Früher war eh alles besser von Skeru_Seven ================================================================================ Kapitel 1: ✗✗✗ -------------- Warum konnte nicht alles wie vor zwei Jahren sein? Damals war noch alles in Ordnung gewesen; ich lebte mit meinen Eltern in einem Haus in Mainz, traf mich regelmäßig mit meinem Kumpel Gabriel und fühlte mich rundum glücklich. Aber natürlich blieb es nicht so, wäre ja zu schön gewesen. Gabriel fand mit der Zeit andere Leute, mit denen er lieber seine Freizeit verbringen wollte, in der Ehe meiner Eltern begann es zu kriseln und schließlich trennten sie sich. Meine Mutter wohnte weiterhin in unserem alten Haus während mein Vater sich entschloss, nach Hessen zu ziehen, in ein kleines, unbedeutendes Kaff am Rhein, was sowieso keiner kannte. Theoretisch hätte ich in Mainz bleiben können, nur wusste ich genau, dass dann ständiger Ärger mit meiner Mutter vorprogrammiert gewesen wäre – wir gerieten oft wegen Kleinigkeiten aneinander –, deshalb entschied ich mich für ein Leben bei meinem Vater. Gezwungenermaßen, eigentlich wäre ich lieber in Mainz geblieben. Aus diesen Gründen hockte ich auf dem Beifahrersitz unseres extrem kleinen Autos, hatte meinen MP3-Player laufen und balancierte gleichzeitig eine Straßenkarte und ein Mäppchen auf meinen Oberschenkeln. Scheiße wars, wenn man kein Navigationsgerät besaß und noch mit Wegweisern aus Papier zurecht kommen musste. „Wie lange dauert das denn noch?“, motze ich schlecht gelaunt und suchte die Karte nach einem der uns entgegenkommenden Ortsschilder ab. Hähnlein... wer nannte seine Stadt denn so? Klang nicht besonders geistreich, aber zum Glück mussten wir da nicht hin. „Dennis, wie alt bist du?“, seufzte mein Vater leicht gereizt, denn Autofahren konnte er kein Stück leiden, vor allem im Sommer. „Höchstens zehn Minuten, okay?“ „Hoff ich doch.“ Unser Auto besaß nicht nur kein Navi, sondern lebte auch ohne Klimaanlage, bei diesen Temperaturen völlig unverschämt. Als hätten wir kein Geld für ein bisschen Elektrozeug, mein Vater musste einfach seinen Spartick in vollen Zügen ausleben. Endlich fand ich Hähnlein – was für ein Minikaff! – auf der Karte und gleich daneben unser Ziel. Gernsheim, mein zukünftiger Wohnort. Mein Vater bog von der Autobahn ab, tuckerte durch ein kleines Waldstück, an einer Ampel vorbei und schließlich tauchte ein Ortschild vor uns auf. Schöfferstadt Gernheim, Kreis Groß-Gerau. Musste die Stadt sich gleich bei mir unbeliebt machen, indem sie irgendwelche Dinge dermaßen angeberisch auf ihr Schild drucken ließ? Ich wusste ja nicht mal, was ein Schöffer war, konnte man das essen? Oder auslachen? „Siehst du, gleich sind wir da“, meinte mein Vater schon fast erfreut. „Suchst du bitte die Goethestraße auf der Karte?“ „Müsstest du nicht wissen, wo die liegt?“ Immerhin war er schon öfter hier gewesen, um sich das Haus anzusehen und die meisten Möbel hier abzuladen; man brauchte höchstens 45 Minuten von Mainz bis hier, wenn kein Stau auf der Autobahn herrschte, deshalb hatte er beschlossen, die Sachen persönlich hier abzuliefern. Sonst hätte man ja den Möbelpacker bezahlen müssen. „Dennis, stell dich nicht so künstlich an und such sie, ich merk mir doch nicht auf Anhieb jeden Straßennamen hier.“ „Ist ja gut.“ Ich bemerkte zum Glück immer rechtzeitig, wenn ich ihm zu sehr auf den Geist ging. Eigentlich tat ich es nicht oft, aber manchmal musste es sein, obwohl man das von einem siebzehnjährigen Jungen nicht unbedingt erwartete, dass er wie ein siebenjähriger seine Umgebung nervte. Nach zwanzig Minuten und einer Erkundung der halben Innenstadt – dass die sowas überhaupt hatten wunderte mich ziemlich – hielten wir vor einem kleinen schlichten Haus mit der Nummer 7. Dafür, dass mein Vater es ausgesucht hatte, sah es von außen gar nicht so schlecht aus, hoffentlich galt das auch für drinnen. Ich fegte alles von mir herunter, öffnete die Autotür und hoffte auf das Beste. Bei meinem Vater wusste man nie, was er als nächstes für seltsame Sachen tat, also musste man bei seinem neuen Zuhause doppelt aufpassen. Viel Garten besaß es wirklich nicht, aber darauf legte ich nicht viel Wert, ich verbrachte meine Freizeit eher in geschlossenen Räumen, da konnte man sich besser beschäftigen. Auch an den umliegenden Gebäuden hatte man bei der Grünfläche gespart, gehörte wahrscheinlich hier zum Standardbild der Nachbarschaft. Neugierig folgte ich meinem Vater durch die Haustür und schaute mich gründlich um. Dafür, dass sich theoretisch alle Möbel an ihrem Platz befanden, wirkte es hier ziemlich karg. Früher war nunmal meine Mutter für die Dekoration der Räume zuständig gewesen, mein Vater und ich verstanden davon nicht viel. Allerdings würde ich mich die meiste Zeit in meinem Zimmer aufhalten, da musste mich die Farbe der nicht vorhandenen Gardinen im Wohnzimmer nicht interessieren. „Ich pack meine Sachen aus“, verkündete ich, schlenderte an den Kofferraum und zerrte nacheinander vier Kisten mit meinen persönlichen Gegenständen heraus. Nicht viel, doch zum Leben reichte es mir, mehr als ein paar Bücher, CDs, Computerspiele, meinen Zeichenblock und meinen Laptop benötigte ich nicht, um meine Freizeit zu gestalten. Und meine Klamotten befanden sich ebenfalls dort drin. Mühsam transportierte ich die Kisten in mein Zimmer im ersten Stock und verstaute das ganze Zeug im Schrank, in den zwei Regalen und auf dem kleinen Nachttisch. Die Zimmerfarbe gefiel mir zwar kein Stück – ein seltsames Hellblau –, aber mit genügend Postern ließ das sich sicher gut verstecken. Sollte ich mich gleich auf Erkundigstour durch Gernsheim machen mit der Gefahr, vor Langweile einzuschlafen? Nein, lieber nicht, ich würde früh genug erkennen, wie wenig Geschäfte es hier gab und außerdem hatte mich das Kartenlesen ziemlich angestrengt, beim nächten Umzug durfte mein Vater das übernehmen. Oder endlich dieses bekloppte Navi besorgen. Kapitel 2: ✗✗✗ -------------- Ich schlurfte in die Küche, blickte seufzend in den leeren Kühlschrank und hockte mich hungrig mit meinem Laptop auf das Bett. Zwar bezweifelte ich, dass mich irgendjemand aus Mainz schon zu vermissen begann, aber ich überprüfte trotzdem zur Sicherheit meine E-Mails, man wusste ja nie. Wie zu erwarten blieb die Anzeige leer, niemand trauerte wegen meines Abschieds. Wäre auch zu schön um wahr zu sein. Ob Gabriel am Montag meine Abwesenheit in der Schule bemerkte? Und wenn schon, er hatte doch nun Patrick, Manuel und Diana, deutlich 'coolere‘ Menschen als mich, also weshalb sollte es ihm großartig auffallen oder stören? Leicht frustriert von diesen Gedanken schob ich den Laptop von mir und nahm meinen Zeichenblock zur Hand, um mich ein wenig abzureagieren. Das konnte ich am besten, wenn ich wild drauf loskritzelte. Sah dann eher nach einer Kindergartenzeichnung aus als etwas anderes, aber dann ging es mir ein Stückchen besser. Obwohl ich wirklich kein Talent beim Zeichnen besaß und daher öfters von meinem Vater wegen der 'Papierverschwendung für Nichts‘ angemeckert wurde. „Dennis? Ich fahr kurz zur Tankstelle und geh dann einkaufen“, rief mein Vater durch den Flur und ich antwortete mit einem undeutlichen Gegrummel. Sollte er doch, wer wusste, ob es hier überhaupt solche lebenswichtigen Orte gab? „Soll ich dir was mitbringen?“ „Einen neuen Block.“ Wenn er so fragte, musste ich das auch ausnutzen. „Wenn es sein muss.“ Man hörte, wie begeistert er davon war; wieder Geld ausgeben für ein sinnloses Hobby seines Sohnes. Das nächste Mal würde er es sich zweimal überlegen, mir so einen Gefallen zu tun. Kaum war mein Vater verschwunden und ich fleißig mit Zeichnen beschäftigt, klingelte es an der Tür. Wer nervte denn jetzt? Wir waren vor knapp einer Stunde hier angekommen und schon wollten die ersten neugierigen Nachbarn wissen, wer neben ihnen eingezogen war oder was? Reichte es nicht, uns durch ihre Fenster zu beobachten? Auf alles gefasst ging ich zur Haustür, öffnete sie und blieb irritiert stehen. Statt alten Frauen, die ich eher vermutet hatte, standen ein Junge und ein Mädchen, beide in meinem Alter, vor mir und grinsten mich an, als wäre ich die neuste Attraktion in diesem Kaff. Vermutlich stimmte das sogar. „Hallo, du bist sicher unser neuer Nachbar“, begrüßte mich das Mädchen und musterte mich gespannt von oben bis unten. „Ihr seid heute eingezogen, oder?“ „Äh ja, vor ungefähr einer Stunde“, erklärte ich ihr und wartete, dass sie irgendwas darauf antwortete oder schnell wieder den Abgang machte. Nicht, weil sie mir absolut unsympathisch erschienen, sondern weil ich mich erst einmal mit meiner neuen Lebenssituation auseinandersetzen wollte. „Stören wir irgendwie?“, fragte sie erschrocken und ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht sollten wir uns erst vorstellen“, schlug der Junge ihr vor und wandte sich schließlich an mich. „Hi, ich bin Charly und das ist meine Schwester Vivi.“ „Eigentlich heißen wir ja Christopher und Viola, aber so nennen uns nicht einmal unsre Eltern“, fügte Vivi schnell hinzu, weil sie meinen skeptischen Blick bemerkt hatte. „Aha, ich bin Dennis.“ Und wehe, die kamen gleich mit einem peinlichen Spitznamen für mich an wie 'Denny‘ oder etwas ähnliches Schlimmes. Früher hatte mich Gabriel so immer genannt, aber mit dieser Zeit hatte ich inzwischen abgeschlossen und wollte auch nicht mehr daran erinnert werden. „Können wir irgendwie helfen?“ Vivi schien ziemlich sozial eingestellt zu sein, denn ihr Bruder warf ihr einen genervten Blick zu, als hätte er eindeutig keinen Bock, möglicherweise Kisten, Stühle oder Anderes durch die Gegend zu tragen. „Nicht nötig, wir sind schon fertig, mein Vater sucht schon den nächsten Supermarkt. Gibt’s das eigentlich hier?