Reflection von Ryusei (Don't look back) ================================================================================ Kapitel 1: Reflection --------------------- Vorwort: Serie: Death Note Charaktere: Raito, Ryuzaki, Sonderkommission, ??? Genre: AU, Krimi, Shônen Ai Beta: Self-Beta, . Danke euch :3 Author’s Note: Ich hatte es lange halb fertig, dann habe ich mich lange davor gedrückt. Aber ich wollte das Ende unbedingt schreiben, weil ich die Idee mochte *_* Ach ja… Die 29 im Fall klingt als „Twenty-nine“ wesentlich besser =p Reflection 29.12.2003 Der Flughafen war laut, überfüllt und Menschen stürmten hektisch an dem jungen Mann vorbei, während dieser seinen Koffer durch die Masse zog. Er hatte noch Zeit. Er musste nicht hetzen. Sein Flug ging erst in einer Stunde und so war es ihm fern, sich auch nur ein wenig schneller als nötig zu bewegen. Er beschwerte sich nicht einmal, als ein korpulenter Mann ihm seine Reisetasche gegen die Knöchel schlug. Ryuzaki ging einfach weiter. Noch einmal überlegte er, ob er wirklich alles hatte, ob er gut genug vorbereitet war. Dieser Fall war anders – gefährlicher. Das erste Mal würde er ihn direkt konfrontieren, seinen Feind, seine Herausforderung. Nicht über einen Mittelmann, nein. Direkt. Er wusste, dass nur ein kleiner Fehler seine ganzen Pläne vernichten könnte. Nur ein kleiner Patzer und er war tot. Aber das war es wert. In seinem Koffer waren nur die notwendigsten Dinge. Alles andere würde seine rechte Hand übernehmen. Sein Partner, ohne den diese Arbeit gar nicht zu realisieren wäre. Ryuzaki lächelte in Gedanken versunken und schüttelte den Kopf. Da vorne waren die Schalter, an denen er seinen Koffer abgeben musste. Er brauchte kein Handgepäck. Er würde den Flug nutzen, um noch einmal alles zu überdenken und zu planen. Wenn er etwas vergessen hatte, konnte er seinen Partner immer noch kontaktieren. Doch er hoffte, dass es nicht nötig sein würde. „Sebastian B.I. Black?“, las die junge Frau hinter dem Schalter leise und kontrollierte die Bordkarte mit dem ihr hingehaltenen Personalausweis. Eine falsche Identität. Unter seinem wahren Namen konnte er unmöglich nach Japan fliegen. Nicht, wenn er den bevorstehenden Fall bedachte. Ryuzaki nickte bedächtig. „Ja… Gibt es ein Problem?“ „Oh, keineswegs. Ist das alles, was Sie an Gepäck haben, Sir?“ Der Koffer mit seinem Notequipment. „Ja. Das ist alles… Ich benötige kein Handgepäck.“ „Gut… Seien Sie rechtzeitig an Gate 8, Ihr Flug geht in 29 Minuten.“ Ryuzaki nickte erneut, dann vergrub er die Hände in der viel zu weiten, blauen Jeans und wandte sich ab. „Ich werde daran denken. Vielen Dank.“ Doch bevor er das Flugzeug betreten würde, wollte er seinem Partner noch einen kurzen Besuch abstatten. Er wartete im Duty Free-Shop. Der ältere Mann trug einen dunklen Trenchcoat und hatte den Hut tief in sein Gesicht gezogen, während er das Etikett auf einer Parfümflasche studierte. „Hier sind Sie…“ Der Angesprochene drehte sich um und blickte zu Ryuzaki hinab. „Sie haben schon eingecheckt? Das ging schnell.“ „Es geht immer schnell, wenn man die Masse erst vorlässt.“ Wenn man keinen Wert auf einen Fensterplatz legte, dann war es eine Garantie für einen entspannten Flughafenaufenthalt. „Ist alles vorbereitet?“ „Natürlich. Ganz so, wie Sie es wollten.“ Ryuzaki straffte die Schultern. „Perfekt… Ich sehe mich noch ein wenig um, aber viel Zeit habe ich nicht mehr. Mein Flug geht gleich. Und…“ Schmunzelnd warf Ryuzaki einen Blick auf die Schachtel, die sein Partner in den Händen hielt. „Ich würde von einem Kauf abraten. Das ist ein Damenparfüm.“ April 2004 Die Tennisplätze waren für einen so warmen Frühlingstag überraschend leer. Yagami Raito ließ ein leises Seufzen hören, während er sich mit dem Tennisschläger auf die Handfläche klopfte und auf seinen Gegner wartete, der noch in der Sporttasche nach seinem Schläger suchte. Er konnte nicht glauben, dass er wirklich eingewilligt hatte. Hatte er damit nicht zugegeben, dass er ihm die Geschichte abnahm? Raito war sich immer noch nicht sicher, was er davon halten sollte. Diese elenden drei Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Aber wenn er die Wahrheit sagte, dann… „Da ist er ja…“ Raito wandte den Kopf und blickte auf den gebeugten, weiß gekleideten Rücken des schwarzhaarigen Mannes. Selbst für ein Tennisspiel zog er sich nicht um. „Können wir anfangen, Ryuga?“ Auch ohne seine merkwürdig gekleidete Begleitung war Raito ein Publikumsmagnet. Obwohl sie noch nicht begonnen hatten, standen bereits einige Mädchen an dem Gitter, das die Zuschauer vor den Tennisbällen schützen sollte. „Ja… Entschuldige.“ „Kein Problem.“ „Ich möchte Yagami-kun bitten, mich nicht zu unterschätzen. Ich war Erstplatzierter bei den Junior Tennis-Championships in England.“ „England? Du bist in England aufgewachsen?“ Unter anderen Umständen, wäre es eine ganz normale Frage gewesen. Doch Raito erinnerte sich daran, wer Ryuga nach eigener Aussage war. „Da dir die Antwort nicht hilft, etwas über meine Identität herauszufinden… Ich habe fünf Jahre dort gelebt.“ „Verstehe…“ Raito blickte Ryuga aus den Augenwinkeln an. Das war tatsächlich keine besondere Information. Wie viele Menschen gab es, die schon einmal für ein paar Jahre in einem anderen Land gelebt hatten? Und obwohl Ryuga England erst jetzt erwähnte, war Raito schon bei der Eröffnungsrede in der Todai-Aula aufgefallen, dass er zwar fließend, aber nicht ganz akzentfrei Japanisch sprach. Jetzt wusste er wenigstens woher dieser Akzent kam. „Also… Ein normales Match unter Freunden. Einverstanden… Ryuga?