Platz für zwei von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Kirschcola --------------------- Kapitel 1: Kirschcola 1.Kirschcola Tage wie dieser kommen nie wieder Tage wie dieser Sollten nie vergessen gehen... (Juli- Tage wie dieser) Das Universum ist ein Keks und die Erde ist nur eine seiner zweiundfünfzig Ecken. Das weiß doch jedes Kind. Demnach ist alles, was wir jemals kennen lernen können, eckig, und Kreisläufe sind ein Hirngespinst irgendwelcher Esoteriker, die ausversehen ein Hanfräucherstäbchen zu viel angezündet haben. Der Himmel über uns ist in Wirklichkeit Blaubeerecremeüberzug und das Gelbe am Himmel, das manche auch Sonne nennen, ist ein Stückchen kandierte Zitrone, die noch ein bisschen warm vom einbacken ist. Und Gott ist ein Bäcker, der Antimaterie zusammenpanscht und mit einer mir schier unvorstellbaren Phantasie Bauklötze daraus formt, die dann zu dem werden, was wir sehen. Manche Klötze fallen vom Himmel wie ein großer Klumpen Matsch aus einer Kinderhand. Sie werden fast hingerotzt, hingerotzt wie dieses Haus hier, mitten in eine wunderschöne Landschaft, die ja insgeheim aus wahnsinnig leckerem Keksteig besteht (um den sich all die kleinen Parasiten streiten, die von diesem grandiosen Meisterwerk angezogen werden). Und dann fällt noch einer, und noch einer und man möchte glauben, der große Bäcker sei inkontinent. Aber so entstehen Städte. Und dann zieht es die Parasiten zu den Matschklumpen und sie richten sich dort ein und gründen Kulturen und wachsen und breiten sich aus und immer mehr Matschklumpen müssen vom Himmel fallen. So entstehen Länder. Irgendwann kommen die Parasiten auf die Idee, sich zu töten, weil sie glauben, es könnte nicht genug Matsch und Keksteig für sie alle geben. Gott weiß es besser und lächelt und tut nichts, weil er weiß, dass der wunderbare Keks noch viel mehr Parasiten anlocken wird, egal wie sie aussehen und ob sie Matsch wollen oder die Seifenblasen, die über den Himmel schweben. Gestatten, mein Name ist Siglind. Ich bin einer der Parasiten des Großen Kekses. Und ich wohne in einem überdimensionalen Matschklumpen, der ein echtes Endprodukt seiner Reihe ist und außerdem schon von vielen anderen Parasiten zerfressen worden. Wir nennen uns Menschen. Den Keks nennen wir Erde. Und wir glauben nicht an den Großen Bäcker. Aber irgendwann müssen die Leute merken, dass es ist, wie ich sage. Bis dahin werden sie mich für verrückt erklären und ich meine Theorie für mich behalten. Sie wird hier bleiben, auf diesem Sofa, das ist schließlich verschwiegen, und wenn ich aufstehe und beschließe, mich der Welt zu stellen, werde ich wieder Siglind sein, die Strebsame, atheistische Siglind, die garantiert nicht an Kekse glaubt. Und dann werde ich nicht mehr in einem Matschklumpen wohnen, sondern in einem Haus. Ich finde, es ist das gleiche. Ich glaube, alle anderen sind anderer Meinung. Es ist Montagmorgen, es ist halb sieben. Draußen steht die Sonne erst halb am Himmel, oder es wird sowieso den ganzen Tag düster bleiben, letzteres wäre mir lieber, das würde einfach perfekt zu meiner Stimmung passen. Ich nämlich Lust zu gar nichts. Schon gar nicht dazu, Lust zu haben. Oder zur Schule zu gehen. Leute zu sehen, etwas zu lernen, zu lächeln, angelächelt zu werden oder angesprochen. Eigentlich will ich nur hier sitzen bleiben und die unendlich trostlose weiße Wand anstarren, die