“ „Klar, so klein ist Gernsheim jetzt auch nicht“, grinste Charly und betrachtete den Flur hinter mir. Was es da so interessantes zu bestaunen gab, wusste ich nicht, außer meiner Jacke und einem Spiegel hang nämlich nichts dort. „Wenn wir dich ein bisschen herumführen sollen, sags einfach, wir wohnen auf der anderen Straßenseite.“ Viola deutete auf ein hellgelb gestrichenes Haus mit ein paar vereinzelten Rosenbüschen im Vorgarten, schräg gegenüber von unserem neuen Zuhause. „Aber ich warne dich: Besonders viel gibt’s hier im Umkreis von fünfhundert Metern nicht zu sehen.“ „Doch, das Altersheim, die Grundschule und den Kindergarten“, warf Charly ein und Vivi verdrehte die Augen. „Da gehörst du auch hin.“ Zum wiederholten Mal in meinem Leben war ich zufrieden über den Fakt, dass ich Einzelkind war und es hoffentlich immer bleiben würde. Außer meine Eltern schleppten plötzlich neue Partner mit grauenhaften Stiefgeschwistern an. „Also Dennis, falls du Zeit hast, komm einfach mal zu uns rüber, damit Vivi mir nicht ständig auf den Geist geht“, meinte Charly und erhielt von seiner Schwester dafür einen Stoß in die Seite, was ihn allerdings kein Stückchen zu stören schien. „Hör nicht auf ihn, er redet gerne dummes Zeug“, versicherte sie und zerrte ihn hinter sich her. „Bis bald mal und viel Spaß im langweiligsten Ort der Welt.“ Noch leicht verwirrt vom Auftauchen der zwei stand ich in der Tür und sah ihnen nach, wie sie lautstark zankend die Straße überquerten und ihr Haus betraten. Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet, aber wenigstens gab es anscheinend noch halbwegs normale Leute in Gernsheim, die ihren Wohnort nicht sehr mochten, weil er öde bis zum Umfallen war. Und falls ich tatsächlich mal Gesellschaft brauchte, konnte ich bei ihnen vorbeischauen, klang doch endlich positiv. Kapitel 3: ✗✗✗ -------------- Mein Vater kehrte kurze Zeit später tatsächlich mit einer ganzen Ladung Lebensmittel an und erzählte mir stolz, wie schnell er es gefunden hatte, da er ausnahmsweise gleich jemanden nach dem Weg gefragt und sich nicht erst stundenlang verfahren hatte. Weltwunder. Ich nahm mir einen Grießpudding, setzte mich an den Küchentisch und schaute aus dem Fenster auf die Birke unserer Nachbarn. Warum dachten manche Menschen, sie bräuchten solche hässlichen Bäume in ihrem Vorgarten? Ein Kirsch- oder Apfelbaum war wenigstens nützlich und eine Tanne sah schön aus, aber eine Birke? Schlechter Geschmack oder was? Sicher gehörte der Baum zum Grundstück einer alten Frau, die sich einen Spaß daraus machte, zu allen möglichen Jahreszeiten ihren Baum dazu zu bringen, Dreck an die angrenzenden Bewohner zu verteilen. Eine gruselige Vorstellung, hoffentlich stimmte das nicht. Irgendwie war mir nun der Appetit vergangen, daher ließ ich den halb aufgegessen Pudding auf dem Küchentisch stehen – vielleicht aß ich ihn später noch – und setzte mich wieder vor den Laptop, falls doch jemand auf die Idee gekommen war, mir nette Grüße oder wenigstens eine Drohmail zu schicken. Hauptsache ein Lebenszeichen von außerhalb dieses unverschämt kleinen Ortes. Ausnahmsweise hatte tatsächlich jemand an mich gedacht; Christina, meine ehemalige Klassenkameradin, mit der ich eigentlich nicht so sehr in Kontakt stand, aber es schien sie zu interessieren, wie es hier so war. Bis jetzt konnte ich ihr noch nicht allzu viel schreiben, doch das Wenige klang so abschreckend, dass ich es nicht schaffte, ein Grinsen zu verkneifen. Für sie musste es sich anhören, als wäre dieser Ort eine Kreuzung zwischen dem Pluto und der Hölle. Das traf sicher ins Schwarze. Nachdem ich sie gebeten hatte, mir am Montag zu berichten, wie Gabriel auf mein ‚plötzliches Verschwinden‘ reagiert haben würde – ich hatte ihm absichtlich nichts von meinem Umzug erzählt, wahrscheinlich bemerkte er es sich mal, obwohl wir in einer Klasse gewesen waren – schaltete ich das Gerät aus und widmete mich wieder meiner Zeichnung, die andere Menschen eher als Schande für die Künstlerwelt bezeichnet hätten, und wurde gegen sechs Uhr von meinem Vater zum Abendessen in die Küche gerufen. Welcher Depp hatte so früh überhaupt schon Hunger? Ich ganz sicher nicht und wenn wir jetzt aßen, würde ich spätestens um halb eins in der Nacht noch einmal in die Küche latschen, um vor Hunger nicht umzukommen. Außerdem schlief ich mit leerem Magen ganz schlecht ein. In der Küche stand der Pudding immer noch anklagend auf dem Tisch und bevor mein Vater mich darauf hinwies, dass ich mein Essen gefälligst komplett essen und nicht überall herumstehen lassen sollte, löffelte ich ihn zu Ende. Inzwischen schmeckte er zwar etwas seltsam, aber das war meine Schuld, ich hätte ihn lieber zurück in den Kühlschrank geben sollen. Naja, nachher ist man immer schlauer. Während des Essens erzählte mein Vater mir über seinen neuen Job, für den er sich beworben hatte und den er ab Montag ausüben würde, den Geschäften am anderen Ende des Ortes und anderen Dingen, die mich momentan wirklich am Arsch vorbeigingen. Daher nickte ich nur von Zeit zu Zeit zustimmend, um einen Hauch Interesse vorzutäuschen, und verzog mich so schnell wie möglich wieder in mein Zimmer. Am nächsten Morgen wachte ich schon um acht Uhr auf, weil ich aus totaler Langweile gegen 11 Uhr eingeschlafen war, und überlegte, wie ich meinen ersten Sonntagmorgen in diesem Haus gestalten sollte. Weiterschlafen? Ging nicht, ich fühlte mich dafür viel zu munter. Im Internet surfen? Nein, reine Zeitverschwendung und auf Dauer langweilig. Zeichnen? Besser nicht, sonst regte sich sein Vater wieder über meinen Papierverbrauch auf. Also was sollte ich stattdessen tun? Eine halbe Stunde später überlegte ich, bis sich meine meistens inaktive soziale Ader meldete und mich dazu brachte, aus dem gemütlichen Bett zu krabbeln, ein bisschen Kleingeld zusammenzukratzen und den nächsten Bäcker aufzusuchen. Zwar hatte ich keine Ahnung, wo der seine Brötchen verteilte, aber in der Innenstadt gab es bestimmt einen. Oder auch nicht – bei Gernsheim wusste man nie –, zur Not fragte ich irgendeinen unfreundlichen Passanten nach dem Weg. Ich schnappte mir meine Jacke, schrieb meinem Vater vorsichtshalber einen Zettel, damit er nicht auf dieselbe Idee kam wie ich und wir bis Weihnachten Brötchen knabbern durften, und begann meine Erkundungstour. Zuerst suchte ich die umliegenden Straßen ab, bis ich schließlich die Innenstadt zu finden versuchte, was sich als gar nicht so einfach herausstellte, wenn man sich an einem Ort eigentlich nicht auskannte und zusätzlich nicht den ausgeprägtesten Orientierungssinn besaß. Erstaunlicherweise stand ich nach 35 Minuten vor einem Laden gegenüber vom Stadthaus, der verdächtig nach Bäckerei aussah und auch atsählich eine war. Unglaublich, ich hatte es geschafft. Ein wenig stolz auf mich selbst kaufte ich ein Sesam-, ein Mohn- und zwei Rosenbrötchen, schockierte die Verkäuferin mit der Flut von Centmünzen und machte mich auf den Rückweg, der sich als gar nicht so kompliziert herausstellte, sodass ich um zwanzig nach neun die Brötchentüte auf den Küchentisch stellte und mich müde auf die Couch fallen ließ. Mission erfolgreich. Wehe, mein Vater beschwerte sich darüber, dann war dies das letzte Mal gewesen, dass ich mein Taschengeld für ein 'Familienfrühstück' geopfert hatte. Kapitel 4: ✗✗✗ -------------- Das Frühstück verlief so schweigsam und langweilig wie immer, da mein Vater morgens meistens kein bisschen gesprächig war und mir auch kein Thema einfiel, über das wir zumindest etwas reden konnten ohne allzu viel zu sagen. Spannend, ich weiß, aber so ging es bei uns zu, wen das nicht interessierte, der sollte sich ruhig beschweren. Nachdem ich den Tisch abgeräumt und ein übrig gebliebenes Brötchen in den Mülleimer verbannt hatte – ja, ich weiß, Essensverschwendung, na und? – brach wieder die altbekannte Langweile herein, obwohl mich eigentlich alles in diesem Haus, dieser Straße und dieser Stadt mit seiner Unbekanntheit zum Erkunden einladen sollte. Tat es leider nicht. Das Haus war gammelig, die Straße öde und die 'Stadt' ein Kaff, da gab es einfach nichts Tolles. Wahrscheinlich war das Altenheim hier die Hauptattraktion, gleich gefolgt von... genau, gar nichts. Vielleicht dem Bäcker. Oder dem Nachbarörtchen. „Dennis, was soll das denn?“, wollte mein Vater genervt wissen, als ich anfing, kreuz und quer durch das Haus zu latschen und mir einredete, alles ganz wunderschön und großartig zu finden. Klappte natürlich nicht. „Ich wandere“, grummelte ich vor mich hin, während ich zum vierten Mal die Treppe hinaufging und dabei die Stufen zählte. „Sieht man doch.“ „Ich glaube, dir geht es etwas zu gut. Ist ja schön, dass du das Frühstück vorbereitet hast, aber deshalb brauchst du dich jetzt nicht wie im Kindergarten zu benehmen, du bist immerhin schon fast erwachsen.“ „Das ist kein Kindergarten, sondern eine Sightseeing-Tour“, behauptete ich sofort; irgendwie stimmte es auch, außerdem klang es nicht, als wäre ich bescheuert. Höchstens ein bisschen. „Noch besser, dann kannst du sie draußen fortsetzen, das wäre wichtiger für dich.“ Wie schafften Eltern es eigentlich, ihren Kindern – egal wie alt diese waren – ständig ihren Willen aufzudrücken? Kam das mit der Zeit oder konnte man das an der Volkshochschule lernen? Auf jeden Fall stand ich nun in unserem verarscht kleinen Vorgarten und ärgerte mich, dass ich mit siebzehn immer noch auf meinen Vater hörte. Allein konnte ich nicht durch die gesamte Ortschaft laufen, da ging ich sonst verloren. Vielleicht sollte ich bei Vivi und Charly vorbeischauen und ganz lieb fragen, ob sie für heute Stadtführer für mich spielten. Um elf Uhr musste man eigentlich schon aufgestanden sein und wenn nicht, war es nicht meine Schuld, dass sie bis zum Abendessen pennten. Ich überquerte die Straße, stellte mich vor die Haustür mit dem sehr bunten Blumenkranz und ließ meine Hand unschlüssig vor der Klingel schweben. Klingeln ja oder nein? Vielleicht? Kommt drauf an? Bevor ich mich entscheiden konnte, hüstelte jemand hinter mir; ich drehte mich um und stieß fast mit Vivi zusammen, die einfach hinter mir aufgetaucht war. Sie schlief auf jeden Fall nicht mehr, immerhin eine Erkenntnis am frühen Morgen oder eher Vormittag. „Hallo Dennis, was machst du denn hier?