“ ‚L’, fügte Raito in Gedanken hinzu und blieb auf einer Seite des Platzes stehen, während Ryuga auf die andere Seite schlurfte. Heute Morgen war er nur wegen der Aufnahmeprüfung für die Todai und wegen der Eröffnungsrede zur Universität gefahren. Doch dann war ihm erst eröffnet worden, dass es noch jemanden gegeben hatte, der in allen Tests die volle Punktzahl erzielt hatte. Ryuga Hideki. Oder… L. War es eine Lüge? Ein Test? So wie damals mit Lind L. Tailor? Raito konnte es nicht sagen. Er wusste nur, dass er Ryuga nicht traute. Und dieses Spiel… war mehr als nur ein Match unter Freunden, welche sie nicht waren. Es war eine Probe, eine Herausforderung an L, wie an Kira gleichermaßen. Weil keiner von ihnen verlieren konnte. Der gelbe Tennisball tippte auf den Boden, sprang von dem rotbraunen Untergrund ab und schoss wieder nach oben, wo ihn Ryuga mit ausgestreckter Hand fing. Raito blinzelte gegen das Sonnenlicht und konzentrierte sich. Jeder Sieg in einem Wechsel brachte zwei Punkte. Wer zuerst sechs Punkte hatte, hatte gewonnen. Also drei Siege. Maximal fünf Wechsel. Ryuga hatte gesagt, dass er Tennischampion in England gewesen war. Doch wie lange war das her? Hatte er das Spiel mittlerweile verlernt? Raito blinzelte noch einmal. Ryuga streckte den Arm, warf den Ball in die Luft und- … „Mit einer viel zu großen Wucht knallte der Ball gegen den die Umzäunung des Platzes hinter Raito und landete mehrmals aufdotzend am Boden“ „Fifteen Love“, verkündete Ryuga zufrieden und Raito starrte an ihm vorbei. Hatte er es sich eingebildet oder stand gerade hinter dem Zaun hinter Ryuga noch eine zweite Person? Er hatte genau in die Sonne geblickt… Eine Luftspiegelung? Ärgerlich. Durch seine Unachtsamkeit hatte er Ryuga einen Punkt geschenkt. „Hey, Ryuga… Hast du schon einmal etwas von Aufwärmen gehört?“, tadelte Raito, während er den Ball wieder vom Boden aufhob. Ryuga lachte leise. „Kann Yagami-kun nicht verlieren?“ Oh, diesen Sieg würde Raito ihm nicht gönnen. Er hielt den Ball umklammert, während er noch einmal den Blick über das Gitter hinter Ryuga gleiten ließ. Nichts. Doch nur eine Einbildung. Eine Einbildung, die ihn einen Punkt gekostet hatte. Aber er würde Ryuga nicht gewinnen lassen. Sie strebten beide nach dem Sieg und es würde ihn nicht verdächtig machen, selbst wenn er um jeden Preis zu gewinnen versuchte. Immerhin tat Ryuga nichts anderes. „Ha…!“ Raito spürte, wie der Ball gegen das Nylonnetz des Schlägers traf. Mit einem leisen Zischen flog der Ball wieder quer über den Platz. Es stand vier zu vier. Genau wie Raito vermutet hatte: Es würde fünf Wechsel geben. Das war der letzte. Die entscheidende Runde. Raito lief der Schweiß in einem dünnen Rinnsal über die Stirn, während er sich auf den Gegenschlag vorbereitete. Auch Ryugas Bewegungen hatten an Kraft und Ausdauer verloren, aber trotzdem war er nicht zu unterschätzen. Dieser Satz entschied das Spiel. ‚Egal ob du L bist oder nicht – Ich werde dich nicht gewinnen lassen!’ Raitos Körper zitterte vor Anstrengung, als er den Ball erneut zurückschlug. Zwei Sehnen traten deutlich sichtbar unter seiner verschwitzten Haut hervor. Auf der anderen Seite des Platzes setzte sich Ryuga in Bewegung. ‚Es ist mir egal, ob das eine Falle ist. Es ist mir egal, wer du bist.’ Ryugas Spiel war passiv. Er reagierte. Und das war sein großer Fehler. Raito spannte sich an, als er sah, wie Ryuga den Ball zurückspielte, dann rannte er vor ans Netz. Ryugas Kopf hob sich. ‚Wenn du gewinnen willst…’ Raito holte aus, als der Ball noch nicht ganz über dem Netz war und schlug mit aller Kraft zu. ‚… musst du angreifen!’ Ryuga realisierte einen Augenblick zu spät. Nur wenige Millimeter fehlten zwischen Schläger und Ball. Keuchend richtete sich Ryuga auf, während der Platzwart das Endergebnis verkündete. „Sechs zu Vier. Sieg für Yagami!“ „Gratuliere… Ein gutes Spiel. Ich habe verloren.“ Auch Ryugas Haut war schweißnass, als er an das Netz trat, um Raito die Hand zu schütteln. Ein leichtes Lächeln legte sich auf Raitos Lippen. „Du warst ein harter Gegner. So ein aufregendes Match hatte ich lange nicht mehr.“ 29.04.2004 Raito stand vor dem Kopierer und starrte ihn an. Schon seit einigen Minuten war das Geräusch des Gerätes das Einzige, was in dem Hotelzimmer zu hören war. L – Ryuzaki – saß mit dem Rücken zu ihm, tief über seinen Laptop gebeugt und hielt einen Lutscher zwischen den schmalen Fingern. Zucker sei gut für das Gehirn, hatte er gesagt. Ryuzaki. Ryuga. Raito konnte nicht bestimmen wie viele Namen der Schwarzhaarige wohl noch haben mochte. Aber bei einem Punkt war sich Raito mittlerweile sicher: L war einer seiner Namen. Mehr noch: Der einflussreichste und mächtigste aller Namen. Auch wenn er Ryuga anfangs nicht glauben wollte, als auch sein Vater und die restlichen Polizisten, die noch gegen Kira ermittelten, Ryugas Identität als ‚L’ bestätigt hatten, konnte sich Raito keine Zweifel mehr erlauben. Stattdessen fokussierte er seine ganze Aufmerksamkeit auf Ryuzaki. Er war L – und damit sein Feind. Er musste ihn töten, ihn ausschalten, bevor er Beweise gegen Kira finden konnte. Doch dazu musste er Ls wahren Namen kennen. Und Raito bezweifelte, dass Ryuzaki ihm diesen einfach so verraten würde. „Ah…“ Der Kopierer war still geworden. Raito nahm den Stoß Blätter und ging wieder zu dem Sofa zurück, auf dem Ryuzaki kauerte. „Bitte… Was hast du damit eigentlich vor?“ „Propaganda“, nuschelte Ryuzaki und steckte sich den Lutscher in den Mund, um Raito die Blätter abnehmen zu können. „Nur für die Nachrichtensender…“ „Für die Nachrichtensender?“ „Viele Polizisten haben den Dienst quittiert. Sie fürchten sich vor Kira.“ „Du dich auch, Ryuzaki?“ Raito war der einzige in der Sonderkommission, der Ryuzaki duzte. Er hatte ihn nicht um Erlaubnis gefragt, aber Ryuzaki hatte auch nichts gesagt, als Raito damit begonnen hatte. Und so war es für Raito in Ordnung gewesen. „Ich? Nein. Kira kennt meinen wahren Namen nicht. Es ist nicht gut, wenn man mit Angst an so einen Fall herangeht. Die Angst nimmt einem die Sicht für das Wesentliche.“ Sie waren allein im Hotelzimmer. Die Sonderkommission würde erst gegen Nachmittag eintreffen und Watari war wohl bei Interpol, sofern Raito Ryuzakis Genuschel vorhin richtig verstanden hatte. Er war mit einem Stück Kuchen beschäftigt gewesen, als Raito ihn nach dem älteren Herrn gefragt hatte. „Du würdest also sagen Angst lähmt die Auffassungsgabe?“ „So könnte man es sagen…“ „Das ist doch lächerlich. Es ist doch wie du sagtest: Solange Kira den Namen nicht kennt, kann doch nichts passieren, oder?“ „Nur darf Yagami-kun nicht vergessen, dass nicht jeder seinen Namen so gut geheim halten kann wie ich.“ Ryuzaki wuchtete den Papierstapel quer durch das Zimmer und ließ ihn in eine Plastikbox fallen, auf der ‚Postausgang’ stand. „Watari wird sich später darum kümmern…“ „Wo war er gleich noch einmal?“ „Interpol.