genau meinen Gemütszustand widerspiegelt. Leer, ohne jedes Bild oder jegliche Abwechselung. In meiner Schulklasse werde ich geschätzt. Ich kenne viele Leute und viele Leute kennen mich und ich bin Klassensprecherin und setze mich dafür ein, dass wir alle zufrieden sind in dem Steinhaufen voller alter Leute, der sich Schule nennt. Außerdem bin ich schlau. Vielleicht kann ich nicht malen, aber ich bin gut in Sprachen, weil ich immer Vokabeln lerne und außer dem nichts zu tun habe. Und ich bin einigermaßen gut in Mathe. Ich hasse Sport, aber das fällt kaum auf, weil die Lehrerin öfter fehlt als anwesend ist. Und ich habe eine fünf in Musik. Obwohl ich Gesangsunterricht nehme. All das begegnet mir Montagmorgens wieder. Und ich will nicht. Und ich will nicht! Vielleicht sollte ich einfach zuhause bleiben. Mit etwas Glück wird es später regnen. Von hier oben zuzuschauen, wie die Welt nass wird, ist das Schönste, was gibt. Nein, noch schöner ist es, sich vorzustellen, es wäre Milch, die auf den großen Keks regnet, damit er besser schmeckt und nicht trocken wird. Aber wenn ich erst einmal damit anfange, werde ich auch morgen keinen Schritt aus dem Haus machen. Und übermorgen. Woher ich die Entschuldigung für mein Fehlen bekomme, steht auch in den Sternen. Ich lebe allein, wisst ihr? Meine Eltern leben zurzeit in Ägypten. Eigentlich immer. Keine Ahnung, warum es sie überhaupt nicht kümmert, was ich hier treibe, sie verlassen sich darauf, dass meine Tante ein Auge auf mich wirft, aber sie ist Anwältin - auch keine Zeit - hat mich hier abgesetzt, in der Wohnung ihr gegenüber. Nur Geld, das krieg ich immer noch von ihr. Und ab und zu mal einen Besuch, Sonntagnachmittags. Trotzdem fühle ich mich selten einsam, aber gerade schon. Vielleicht sollte ich gerade deswegen einfach losgehen. Oder zumindest frühstücken. Aber es wird nur schlimmer, wenn ich jetzt aufstehe. Jetzt wisst ihr, dass ich selbstmitleidig bin. Und den ganzen oberflächlichen Rest. Und ihr wisst vermutlich auch, dass ich mich keinen Millimeter bewegen werde. Nicht, wenn man mich nicht zwingt. Mein Wecker klingelt, aber ich will ihn nicht ausstellen. Gebt es zu, es ist das ultimative Bild der Trostlosigkeit. Ein kaum möbliertes Wohnzimmer, ein Mädchen, das apathisch in die Leere starrt und ein klingelndes Handy. Jetzt ist es beschlossen, dieser Tag ist gelaufen. Ich lebe ein Leben auf Speed, weiß nicht mehr, was sich tue, und jetzt muss ich warten, bis mein Trip vorbei ist. Solange will ich hier liegen bleiben und pathetisch sein. Es klingelt an der Tür. Das hat echt nicht lange auf sich warten lassen; Anscheinend ist es meine Bestimmung an jedem verdammten Tag aufstehen zu müssen. Und ich ignoriere einfach die Frage, was man um halb sieben Uhr Morgens von mir wollen könnte. Vielleicht ist es Andrea, die wissen möchte, ob ich mit dem Geld über die Runden komme. Oder welche Note ich in Mathe geschrieben habe. Nachher hat sie wie immer keine Zeit, aber ich will mich ja gar nicht beschweren. Ich gehe lieber zur Tür, öffne sie- aber das ist definitiv nicht meine Tante. Vor mir steht ein Junge. Ein junger Junge, den ich noch nie gesehen habe. Und er ist schwarz. Angezogen, nicht afrikanisch. Vollkommen schwarz. Ein Gothic? Von denen haben wir zwei in der Klasse. Trotzdem: Erstmal wäre es vielleicht nicht schlecht, zu wissen, warum er vor meiner Tür steht. Bevor ich ihn unwirsch anfahren kann, hebt er die Hand, tippt sich mit zwei Fingern kurz gegen die Stirn und sagt: „Guten Morgen, meine Dame.