“ Mit mir hatte sie also nicht gerechnet. War das jetzt positiv oder negativ für mich? „Naja...“ Weil ich zu doof bin, um mir einen Stadtplan zu kaufen, müsste ihr heute dran glauben. „Ich wollte fragen, ob du und dein Bruder mir etwas die Stadt zeigen könnt. Ich weiß ja nicht mal, wo die Schule ist und ob es hier noch andere Sachen außer Bäcker und Kindergärten gibt.“ „Klar, können wir machen, aber ich muss erst gucken, dass mein Lieblingsbruder wach ist, sonst dürfen wir ihn wecken und das kann Stunden dauern.“ Mit einem entschuldigenden Blick verschwand sie im Haus und kehrte kurze Zeit später zurück – wundersamerweise mit einem grinsenden Charly an ihrer Seite. Anscheinend hatte er durch seine tollen hellseherischen Fähigkeiten gewusst, dass ich käme und war deshalb früher aufgestanden. Zugegeben, dieses Idee klang total beknackt, aber genau deshalb fand ich sie auch so gut. In den folgenden Stunden führten mich die Zwillinge durch mindestens jede Straße und Gasse, zeigten mir die nicht vorhandenen Sehenswürdigkeiten und amüsierten sich riesig über meine unzufriedene Miene, die von Minute zu Minute deutlicher zu sehen war. Kein Wunder, es gab außer den pädagogischen Einrichtungen ein bis auf weiteres geschlossenes Hallenbad, eindeutig zu viele Bäcker, einen relativ kleinen Buchladen, dafür Kruschelläden in allen Variationen – natürlich nur mit Dingen, die keiner brauchte – und drei Eisdielen, von denen laut Charly nur eine 'voll cool' war, und genau in dieser saßen wir an einem Tisch, löffelten unsere Eisbecher und hörten dem Gequake vom Nebentisch zu, an dem vier Mädchen über Supernatural, Twilight, Lee Pace und Slasheis diskutierten. Der Kellner, der ständig im Eiltempo durch den Laden wuselte, warf ihnen öfter schiefe Blicke zu und Vivi spitzte die Ohren, als die Chaostruppe einstimmig beschloss, dass mindestens die Hälfte ihrer Klassenkameraden schwul sein musste. Hatten die nichts anderes zu tun als über das Sexualleben ihrer Mitmenschen zu spekulieren? Außerdem war es mehr als unwahrscheinlich, dass mehr als fünf Jungs in einer einzigen Klasse homosexuell waren. Mädchen und ihre seltsamen Vorstellungen. Als der Klatschtantenverein endlich bezahlte und abzog, atmeten nicht nur der Kellner und ich erleichtert auf; nun konnten die anwesenden Personen wieder normal miteinander kommunizieren. Ich erzählte den Zwillingen ein wenig aus meinem Leben in Mainz, während sie im Gegenzug von totspannenden Alltag im – wie ich ab heute fand – größten Kaff der Welt plauderten; über dreiste Senioren, besserwisserische Erwachsene, unfreundliche Jugendliche und nervige Klein- und Grundschulkinder. In Gernsheim musste das Leben echt geil sein, wenn man sonst keine Probleme hatte. „Wollten wir dir nicht eigentlich die Schule zeigen?“, fiel es Charly plötzlich ein. „Wir können ihn auch morgen zur Schule bringen, vielleicht merkt er sich den Weg“, schlug Vivi vor und weil ich eindeutig keinen Bock hatte, noch zu irgendwelchen Schulen zu gehen, nahm ich das Angebot an. „Hast du ein Fahrrad?“ „Nein.“ Wieso sollte ich? Mein Vater besaß nicht umsonst ein funktionierendes Auto. „Okay, dann holen wir dich morgen um halb acht bei dir zuhause ab.“ Nach einer weiteren halben Stunde Eisgemampfe und Dummgeschwätz verabschiedete ich mich von den zwei und suchte mir meinen Weg nach Hause. Ziemlich erfolgreich, denn nur ein paar Meter entfernt war die Bäckerei von heute morgen und den Rest des Wegs hatte ich mir einigermaßen gemerkt. Zum wievielten Mal schwafelte ich eigentlich schon von der Bäckerei? War ja unheimlich. „Wo warst du?“, fragte mich mein Vater überrascht, als ich gegen fünf Uhr müde vor der Haustür stand. Natürlich ohne Schlüssel, weil ich ja so außergewöhnlich bin und durch Wände gehen kann. Manchmal bin ich halt dumm. „Auf dem Kinderspielplatz, nicht gewusst?“ Wer hatte mich denn sozusagen gezwungen, draußen die pure Langweile zu betrachten? „Und was hat daran so lange gedauert?“ Er glaubte das doch nicht wirklich! Ich hatte zwar manchmal seltsame Anfälle, aber sechs Stunden allein auf dem Spielplatz abzuhängen gehörte sicher nicht dazu. „Das war ein Witz, Mann!“ Dass Erwachsene alles immer so ernst nahmen, schrecklich. Hoffentlich wurde ich später nicht auch so komisch. „Vivi und Charly haben mir die Stadt gezeigt, dann waren wir noch Eis essen. Und nicht auf dem Spielplatz.“ Wenn er das nicht checkte, konnte ich ihm auch nicht mehr helfen. Doch mein Vater schien inzwischen ganz andere Probleme zu haben. „Wer sind Vivi und Charly?“ Stimmt, von denen hatte ich ihm gar nichts erzählt. Naja, Eltern brauchten auch nicht alles zu wissen. Fand ich zumindest, aber mein Vater sah das natürlich ganz anders. „Die wohnen gegenüber, sind gestern vorbeigekommen, als du gerade tanken warst.“ Das genügte für den Anfang, viel mehr wusste ich eigentlich auch nicht von ihnen. „Wie alt?“ „Ungefähr so alt wie ich.“ Schätzte ich einfach mal. „Zwei Mädchen?“ „Mädchen und Junge.“ Sofort merkte ich, dass ich das Interesse meines Vaters endgültig geweckt hatte, allerdings wolle ich mich im Moment nicht mit ihm unterhalten und ließ ihn einfach im Flur stehen. Ich bereute es schon lange, meinen Eltern gesagt zu haben, dass ich nicht nur auf Mädchen, sondern auch auf Jungs stand. Meine Mutter kam damit überhaupt nicht zurecht – wahrscheinlich hatte sie Angst, später keine Enkelkinder zu haben – und mein Vater glaubte, jeder Junge, von dem ich auch nur einmal erzählte, könnte mein neuer fester Freund sein. Totaler Blödsinn. Erstens konnte es nur eine vorrübergehende Phase sein, zweitens stand ich nicht auf alles, was männlich war und drittens wollte ich sowieso keine Kinder. Außerdem war ich – wie mein Vater heute schon festgestellt hatte – fast erwachsen, theoretisch konnte ich machen, was ich wollte und mit jedem dahergelaufenen Typen ins Bett steigen. Worauf ich aber keine Lust hatte, das sollten ruhig andere Deppen machen. Den restlichen Abend verschönerte ich meinen Block, tauschte mich noch mit Christina per E-Mail aus und ging gegen 23 Uhr ziemlich kaputt ins Bett. Hoffentlich war die neue Klasse halbwegs normal, also keine Streber, aber auch keine 'Wir sind cooler als die Kühlregale beim Aldi' Fraktion, sonst würde ich wirklich wieder nach Mainz gehen. Kapitel 5: ✗✗✗ -------------- Gegen halb sieben klingelte mich mein Wecker aus dem Bett; ich aß eine Scheibe Toast, hüpfte schnell unter die Dusche und versuchte mich einigermaßen normal herzurichten. Funktionierte sogar ganz gut. Schnell packte ich einen Block und mein Mäppchen in meine Tasche, angelte mir aus dem Kühlschrank einen Joghurt für die Pause und dachte ausnahmsweise an den Schlüssel; ich wollte nicht vor verschlossener Tür stehen, falls mein Vater um eins noch auf seiner neuen Arbeit war. Zur verabredeten Zeit standen Vivi und Charly vor unserem Haus – allerdings mit Fahrrädern. Sollte ich ihnen hinterher rennen oder was? Konnten sie vergessen, dafür war ich viel zu unsportlich und momentan noch zu müde. Das sagte ich ihnen auch ausdrücklich, worauf sie fast synchron anfingen zu grinsen – das taten sie anscheinend sehr gerne – und Charly mir erklärte, dass er und seine Schwester – eigentlich nur er – für mich heute Taxifahrer spielten. Wenn sie meinten, dass sie mich auf ihren Gepäckträger quetschen mussten, sollte es mir recht sein. Besser als laufen. Vorsichtig platzierte ich mich hinter Charly, hielt mich an diesem fest und los ging es; sie düsten quer durch die Stadt und schon nach Kurzem hatte ich keinen Plan mehr, wo wir uns befanden. Dann durften die beiden in den nächsten Tagen ihren Job nun mal so lange weiterführen, bis ich die Strecke so ungefähr im Kopf hatte. „Auf welche Schule gehst du eigentlich?“ Die Frage fiel Vivi ja sehr früh ein. „Aufs Gymnasium.“ Weil meine Eltern es nicht ertragen hätten, einen Sohn ohne Abitur zu haben. Sehr krank. „Wie praktisch“, meinte Charly, „wir auch. In welcher Klasse?“ „In die zehnte.“ Zumindest, bis die Ferien anfingen. Danach hoffentlich in die elfte, obwohl ich eigentlich etwas Panik vor der Oberstufe hatte. „Schade, wir gehen erst in die neunte.