“ Also hatte er ihn doch richtig verstanden. Interpol. Die Polizeimächte weltweit. Doch auch bei dem Kira-Case hatten sie nichts getan, außer L um Hilfe anzuflehen, unwissend darüber, dass L den Fall schon seit dem ersten Mord angenommen hatte. Und so wie Raito es mitbekommen hatte, war Ls Meinung bezüglich Interpol nicht die Beste. Außer dem Klappern der Tasten und einem gelegentlichen Räuspern war es still. Jeder ging der Aufgabe nach, die er von Ryuzaki zugeteilt bekommen hatte. Raito drehte sich auf seinem Stuhl und sah sich in dem Raum um, während die Daten auf seinem Computer noch am Laden waren. Von den Sonderkommissionsmitgliedern sah er nur den Rücken. Ryuzaki saß neben ihm und starrte gebannt auf den Bildschirm. Seine Finger bewegten sich eilig über die Tasten und Raito konnte seiner Arbeit nicht ganz folgen. Ryuzaki war zu routiniert. „Was glaubst du wie lange wir noch an diesem Fall arbeiten werden, Ryuzaki?“ „Ich weiß es nicht…“ Ryuzaki sah ihn nicht einmal an, während Raito mit ihm sprach. Seine Aufmerksamkeit galt dem weißen Laptop. „Tage. Wochen. Monate. Solche Fälle lassen sich nicht kalkulieren. Ich hatte schon genug Fälle, an denen ich länger arbeiten musste, als ich anfangs angenommen hatte. Zumal der Kira-Case etwas ganz anderes ist… Etwas Besonderes.“ „Ryuzaki.“ Die mechanisch-verzerrte Stimme ließ Ryuzaki aufsehen. Raito ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken und sah auf den Bildschirm neben Ryuzaki, auf dem schon seit Beginn der Arbeit ein schwarzes W zu sehen war. „Watari. Was gibt es?“ „Gerade erhielt ich eine Nachricht des New York City Police Departments. Offenbar sind heute in vielen amerikanischen Polizeistationen Briefe eingegangen.“ „Briefe?“ „Ja. Sie alle enthielten nur einen Zettel mit einer 29. Der Absender hat die Adressen zwar handschriftlich geschrieben, doch konnte mit der Handschrift nichts angefangen werden.“ „Fingerabdrücke?“ „Gar keine. Sie vermuten, dass er Handschuhe getragen hat.“ „Bei wie vielen Polizeistationen gingen diese Briefe ein?“ „Bisher weiß ich von 16. Es könnten allerdings im Laufe des Tages noch mehr werden. Ich werde mich erkundigen, ob es nur in Amerika so war oder auch noch in anderen Ländern. Ich melde mich, wenn es Neuigkeiten gibt.“ Ryuzaki legte den Zeigefinger an die Lippen. „Was könnte es damit auf sich haben, Ryuzaki?“ Matsuda hatte sich von dem Kopierer, an dem er gestanden hatte, als Wataris Nachricht eingegangen war, abgewandt und blickte neugierig in den Raum. „Ich denke nicht, dass wir uns darum kümmern müssen. Solche Scherze passieren oft. Sie sind nervig, aber keineswegs gefährlich. Wir haben wichtigeres zu tun.“ Nachdenklich stützte Ryuzaki den Kopf auf seine Hände und starrte aus dem Fenster. Der Fall war an eine gefährliche Wende gekommen und er war sich nach wie vor nicht sicher, ob sein radikaler Weg der Richtige war oder nicht. Seufzend drehte er sich auf seinem Stuhl und sah sich in dem leeren Hotelzimmer um. Er war allein. Zeit genug, um über sich und seine Handlungsmethoden nachzudenken. Wenn sein Partner sich erst wieder meldete, würde er dafür keine Zeit mehr haben. „Ich muss“, murmelte Ryuzaki zu sich selbst und stand von dem Stuhl auf, auf dem er die ganze Zeit zusammengesunken gesessen hatte. „Es ist die einzige Möglichkeit. Der sanfte Weg bringt nichts. Damit kriege ich ihn nicht…“ Um ihn zu fassen würde er alles tun. Dieser Fall war wichtiger als alles andere. Entschlossen wandte sich Ryuzaki vom Fenster ab. 29.05.2004 Der Tag hatte noch nicht richtig begonnen und außer Ryuzaki arbeitete noch keiner aktiv. Matsuda lehnte an der Wand und nippte Kaffee aus dem Becher einer Thermoskanne, während sich Raito angeregt mit seinem Vater unterhielt. „Ob wir heute ein wenig vorankommen?“, warf Matsuda in den Raum und bewegte sich von der Wand weg, um sich vor seinem Computer niederzulassen. „Wir kommen jeden Tag voran. Auch wenn es Ihnen nicht auffallen mag, aber Yagami-kun und ich arbeiten wesentlich länger.“ „Darüber wollte ich mit Ihnen noch reden, Ryuzaki. Ich möchte nicht, dass mein Sohn-“ „Vater. Ich habe bereits gesagt, dass das für mich in Ordnung ist. Ryuzaki braucht meine Hilfe und je eher wir Kira stellen können, desto besser ist es. Das möchtest du doch auch, oder?“ Ryuzaki schenkte der kurzen Diskussion Raitos mit seinem Vater keine weitere Beachtung. Seine Hände ruhten auf den Tasten des Laptops, seine Augen waren geweitet. Diese Meldung, die er gerade bekommen hatte… Das konnte nicht wahr sein! Ryuzakis Hand schnellte zu dem Mikrophon neben seinem Laptop. „Watari!“ „Ryuzaki, ich wollte Sie gerade kontaktieren.“ „Watari, ist das wahr?“ „Leider. Ich habe die Meldung vor wenigen Minuten erhalten und direkt an Sie weitergeleitet. Die genauen Zahlen sind noch unbekannt.“ „Ryuzaki, was ist denn los?“ Raito beugte sich über die Armlehne seines Stuhls, um zu sehen, was Ryuzaki so beunruhigte. Die Meldung auf dem Bildschirm war in englischer Sprache und voll von Abkürzungen, die Raito nichts sagten. „In Amerika gab es einen Anschlag. Mehrere sogar. Sprengungen von Gebäuden.“ „Was denn für Gebäude?“ Keiner der Sonderkommission arbeitete mehr an den Aufträgen, die sie von Ryuzaki erhalten hatten. Die Meldung über neue Fälle in Amerika war in dem in einer Flaute gefangenen Kira-Case eine willkommene Abwechslung für die Polizisten. Was auch immer dort auf der anderen Seite des Ozeans passiert war, es war schwerwiegend genug, dass L kontaktiert wurde. Und allein das sprach für einen eventuell außergewöhnlichen Fall, denn Ryuzakis Methoden und Voraussetzungen für die Annahme eines Falles waren nicht nur unverschämt, sondern auch noch überheblich. „Soweit ich es beurteilen kann, sind es keine besonderen Gebäude. Ein Krankenhaus. Ein Einwohnermeldeamt. Ein Mehrfamilienhaus. Eine Fachhochschule. Ich erkenne kein Muster in der Auswahl der gewählten Objekte, mit einer einzigen Ausnahme: In allen Gebäuden befanden sich zum Zeitpunkt der Sprengung mehrere Zivilisten.“ Ich erkenne kein Muster in der Auswahl der gewählten Objekte, mit einer einzigen Ausnahme: In allen Gebäuden waren zum Zeitpunkt der Sprengung mehrere Zivilisten.“ „Wer macht so etwas? Ich meine… Denkt denn keiner an den Denkmalschutz?“ „Matsuda-san. Haben Sie nicht gehört, was Ryuzaki gesagt hat? Es waren Menschen in den Gebäuden. Das heißt, es gibt Tote. Und Sie mokieren sich über Denkmalschutz!“ Die Fassungslosigkeit über Matsudas Aussage war Yagami Soichiro deutlich anzuhören. „5978.“ „Was?