“ Okay. Anscheinend ist er noch betrunken. Ich will ihm gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, da stellt er seinen Fuß auf meine Schwelle und sagt: „Bitte nicht!“ Ich überlege einen Moment und weiß nicht, warum ich offen lasse, aber anstatt ihm gegen das Schienbein zu treten, damit er seine Gliedmaßen von meinem Eigentum entfernt, warte ich, was er mir zu sagen hat. „Ich will dich nicht ausrauben und eigentlich auch nicht nerven“, beginnt er, und egal ob er betteln oder mit typischer nachbarschaftlicher Hilfsbereitschaft gesehen hat, dass ich mein Fahrrad falsch in den Keller gestellt habe, er schafft es, damit auch noch verlegen auszusehen, „aber hättest du vielleicht einen Schluck Kaffe für mich?“ Zugegeben, ich bin überrascht, Ich hab mit Schimpf und Schande gerechnet. Oder damit, dass er mir den 'Straßenfeger' verkaufen möchte. Deswegen frage ich besser noch mal nach, ob ich auch richtig gehört habe. „Kaffee?“ Mein Gegenüber nickt und lächelt freundlich, er tut so, als könne er verstehen, dass man morgens und um diese Uhrzeit noch nicht ganz begreift. Aber er glaubt doch nicht wirklich, dass ich ihm das abnehme? „Spinnst du? Machst du sowas öfter?“, frage ich ihn, zunehmend gereizt. Ich will meine Ruhe haben und nicht wegen irgendwelcher Lappalien und Raubüberfallsphantasien aufgehalten werden. „Ja. Eigentlich jeden Morgen“, gesteht er freimütig und zuckt daraufhin die Schultern, so als wäre er das Misstrauen schon gewohnt. Er sieht überhaupt ziemlich freimütig aus. „Na gut. Warte hier.“ Ich kann das Bedürfnis verstehen. Wer kennt es nicht? Dann knalle ich ihm die Tür vor der Nase zu und mache mich seufzend daran, Filtertüten und Pulver zu suchen. Doch noch bevor ich einen der Schränke öffnen kann, klopft es erneut. Ich bin versucht, es einfach zu ignorieren, aber dann geht er vielleicht und dann bin ich definitiv umsonst aufgestanden. Das wäre eine Schande. Dann müsste ich ja zur Schule gehen- Dem kann ich noch nicht ins Auge blicken. Ich gehe also erneut zur Tür, öffne und sehe ihn, der unverschämt grinsend immer noch in der Tür steht, einen Fuß jetzt zwischen Schwelle und Rahmen geschoben. Für einen Moment ziehe ich in Erwägung, das Kaffeepulver einfach auf den Boden zu schütten. Soll er es doch von da auflecken, wenn er schon für Kaffee betteln geht. Aber ich besinne mich. Und ich beschließe, dass meine Laune jetzt besser werden muss, sonst werde ich sicherlich später jemanden umbringen und das wäre nicht sonderlich gut für meinen Ruf. „Was ist?“ „Ich will dir zusehen.“ Spanner. Perverser. Vollidiot. Verschwinde! „Wehe, du machst auch nur einen Schritt in meine Wohnung!“ „Wie ihr wünscht, Mylady.“ Ich drehe mich um und gehe zurück in die Küche, die der Tür genau gegenüberliegt. Was für ein Zufall. Da hatte er ja wirklich ein Ass im Ärmel. Beziehungsweise, ich hatte es, aber dann hat er es mir weggenommen. Eigentlich ist es überhaupt ein Wunder, dass ich die alte Kaffeemaschine meiner Tante bekommen habe, nun gut, sie hat sich halt eine neue gekauft. Verglichen mit dem, was sonst auf dem Markt ist, ist das hier wohl einfacher Luxus aus zweiter Hand. Mein Gott, sie ist nun mal reich! Ich habe mich immer gefragt, warum sie dann noch in einem