“ Also konnten wir nicht in dieselbe Klasse kommen, Pech für mich. Nach ungefähr zehn Minuten Fahrt erreichten wir den Schulhof, die Zwillinge stellten ihre Fahrräder ab und brachten mich zum Sekretariat, wo sie sich auch von mir verabschiedeten, weil ihr Unterricht in wenigen Minuten begann. Die Frau, die dort drinnen arbeitete, quatschte mich erst einmal regelrecht tot, gab mir einen Stundenplan und zeigte mir, welcher Raum für die nächstens vier Wochen mein Klassensaal sein sollte. Nun stand ich vor der geschlossenen Tür, hinter der ich die Stimme irgendeines x-beliebigen Lehrers hörte und zwang mich dazu, hinein zu gehen. Mehr als dumm gucken konnten die eigentlich nicht machen, da stand schließlich ein toller Pädagogen vorne an der Tafel. Energisch drückte ich die Klinke hinunter und wurde, wie erwartet, blöd angestarrt. Kein Wunder, die lebten hier fast hinter dem Mond und waren es gewöhnt, dass alle Leute gleich langweilig aussahen. Bis auf Vivi und Charly. Und ab jetzt auch mich. Ohne wirklich Notiz von mir zu nehmen – hatte er mich überhaupt bemerkt? – fuhr der Lehrer mit dem Unterricht fort, sodass ich mir notgedrungen selbst einen Platz neben irgendjemanden suchte und auch nicht verjagt wurde. Nur mit den neugierigen Blicken musste ich leben. Naja, aber besser als diese peinlichen Vorstellungen vor allen. So konnten nämlich die Leute, die Interesse hatten, mich in der Pause ausfragen und es musste kein Unterricht dafür ausfallen. Praktische Lösung. Während des Unterrichts versuchte ich so gut es ging zuzuhören – obwohl der Mensch ganz vorne von richtig uninteressanten Fakten der Weimarer Republik erzählte – und beobachtete gleichzeitig meine neue Umgebung. Der Raum sah fast so wie der in meiner alten Schul aus – weiß mit jeder Menge Tische und Stühle drin – bei den Schülern bezweifelte ich jetzt schon, dass ich mir irgendwann ihre Namen merken würde – die hatten überhaupt keine auffälligen Merkmale, an denen ich sie unterscheiden konnte! – und der Lehrer kam mir auch von irgendwoher bekannt vor. Das lag bestimmt daran, dass alle Lehrer auf eine Art gleich spannend unterrichteten. Oder so. Nur der Typ neben mir stach aus der 0815-Masse hervor, da er – auch wenn ich es ungern zugab – ziemlich gut aussah. Dumm für ihn – und wahrscheinlich auch für mich –, weil ich gegen gutaussehende Jungs und Mädchen aus guten Gründen Vorurteile hatte. Ich hatte bis jetzt leider immer erlebt, dass sie entweder arrogant oder egoistisch wie noch was waren. Im schlimmsten Fall sogar beides zusammen. Hätte ich nicht besser aufpassen können, neben wen ich mich setzte? Doch meine Befürchtungen stellten sich als vorläufig unnötig heraus, als Nils sich in der großen Pause zu mir stellte und mich ein wenig ausfragte. Allerdings war er der einzige, der Rest meiner neuen Klasse ließ sich nicht mal bei mir blicken. Naja, es zwang sie auch keiner dazu. „Seit wann seid ihr schon hier?“ „Seit Samstag Mittag oder so.“ Das hatte ich mir wirklich nicht gemerkt. „Und wie gefällt dir die Stadt?“ „Soll ich ehrlich sein?“ „Klar, sonst bringt es wenig.“ „Okay, sie ist klein und hier gibt’s nichts.“ „Mit der Einstellung bist du nicht allein“, meinte Nils, „sogar meine Oma regt sich öfters auf, dass hier nichts los ist.“ Na toll, nun teilte ich schon die Ansichten von alten Leuten, die eh nur am Nörgeln waren. Das freute mich aber voll. „In welcher Straße wohnst du?“ Nils war anscheinend neugierig. „In der Goethestraße.“ „Echt? Dann würde ich an deiner Stelle etwas aufpassen, da wohnen zwei aus der neunten, die sind etwas... seltsam. Der Junge macht sich ständig an andere Typen ran und das Mädchen findet das auch noch toll.“ „Danke für die Warnung, aber ich fand die beiden eigentlich in Ordnung. Sie haben mich wenigstens nicht wie die anderen angeglotzt wie ein komisches Tier im Zoo.“ Zwar schien Nils meine Aussage nicht besonders zu gefallen, aber er ließ sich nichts anmerken und kümmerte sich einfach nicht mehr um das Thema 'Vivi und Charly'. Zum Glück für ihn, ich fand es nämlich mehr als unterbelichtet, irgendwelche Sachen über andere Leute zu sagen, ohne dass diese sich dagegen wehren konnten. Nach der Schule holte Nils mit mir die Bücher, die ich brauchte, aus der Schulbibliothek, schrieb eine meterlange Liste, was für Hefte und Ordner ich theoretisch benötigte – als würde ich mir für einen Monat so viel Zeug kaufen – und am Ende brachte ich ihn dazu, mich nach Hause zu begleiten. Allein traute ich mir das nicht zu und mein eigentlicher Taxifahrer war längst weg. Also blieb nur Nils übrig. Zu Fuß dauerte es ziemlich lange, fast eine halbe Stunde, aber mein Begleiter nutzte die Zeit wieder, um ungefähr meinen ganzen Lebenslauf zu erfahren, dabei war der mehr als langweilig. Dafür erzählte Nils mir auch von sich selbst: er selbst war Einzelkind, fast so alt wie ich und würde sobald er sein Abi hatte, hier wegziehen. Vernünftige Entscheidung. Kapitel 6: ✗✗✗ -------------- Als ich zuhause ankam, war niemand da. Das bedeutete also, wenn ich Mittagessen haben wollte, musste ich es mir selbst machen. Meine Kochkünste machten meinem Zeichentalent kaum Konkurrenz; vielleicht reichte eine Tiefkühlpizza für den Anfang. Eine Viertelstunde später lag eine leicht angekokelte Pizza auf meinem Teller; Operation fast erfolgreich, ich konnte sie irgendwie essen, nur sollte ich lieber das schwarze Zeug an der Unterseite abkratzen. Das schmeckte nämlich absolut eklig. Während ich an einem Pizzastück knabberte, hockte ich mich vor den Fernseher und ließ mich davon berieseln. Als Entspannung taugte es immerhin etwas, obwohl ich nachher nicht einmal mehr wusste, was genau ich mir überhaupt reingezogen hatte. Theoretisch hätten die Fernsehfuzzis irgendeinen schlechten Porno zeigen können und ich hätte es nicht gemerkt. Naja, ich stand sowieso nicht auf solche Sachen, die waren in den meisten Fällen noch unlogischer als die übrigen Sendungen. So vertieft in meine Nachmittagsbeschäftigung bemerkte ich den Besuch vor unserer Haustür erst, als er anfing Sturm zu klingeln und lautstark zu rufen. Toll, da versuchte man sich gerade zu entspannen und wurde sofort wieder durch die Gegend gescheucht, wie unverschämt. Um wen es sich handelte, der momentan kurz davor stand, unsere Klingel zu demolieren, konnte ich mir denken, besonders viele Leute kannten wir immerhin noch nicht und jemand aus Mainz hätte sich sicher vorher bei uns angemeldet. Noch mit einem Rest Pizza in der Hand schlurfte ich in den Flur und öffnete meinen zwei Lieblingsnachbarn die Tür. Wie erwartet waren sie gut gelaunt und Charly wieder am Grinsen, der Normalzustand also. Natürlich fragten sie mich sofort über meinen ersten Schultag an ihrer Kaffschule aus. Dieses Mal freundlich ließ ich sie rein und lotse sie ins Wohnzimmer, in dem immer noch die Flimmerkiste vor sich hindudelte und eine ziemlich penetrante Frauenstimme den Zuschauern unverschämt teure Haarpflegeprodukte andrehen wollte. Hatte ganz vergessen, es auszuschalten vor lauter plötzlicher Hektik. „Und, wie wars? Gut überstanden?“, erkundigte sich Vivi und warf ihrem Bruder einen bösen Blick zu, damit er genauso cool die Füße von unserem Tischchen nahm, wie er sie daraufgelegt hatte. Natürlich inklusive Schuhe. „Ja, einigermaßen. Unterricht war halt langweilig, aber das war in Mainz auch schon.“ Gab es überhaupt durchgängig richtig interessanten Unterricht? Wenn ja, durfte er sich gerne mal hier melden und aushelfen, die Schüler wären sicher alle dankbar. „Und wie bist du wieder nach Hause gekommen? Hast du dir den ganzen Weg gemerkt?“ Das konnte sich Charly nicht vorstellen. Da hatte er auch Recht, dazu war ich gar nicht in der Lage mit meinem grottigen Orientierungssinn. „Nein, Nils hat mich nach Hause gebracht.“ Sofort tauschten die Zwillinge nicht besonders begeisterte Blicke aus, was mir verriet, dass sie mit diesem Namen nichts Gutes verbanden. Kein Wunder, so wie sich Nils über die zwei geäußert hatte. Das behielt er sicher nicht für sich, nahm ich einfach mal an. „Bist du bei ihm in der Klasse?“ Vivi rammte ihren Bruder den Ellbogen in die Seite, damit er sich endlich anständig verhielt und aufhörte, an unserem Couchbezug herumzuzupfen. „Ja, ich hab mich neben ihn gesetzt, weil ich keinen besseren Platz gefunden habe“, erklärte ich ihr, worauf sich Charlys Mine noch eine Spur verdüsterte. Anscheinend bedeutete das für sie so ungefähr den Weltuntergang. Na super und ich wusste nicht einmal, wieso. Zugegeben, falls Nils tatsächlich so oft wie möglich schlecht über sie redete, verstand ich es ja, aber das hieß nicht automatisch, dass ich mich ihm anschloss. Da wäre ich kein Fünkchen besser als die Leute, über die ich mich gerne aufregte. „Hör mal, Dennis.“ Vivi wusste nicht so recht, wie sie anfangen sollte. „Nils und wir, wir haben sozusagen ein persönliches Probleme miteinander. Er ist nämlich etwas...naja, seltsam.“ „Er ist ein verdammter Idiot!“, rief Charly dazwischen, hielt aber gleich wieder die Klappe, nachdem Vivi mit einer Geste klar gemacht hatte, dass sie momentan erklären wollte. „Du kannst natürlich mit Nils machen, was du willst, das geht uns nichts an, aber ich will dich nur vorwarnen, dass er nicht besonders gut auf uns zu sprechen ist.“ „Ich weiß, er hat es mir heute morgen ziemlich deutlich gezeigt“, seufzte ich und knabberte am Rand des Pizzastückchens herum. Wenn er ein Problem mit Homosexualität hatte, würde eine Freundschaft zwischen uns sowieso nicht funktionieren, das stand fest. Was sollte ich mit Freunden, die nicht akzeptieren, wie ich war? Wahrscheinlich war das auch ein Grund gewesen, weshalb es mit mir und Gabriel irgendwann nicht mehr geklappt hatte: wir hatten die gegenseitigen Veränderungen nicht hinnehmen wollen, uns an die früheren Erinnerungen gehängt und damit eigentlich alles kaputt gemacht. Nein, an Gabriel wollte ich nun wirklich nicht denken, das gehörte in die Schublade 'abgehakte Dinge‘. „Was hat er denn wieder Nettes über uns behauptet?“, fragte Charly ein wenig nervös. „Eine Zeit lang hatte er die kranke Idee, überall zu erzählen, Vivi würde mit einem Lehrer schlafen, um bessere Noten zu bekommen. Und ich wäre ein Satanist, der sich mit ein paar aus unserem Jahrgang regelmäßig auf dem Friedhof trifft, um Gräber zu zerstören. Der Junge hat echt einen an der Waffel.“ „Nein, so schlimm war es ganz sicher nicht.“ Zumindest klang es für mich nicht ganz so abgedreht wie das, was Charly gerade gesagt hatte. „Er wollte mich vor dir warnen, weil du mich angeblich belästigen könntest und Vivi das so toll findet, dass sie davon Fotos macht.“ So ungefähr hatte Nils es meiner Meinung nach gemeint. Wenn er wüsste, das mir das so was von gar keine Angst machte. „Ach so, jetzt versucht er es so. Hofft sicher, dass es genügend Leute gibt, die Schwule am liebsten dezent in die Anstalt einweisen lassen würde“, brummte Charly und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und, hat er in dir jemanden gefunden?