“ Noch einmal überflog L die verschiedenen Artikel mit den Daten der Gebäude. „5978 Opfer. Ich übernehme diesen Fall.“ „Ryuzaki!“ Das ungewollte Unisono von Aizawa und Soichiro schien die beiden Männer für einen Augenblick aus dem Takt zu bringen. Doch sie fassten sich rasch wieder. Soichiro rückte seine Krawatte zurecht und räusperte sich, während Aizawa bereits das Wort ergriff: „Was soll das heißen Sie übernehmen den Fall, Ryuzaki? Haben Sie den Kira-Case vergessen?“ „Nein.“ „Sie arbeiten bereits an einem Fall!“ „Und?“ Raito beobachtete das ungleiche Gespräch mit gemischten Gefühlen. Welcher Mensch brachte rücksichtslos so viele Menschen um? War es Kira? Aber Kira griff nicht zu solchen radikalen Methoden. Yagami Raito – ohne Erinnerungen an das Death Note und den Fakt, dass er Kira war – seufzte und lehnte sich zurück. Im Prinzip hatten sie bisher gar nichts. Weder Indizien, noch Anhaltspunkte. In beiden Fällen. „Ich habe kein Problem damit beide Fälle zeitgleich zu bearbeiten. Bei solchen Attentaten sind Spuren nicht zu vermeiden, nicht einmal für den geschicktesten Mörder.“ Ryuzakis Gedanken lagen bei einer einzigen Person. Bei einem Menschen, der sein Leben beinahe aus der Bahn geworfen hätte. Einem ganz besonderen Fall. Der erste Fall, den er aus privaten Gründen angenommen hatte. Der Los Angeles BB-Case vor zwei Jahren. In ein paar Wochen würde sich der erste Mord zum zweiten Mal jähren. Aber der Fall war lange gelöst, der Mörder L von Anfang an bekannt gewesen. Es war lediglich darum gegangen ihn zu überführen, nicht zu finden. Anfang des Jahres war er gestorben, so lauteten die Nachrichten aus Amerika. „Das ist Wahnsinn, Ryuzaki. Sie werden einen Fall vernachlässigen!“ „Erklären Sie mir nicht was ich während meiner Arbeit machen werde und was nicht.“ Ryuzakis Stimme war ruhig, auch wenn er allen Grund gehabt hätte sich aufzuregen. „Seien Sie einfach so freundlich und erledigen Sie Ihre Aufgaben, während ich mich um meine kümmere, danke. Watari. Schicken Sie mir bitte alles, was Sie über die Sprengungen in Amerika in Erfahrung bringen können und zwar so schnell es möglich ist.“ „Ryuzaki! Warum sind Sie so versessen auf diesen Fall?“ „Welches Datum haben wir heute?“ „Den… 29. Mai. Wieso?“ „Erinnern Sie sich, was heute vor einem Monat war?“ Einen Moment herrschte Stille, während die Polizisten hinter Ryuzaki nachdachten. Die letzten Tage hatten sie viel ermittelt und viele verschiedene Informationen zusammengetragen. Aber dennoch. Dieses Ereignis zu vergessen war doch nicht möglich. „Die Briefe!“, rief Matsuda plötzlich und Ryuzaki nickte. „Genau. Die Briefe, deren Inhalt nur eine 29 war.“ „Es könnte ein Zufall sein, Ryuzaki. Wie kommen Sie darauf, dass dieser Absender hinter den Anschlägen steckt? So viele Tage hat ein Monat nun einmal nicht.“ „29.“ Überrascht drehten sich alle Köpfe zu Raito. Der Braunhaarige hatte sich über Ryuzakis Bildschirm gebeugt und fixierte die Artikel. „Die zweistellige Quersumme aus der Opferanzahl… 5978… ist 29.“ „Wussten Sie das, Ryuzaki…?“ „Ich sagte doch es ist kein Zufall. Außerdem besteht eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass der 29-Mörder und Kira ein- und dieselbe Person ist. Wir sollten der Sache unbedingt nachgehen. Dieser Fall interessiert mich sehr.“ Juni 2004 „Ist das wirklich nötig, Ryuzaki?“ Das Metall klimperte leise, als Raito die Hand bewegte. „Ja. Ich halte dich immer noch für Kira. Außerdem war es abgemacht, dass ich dich rund um die Uhr beobachten kann.“ „Aber…“ Raito seufzte und ließ die Schultern hängen. Nicht, dass es ihn störte, dass Ryuzaki ihn beobachtete. Viel mehr war es die Art und Weise, wie er es tun wollte, die Raito übel aufstieß. Mit einem kritischen Blick sah er auf die lange Handschelle, die ihn mit Ryuzaki verband. Auch wenn er den Ermittler noch nicht lange kannte, er wusste, dass er Ryuzaki unmöglich von diesem Vorhaben abbringen konnte. Doch die Vorstellung 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche an eine Person gekettet zu sein, die einen für einen Massenmörder hielt, war kein schöner Gedanke. Nicht einmal zwei Meter Spielraum blieben Raito noch. „Ryuzaki…“ „Ich weiß, dass Sie Bedenken haben, Yagami-san. Aber Ihr Sohn hat zugestimmt. Vergessen Sie nicht: Kira hat oberste Priorität.“ ‚Zugestimmt‘ war etwas anderes, aber Raito beschloss sich nicht weiter in die Diskussion einzumischen. Ryuzaki davon zu überzeugen, dass er etwas Falsches gemacht hatte, war unmöglich. „Es ist schon in Ordnung, Vater. Ryuzaki hat Recht: Wir müssen uns wirklich auf den Fall konzentrieren. Es ist doch sicherlich in deinem Ermessen, wenn ich Ryuzaki davon überzeugen kann, dass ich nicht Kira bin.“ „Vorher werde ich die Handschellen auch nicht lösen, Raito-kun. Ich hoffe, du hast damit kein Problem.“ „Keineswegs…“ Sie waren auch ohne Handschellen ständig zusammen, halfen und unterstützen sich ohne selbst zu merken, dass sie es taten. Ryuzaki genoss die Zusammenarbeit mit Yagami Raito. Und Raito suchte das Gespräch mit dem Ermittler. Sie waren morgens als erstes im neu gebauten Hauptquartier, nachdem die ständigen Hotelzimmerwechsel nicht nur zermürbend, sondern auch auffällig geworden waren. Und sie schlossen die Ermittlungen als letztes. So war es keine große Umstellung für Raito in Ryuzakis unmittelbarer Nähe zu sein. Nur die Handschellen waren ganz und gar nicht sein Geschmack. Nicht, dass das Metall allzu störend gewesen wäre, aber es machte ihm deutlich, dass ihm Ryuzaki gar nicht vertraute. Nicht einmal so sehr, dass er ihn eigenständig in dem Gebäude herumlaufen ließ. Raito seufzte und blickte aus dem Fenster des breiten Raumes. Ryuzaki hatte ihn ihm vorhin gezeigt und dabei eröffnet, dass sie hier in Zukunft zusammen schlafen würden. In der Mitte des Raumes standen zwei Einzelbetten nah beieinander, sodass trotz Handschelle noch genug Platz zum Schlafen blieb. Die großen Fenster tauchten den Raum in ein kühles Licht. Ryuzaki kauerte auf dem Bett, welches der Fensterfront näher stand und knöpfte umständlich seine Hose auf, um sie ausziehen zu können, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder Raito schenkte und sich zu ihm drehte. „Stört es Raito-kun denn sehr?“ „Was…?“ „Die Handschellen. Sie ließen sich nicht vermeiden. Ich möchte nicht, dass sich Raito-kun zu weit von mir entfernen kann, weil ich ihm nicht immer meine vollste Aufmerksamkeit zu Teil werden lassen kann.