Meeting Walter von Anonymaus ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Meeting Walter 2/3 7. Oktober 1949 – Berlin / sowjetische Besatzungszone Hätte Gilbert Weillschmidt geahnt, wie dicht er zweieinhalb Jahre zuvor daran gewesen war, die metaphorischen Radieschen von unten zu sehen, hätte er sicherlich ... nun, er wäre ... oder vielleicht auch nicht. Tja, um der Wahrheit die Ehre zu geben – es hätte Gilbert Weillschmidt höchstwahrscheinlich einen feuchten Furz gekümmert. Denn ob eine Horde Büroäffchen etwas auf ein Stück Papier kritzelten oder ob in Schweden ein Elch in einen Fjord pisste – Gilbert hätte es kaum gleichgültiger sein können. Tatsächlich war ihm nicht einmal der Gedanke gekommen, die offizielle Auflösung Preußens könne Auswirkungen auf seine Physis haben. Er war hier gewesen, lange bevor sein Name auf einer Landkarte erschienen war – warum zu Geier hätte sich daran was ändern sollen, nur weil er jetzt plötzlich 'nicht' mehr darauf stand? Nur weil irgendein Sesselfurzer zu übereifrig geworden war mit dem Radiergummi? Pfft. Sterben war für Verlierer und wenn Gilbert Weillschmidt eines nicht war, dann ein Verlierer! Was auf einen Außenstehenden zugegebenermaßen vielleicht etwas anders gewirkt hätte, hätte er jetzt beobachtet, wie Gilbert sich mit gesenktem Kopf an einer russischen Straßenpatrouille vorbeischob und langsam die Schönhauser Allee herunter schlurfte, ganz unauffälliger Berliner Zivilbürger. Aber selbst jemand wie Gilbert hatte lernen müssen, dass man, um kein Verlierer zu sein, manchmal besser in Deckung blieb, bis der Sturm vorübergezogen war. Der in diesem Fall auf den Namen Ivan Braginski hörte und sich seit vier Jahren auf einer ausgedehnten Assimilationstournee durch Osteuropa befand. Mit gelegentlichen, von Gilbert doch eher wenig geschätzten, Zwischenstops in Berlin. Die Hand in der Tasche zur Faust geballt, dachte die ehemals großartigste Nation Europas, ach was - der ganzen Welt - an die letzten vier Jahre. An die Dachböden und Keller auf und in denen er sich hatte verstecken müssen, wie ein Feigling. Was zwar immer noch besser gewesen war, als drüben in Moskau Lorinaitis' Zweitbesetzung geben zu müssen – aber einfach demütigend! Der bloße Gedanke daran trieb Gilbert die Schamesröte ins Gesicht. Es half auch nicht, dass er die meiste Zeit nur Kakerlaken und Wollmäuse zur Gesellschaft gehabt hatte, weil keiner dieser Bastarde genügend Eier in der Hose gehabt hatte ihn besuchen zu kommen – zumindest keiner von denen, die Gilbert hätte sehen wollen. Eventuell. Als ob er plötzlich die Lepra bekommen hätte oder spontan aus ihrem Gedächtnis verschwunden war. Einfach so. Nicht, dass Gilbert sie gebraucht hätte. Gilbert Weillschmidt brauchte niemanden. Niemanden außer Gilbert Weillschmidt, was immerhin die großartigste Gesellschaft der Welt war. Und im Grunde genommen, fand er, als er die immer noch in Trümmern liegenden Straßenzüge passierte in deren Ruinen nur hin und wieder schwache elektrische Lichter glommen, hätte ihm gar nichts Besseres passieren können. Ja, ja er war sogar froh. Denn wenigstens war er jetzt Ludwig los richtig? Ludwig diesen großen, dummen Idioten, der ihnen das alles erst eingebrockt hatte. Einen Österreicher zum Boss zu machen? Niemand, den Gilbert freiwillig als Bruder bezeichnet hätte, wäre auf so eine hirnrissige Idee gekommen. Nein ganz bestimmt nicht! Was allerdings keine Rolle mehr spielte oder? Immerhin hatte