Kreuzberger Plattenbau versauert. Vielleicht meinetwegen. Aber sie soll ja nicht glauben, dass ich deswegen mein ganzes Leben lang Schuldgefühle haben werde. Erst als sich der Schwarze, der jetzt in meinem Türrahmen lehnt, räuspert, merke ich, dass ich angefangen habe zu träumen. Ich kann gerade so noch hoffen, dass ich nicht wieder angefangen habe, zu sabbern, als ich merke, dass genau das der Fall ist. Wie peinlich. Auch, wenn ich den Typen in meinem Leben nicht wiedersehen werde, werde ich rot und gieße schnell den längst fertigen Kaffee in eine billige Ikea-Tasse und reiche sie ihm. Dann stelle ich mich in demonstrative Beobachtungspose und beginne, ihm nun meinerseits bei etwas zuzusehen. Wenn er nicht vor meiner Tür gestanden hätte, hätte ich ihm wohl kaum einen zweiten Blick nachgeworfen. Er sieht nicht so aus, wie ich es normalerweise von Grufties erwarte, mit einer Tonne Wachs oder Spray in den Haaren, in irgendeiner Perversion gefärbt und merkwürdig in unkonventionelle Richtungen abstehend, er trägt auch keinen Ledermantel im Sommer (wenn auch Springerstiefel) und kein T-Shirt, auf dem 'Sonne macht albern' steht. Irgendwie unspektakulär. Aber wenn man ihn länger ansieht, so wie ich gerade, und anfängt, nachzudenken- Ach du liebe Güte, sabbere ich schon wieder? Er muss ja denken, dass er unwiderstehlich ist... hoffentlich ist er schwul... Was ich eigentlich denken wollte ist, dass er eine gewisse Ausstrahlung hat. Eine, die sich einschleicht, und die man kaum bemerkt, bis man drauf und dran ist, diesen Menschen zu mögen, egal wie lange man ihn kennt oder wer er ist. Selbsterkenntnis, Siglind. Hör auf, mit diesem Menschen zu sympathisieren! „Warum machst du das?“, frage ich, während er das Gesicht verzieht, weil er zu schnell getrunken und sich die Zunge verbrannt hat. „Kaffeebetteln?“ Selbsterkenntnis, Unbekannter. Ich nicke. „Na ja, ich hab kein Geld für Kaffee.“ Ja, das hätte ich mir auch denken können. „Warum?“ „Ich bin Obdachlos.“ Für einen Moment beschleunigen sich die Gedanken in meinem Kopf. Zuerst fällt mir auf, dass er auch ein Räuber hätte sein können, der mich einfach niederschlägt und meine Sachen mitgehen lässt. Dann frage ich mich, während ich versuche, die Adrenalinausschüttung zu begrenzen, die in meine Blutbahnen abgefeuert wird, warum ein offensichtlich junger Mann obdachlos ist. Nicht, dass ich es mir nicht denken könnte. „Das tut mir Leid.“ „Mir auch.“ „Und dann fragst du nach Koffein? Nicht nach Geld?“ „Ich habe Geld. Nur nicht für Kaffee.“ Aha. Ich möchte dein Weltbild ja wirklich nicht zerstören, aber- „Was ist mit dem Jugendamt?“ „Ich will nicht. Wie gesagt, ich Hab ja Geld. Ich bekomm es hin, irgendwie. Offiziell habe ich ja sogar eine Adresse.“ Er scheint mitteilsam zu sein. Ich frage mich, wie er das schafft, einfach so von sich zu erzählen, oder ob das alles nur eine Lüge ist, um irgendetwas bei mir zu bewirken. Egal was es ist, ich will mehr davon hören. „Wenn du versprichst, mich nicht zu ermorden oder mich zu beklauen, darfst du im sitzen trinken“, sage ich und trete demonstrativ einen Schritt nach hinten. Er denkt einen Moment nach, in dem er aber unverdrossen weiter trinkt. Dann hält er inne, sieht mich durchdringend an und sagt: „Ich muss zur Schule.“ Einen Moment lang bin ich überrascht, aber dann fällt mir auf, dass er ja gar nicht so alt sein kann, höchstens siebzehn. Aber warum geht er zum Unterricht, wenn er kein Dach über dem Kopf hat? Ich will eine Erklärung. „Heute nicht.