“ „Wärt ihr dann hier? Ganz bestimmt nicht.“ Damit war für mich das Thema abgehakt. Die beiden wussten, dass ich mich nicht von Nils Kommentaren beeinflussen lassen würde und ich selbst nahm mir vor, ihn etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, bevor ich mir ein festes Bild von ihm machte. „Wollt ihr was trinken?“, fragte ich die Zwillinge, um auch ihnen zu zeigen, dass ich im Moment nicht mehr über meinen neuen Klassenkameraden sprechen wollte. Außerdem hatte ich selbst auch Durst, lag mit großer Wahrscheinlichkeit an diesem trockenen Rand, den ich meistens einfach liegen ließ. Charly entschied sich für ein Glas Wasser, Vivi hingegen fragte etwas zögernd, ob wir zufällig Orangensaft ohne Fruchtstückchen im Kühlschrank hätten. Hatten wir, meine Mutter trank ihn immer, weshalb mein Vater und ich uns daran gewöhnt hatten, immer welchen zu kaufen, obwohl meine Mutter nicht mehr bei uns wohnte. Oder besser gesagt, wir nicht mehr bei ihr. Während ich in der Küche die Getränke vorbereitete, hörte ich, wie Vivi Charly zusammenstauchte, weil er sich nicht so wie zuhause benehmen sollte, und er ihr daraufhin vorwarf, andere Menschen mit ihren Sonderwünschen auf den Geist zu gehen. Leicht musste ich grinsen, manchmal hatte es doch Vorteile, keine Geschwister zu haben, die seltsamerweise in den unpassendsten Augenblicken alles besser wussten. Mit noch einem Teller Butterplätzchen in der einen und ihren Gläsern in der anderen Hand kam ich wieder zurück, unterbrach ihren kleinen Streit, versuchte nicht unbedingt das Sofa mit Saftflecken zu bespritzen – das kam davon, wenn man zu faul war, zweimal zu gehen – und wurde gleich belagert, ob ich in den Ferien nicht Lust hätte etwas mit ihnen zu unternehmen. In Urlaub fahren war ihren Eltern nämlich viel zu stressig und allein nervten sie sich nach eigener Aussage sonst noch zu Tode. Da mein Vater sowieso höchstens ein paar Tage mit mir nach Mainz fahren wollte, damit ich wenigstens meine Großeltern besuchen konnte – eher musste, besonders erfreulich fand ich diesen Plan nicht – hatte ich genügend Zeit dafür und sagte zu. Bevor die zwei sich wieder von mir verabschiedete, plünderte Charly noch den Keksvorrat, wurde dafür natürlich von Vivi wegen seiner in ihren Augen misslungenen Erziehung kritisiert, und ich erklärte ihnen schließlich, dass sie sich hier einfach wie normale Menschen verhalten sollten, etwas anderes tat ich auch nicht. Immerhin wollte ich wissen, wie sie wirklich waren und nicht wie sie versuchten zu sein, um einen guten Eindruck zu machen. Das kaufte man ihnen sowieso nicht unbedingt ab. Nachdem ich noch mindestens eine Stunde das Wohnzimmer belagert und mir mit dem TV Programm meine tägliche Portion Schadenfreude über andere Menschen reingezogen hatte, räumte ich das Geschirr und die Krümel in die Küche, begutachtete meine Arbeit, damit ich nichts übersehen hatte und verschwand in meinem Zimmer, um mich dort zu langweilen. Ab jetzt würde ich mich wohl daran gewöhnen müssen, den ganzen Nachmittag allein zu sein. Früher war ja fast immer meine Mutter dagewesen, weil sie nur vormittags gearbeitet hatte, aber die saß sicher in unserem alten Haus und mit etwas Pech bekam ich in ein paar Jahren ein Halbgeschwisterchen, weil meine Mutter wieder jemanden gefunden hatte. Ich sollte besser aufhören, ständig an sie zu denken, niemand hatte mich gezwungen, hier her zu ziehen, alles meine eigene Entscheidung, von der ich langsam nicht mehr ganz so überzeugt war. Schluss damit, rumheulen deswegen half nichts, ein Zusammenleben mit ihr allein hätte auf Dauer wirklich nicht funktioniert; wenn ich das Beste aus meiner momentanen Situation machte, würde ich bald nicht mehr meinem alten Leben hinterher trauern. Um mich endlich komplett abzulenken, schaltete ich meinen MP3-Player an, legte mich aufs Bett und bearbeitete weiter meinen armen Block, der seine schönen leeren Seiten für meine talentfreien Zeichnungen opfern musste. Gelitten, hätte er lieber etwas anderes werden sollen. Gegen acht Uhr kam mein Vater ziemlich kaputt von der Arbeit zurück und weil ich wenigstens einmal nett sein wollte, bereitete ich das Abendessen vor. Zwar tat er das sonst immer, aber die Ausrede, der erste Arbeitstag sei so anstrengend gewesen, ließ ich durchgehen. Ich wusste nämlich nicht, wie so ein Arbeitstag in der Sparkasse ablief, interessiert mich auch nicht besonders, das gehörte nicht gerade zu meinen Traumberufen. Natürlich berichtete ich ihm von meinem ersten Schultag in der 10 A, über den kurzen Besuch unserer Nachbarn und über ein paar andere Kleinigkeiten. Nur Nils ließ ich aus, sonst bedeutete das wieder ein potentieller fester Freund mehr auf der Liste meines Vaters. Und so wie es aussah war Nils nicht schwul, wäre auch sehr unrealistisch, immerhin hatte schon Charly sozusagen zugegeben, dass er auf Jungs stand. Kapitel 7: ✗✗✗ -------------- Die nächsten Tagen verliefen alle ähnlich: Die Zwillinge brachten mich in die Schule und falls es ihr Stundenplan auch erlaubte wieder nach Hause, mein Vater kam nicht vor sieben zurück und der Unterricht langweilte mich zu Tode, aber ich zwang mich dazu, so zu tun, als arbeitete ich fleißig mit, um nicht negativ aufzufallen. Ich wusste ja nicht, ob meine Mitarbeit hier noch in irgendeiner Weise in mein Zeugnis einfloss, in Mainz herrschte nämlich ebenfalls Ferienstimmung, da diese fast schon vor der Tür standen. Naja, ich würde es merken, wie die Leute das mit meinen Noten regelten, Hauptsache ich musste nicht ein Jahr wiederholen oder so etwas ähnliches. Dann wäre ich echt wütend auf die, die sich das ausgedacht hatten. Nils, der inzwischen eingesehen hatte, dass seine dummen Kommentare über Charly und Vivi in meiner Gegenwart völlig unangebracht waren und er sich damit höchstens bei mir unbeliebt machte, versuchte mir den Unterricht und auch die Pausen so erträglich wie möglich zu machen, denn meine restlichen Mitschüler fanden anscheinend immer noch, ich wäre ein Außerirdischer oder etwas ähnliches; auf jeden Fall kümmerten sie sich so selten wie möglich um das was ich tat oder nicht tat, das blieb automatisch an Nils hängen, der mir allerdings versicherte, dass es ihn nicht störte. Bis auf die Tatsache, dass ich mit den Zwillingen abhing, fand er mich ziemlich in Ordnung, meinte er. Ob das so bleiben würde, wenn er von meiner Interesse an anderen Jungs erfuhr, konnte er nur selbst beantworten, weshalb ich mir vornahm, ihn das bei Gelegenheit zu fragen. Aus reiner Neugier natürlich nur, war ja klar. Der richtige Zeitpunkt schien für mich erreicht, als wir am Freitagnachmittag bei Nils zuhause saßen, weil er mir angeboten hatte zu kontrollieren, ob ich das, was sie alles in der Zehnten gelernt hatte auch konnte. Nicht, dass ich in der Elften nur dasaß und mich wunderte, wieso ich kein Wort verstand von dem, was die Lehrer redeten. Irgendwo aus dem Keller hatte Nils extra seine ganzen eingestaubten Hefte geholt und ging sie systematisch durch, ob ich auch Ahnung davon hatte. Nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung am Anfang des Wochenendes, aber ich fand es nett, dass er seine freie Zeit für so etwas opferte. Nein, ich fing jetzt nicht an, ihn mit Gabriel zu vergleichen. Der hockte wahrscheinlich im Moment mit seiner neuen Freundin, von der mir Christina berichtet hatte, zuhause und verschwendete keinen Gedanken an mich. Hatte der überhaupt mal gemerkt, dass ich nicht mehr in Mainz wohnte? „Also das wichtigste scheinst du zu wissen“, meinte Nils irgendwann und hakte zwei weitere Themen auf der Liste für Mathematik ab. „Musik kannst du abwählen, das brauchen wir nicht.“ Er legte das Heft auf den Stapel für den Papiermüll. „Bio...hm, auch nicht so wichtig oder willst du das unbedingt als LK?“ „Nein, lieber nicht.“ Nicht mal für 10€. „Naja, das wars dann eigentlich schon. Falls du noch Fragen zu irgendwas hast, ich hab vielleicht Ahnung davon.“ Er grinste und ließ den Stapel unter seinem Bett verschwinden, wo er am wenigsten störte. „Außer in Physik, das liegt mir gar nicht.“ „Okay.“ Die Standardantwort, wenn man eigentlich nichts mehr dazu zu sagen hatte und den anderen zu aufforderte, sich ein neues Gesprächsthema zu überlegen, aber daraus wurde nichts, Nils hielt nämlich demonstrativ den Mund. Also sah ich das als Chance, ihn endlich auf seine Aussage am ersten Schultag anzusprechen. „Hast du eigentlich was gegen Schwule?“ Ich versuchte meine Nervosität zu ignorieren. „Hä?“ Wegen dieses plötzlichen Themawechsels schaute mich Nils etwas verwirrt an. „Naja, du hast dich ja nicht besonders nett über Charly geäußert.“ Wehe, er hatte vergessen, was ich meinte. „Das liegt einfach daran, dass ich Charly nicht mag, sonst nicht. Wieso interessiert dich das? Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?“ Ob er jetzt locker ließ? Eher nicht. Sollte ich ihn anlügen? Schwierige Frage; entweder glaubte er, ich wollte was von ihm oder er fand die Wahrheit heraus und wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Toll gemacht, Dennis Rehberg, herzlichen Glückwunsch. Nach längerem Schweigen nahm er an, dass keine Antwort doch eine Antwort war und musterte mich schief von der Seite. Am besten hielt ich jetzt einfach den Mund, bevor meine Versuche, mich herauszureden damit endeten, dass er es tatsächlich glaubt. „Also du stehst du auf Jungs.“ „Nicht nur.“ Wenn er es schon wusste, dann auch ganz. Mann, warum passierte ausgerechnet mir so was? Diese Neuigkeit würde meine Beliebtheit bei den anderen aus der Klasse wohl kaum steigern, außer Nils verriet ihnen nichts. Dumm nur, dass sich viele Menschen bei solchen Sachen gerne mal verplapperten. Zwar meistens Frauen, aber wieso nicht auch der liebe Nils? „Ja ja, sagen sie alle.