“ „Es stört mich nicht, Ryuzaki. Aber…“ Raito wandte sich von dem Fenster ab und umrundete das Bett, auf dem sich Ryuzaki niedergelassen hatte. „Ich würde mich gerne mit dir unterhalten. Ich… habe mir einige Gedanken über unsere Fälle gemacht.“ „Du möchtest wissen, ob wir zu denselben Ergebnissen gekommen sind?“ Raito lächelte. Das war es, was er an den Unterhaltungen mit Ryuzaki schätzte. Er brauchte nicht viele Worte, weil der Ermittler ihm und seinen Gedankengängen folgen konnte. Keine unnötigen Erklärungen. Und Raito musste keine Angst haben seine Meinung zu vertreten. Auch wenn Ryuzaki nach außen hin hinter dem Gesetz stand, er vertrat seine eigene Moral und ging mit einer Neutralität an die beiden Fälle heran, die Raito das Reden leicht machte. „Genau. Also… Du sagtest letzte Woche, es könnte sein, dass der 29-Mörder und Kira dieselbe Person sein könnte. Ehrlich gesagt glaube ich nicht daran.“ „Ich auch nicht. Es war nur eine Rechtfertigung.“ „Das dachte ich mir. Es passt nicht zu Kira, dass er zu solchen radikalen Methoden greifen würde.“ Ryuzaki nickte und legte sich auf die Seite, die Finger an den blassen Lippen. „Ich hatte schon viele Fälle mit hohen Opferzahlen. Aber dieser Fall überbietet alles. Ich möchte wissen, welchen Grund eine Person hat so viele Menschenleben zu fordern.“ „Wenn es überhaupt einen Grund gibt.“ „Ein Mörder hat immer einen Grund, Raito-kun. Auch wenn er auf den ersten Blick nicht ersichtlich scheint oder nur von bestimmten Personen gedeutet werden kann. Ich habe noch nie einen Mord ohne irgendeinen Hintergrund gehabt. In den meisten Fällen jedoch sind es schlichte, menschliche Bedürfnisse… Habgier. Rache. Neid.“ „Davon kann man bei Kira und dem 29-Mörder nicht reden.“ Raito ließ sich auf seinem Bett nieder und sah sein Gegenüber ruhig an. Gleich zwei Mörder ohne ein erkennbares Motiv. Und was noch wichtiger war: Ohne irgendeinen Anhaltspunkt. Raito fühlte sich, als würden sie sich im Kreis bewegen. Obwohl ihre Ermittlungen jeden Tag geringe Erfolge zu Tage förderten, schien der Durchbruch zu Kiras Ergreifung noch in weiter Ferne. Und zu Kira kam jetzt noch der 29-Mörder, von dem sie nichts wussten. Keine Hinweise in den Briefen, keine Spuren in den zerstörten Gebäuden. Wie konnte Ryuzaki so gelassen bleiben, wo doch beide Fälle so aussichtslos schienen? „Uns steht noch eine Menge Arbeit bevor. Ryuzaki, wenn ich ehrlich sein soll, fühle ich mich mit all dem ein wenig überfördert.“ „Keine Sorge, Raito-kun. Viele Fälle wirken auf den ersten Blick unlösbar, doch irgendwann macht der Täter einen Fehler, der ihn verrät. Das war bisher immer so.“ Nichts bewegte sich außer den Vorhängen vor den gekippten Fenstern. Der Raum war ruhig und dunkel, gönnte den beiden Personen die Ruhe, die sie brauchten. Sie schliefen. Und so bemerkte keiner die Silhouette, die sich unter dem Fenster bewegte. Eine schlanke Hand schob sich durch den Spalt ins Innere des Zimmers, tastete nach den Riegeln, die das Fenster in seiner gekippten Lage hielten. Das schimmernde Metall eines Schraubenziehers warf kurz einen Lichtfleck an die Wand hinter den beiden Betten, doch dann war das Fenster offen und die Silhouette schwang sich auf die Fensterbank. Leise, sie durfte keinen Lärm machen, die schlafenden Personen nicht wecken. Die Hand glitt an den Rücken der Silhouette, zog ein breites Messer aus dem Bund der etwas zu locker sitzenden Hose. Der Schatten brauchte nicht lange, um sich zu orientieren. Nur eines der beiden Betten war interessant, nur eines barg die Person, deren Leben ihn reizte. Ohne einen Ton schlich er über den Teppich, an die Längsseite des Bettes, den Blick auf die geschlossenen Augen der Person gerichtet. Gleich. Gleich würde es vorbei sein. Ein Grinsen legte sich auf die Lippen des Schattens, er riss den Arm nach oben, das Messer fest in der Hand. Nur noch ein paar Sekunden. Die schlafende Person drehte sich leicht, gab ein murmelndes Geräusch von sich. Nur noch einige Sekunden, dann-…! „Uah!“ Mit einem Ruck saß Ryuzaki aufrecht im Bett und starrte in die Dunkelheit. Nur einen Augenblick später bewegte sich Raito im Nachbarbett. „Ryuzaki… Was ist passiert?“ Ryuzaki holte in tiefen Zügen Luft. Seine Stirn war schweißnass, die Augen noch weiter als sonst aufgerissen. Hektisch und nahezu panisch sah er sich in dem dunkeln Raum um, so als suche er nach etwas. „Ryuzaki…“, versuchte es Raito vorsichtig, als er auf seine erste Frage keine Antwort erhielt, doch der Ermittler schien immer noch keine Anstalten zu machen ihn zu beachten. Raito seufzte leise, dann stand er von seinem Bett auf und überbrückte die geringe Distanz zwischen den beiden Betten. „Ryuzaki.“ Der hagere Ermittler fuhr zusammen, doch Raito ließ ihn nicht wieder ausweichen. „Hast du schlecht geträumt?“ „Ge… träumt?“ Nur langsam schien Ryuzaki seine Umgebung zu realisieren. Seine Atmung beruhigte sich, während er auf dem Bett zusammensank. „Ich glaube schon…“ „Möchtest du darüber reden?“ Raito erinnerte sich, dass das Reden über einen Traum die Angst lösen konnte. Doch Ryuzaki zog lediglich die Decke hoch und schüttelte den Kopf. „Nein. Morgen wird ein anstrengender Tag. Du solltest schlafen, Raito-kun“, mahnte er, als wäre es Raito gewesen, der die gemeinsame Nachtruhe gestört hätte. Raito seufzte leise, doch dann wandte er sich wieder seinem Bett zu und ließ sich darauf nieder. An Ryuzakis seltsame Art hatte er sich in den letzten Wochen durchaus gewöhnt. Raito hatte das Gefühl, er wäre gerade erst eingeschlafen, als der Wecker ihn schon wieder mit einem schrillen Piepsen aus seinem Schlaf riss. Er hatte etwas geträumt, doch während er blinzelnd in den dünnen Sonnenstrahl zwischen den Vorhängen blickte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern. „Guten Morgen, Ryu… zaki?“ „Hier.“ Raito drehte den Kopf von dem überraschenden Anblick des leeren Bettes weg und sah Richtung Badezimmertür, vor der Ryuzaki mit seiner Jeans kämpfte. Die Kette der Handschelle baumelte hektisch zwischen den beiden jungen Männern hin und her. „Ich habe gar nicht gemerkt, wie du aufgestanden bist. Bist du schon lange wach?“ Raito schlug die Decke zurück und ging langsam auf Ryuzaki zu. „Nimmst du sie bitte ab? Ich würde mich gerne waschen und anziehen.