreibtisch, verfolgte die Nachrichten, las jede noch so kleine Meldung auf Spiegel-Online, diskutierte mit jedem seiner Schreiber über die anstehenden Artikel, achtete nicht darauf, wie kurz manche dieser ausfallen würden. Er verlängerte die täglichen Konferenzen um fast eine Stunde und blieb auch noch lange nach Feierabend an seinem Arbeitsplatz. Besonders dankbar war er für die anstehende Abschiedsfeier des Online-Chefs, die noch in dieser Woche stattfinden sollte, und um die er sich selbst kümmern musste. Die Einladungen waren bereits an jeden Arbeitnehmer verschickt worden und es waren kaum Zusagen eingegangen. Er hatte den großen Saal im unteren Teil des Gebäudes gemietet und einen Partyservice gefunden, der seinen Ansprüchen und dem verfügbaren Budget entsprach. Ja, das war viel Arbeit. Und das war gut so. Beschäftigungstherapie. Das war das magische Wort. Leider funktionierte das nicht in der Wohnung. In der leeren, kalten Wohnung, in der ihn jede Ecke an Tim erinnerte. Die Räume schrien nach Tim. Verlangten nach ihm. Noch immer konnte Michael die Argumente seines Freundes, oder nun Ex-Freundes, nicht verstehen, nicht nachvollziehen. Stundenlang saß er vor dem flimmernden Fernseher, versuchte sich auf das Programm zu konzentrieren, und versagte kläglich. Durchgehend wanderten seine Gedanken zu den kalten, zu den beschuldigenden Worten seines Lebensgefährten. Hatte er Recht? War Michael so blind geworden, dass er sein eigenes Handeln nicht erkennen konnte? Das konnte nicht sein. Pausenlos dachte er über die Vergangenheit nach, über Dinge, die sie zusammen unternommen hatten. Oder eben nicht. Fortgehend analysierte er sein eigenes Verhalten. Und kam immer wieder zu demselben Resultat: Tim hatte Unrecht. Tim hatte Unrecht! TIM HATTE UNRECHT! Nach einer guten Dosis Paracetamol und Baldrianpastillen fand er endlich den Schlaf. Morgen würde die Abschiedsfeier stattfinden. Eine gute Ablenkung. SEBASTIAN/JADE „Hat Tony sich wegen morgen bei dir gemeldet?“, fragte Torsten in der Werbepause. Sie saßen auf seinem Bett, schauten sich irgendeine dumme Crime-Serie an, aßen ungesunde Chips und tranken gut gekühltes Bier. Ein netter Abend… „Ja, heute früh“, antwortete Jade, ohne den Blick von dem Fernseher zu nehmen. „Und, was für ein Event ist es genau?“, hakte der Tontechniker nach. Ein breites Grinsen machte sich auf Jades Gesicht breit. „Eine Abschiedfeier eines Redakteurs. Vom „Fly“…“, erklärte er. Torstens Augen weiteten sich. „Nein!“, schrie er fast schon in brach in Gelächter aus. Der Schwarzhaarige grinste immer noch. „Oh, doch, Torsten“, sagte er. „Oh, doch…“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)