Ludwig ja jetzt genauso wenig Interesse an ihm, wie all die anderen. Nein, Ludwig war zu beschäftigt mit seinem neuen 'besten' Freund Jones. Und seinem niegelnagelneuen Land – zu dem das gute alte, ausrangierte Preußen nicht mehr passte. Wie der verrückte Onkel, der so peinlich geworden war, dass man ihm im Keller versteckte, wenn Besuch kam. Gilbert starrte mit schmalen Augen in die Dunkelheit und versuchte beharrlich die leise Stimme zu ignorieren, die ihm zuwisperte, dass er ungerecht wurde. Dass Ludwig ihn nicht aufgegeben hatte, dass er jederzeit seine Dachböden hätte verlassen und zu ihm gehen können. Aber Gilbert war kein Mann, der zu anderen ging (außer um sie zu erobern und ihnen zu beweisen, wer der Großartigste von allen war) – er war jemand, zu dem die Menschen kamen. Manchmal. Und meist nicht freiwillig, aber hier ging es ums Prinzip. Sein größeres Problem aber war, dass er nicht gehen 'konnte'. Er 'musste' hier sein, musste aus dem Fenster sehen und die Leute beim Wiederaufbau beobachten können. Seine Leute. Die immer mehr 'seine' Leute gewesen waren als Ludwigs. Hier in seinem Kernland. Hier wo er manchmal, wenn er ganz still war und lauschte noch Friedrichs Stimme rufen, das Echo seiner Schritte auf dem Kopfsteinpflaster widerhallen hören konnte. Nein, Gilbert konnte nicht von hier fort. Und am Allerwenigsten 'wollte' er von hier fort. Das hier, dieses zerbombte, ausgemergelte Stück Land, war seine Heimat, sein Herz und all die, die ihn und seine Heimat schon abgeschrieben und besiegt glaubten, würden sich noch wundern. Oh, Junge und wie. Vor allem nach heute Nacht. Ein leicht manisches Grinsen schlich sich auf Gilberts Gesicht und er musste sich sehr zusammen reißen, um kein gehässiges Kichern auszustoßen. Diese Idioten, diese schleimscheißenden Bambuseulen – hatten sie wirklich gedacht, er würde eine Gelegenheit wie diese ungenützt verstreichen lassen? Dafür hätte er nicht nur tot, sondern noch dazu frontallappenlobotomiert sein müssen! Er hatte Bismarck schließlich nicht umsonst mehr als zwanzig Jahre über die Schulter geschaut! Das zwar eher gelangweilt, aber es hatte genügt, um ein paar grundsätzliche Dinge über Politik zu lernen. Unter anderem, dass die Politik manchmal das härteste Schlachtfeld von allen sein konnte und wenn Gilbert sich auf eines verstand, dann auf eine Schlacht. Und seine beste Waffe, war heute geschaffen worden. Sie war der Grund, warum er sich heute Nacht hinaus gewagt hatte, obwohl er wusste, dass Braginski ganz in der Nähe sein musste. Auf der Suche, genau wie er. Aber das hier war nun mal nicht Ivans Heimat und würde es nie werden, das hier war Gilbertland und niemand, nicht einmal Ludwig, kannte sich hier besser aus als er. Er verstand das Wispern in den Schatten, die Geschichten und Neuigkeiten, die Gedanken und Sorgen, die der Nachtwind zu ihm trug. Hier sprachen sie seine Sprache und führten ihn zielgerichtet, so dass er kaum auf Weg achten musste, den er nahm. Und obwohl er glaubte, Braginskis eisigen Atem mehr als einmal im Nacken zu spüren, dachte Gilbert nicht im Traum daran umzukehren. Ganz im Gegenteil – zum ersten Mal seit vier Jahren fühlte Gilbert Weillschmidt sich wieder wie Gilbert Weillschmidt. Unnötig darauf hinzuweisen, was für ein großartig-glorioses Gefühl das war. Eines das allerdings nur hielt, bis er die Hauptstraße verließ und zwischen den zerstörten Häuserzeilen, die nur notdürftig geflickten Nebengassen entlang