“ Diese Frage war Routine. Raito stellte sie jeden Morgen und hatte gehofft, dass Ryuzaki zwischenzeitlich seiner Bitte ohne Aufforderung nachkommen würde, doch der Ermittler ließ sich jedes Mal aufs Neue bitten. Und auch wenn Ryuzaki gesagt hatte, dass er die Handschelle erst lösen würde, wenn Kira gefasst war, so war es doch unmöglich sich zu waschen oder anzuziehen, wenn ein Stück Metall einen daran hinderte. „Natürlich… Einen Augenblick.“ Ryuzaki schloss die Knöpfe an seiner Jeans, dann löste er die Kette mit dem Schlüssel um seinen Hals und öffnete die Handschelle an Raitos Handgelenk. Anfangs hatte er den Schlüssel noch in seiner Jeanstasche gehabt. Doch nachdem er einmal beim Waschen verschwunden war, bestand Raito auf die Lösung mit der Kette, obgleich sich Ryuzaki anfänglich sehr dagegen gewehrt hatte. Aber Raito wollte verhindern, dass er eines Tages gar nicht mehr von Ryuzaki loskam. „Sag mal, Ryuzaki…?“ Das heiße Wasser rann über Raitos Haut, während er die Duschtür einen Spalt öffnete, um mit dem Schwarzhaarigen reden zu können, der gerade vor dem Spiegel seine Haare mit den Fingern sortierte. „Erinnerst du dich an den Traum gestern?“ Raito war prinzipiell nicht so neugierig. Aber etwas, was den großen L so aus der Fassung gebracht hatte, verlangte doch nach einer Hinterfragung. „Ich erinnere mich, aber ich möchte nicht darüber reden, Raito-kun.“ „Schade. Es hätte mich interessiert… Gibst du mir bitte das Shampoo?“ „Hier…“ Ryuzakis Fingerspitzen streiften Raitos nasse Haut. In Gedanken versunken blickte der Ermittler wieder in den Spiegel. Sein Spiegelbild. Die schwarzen, ungeordneten Haare. Die bleiche Haut. Die tiefen Schatten unter seinen Augen. Warum versuchte jemand diese Optik zu imitieren? Mehr noch… Seine ganze Gestik. Sein Verhalten, seine Redensart, sein Leben. Ryuzaki seufzte leise und berührte mit dem Zeigefinger das schwarze Auge seines Spiegelbildes. B. Der Los Angeles BB Case. Misora Naomi und der Strohpuppenmörder, dessen Identität Ryuzaki lange vor Fallende bekannt war. Bs Festnahme am 22. August 2002. Sein Tod am 21. Januar 2004. Er hatte die Meldung eigenhändig von dem Gefängnis in California bekommen. Beyond Birthday sei an einem mysteriösen Herzinfarkt gestorben. Kira. Ryuzakis Augen huschten zu der Dusche. Kira hatte das Leben seiner Kopie beendet. Beyond Birthday, der Strohpuppenmörder, war durch einen Massenmörder gestorben. Wie ironisch. Ryuzaki schnaubte leise und schüttelte den Kopf. Alle drei Fälle hatten ihre Parallelen. Auch im BB-Case waren von Anfang an keine klaren Spuren zu finden, nichts, was auf den Täter schließen ließ. Nur Ryuzakis Wissen um das Waisenhaus und B ließen ihn wissen, wer der Mörder war. Auch im Kira-Case hatte sich der Kreis der Verdächtigen schnell eingrenzen lassen. Doch was war mit den 29-Morden? Raito konnte unmöglich dahinter stecken. Beyond Birthday war tot. Aber warum glich der Schatten, der sich in seinem Traum über das Bett gebeugt hatte, seinem Spiegelbild? War B wirklich nicht mehr am Leben? „Ryuzaki?“ „Was?“ „Endlich reagierst du… Ich rufe dich schon zum dritten Mal.“ „Entschuldige, ich war in Gedanken versunken…“ Ryuzaki ließ die Hand vor dem Spiegel sinken. „Das habe ich gemerkt… Kannst du mir das Handtuch geben? Mir wird langsam kalt.“ „Natürlich…“ Ryuzaki zog das Handtuch von dem Haken und hielt es Raito hin. Doch die Gedanken ließen ihn nicht los. Was, wenn es eine Lüge war? Was, wenn B noch lebte? Aber würden die Vereinigten Staaten von Amerika es wirklich wagen ihn so zu belügen? Würden sie? „Ryuzaki, du bist überarbeitet.“ Raitos warme Hände legten sich auf Ryuzakis Schultern. „Du bräuchtest dringend Urlaub. Oder wenigstens ein heißes Bad.“ „Nicht, bevor diese Fälle nicht gelöst sind“, entgegnete L unwirsch und schob Raitos Hände beiseite. „Beeil dich mit dem Anziehen. Wir dürfen nicht noch länger trödeln.“ 28. Juni 2004 Unruhig drehte der junge Mann seine Daumen ineinander. Die verwendeten Methoden entsprachen persönlich nicht seinem Stil, doch er musste sie benutzen, um nicht zu sehr in den Rahmen zu fallen, in dem er vermutet wurde. Der sanfte Weg hatte nicht geholfen, also musste er einen völlig anderen einschlagen, auch wenn es bedeutete Unschuldige zu opfern, um an sein Ziel zu kommen. Dennoch widerstrebte ihm sein nächstes Ziel. Aber es musste sein. Es musste. Und wenn er dieses Mal versagte, war sein ganzer Lebensinhalt hinfällig. Mit einem letzten Blick auf seine herausgesuchten Unterlagen stand er von der Parkbank auf und setzte sich in Bewegung. 29. Juni 2004 Der Raum mit den großen Monitoren war leer, als Raito und Ryuzaki ihn betraten. Lediglich der weiße Laptop war bereits aufgeklappt und zeigte das gewohnte schwarze ‚L‘. „Watari war also schon hier… Ich gehe davon aus, dass die anderen auch bald kommen werden. Wir können schon anfangen, Raito-kun.“ Raito hatte schon früh gemerkt, dass Ryuzaki auf die Mitarbeit der Sonderkommissionsmitglieder keinen Wert legte, solange Raito an seiner Seite arbeitete. Die Sonderkommission trieb die Ermittlungen nicht essentiell voran und kritisierte Ryuzaki. Ryuzaki, eine Person, die auf Kritik alles andere als gut zu sprechen war. Erst Recht, wenn sie seine Person oder seine Methoden betraf. Ein bisschen erkannte Raito sich selbst in dem Ermittler wieder. Ryuzaki war ihm in vielen Punkten und auch in der Denkweise ähnlicher, als Raito anfangs geglaubt hatte. Es war angenehm, nicht erst über den moralischen Wert seiner Worte in einer Unterhaltung nachdenken zu müssen. Ryuzaki betrachtete die Ereignisse um ihn herum in Fakten und urteilte nicht auf Grund von Moral oder menschlichem Verständnis. Ein Täter war für ihn ein Täter, welche Gründe er auch gehabt haben mochte. Habgier und eigennütziges Verhalten verzieh er nicht. Raito seufzte leise, dann beugte er sich nach unten, um seinen Computer hochfahren zu können. Die morgendlichen Abläufe waren längst Routine geworden. Und dennoch wurden sie ihm nicht leid. Ryuzakis Interesse galt dem Laptop, während er sich ein wenig nervös wirkend auf den Daumennagel biss. „Stimmt etwas nicht?“ Der Bildschirm erwachte flackernd zum Leben. „Heute ist wieder der 29., Raito-kun. Und ich bin überzeugt, dass heute wieder etwas passieren wird. Wir waren mit unseren Ermittlungen einfach zu langsam, wir hätten ihn längst stellen sollen.