“ Aus irgendeinem Grund fand Nils das Ganze zumindest teilweise lustig, denn das Grinsen war immer noch nicht ganz aus seinem Gesicht verschwunden. Eigentlich hatte ich eher damit gerechnet, dass er wenigstens ein kleines Theater aufführte, wie es alle normalen Jungs, die ich kannte, getan hätten. Schwul sein wurde einfach immer noch nicht richtig akzeptiert, egal was sie alle von Toleranz und Gleichheit und weiß der Geier schwätzten. Vor allem die Jungs hatten Probleme damit, obwohl ich mir gut vorstellen konnte, dass das Gleiche bei den Mädchen ablief, wenn sich eins von ihnen als lesbisch outete. „Bei mir stimmts aber.“ „Jetzt seid doch nicht gleich beleidigt.“ Er rückte ein Stückchen auf mich zu und legte mir scheinbar zur Beruhigung den Arm um die Schulter. Wollte er mich verarschen oder wie? Etwas grober als nötig entfernte ich seinen Arm und brachte Abstand zwischen uns. Genau das hatte mir noch gefehlt: Er machte sich eindeutig lustig über mich, das sah ich doch an seinem Gesichtsausdruck. Jungs konnten manchmal echt scheiße sein. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, seufzte Nils, dem also nicht klar war, was er mir gerade vermittelt hatte. Wenn ich mich nun umsonst aufregte, wäre das doppelt peinlich. Ach Mann, ich wollte einfach nur weg. „Nichts“, behauptete ich schnell, „ich muss jetzt nach Hause.“ Zählte das als Lüge? Und wenn schon, im Moment fühlte ich mich einfach nur durcheinander durch das erzwungene Geständnis und Nils an sich, da durfte man das. Dummerweise durchschaute mich mein Klassenkamerad sofort, hielt mich am Handgelenk fest und zog mich zu sich. „Schade, dass du schon abhaust.“ Sein Gesicht kam meinem gefährlich nahe; was wollte der Junge denn eigentlich? Verwirrt hatte er mich schon, was kam als nächstes? Bevor ich es richtig realisierte, drückte er mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte mir ein „bis bald“ zu. Endlich ließ er mich auch gehen und ich verließ so schnell wie möglich ohne zu rennen das Haus, fast lief ich auf dem Bürgersteig gegen die nächste Laterne. Der machte sich doch lustig über mich! Einen anderen Grund für seine plötzliche Interesse an mir gab es gar nicht. Und ich dachte, wenigstens einer, der sich zivilisiert benimmt. Tja, falsch gedacht. Frustriert von dieser Erkenntnis setzte ich mich auf den Bürgersteig – sicher hielten mich die Leute, die hier vorbei kämen für irgendeinen dieser gammelnden Teenager ohne Zuhause – holte meinen MP3-Player heraus und probierte mich somit abzuregen. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wo ich im Moment war, diesen Teil der Stadt kannte ich irgendwie nicht. Schöne Voraussetzungen für ein gelungenes Wochenende, Freude Freude. Es war zum Heulen, aber das tat ich ganz bestimmt nicht, nicht wegen so etwas. Nach einiger Zeit beschloss ich, jemanden zu suchen, der mir vielleicht den Weg nach Hause erklärte, und fand tatsächlich ein Mädchen etwa in meinem Alter, das zufällig in die gleiche Richtung musste und mich deshalb mitnahm. Ziemlich fertig warf ich mich in meinem Zimmer auf das Bett und hoffte, dass ich vielleicht dieses ganze Chaos nur geträumt hatte. So gemein durfte das Leben einfach nicht sein, dass eine der wenigen Menschen, die ich hier mochte und die auch etwas mit mir zu tun haben wollten, mir so etwas antaten. Natürlich wunderte sich mein Vater, als er wieder spät zurück kam, weil ich in meinem Bett lag und nur die Wand anstarrte. Er sagte jedoch nichts – er merkte wohl, dass ich nicht in der Stimmung zum Reden war – und verlangte sogar nicht von mir, mit ihm zu Abend zu essen. An einem anderen Tag hätte ich mich gefreut, aber heute kümmerte es mich gar nicht. Meine Gedanken befanden sich an einem ganz anderen Ort, wo sie sich nicht mit solchen unwichtigen Dingen wie dem Abendessen oder das Durchsetzen gegenüber den Eltern beschäftigte. Ohne dass ich es mitbekommen hatte, war ich eingeschlafen und träumte wie üblich wirres Zeug, wodurch mein Unterbewusstsein wohl die vielen neuen Eindrücke dieser Woche verarbeitete. Sollte es ruhig, solange daraus keiner dieser schrecklich realen Alpträume wurde. Aber wie erwartet kam es, wie es kommen musste: Ich träumte von meinem lieben Klassenkameraden Nils. Allein die Tatsache wär nicht ganz so schlimm gewesen, wenn sich nicht ständig ein und dieselbe Szene wiederholte. Der Kuss auf die Wange, der entweder alles oder nichts bedeuten konnte. Reichte es nicht, dass die Realität mir auf den Wecker ging? Wieso machte ihr das meine ansonsten eher nette Traumwelt nach? Fanden sie es witzig, mich damit in den Wahnsinn zu treiben? Ich persönlich fand es jedenfalls alles andere als witzig, weshalb ich gegen drei Uhr aufwachte, mich in die Küche schlich und den Kühlschrank plünderte. Vielleicht stoppte das meine sinnloses Nachdenken. Am einfachsten wäre es nämlich, es einfach zu vergessen. Genau, ich tat so, als wäre nie etwas passiert, Nils hatte mich nie geküsst, ich hatte mich nie geoutet. Theoretisch kam nun der Teil 'wir hatten uns nie kennen gelernt', aber das funktionierte nicht. Aber es musste reichen, mehr konnte ich nicht tun heute Nacht. Kapitel 8: ✗✗✗ -------------- Auch zum Frühstück holte mich mein Vater nicht; er nahm an, dass es heute Morgen noch nicht besser geworden war. Was auch immer es sein konnte, er wusste es schließlich nicht und ich erzählte ihm auf keinen Fall, was gestern Nachmittag in Nils‘ Zimmer geschehen war. Nämlich nichts, gar nichts, überhaupt nichts! Ende der Geschichte. Um ihm das zu beweisen fragte ich die Zwillinge, ob sie heute Zeit hätten und wenig später hatten sie beschlossen, mit mir an den Rhein zu fahren. Was auch immer sie dort vorhatten. Ich zog mich an, versuchte meine Haare einigermaßen herzurichten und stellte fest, das ich sogar noch Zeit hatten, mich zu schminken, falls ich mich beeilte, denn Vivi hatte mich vorgewarnt, bei ihnen dauerte es meistens länger, bis sie fertig waren. Konnte mir Recht sein. Gerade als ich entschied, man könnte so theoretisch nach draußen gehen, läutete es an der Haustür und meine Begleiter standen davor, perfekt gestylt und mit guter Laune. Ob es einen Tag gab, an dem es einmal nicht so war? Konnte ich mir schwer vorstellen. „Und, hast du schon genug von Gernsheim?“, fragte mich Charly aus, als wir mit dem Fahrrad – ich wieder hinter ihm auf dem Gepäckträger – durch den Ort und eine ziemlich lange Straße quer durch die Felder entlang düsten. Vielleicht sollte ich meinen Vater fragen, ob ich zum Geburtstag doch ein eigenes Fahrrad bekam, weil Charlys Fahrrad einfach nicht für zwei Personen gemacht war und ich bei jeder Unebenheit befürchtete, den Abgang zu machen. „Naja, es geht“, antwortete ich nicht ganz ehrlich und klammerte mich an Charly fest, als er meiner Meinung nach zu schwungvoll in die Kurve ging. „Es könnte ruhig etwas mehr geben.“ Vor allem mehr Leute, die nicht hinterm Mond zu leben schienen. Auf Dauer nervte es wirklich, bei jedem Spaziergang durch die Innenstadt von alten Frauen dumm angeglotzt zu werden, nur weil man sich die Haare färbte und nicht dieselben Klamotten trug wie jeder dritte Einwohner. „Da kannst du lange warten, Gernsheim stirbt eh aus“, prophezeite Vivi düster vor sich hin, „das einzige, was mehr wird, sind die Beerdigungen.“ „Komm, lass Bestatter werden“, schlug Charly vor, „dann werden wir reich.“ Langsam wurde es geschmacklos, aber ich sagte nichts, in gewisser Weise hatten sie doch recht. Nach nicht einmal zehn Minuten erreichten wir den gewünschten Fluss, die Zwillinge schlossen ihre Räder ab, Vivi nahm ein kleines Körbchen mit und ich entdeckte erstaunt den schmalen Streifen Sand, der sich auf dieser Seite des Ufers befand. Zumindest soweit, bis eine aufgeschüttete Steinmauer den Weg versperrte. Dieses Gebiet hätte ich mir aber anders vorgestellt. „Na, überrascht?“ Vivi lächelte mir zu und zerrte ihren Bruder und mich den Pseudostrand entlang, bis sie ein ihrer Meinung nach schönes Plätzchen gefunden hatte, wo sie eine blaue Decke ausbreitete und sich daraufsetzte. „Vivi steht auf Picknicks“, warnte mich Charly vor, „am liebsten würde sie jede Woche hier herfahren und hier chillen.“ „Ist doch besser als die ganze Zeit vorm Fernseher zu hocken“, meinte sie und holte aus dem Körbchen ein paar Teller, Tassen sowie Essen heraus. „Findest du nicht auch, Dennis?“ „Äh, kann sein.“ Gab es so etwas wie Enthaltung? Die folgenden Stunden aßen wir das, was Vivi mitgebracht hatte – Kekse, Muffins, für jeden einen Schokoriegel und für die tägliche Portion gesundes Zeug noch Apfelstücke – betrachteten die Schiffe, die vor uns durch das Wasser fuhren und vertrieben einige neugierige Vögel, die bei uns mitessen wollten. Einer schaffte es sogar, Charly einen Teil seines Kekses zu entwenden, was dieser gar nicht lustig fand. Wir hingegen schon. Irgendwann wurde es Charly zu dumm, einfach nur herumzusitzen und er schlug mir vor, ein wenig am Wasser herumzulaufen. „Passt aber auf, dass ihr nicht reinfallt, ich angel euch da nicht heraus“, machte uns Vivi sofort klar und beobachtete uns, wie wir schon bald bis zu den Knien im Rhein standen und – typisch Mann eben – ein kleines Kämpfchen leisteten. Nichts Ernstes, einfach aus Spaß halt. „Männer“, hörte ich Vivi seufzen, die inzwischen im Sand saß und ein paar Muscheln bewunderte. „Die werden nie erwachsen.“ „He, das habe ich gehört!“, rief Charly ihr zu, passte einen Moment nicht auf und rutschte auf einem Stein, der sich sicher nur für ihn so glitschig gemacht hatte, aus. „AH!