“ Dann ziehe ich ihn am Arm in meine Wohnung. Wenn er ein Schwerverbrecher ist, dann hat er jetzt gute Karten, aber dieser Theorie habe ich ohnehin nie wirklich geglaubt. „Okay. Wie du meinst“, sagt er und lächelt ein echtes Ladykiller-Lächeln, das vielleicht jede aus der Bahn geworfen hätte. Pech gehabt, Schätzchen, ich bin asexuell. In der Küche stehen zwei Campingstühle und ein hässlicher Tisch aus Metall und schwarzem Plastik, der zu nichts passt, dass sich sonst in dieser Wohnung befindet. Ich deute auf einen, während ich die winzige Lampe anschalte, die ein wenig ramponiert aussieht und kaum noch Licht gibt. Draußen hat es angefangen zu regnen, und der Himmel ist fast dunkel. Das verleiht unserer Begegnung eine gewisse Gemütlichkeit. „Dann erzähl mal“, sage ich, verschränke die Hände vor meiner Brust und lasse mich neben einen dieser Stühle auf dem Boden nieder. „Wie kommst du montagmorgens um halb sieben in den zehnten Stock dieses Matschklumpens?“ Er streicht sich die Haare aus der Stirn und sieht mich ernst an. „Willst du das wirklich wissen?“, fragt er dann, lächelnd, aber es erreicht seine Augen nicht. Auf einmal bin ich mir gar nicht mehr so sicher. Doch ich nicke trotzdem, um mir nicht selbst zu widersprechen. Ich fürchte, das wird keine besonders schöne Geschichte werden. „Also gut.“ Er faltet die Hände und sieht schon wieder entspannter aus. „Ich bin Raven. Und ich bin inzwischen siebzehn Jahre alt.“ So beginnt seine Erzählung. Und obwohl ich ihm vom ersten Moment an nur die Hälfte glaube, bin ich jetzt schon süchtig nach seine Stimme und dem, was sie noch in den Raum stellen kann. „Aber bevor wir zum wirklich interessanten kommen- Wie heißt du? Und hast du vielleicht noch was Kaltes zu trinken?“ Er unterbricht meine Gedanken, aber glücklicherweise sind mir diesmal keine Missgeschicke passiert. Ich rappele mich wieder hoch, darum bemüht eine gute Gastgeberin für gute Unterhaltung zu sein. Obwohl es makaber ist, sich über etwas zu amüsieren, was ihm möglicherweise wirklich passiert ist. Er wird es ja niemals erfahren. An Schule ist dann heute wohl nicht mehr zu denken. Egal. Sonst habe ich es schließlich immer geschafft, hinzugehen, und heute wird mich bestimmt keiner vermissen. „Siglind. Magst du Kirschcola?“ Kapitel 2: Sofakissenromantik ----------------------------- 2. Sofakissenromantik „Als ich vier Jahre alt war, haben sich meine Eltern getrennt. Damals waren wir zu viert, mein Bruder, meine beiden Schwestern und ich. Wir haben es alle irgendwie verkraftet, dass meine Mutter zurück nach England gezogen ist, da ist sie geboren worden. Außer Ginger. Ginger ist mir ihr gegangen und hat ihre Zwillingsschwester mit uns hier gelassen. Wie auch immer, die Zeit verging, und mein Vater lernte eine neue Frau kennen. Sie heißt Stefanie. Das ist meine Stiefmutter. Die beiden haben ziemlich lange gebraucht, um zu merken, dass sie gerne miteinander in die Kiste gehen würden, das war nervenaufreibend. Na ja, jedenfalls haben die beiden Jahre lang hinter unserem Rücken eine Affäre gehabt. Eric, mein großer Bruder, ist inzwischen ausgezogen und Violet, meine Deutschland-Schwester ist zu Ginger gegangen. Dann machte mein Vater seine neue Beziehung endlich öffentlich. Alles war mehr oder weniger