lief. Besonders eines der Gebäude an denen er vorbeikam, als er in die Rykestraße einbog, zog seinen Blick wie magisch an und es kostete ihn alle Kraft, die er hatte, nicht wie angewurzelt stehen zu bleiben und in Erinnerungen zu versinken. Er hatte gesehen, wie es eingeweiht worden war 1904 und er hatte gesehen, was 1938 mit ihm geschehen war. Doch selbst Gilbert, der nie vor einem Kampf zurückwich und sich nur vor wenigen Sachen wirklich fürchtete, wagte es nicht, sich zu erinnern. Nachzudenken – über das was hier geschehen war. Wofür dieses Gebäude stand. Und nur für einen winzigen Moment dachte er wieder an Ludwig. Daran ob 'er' es wagte sich den Erinnerungen zu stellen, die Tür zu öffnen, hinter der sie lauerten wie Monster in der Finsternis. Mit plötzlich weich gewordenen Knien wandte Gilbert sich ruckartig ab und lief davon. Hastig fast, so dass er beinahe gestolpert wäre. Er brauchte einige Meter, um sich zu erholen und sich wieder auf sein eigentliches Ziel zu konzentrieren das ihn am Ende der Strasse erwartete. Dort, wo sie in eine andere überging, erhob sich ein erstaunlich unbeschadeter Wasserturm, der schon seit 1877 in bester preußischer Tradition unbeeindruckt von allem was um ihn herum geschah seinen Dienst versah. In einem Fenster seines Maschinenraums konnte Gilbert ein Licht flackern sehen. Bei diesem Anblick kehrte augenblicklich das Grinsen auf sein Gesicht zurück. Endlich am Ziel, glaubte er den Geschmack des Triumphes schon fast auf der Zunge spüren zu können. Der im Übrigen ziemlich an den von Bier erinnerte. Da er noch nie viel auf falsche (oder auch angemessene) Zurückhaltung gegeben hatte, ließ Gilbert sich nicht viel Zeit, um die letzten Meter hinter sich zu bringen und die schwere Eisentür, hinter der sein neustes Projekt, seine Geheimwaffe auf ihn wartete, ungeduldig aufzureißen. Mit einem Grinsen, das so breit war, dass seine Mundwinkel am Hinterkopf zusammen zu treffen schienen, sprang Gilbert Weillschmidt in den Raum und starrte die Person an, die es sich dort gemütlich gemacht hatte. Mit einer Thermoskanne und einer dünnen Scheibe Schwarzbrot, die mit nur einem Hauch Margarine bestrichen war. Die Deutsche Demokratische Republik. Seinen jüngsten Bruder. Nur, dass 'jung' es irgendwie nicht so ganz traf, wie Gilbert fassungslos bemerkte, als er, statt eines Kleinkindes, wie Ludwig es einst gewesen war, einen gut zwanzigjährigen, untersetzt-muskulösen Rotschopf in Schiebermütze, Unterhemd, Arbeiterhose und Hosenträgern vor sich erblickte. "Du ... bist ...", stotterte er verdattert und spürte, wie seine rechte Augenbraue zu zucken begann. "Du ... bist ..." Der Rotschopf sah zufrieden schmatzend auf und grinste breit über das ganze sommersprossige Gesicht. "Paul", erwiderte er gut gelaunt, ohne sich an Gilberts Auftritt zu stören. "Paul Schulze. Tachchen Jenosse!" *** @ Myojo – hey, danke für deinen Kommentar. Ja, das erste Kapitel ist schon ein bisschen an Pratchett orientiert. ^^ Zwei Fanfics in einem, huh? AN: Das hier wird wohl doch länger als gedacht. Wow, ich konnte mich mal wesentlich kürzer fassen. Ah ja, und eine Frage, wenn ich das erste Kapitel anklicke, steht da, 'zwei Kommentare' aber ich sehe nur eins. Heißt das ich habe eines versehntlich gelöscht oder es muss erst freigeschaltet werden oder so? Sorry fürs Fragen, aber ich kenne mich mit animexx nicht wirklich gut aus... *ist doof* Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)