“ Schlau wie ich war wollte ich ihm natürlich helfen, indem ich in festhielt, aber stattdessen krallte er sich ebenfalls an mir fest, sodass wir zusammen in den nicht besonders warmen Rhein klatschten. „Scheiße, man“, fluchte Charly, richtete sich ächzend auf und streckte mir die Hand entgegen. Vom Ufer her ertönte schallendes Lachen; Schadenfreude war einfach immer noch die beste Freude. „Kannst du laut sagen“, grummelte ich, ließ mich von ihm hochziehen und begutachtete meine nassen Klamotten. „Yeah, genau das brauchten wir noch.“ Wehe, ich erkältete mich jetzt. „Ähm, Dennis, ich will ja nichts sagen, aber...“ Mit einem breiten Grinsen pikte mir Charly in die Wange. „Dein Kajal...“ Oh Mann, das wurde ja immer besser. Nein, auf keinen Fall aufregen, das brachte das Zeug auch nicht mehr an den richtigen Platz. Aber wenn ich so verschmiert sein musste, dann... „Charly, du siehst auch aus wie ein Panda“, erwiderte ich, was mein Gegenüber erschrocken sein Gesicht berühren und schließlich eine Beschwerde nach der anderen ausstoßen ließ. „Ihr seid so doof“, lachte Vivi immer noch, als wir klatschnass ans Ufer zurückschlichen. „Das habt ihr verdient, Jungs.“ „Danke, Viola Schleich, für dein Mitleid. Hast du Taschentücher oder so was? So werde ich auf keinen Fall durch die Stadt fahren.“ „Charlylein, es gibt Leute, die laufen so jeden Tag durch die Gegend“, erklärte sie ihm, fischte allerdings einige Servietten aus dem Körbchen und hielt sie uns hin. „Hier, für die Intelligenzallergiker unter uns.“ „Geh sterben“, nuschelte Charly leise und begann sich über die Augen zu wischen. Mit dem Ergebnis, dass es noch 'cooler' als vorher aussah. Und das musste man erst einmal erreichen. „So wird das nichts“, unterbrach ich seine missglückte Aktion, entwendet ihm sein Werkzeug und entfernte ihm die ganze überflüssige Farbe aus dem Gesicht. Mann, er hatte echt viel von dem Zeug benutzt, kein Wunder, dass er wie ein Panda ausgesehen hatte. „Fertig.“ „Wenigstens ein netter Mensch hier am Strand.“ Im Gegenzug half er mir auch bei der Beseitigung des verunglückten Kajals, sodass man uns endlich wieder als Menschen ohne schwarze Spuren im Gesicht bezeichnen konnte. Blieb die nasse Kleidung. Doch Charly hatte schon eine Idee: Er breitete wieder die Decke aus, zog sein Oberteil aus und legte sich auf die Decke. Sein T-Shirt sonnte sich neben ihm. „Pass auf, sonst wirst du braun!“, rief ihm Vivi zu und schüttelte über unsere einzigartige Meisterleistung von vorhin den Kopf. „Ihr habt es echt drauf, Dennis. Du und Charly im Doppelpack, ihr seid schlimmer als eine Gruppe Grundschüler.“ „Nicht meine Schuld.“ Grinsend setzte ich mich ebenfalls in die Sonne, um etwas zu trocknen, und betrachtete Charly, der fast schon vor sich hindöste. Schlafmütze. „He, Chrissilein, penn nicht ein, sonst lassen wir dich hier liegen und dann bekommst du einen Sonnenbrand.“ Geschwisterliebe, wirklich gefährlich. „Klappe, Vivi.“ Besonders gesprächig schien er nicht, deshalb plauderte ich noch etwas mit seiner Schwester, die mir irgendwann von einem Typ vorschwärmte, der anscheinend in meiner Klasse sein sollte, den ich allerdings noch gar nicht bemerkt hatte. Peinlich. Auf der Rückfahrt durfte ich ausnahmsweise fahren, weil Charly immer noch leicht pennte und vielleicht gegen den nächsten Baum gerast wäre. Außerdem sah er es gar nicht ein, weshalb er in irgendeiner Weise wach sein sollte, deshalb lag sein Kopf auf meinem Rücken – der beste Kissenersatz. Und obwohl er seine Arme um mich gelegt hatte, befürchtete ich mehr als einmal, dass er einfach vom Rad kippte. Lleider besaßen wir kein Seil, womit wir ihn hätten festbinden können. „Ich glaub, ich überlege es mir noch mal, bevor ich dich wieder mitnehme“, sagte Vivi, zwinkerte mir allerdings zu und redete vor unserer Haustür so lange auf ihren Bruder ein, bis er genervt in den Wachmodus wechselt und ich endlich absteigen konnte, ohne ihn dabei vom Fahrrad fallen zu lassen. „Bis bald!“ Während mit Vivi zum Abschied zuwinkte, schaffte es Charly gerade mal nicht filmreif auf den Asphalt zu fliegen. Von dem war heute wohl nicht mehr viel zu erwarten. Kaum hatte ich die Tür aufgeschlossen und die Schuhe, die immer noch leicht feucht waren, ausgezogen, machte sich unser Telefon bemerkbar. Wer rief uns denn an? Die Nummer kannte doch kaum einer. Verwirrt hob ich ab und bereute es fünf Sekunden später wieder. Meine gute Laune, die sich dank den Zwillingen und ihrem Picknick aufgebaut hatte, verschwand auf der Stelle. Nils rief an. Kapitel 9: ✗✗✗ -------------- „Was willst du?“ „Ich will mit dir wegen gestern reden.“ „Ja, dann mach.“ Eigentlich gab es tausend andere Dinge, die ich lieber tun würde, aber vielleicht verstand er dann, dass ich über den ungeplanten Vorfall nicht mehr nachdenken wollte. „Nicht am Telefon.“ Nein, oder? „Kann ich zu dir kommen?“ „Muss das sein?“ Mein Vater würde sich sehr wundern, wer der fremde Junge vor unserer Haustür war. „Ja, bitte Dennis. Es wird nicht lange dauern“, bat er mich und schließlich gab ich nach. Wir klärten die Sache ein für allemal und dann sahen wir weiter. Ging wohl nicht anders. „Wer war das?“, fragte mich mein Vater, aber ich antwortete ihm nicht, sondern lief in mein Zimmer, um mir trockene Klamotten anzuziehen und mir immerhin die Haare zu kämmen. Schminken erschien mir überflüssig, vielleicht reichte die Zeit auch nicht dafür. Noch bevor er klingeln konnte, öffnete ich die Tür, um ihn unauffällig nach oben zu bringen, doch Eltern bekamen seltsamerweise alles mit, sodass mein Vater noch sehen musste, dass sein Sohn mit einem blonden Jungen in seinem Alter in sein Zimmer verschwand. Und zwar ohne ihm zu erzählen, um wen es sich hier handelte. Das konnte noch was werden, ich freute mich schon richtig darauf... „Also, was willst du?“ Sehr freundlich klang ich sicher nicht, aber wieso denn? Er hatte mich doch geküsst, mich dazu gebracht, ihn hier herein zu lassen, obwohl ich gar nicht wollte. „Mit dir wegen gestern sprechen.“ Er näherte sich mir schon wieder so weit es ging. „Es tut mir leid, du warst ja nicht besonders begeistert.“ „Ich mag es einfach nicht, wenn man sich über mich lustig macht.“ Das kapierte er doch sicher. Er sah mich seltsam an. „Ich hab mich nicht über dich lustig gemacht, Dennis.“ Ach ja, und wieso dann die ganze Zeit das doofe Gegrinse? „Aha?“ „Ich hab das wirklich ernst gemeint.“ Stop. Das konnte nicht sein, auf gar keinen Fall! „Was?“ „Nichts 'was'.“ Sanft drückte er seine Lippen auf meine. „Weißt du nicht, was ich meine?“ Doch, allerdings kaufte ich es ihm nicht ab. Nils schien es nicht zu gefallen, dass ich ihm weder antwortete noch mich in irgendeiner Weise an seinen Annäherungsversuchen beteiligte. Sein Kuss wurde deutlich intensiver und seine Finger verschränkten sich auf meinem Rücken. Am Anfang wollte ich mich noch wehren, ihn einfach von mir stoßen und ihm die Meinung geigen, weil er mich so unverschämt bedrängte, aber es fühlte sich so angenehm an, wie sein Körper sich an mich drückte und seine Haare mich kitzelten. Mein Gehirn schien sich ohne meine Zustimmung abgestellt zu haben, was Nils gar nicht entgehen konnte und weswegen er auch nicht locker ließ. Wenig später lagen wir auf meinem Bett, er auf mir und konnten nicht die Finger voneinander lassen, dabei empfand ich doch eigentlich gar nichts Tieferes für ihn. Oder? Ich wusste es nicht, das einzige was ich in diesem Augenblick wusste war, dass Nils‘ Finger über mein Gesicht glitten und es sich wunderbar anfühlten. Wollte ich das überhaupt? Kannte ich die Konsequenzen unserer Tätigkeit? Was würde mein Vater sagen, wenn er uns erwischte? Wie sollte ich reagieren, wenn Nils mehr wollte? War es nicht unfair, ihn so auszunutzen, wenn er tatsächlich in mich verliebt war? Egal. Mir war alles so was von egal, ich glaubte es kaum. Für mich zählte gerade nur das Gefühl, von Nils berührt zu werden, alle andere blendete ich aus. Fragen, Zweifel, Ängste. „Dennis“, hauchte mir Nils ins Ohr, als er den Kus unterbrochen hatte, „du darfst den Zwillingen von dem hier nichts erzählen, okay? Sie würden nur versuchen, uns auseinander zu bringen. Verstehst du?“ Ich nickte, klar verstand ich, was er sagte. Ob es mir gefiel stand auf einem anderen Blatt. Ich mochte Vivi und Charly, doch, hinterging ich sie dann nicht sozusagen, wenn ich die Geschichte zwischen mir und Nils vor ihnen geheim hielt? „Danke.“ Zur Belohnung küsste er mich wieder und meine Bedenken rückten in den Hintergrund. Sie würden es überleben, nicht sofort eingeweiht zu werden, es passierte ja nichts Schlimmes. Hatte ich mir nicht noch heute morgen geschworen, nie wieder an den ersten Kuss zwischen Nils und mir zu denken? So schnell konnten sich die Dinge ändern. Kapitel 10: ✗✗✗ --------------- Man konnte sagen, ich wurde von Nils abhängig. Am Samstag Abend überredete ich ihn kurzfristig, bei mir zu übernachten, weil ich mich noch nicht von ihm trennen wollte. Den Sonntag über konnte ich kaum an etwas anderes denken als an ihn, was mein Vater bemerken musste. Er erwähnte trotzdem den Jungen vom Vorabend kein einziges Mal. Auch Vivi und Charly stellten fest, dass irgendetwas mit mir war, als sie mich am Montag für die Schule abholten. Mein abwesender Gesichtsausdruck sprach sicher Bände, aber ich hielt das Versprechen Nils gegenüber und erzählte ihnen kein Sterbenswörtchen von unserer Beziehung, die keine war. Jedenfalls hatte er noch kein einziges Mal gesagt, dass er in mich verliebt war. Ich auch nicht. Und es störte keinen von beiden, obwohl ich merkte, wie sich langsam etwas in mir ihm gegenüber veränderte. Im Unterricht hörte ich den Lehrern überhaupt nicht mehr zu und musste mich zusammenreißen, um nicht ständig Nils anfassen zu wollen. Es sollte nämlich keiner erfahren, was zwischen uns lief. „Sag mal, irgendwas ist doch mit dir“, meinte Charly, als er mich ohne Vivi – sie hatte noch Spanisch – nach Hause fuhr. „Bist du krank?