“ „Wie willst du jemanden stellen, wenn du nicht einmal einen Anhaltspunkt über die Person hast?“ Das konnte er sich nicht zum Vorwurf machen. Sie alle hatten fleißig und engagiert recherchiert, doch der 29-Mörder war wie ein Phantom: Er war einfach nicht zu greifen. Und die Tatsache, dass die amerikanische Polizei die Bombenanschläge nicht mit den Briefen in Verbindung brachte, ließ den Fall nicht besser werden. Durch diese Nachlässigkeit gingen wichtige Informationen verloren, die vielleicht längst zur Lösung des Falls hätten beitragen können. „Vielleicht gewöhne ich mich zu sehr daran, Hilfe zu haben. Das ist nicht gerade positiv…“ Ryuzaki drehte sich auf seinem Stuhl ein wenig hin und her. Dieser Fall… Ryuzaki sollte Recht behalten. Matsuda hatte gerade verkündet, dass er für alle Kaffee kochen wolle, als die Meldung von Amerika über acht ermordete Frauen die Ermittlungszentrale erreichte. „Acht…?“ „Acht.“ „Sollten das nicht 29 sein?“, murmelte Matsuda, der sich über Raito gebeugt hatte, um auf den Monitor blicken zu können. „29 wären zu auffällig. Schon bei dem ersten Anschlag war die Zahl 29 versteckt.“ „Stimmt…“ Nachdenklich legte Ryuzaki die Finger an seine Lippen. Irgendwo in diesen Morden versteckte sich wieder die Zahl, die das erste war, was sie von dem Fall erfahren hatten und nach dem er schließlich benannt worden war. Der Fall, der offiziell nicht mal als Fall galt. Wenn er diese 29 nicht fand, kamen sie keinen Schritt voran. Er wollte nicht in diesem Fall versagen, nicht seine perfekte Statistik ruinieren, wie es der BB-Case beinahe getan hätte. „Sucht nach Informationen über die Opfer. Alles. Jeder noch so kleine Hinweis könnte den Fall entschlüsseln. Bis spätestens heute Abend möchte ich Ergebnisse!“ „Kathlyn Brooks, 27 Jahre jung. Lebte mit ihrem Freund in der Nähe von Hollywood. Keine Einträge, nichts Auffälliges…“ Keine Hinweise. Nichts. Nicht einmal ein Geburtstag, der auf einen 29. fiel. „Das ist so demotivierend…“ „Steigere dich nicht zu sehr in diesen Fall hinein, Ryuzaki. Vielleicht haben diese Morde auch nichts mit dem Fall zu tun.“ „Doch. Sie gehören dazu, da bin ich mir sicher. 87%, dass die gleiche Person dahinter steckt. Wenn ich nur die versteckte 29 finden könnte…“ Raito betrachtete den älteren Ermittler mit Sorge. Seit den Bombenanschlägen stand Ryuzaki ständig unter Spannung. Er erlaubte nicht, dass die Arbeit auch nur eine Sekunde schleifen gelassen wurde und allmählich fürchtete Raito, dass Ryuzaki unter all dem Stress zusammenbrechen könnte. Doch wann immer er ihn zur Ruhe ermahnte, widersprach er ihm und ging seiner Arbeit akribisch und angespannt weiter nach. Wie zwang man eine Person zu einer Auszeit, die mit Leib und Seele auf die Lösung eines Falles hinarbeitete, bei dem nicht einmal sicher war, ob es sich überhaupt um einen Serienmord handelte? Raito blickte über Ryuzakis Schulter und sah ihm dabei zu, wie er sich durch die Krankenakten der Opfer wühlte. Workaholic. Raito war eine gewisse Arbeitswut von seinem Vater bereits gewohnt, doch Ryuzaki überschritt das gesunde Maß mittlerweile bei weitem. Ohne ihn wirklich bei seiner Aufgabe zu unterbrechen, legte Raito wie schon im Badezimmer die Hände auf Ryuzakis Schultern und ließ den Blick über die Daten auf dem Monitor gleiten. „Ryuzaki… Stopp. Geh noch einmal ein Stück nach oben.“ „Ist es Raito-kun aufgefallen?“ Ohne ihn ansehen zu müssen, wusste Raito, dass Ryuzakis Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen waren. „Schwanger… Sie waren alle schwanger.“ „Schwanger in der 29. Woche…“ Keiner zweifelte mehr daran, dass es ein Zufall war. Bereits zwei Mordfälle, in denen man eine versteckte 29 hatte finden können. Und beide hatten sich an einem 29. ereignet. Ein Serientäter? „Wir haben wieder vier Wochen Zeit, bis er erneut zuschlägt. Sollte am 29. des nächsten Monats eine Meldung eingehen, werden wir uns nicht mehr die Mühe machen noch nach der versteckten Zahl zu suchen.“ 29. Eine einfache Zahl und doch war sie in den letzten Tagen Dreh- und Wendepunkt aller Ermittlungen geworden. Wo vor zwei Monaten noch das Wort „Kira“ alles bedeutet hatte, hatte die kleine Zahl den Massenmörder von seiner Prioritätsskala gedrängt. Doch solange keine Kira-Morde publik wurden, gab es auch keine Anhaltspunkte, mit denen man den Kira-Case hätte weiterführen können. Ryuzaki blieb bei seiner Annahme, dass er Kira seit Wochen an einer Handschelle hatte. Kira. 29. Zahlen und Buchstaben, die in seinem Leben eine so wichtige Rolle spielten. Jedenfalls im Moment. Früher oder später würde er beides zu den Akten legen können, damit sie neuen Buchstaben und neuen Zahlen Platz machen konnten. Buchstaben und Zahlen… Ryuzaki führte den Finger an seine Lippen und starrte auf die Schreibtischplatte. Buchstaben… Zahlen… 29. Zwei. Neun. Zwei… Neun… B. I. Ryuzaki zuckte merklich zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Der zweite Buchstabe des Alphabets war ein B, der neunte ein I. B.I. Initialen? Oder eine Lautschrift? Ein Hinweis auf den Täter? Beyond Birthday hatte Doppelinitialen. Aber was, wenn es keine Initialen waren? Eine japanische Silbe? Bi? Oder doch die englische Lautschrift des Buchstabens B? Unsinn. Ryuzaki zwang sich durchzuatmen und hob den Blick. Was war es, das seine Gedanken immer wieder zu B zurück gleiten ließ? B lebte nicht mehr. Er war seit zwei Jahren tot, sein Fall abgeschlossen und zu den Akten gelegt. Aber das schloss die Möglichkeit eines Nachahmungstäters nicht aus. Was, wenn jemand Beyond Birthday kopierte? Was, wenn jemand den BB-Case zu imitieren versuchte? Was, wenn… Die Kopie einer Kopie? „Ich habe eine Theorie… Nein, keine Theorie. Vielmehr eine Feststellung. B.I.“ „B.I.? Was soll es damit auf sich haben, Ryuzaki?