okay, als meine Mutter plötzlich wieder bei uns auftauchte. Und neben ihr stand ein Mädchen, nur ein bisschen älter als ich. Meine jüngste Schwester, Melia, mit der meine Mutter schwanger gewesen war, als sie sich von meinem Vater getrennt hatte. Er hat es nicht einmal gewusst, aber jetzt war meiner Mutter gekündigt worden, sie war aus ihrer Wohnung geflogen. Sie wollte auch nichts weiter mit meinem Vater zu tun haben, aber sie wollte, dass er sich um sein Kind kümmerte, das würde er ja sicherlich besser schaffen als sie. Dann ist sie nach Neuseeland geflogen. Und ich hatte eine neue Schwester, die meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Meine Stiefmutter vergötterte sie, auch wenn sie schon zu alt zum Kinderkriegen war, und ganz genau wusste, wessen Kind Melia war. Sie hat aber nie großes Aufheben darum gemacht, dass sie nicht Stephanies Kind ist. Leider bin ich meiner Mutter als einziger in der Familie ähnlich. Und aus irgendeinem Grund ist Stephanie immer noch eifersüchtig auf sie. Na ja, und das hat sie mich auch spüren lassen. Sie hat irgendwann aufgehört, mit mir zu reden. Manchmal hat sie mich angeschrien, aber das kam eher selten vor. Dann hat sie aufgehört, irgendetwas für mich zu tun. Sie hat zum Beispiel meine Wäsche wieder aus dem Wäschekorb genommen oder beim Einkaufen das Shampoo 'vergessen', dass ich brachte, weil ich eine Allergie habe. Sie hat meine Post im Briefkasten gelassen. Sie hat demonstrativ viel mit meiner Schwester unternommen, obwohl ich das nicht genau sagen kann- Vielleicht mag sie sie auch einfach. Sie hat das benutze Geschirr stehen lassen, von dem ich gegessen habe, zumindest, wenn mein Vater nicht da war. Und sie hat ihm von meinen ganzen kleinen Fehlern erzählt, die ich in den letzten Jahren gemacht habe- Und sie unerträglich übertrieben. Ich bin freiwillig von Zuhause weggegangen, ich bin schließlich der einzige, der Probleme mit Stephanie hat. Ich habe Geld von meinem Vater bekommen. Er denkt, ich wohne bei einem Freund. Aber ich bin stattdessen hier gelandet.“ Er schließt die Erzählung, in dem er die Finger ineinander verschränkt und einen Schluck von seiner Coke trinkt. Die flackernde Lampe wirft merkwürdige Schatten auf sein Gesicht, während der Regen vor dem Fenster in den letzten Minuten zu einem regelrechten Gewitter entwickelt hat. Ein Blitz zuckt über den Himmel. „Bist du zufrieden?“, fragt Raven. Statt einer Antwort fordere ich ihn auf, mit mir ins Wohnzimmer zu kommen und schalte das Licht in der Küche aus. Die Glühbirne, die im Wohnzimmer nackt an der Decke hängt, ist durchgebrannt, deswegen sehe ich mich gezwungen, eine Kerze anzuzünden, während ich dem Donner lausche, der unmittelbar über diesem Haus ertönt. Er folgt mir. „Na, du hast es ja gemütlich hier“, murmelt er. Dann berührt er mich kurz an der Schulter und als ich mich zu ihm umdrehe, streckt er mir seine Hand entgegen. „Freut mich übrigens, deine Bekanntschaft zu machen.“ Ich bin noch nicht tot. Das muss ein gutes Zeichen sein. Vielleicht ist er ein netter Kerl. Also schlage ich ein. „Du hast meinen Tag gerettet.“ „Es ist nicht mal acht. Vielleicht solltest du vorsichtig sein.