“ „Mir geht’s gut, keine Sorge.“ Mir ging es sogar besser als gut, eindeutig. So gut hatte ich mich schon seit langem nicht mehr gefühlt. „Ich mach mir aber Sorgen, Dennis. Du machst gar nichts mehr mit mir und Vivi, ist wirklich nichts passiert?“ „Nein, Charly.“ Insgeheim seufzte ich über diese Hartnäckigkeit, so musste ich ihn nämlich mehr als einmal anlügen, was mir selbst nicht gefiel. Aber wenn Nils es für nötig hielt. Zuhause aß ich schnell etwas, bevor ich mich auch schon auf den Weg zu dem Platz machte, an dem ich mich immer mit Nils traf, damit es nicht sofort auffiel, weil wir auf einmal so oft aneinander hingen. Am Eulenbrunnen, direkt vor der Stadthalle, nicht weit von der Innenstadt entfernt. Den Weg bis dorthin hatte ich mir als einzigen eingeprägt, damit ich mich nicht verlief und dadurch auf Nils verzichten musste. Ich klang beinahe wie ein Drogensüchtiger. Meistens suchten wir uns einen unbeobachteten Ort, wo wir uns bis spät abends aufhielten oder gingen auch mal zu ihm nach Hause. Hauptsache, wir waren zusammen. Manchmal wollte ich auch gar nicht mehr nach Hause gehen, weshalb ich dann bei Nils übernachtete und am Nachmittag von den Zwillingen gefragt wurde, wo ich gewesen war und auch von meinem Vater Ärger bekam, weil er sich Sorgen um mich gemacht hatte. Meistens vergaß ich es nämlich, ihm Bescheid zu sagen. Als wir wieder einmal bei Nils im Zimmer auf dem Boden lagen und er mir mit seinen Fingern unter meinem T-Shirt kleine Kreise malte, rutschte mir das heraus, was ich ihm schon seit tagen sagen wollte. Ein ganz leises „Ich liebe dich“, kaum hörbar, aber er befand sich direkt neben mir, er hätte es hören müssten. Trotzdem erhielt ich keine Antwort darauf. Ich schob es darauf, dass er in diesem Moment nicht genau hingehört hatte, aber ich wiederholte es einen Tag später und er machte keinen Piep. Zweifel kamen in mir auf, die ich allerdings bei jedem Kuss von ihm beiseite schob. Wieso sollte er so intim mit mir werden, wenn er es eigentlich gar nicht mochte? Ich bildete mir es nur ein. Oder er war einfach nicht der Typ, der es schaffte, einem Jungen seine Gefühle so zu gestehen. Vielleicht zeigte er es immer durch Taten. „Sag mal, Dennis, wo bist du den ganzen Tag?“ Statt mich einfach nur nach Hause zu begleiten wollten die Zwillinge heute anscheinend meinem Geheimnis auf den Grund gehen. „Ich guck mir die Stadt an, Vivi, sonst nichts“, behauptete ich schnell und vergrub meine Hände nervös in meiner Hosentasche. Das nahmen sie mir doch nie ab. „Und wie findest du wieder zurück? Hast du eine Karte dabei oder fragst du ständig die Leute?“ Charly schien meine Ausrede völlig abwegig zu finden. Kein Wunder, wenn man mich kannte. „Ja, meistens.“ Merkten sie nicht, dass sie mir mit ihrer Fragerei keinen Gefallen taten? „Und wofür brauchst du dann immer Nils? Spielt er deinen Stadtführer?“ Erschrocken sah ich ihn an. Woher wusste er, dass Nils und ich uns trafen? Hatte er mir hinterher spioniert? „Dennis, jetzt sag uns bitte die Wahrheit. Ich glaube dir jedenfalls kein Wort.“ Charly hörte sich seltsam an und mir fiel auf, dass das Grinsen, das einfach zu ihm gehörte, aus seinem Gesicht gewichen war. „Ich kann nicht“, murmelte ich leise. Nun flog alles auf und Nils wäre sicher sauer deshalb, na toll. „Doch, du kannst“, schaltete sich auch Vivi, die sich bis jetzt eher zurück gehalten hatte, ein. „Was machst du in der Stadt? Was hat Nils damit zu tun? Und warum bist du so komisch? Er verkauft dir doch keine Drogen, oder?“ „Nein, natürlich nicht!“ Scheiße, mir blieb keine andere Lösung. „Nils und ich... wir sind...zusammen.“ Die entsetzten Blicke von den beiden machten mein schlechtes Gewissen doppelt so groß. „Aber wieso hast du uns das nicht erzählt?“, fragte Vivi, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. „Ich dachte, du wüsstest, dass wir mit sowas keine Probleme haben.“ „Er wollte es nicht.“ „Aus einem guten Grund.“ Charly schien richtig aufgebracht, gleichzeitig aber auch ziemlich schockiert von meinem Geständnis. „Der Typ verarscht dich nur.“ „Woher willst du das wissen?“ Das sagte er nur, weil er Nils nicht mochte, ganz bestimmt. Oder er gönnte es mir nicht, dass ich glücklich war und er nicht. Irgendetwas in der Richtung musste es sein. „Hat er es dir erzählt oder wie?“ „Ich weiß es halt. Wenn du Nils kennen würdest, wüsstest du es auch.“ „Ach lasst mich doch in Ruhe.“ Jetzt reichte es mir endgültig, sollten sie doch machen und behaupten, was sie wollten! Nils und ich trafen uns seit über zwei Wochen und er hatte nie den Anschein erweckt, das was er tat nicht zu mögen. Charly hatte doch einen an der Klatsche, wen er Dinge erzählte, ohne Beweise dafür zu haben. Ziemlich wütend kam ich an unserem Treffpunkt an; eigentlich hatte ich erwartet, dort schon Nils anzutreffen, weil ich so spät erschien, aber von ihm war weit und breit nichts zu sehen. Gut, dann wartete ich eben, kein Problem. Zwar gehörte die Bank hier nicht zu eine der bequemen Sorte, aber bald kam Nils, das machte alles besser. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich auftauchte, und besonders gut gelaunt sah er nicht aus. „Sie haben es herausgefunden, oder?“ „Ja, sorry, das wollte ich eigentlich nicht.“ „Und, was haben sie dir erzählt?“ Seine Augen funkelten seltsam. „Charly meinte, du verarschst mich nur.“ „Und, glaubst du ihm?“ Seine Hand strich über meine Wange. „Nein, wieso sollte ich?“ „Genau, wieso solltest du?“ Sein Finger fuhr meine Lippen nach, dann zögerte er. „Wusstest du, dass Charly und ich mal ganz kurz zusammen gewesen waren?“ Nein, woher denn? Überrascht blickte ich ihn an. „Wusstest du auch, dass er mich schon nach wenigen Wochen für irgendeinen anderen verlassen hat?“ Nein. „Wusstest du, dass ich ihn dafür am liebsten umgebracht hätte?“ Nein, aber ich konnte es mir gut vorstellen. „Wusstest du, dass ich mich dafür schon seit langem bei ihm rächen wollte?“ Nein. „Wusstest du, dass ich im Moment dabei bin, es zu tun?“ Ein ungutes Gefühl beschlich mich, aber die Hand an meiner Wange fühlte sich so gut an und verdrängt es. „Wusstest du, dass ich nur mit dir ausgehe, weil ich ihn damit eifersüchtig machen wollte?“ Nein. Nein! Das konnte nicht sein, das konnte nicht stimmen. „Wusstest du, dass wenn ich dir weh tue ihm es auch weh tut?“ „Hör auf.“ Gegen meinen Willen begann mein Körper zu zittern und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Das war alles nicht wahr. Er konnte mich nicht einfach für seinen hinterhältigen Racheplan ausgenutzt haben. Und ob er das konnte, ich kannte ihn doch kaum, um das zu wissen. „Wusstest du, dass es mich schon etwas traurig macht, dir etwas vorgespielt zu haben?“ „Wusstest du, dass du ein verdammter Idiot bist?“ Genau das hatte Charly von Anfang an gesagt. Und ich hatte ihm nicht glauben wollen. „Hab ich je das Gegenteil behauptet?“ Mehr ertrug ich nicht mehr; ich fegte die Hand, die mich tagelang zum Narren gehalten hatte, von meinem Gesicht und rannte weg. Einfach nur nach Hause und weg von Nils, dem es nichts ausmachte, unschuldige Menschen nach seiner Lust und Laune zu benutzen. Vor der Haustür fiel mir ein, dass ich gar keinen Schlüssel bei mir trug, weil ich den in den letzten Tagen nie gebraucht hatte. Und mein Vater arbeitete bis um was weiß ich wie viel Uhr. Verletzt und enttäuscht setzte ich mich vor die Tür und fing einfach an hemmungslos zu weinen. Es ging nicht anders, Nils hatte mir in einer einzigen Minute alles kaputt gemacht, was mir Freude bereitet hatte. Hoffentlich sah mich keiner unserer Nachbarn, die Tatsache allein, dass ich mit 17 mir hier die Selle ausheulte war schon schlimm genug, da brauchte ich nicht noch zusätzliche Zuschauer, die keine Ahnung hatte, um was es hier ging. „Dennis?“ Nein, bitte nicht, ich wollte wirklich niemanden sehen, auch nicht Charly, der sich gerade über mich beugte und hilflos herum stand. „Lass mich.“ „Hatte ich Recht?“ Warum sollte ich sonst weinen? Bestimmt nicht, weil in ein paar Tagen die Ferien begannen. Oder weil ich den Schlüssel nicht dabei hatte, da hätte ich einfach zu ihnen gehen können. „Ganz ruhig, wird schon wieder.“ Dicke Lüge, wenn man nicht trösten konnte, sollte man es lieber lassen. „Hau ab.“ „Nein, wird ich sicher nicht.“ Er überlegte kurz und schleifte mich dann mit sich nach Hause. Dort wartete schon Vivi, die uns beide erschrocken ansah, aber nach der Aufforderung ihres Bruders ihr gemeinsames Zimmer verließ. Kaum lag ich auf Charlys Bett, versteckte ich mein Gesicht im nächsten Kissen, damit ich ihn nicht länger ansehen musste. Wieso war die Wahrheit nur so schrecklich? „Hat er gesagt, warum er es getan hat?“, erkundigte sich Charly vorsichtig und strich mir leicht mit der Hand über den Kopf. „Wegen mir?“ „So ungefähr.“ Nicht drüber nachdenken, sonst gab ich noch Charly die Schuld an Nils Dummheit. „Um sich an dir zu rächen.“ „Dieses Arschloch, er kann so mies sein.“ Charly seufzte leise. „Er hat wohl nie akzeptiert, dass ich nicht mit ihm zusammen sein konnte, es hat einfach nicht geklappt. Es tut mir leid, ohne mich hätte er dich sicher in Ruhe gelassen.“ „Hör auf, ich bin selbst schuld, ich hab ihm ja fast auf die Nase gebunden, dass ich auf Jungs stehe.“ Ich schluchzte immer noch vor mich hin. „Nein, bist du nicht!“ Charly zog mich an sich und legte einen Arm um mich. „Er hat dich ausgenutzt, also ist er allein dran schuld, niemand anderes, okay?“ Ich nickte und vergrub mein Gesicht in Charlys T-Shirt. So saßen wir da, bist ich mich beruhigt hatte und von den Vorfällen der letzten Stunden völlig müde auf Charly lag. Was hatte Nils gesagt? Indem er mir weh tat, tat er auch Charly weh. Das konnte nur eins bedeuten. Charly empfand auch etwas für mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)