“ Ich lache. Das stimmt. Es ist früher Morgen. Die Sonne ist erst vor vier Stunden aufgegangen, die Schule fängt erst in einer halben Stunde an. Die Geschäfte sind noch nicht geöffnet. Nur der Berufsverkehr ist schon in vollem Gange, aber davon bleiben wir hier oben verschont. Und ich fühle mich besser. Aus meiner Lethargie gerissen, auf einmal hat es einen Sinn, wenn ich etwas tue, einfach nur, weil jemand da ist, der mir dabei zusieht. Überhaupt verfolgt Raven jede meiner Bewegungen aufmerksam, aber es beunruhigt mich nicht. Es stört nicht. „Wo sind deine Eltern?“, fragt er mich plötzlich und ohne jede Vorwarnung, so dass ich, ans Schweigen gewöhnt, zusammenzucke. „Sie arbeiten“, erwidere ich ohne zu zögern und hoffe, dass er sich jetzt trotzdem nicht als Schwerverbrecher herausstellt. „Noch lange?“ Ich nicke und bereite mich psychisch darauf vor, einem Kerl in seine Kronjuwelen treten zu müssen. Im Fall des Falles hängen die Schlüssel für die Wohnung meiner Tante neben der Tür... „Dann merken sie wenigstens nicht, dass du heute Schule schwänzt.“ Er lässt sich aufs Sofa fallen und verschränkt die Beine, während er kurz mit den Fingerknöcheln knackt. „Was hast du jetzt vor?“, fragte er mich und mir wird klar, dass unsere stille Abmachung erfüllt ist. Der Kaffee und die Cola sind alle. Der Geschichte ist erzählt. Ich weiß nicht, was ich mit ihm anfangen soll. Also lasse ich mich ihm gegenüber auf das Sofa fallen und beginne, ihn ausgiebig zu mustern. Dunkle Augen. Ein Leberfleck an der linken Schläfe. Seine Gesichtszüge sind faszinierend, weil ich sie nicht deuten kann. Es wäre interessant, ihn näher kennenzulernen. Habe ich schon erwähnt, dass ich es liebe, Charaktere aus Gesichtern zu lesen? Aber bei ihm fällt es mir schwer. Ich liege ohnehin meistens falsch. Ich frage mich, was passiert, wenn er jetzt geht und ich ihn nie wieder sehe. Ich würde wieder hier sitzen. Den Blitzen zusehen und mich fragen, was ich mit einer neuen Geschichte anfangen soll. Ich könnte sie aufschreiben. Oder sie singen. Vielleicht finde ich jemanden, der ein Lied dazu schreibt. Mit Schlagzeug und E-Gitarre. „Ich wollte nicht zur Schule gehen“, durchbreche ich das Schweigen, bevor es peinlich wird. „Ich hatte keine Lust.“ „Hast du jetzt welche?“, fragt er und wirft eine demonstrativen Blick zur Uhr, die an der Wand hängt, aber vor drei Tagen stehen geblieben ist. „Nein. Aber ich bin froh, dass ich nicht alleine bin.“ Das ist sie, die Wirkung dieser Ausstrahlung. Dieses leise Vertrauen, dass man ihm unwillkürlich entgegenbringen will. „Das ist gut.“ Wir schweigen wieder. Aber etwas in der Atmosphäre hat sich verändert. Etwas, das mir die Haare zu Berge stehen lässt. Sie ist fesselnder geworden und verlangt viel mehr Aufmerksamkeit als noch vor ein paar Sekunden. Das ist wichtig, aber ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Also kuschele ich mich weiter in das abgewetzte Leder des Sofas und warte. Wie war das? Klimaerwärmung. Klimaerwärmung passiert, weil der große Bäcker die Tür zum großen Ofen geöffnet hat und das kandierte Zitronenstückchen jetzt in heißer Luft schwebt und deswegen heißer wirkt auf uns. Damit haben wir gar nichts zu tun, auch wenn es gut ist, dass uns auffällt, dass wir den großen Keks langsam aber sicher aufessen. Plötzlich nimmt Raven meine Hand. Und er sieht mich an. Sein Blick ist durchstechend. Auf einmal bin ich nicht mehr in der Wohnung, auf einmal bin ich nicht mehr hier. Ich bin irgendwo anders, und er ist auch da, aber viel weiter entfernt. Doch er sieht mich, und er blickt mich an, so dringend, als wolle er, dass ich auf der Stelle zu ihm käme, weil er Hilfe braucht. Ich schüttele den Kopf ein bisschen. Was für eine Vorstellung. Trotzdem, als ich langsam in die Realität zurückfinde, habe ich nicht nur ein wenig von der Wärme des Raumes mit mir genommen, auch sein Blick ist noch da und er will nicht wegsehen, so als wäre es existenziell, dass ich jetzt zurücksehe. Und, dass dann irgendetwas geschieht. Es scheint mir für einen Moment so, als würden die nächsten Sekunden die Welt bewegen. Deswegen schaue ich zurück. Und, als wäre dieser Morgen nicht schon merkwürdig genug, werfe ich mit einem mal alles über Bord, was man im Gemeinen auch 'Vernunft' nennt. Es ist mir egal, ob niemand an den Großen Keks glaubt und es ist mir auch egal, dass ich mir geschworen habe, niemals wieder auch nur an Romantik zu denken, und es ist egal, dass ich ihn kaum kenne und vielleicht jede einzelne Minute dieses Morgens eine schrecklich schöne Lüge war- als er ein wenig an meinem Arm zieht, gebe ich nach, und bemerke nur noch am Rande, dass es unbequem ist, und dass ich kaum sehen kann, als er mich küsst. Ich habe in meinem ganzen bisherigen Leben zwei Jungen geküsst. Das erste Mal waren wir auf einer langweiligen Klassenfahrt, irgendwo in der Abgeschiedenheit Sachsen- Anhalts, als wir eines Abends in einem abgedunkelten Zimmer saßen und in experimenteller Stimmung waren. Es war nicht besonders befriedigend. Das zweite Mal hatte ich einen Freund. Er war ein wundervoller Mensch, fanden die anderen, hilfsbereit und freundlich, aber alles, was sich ihm gegenüber empfinden konnte, war Pflichtgefühl. Wir waren zwei Wochen zusammen. Jede erotische Erfahrung meines Lebens habe ich mit diesem Jungen gemacht, aber am heutigen Morgen wird mir bewusst, dass es gar nichts ist. Denn als Raven, der Fremde, mich küsst und ich seine warmen Lippen auf meiner Haut spüren kann und seinen Atem hören und durch meine halb geschlossenen Augen sehen kann, wie er die seinen schließt und anscheinend wirklich eine Absicht hat hinter all dem, und nicht nur hier geblieben ist, weil er Langeweile hatte, da werde ich schwach. Und es ist, als würde jemand eine Wand einreißen und fünfzehn Jahre Alleinsein und Unwissen werden mir deutlich und ich werde abhängig von der Tatsache, dass der Junge, der mir jetzt nicht mehr gegenüber, sondern neben mir sitzt, mit mir spielt, und das so gut, dass ich genau das tue, was er will. Ich weiche zurück, als er langsam aufsteht, und sein Oberkörper sanft gegen meinen drückt. Ich komme nicht zu Bewusstsein, als ich merke, dass er sein Gewicht verlagert, um mir nicht wehzutun, ich bewundere nur das Spiel des Kerzenlichts auf seiner Haut und an den Wänden und das, was er mit einem Teil von mir anstellen kann, der mir niemals wirklich wichtig war. Ich habe mich nie darum gekümmert, das mein Körper vielleicht noch mehr kann, als mich irgendwie durchs Leben tragen, und vielleicht sollte es mir peinlich sein, dass es gerade er ist, der mir so etwas zeigt, aber meine Sinne halten kaum mit der Geschwindigkeit des Geschehens mit und deswegen beschließe ich, später darüber nachzudenken. Und als er das T-Shirt, in dem ich schlafe, langsam über meinen Bauchnabel schiebt, ist es eigentlich auch egal, denn irgendwie hätte ich mir ja denken können, dass es darauf hinauslaufen wird. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)