“ „Dabei handelt es sich um den zweiten und den neunten Buchstaben des lateinischen Alphabets. Vielleicht ist es ein Hinweis auf den Täter. Eine Initiale. Eine Lautschrift. Ich weiß es nicht. Irgendetwas…“ Den Fall vor zwei Jahren erwähnte er nicht. Beyond Birthday war ein besonderer Gegner gewesen. Ein Gegner, den er nicht teilen wollte, der in seiner Trophäensammlung ganz oben stand. Ähnlich wie Kira, wenn es ihm gelungen sein würde, ihn zu überführen. Der BB-Case war ein Fall gewesen, mit dessen Lösung er sich auch heute noch gerne schmückte. Aber nicht vor der Sonderkommission. Nicht vor Raito-kun. Zwei von vier Akte waren bereits gespielt. Noch einmal würde der Vorhang für den dritten Akt fallen, dann war das große Finale eingeläutet. Noch eine letzte Hürde vor dem großen Ziel. Sollte er es wagen diesen Schritt zu gehen? Aber dieses Gebäude bedeutete ihm zu viel. Mehr als sein Ziel? Nachdenklich lehnte sich der junge Mann auf der Parkbank nach hinten und starrte in den Himmel. Ziel oder Hürde. Was wog mehr? Konnte er die Hürde nehmen, um an sein Ziel zu gelangen? Nein. Home sweet home. Zu viele schöne Erinnerungen hingen an einem einzigen Haus. Er würde es nicht. Er konnte es nicht. Nicht einmal für das Ende dieses Falles. Nicht für ihn. Seine Hand glitt in seine Jeans und suchte nach seinem Handy. Er musste seinem Partner Bescheid geben. Ein anderer Plan für das gleiche Ziel. Ryuzaki lächelte. Mit einem Summen schaltete sich der Laptop ab und die kleinen Lampen am Gerät erloschen. Ryuzaki hörte Raito hinter sich gähnen. Es war bereits mitten in der Nacht, doch er konnte sich nicht beruhigen. Etwas in ihm wusste ganz genau wer der Täter in diesem Fall war, auch wenn es eigentlich undenkbar war. Es ging nicht. Er konnte es einfach nicht sein. Aber Ryuzaki war sich sicher, dass er es war. Und genau diese überzeugte Verbissenheit stieß ihn in ein gedankliches Paradoxon, dem er sich nicht mehr entziehen konnte und wollte. Sein Kopf schmerzte längst von den widersprüchlichen Gedanken, doch er wusste auch nicht, ob er sich irgendjemandem überhaupt anvertrauen konnte. Wer würde ihm schon glauben, wenn er behauptete, dass ein bereits toter Mörder hier die Fäden zog? „Raito-kun?“ Wenn es Kira war? Kira, der Massenmörder, der ohne eigenes Zutun und Anwesenheit töten konnte. Dass es möglich war, hatte sich Ryuzaki längst eingestehen müssen. Die Fakten sprachen dafür und ließen keinen anderen Schluss zu. Und auch wenn Yagami Raito Tag und Nacht an seiner Seite war – war das ein Indiz für seine Unschuld? Ein zweiter Kira? Ließ ihn dieser Fall deswegen ständig an B denken, weil sich der Kira-Case und der BB-Case ähnelten? Es war nicht auszuschließen, dass auch Kira mittlerweile einen Nachahmungstäter hatte. Was, wenn es Kiras Waffe nicht nur einmal gab – oder sie bereits den Besitzer gewechselt hatte? „Was ist, Ryuzaki? Können wir für heute schlafen gehen? Ich kann die Augen nicht mehr wirklich offen halten.“ „Denkst du, es ist Kira?“ „Was…?“ Die Kette der Handschelle klirrte leise, als der braunhaarige junge Mann von seinem Stuhl aufstand. „Der 29-Mörder. Könnte dahinter vielleicht doch Kira stecken?“ „Ich dachte, du vermutest, dass ich Kira bin.“ „So ist es.“ „Wie soll das gehen, Ryuzaki? Jetzt mach dich nicht lächerlich… Ich bin doch die ganze Zeit in deiner Nähe. Selbst morgens im Badezimmer hast du mich unter Beobachtung.“ Raito lächelte. „Ich weiß. Ich dachte vielmehr an einen… zweiten Kira.“ Eine Fähigkeit, die Ryuzaki an Raito sehr schätzte, war seine ruhige Art. Hätte er der Sonderkommission seine Vermutung mitgeteilt, hätte er darauf schwören können, dass mindestens einer der erwachsenen Polizisten die Luft angehalten hätte. Kurz darauf hätte es Widerworte und Entsetzensrufe gegeben. Raito dagegen blickte ihn einfach nur an. Keine Gegenwehr. Kein empörtes Schnauben. Keine Angst. „Ein zweiter Kira? Möglich wäre es sicherlich… Das würde jedenfalls erklären, warum man in den Medien nichts mehr von irgendwelchen Kira-Morden hört, wenn er sie unter dem Deckmantel der 29-Morde ausführt.“ „Nach wie vor sieht die Polizei zwischen den Massenmorden in den letzten Wochen keinen Zusammenhang, weil sie dieser Ziffer keine Beachtung geschenkt haben. Das ist es leider auch, was uns bei der Arbeit so massiv behindert. Die Morde waren alle in Amerika. Wir können nicht einmal vor Ort ermitteln. Und da die amerikanische Polizei keine Parallelen zieht, wird nicht nach Beweisen gesucht, die man am ersten Tatort bereits gefunden hat. Was uns die Arbeit noch erschwert, ist die Tatsache, dass die Morde in verschiedenen Bezirken stattfanden, für die ein jeweils anderes Polizeirevier zuständig ist. Im Klartext haben wir gar keine Beweise, die uns auch nur irgendwie weiterhelfen könnten.“ „Hast du die Polizeidienststellen nicht kontaktiert?“ „Natürlich habe ich das. Aber mir wurde gesagt, meine Vermutungen könnten Zufall sein und man könne aus zwei Fällen nicht auf einen Serienmord schließen. Man bräuchte eindeutige Beweise und nicht irgendwelche zweistelligen Quersummen oder Schwangerschaftswochen. Ein Beweis, der an allen Tatorten gefunden wurde. Wie die Strohpuppen damals…“ „Strohpuppen?“ Die Strohpuppen. Mit jedem Mord hatte sich ihre Anzahl verringert, aber sie waren ein eindeutiger Beweis, dass es sich um den gleichen Täter handeln musste. Ein Täter, der gnadenlos und unmoralisch handelte. Dieser Fall damals in Amerika… „Strohpuppen. Sie waren ein wichtiges Beweismittel in einem meiner früheren Fälle.“ Trotz seiner Müdigkeit hob Raito aufmerksam den Kopf. Es war das erste Mal, dass Ryuzaki solche Worte wie ‚früher‘ überhaupt in den Mund nahm. Und jeder private Hinweis über den Ermittler war in gewisser Hinsicht ein sehr seltenes Gut. „Der Fall liegt heute etwa zwei Jahre zurück. Damals geschahen in Los Angeles grausame Morde, die nur durch Strohpuppen an den Wänden als Serienmord gehandelt wurden. Da man an den Tatorten nicht einmal Fingerabdrücke fand, drehte sich die ortsansässige Polizei auch im Kreis. Ich habe den Fall in Zusammenarbeit mit einer FBI-Agentin angenommen und gelöst. Ich wusste von Anfang an, wer als Mörder in Frage kam. Weil ich ihn kannte…“ „Den Mörder…?“ Es war eine seltsame Atmosphäre. Alle Lichter in dem weitläufigen Raum waren aus. Lediglich das grüne Notlicht über der Tür und eine schmale Lampe über den Computermonitoren spendeten ein wenig Licht und warfen verzerrte Schatten auf den Schreibtisch und die beiden Personen, die davor saßen. Raito hielt den Blick aufmerksam auf Ryuzakis Lippen gerichtet, während er sprach. Er wollte ihn nicht unterbrechen. „Ja. Man könnte sagen, ich bin mit ihm aufgewachsen. Er…“ Ryuzakis Blick glitt zur Seite und fixierte die braunen Augen seines Gegenübers. „… war in dem gleichen Waisenhaus wie ich.“ Waisenhaus? Raito merkte, wie seine Augen brannten, weil er nicht wagte zu blinzeln. Waisenhaus. Auf irgendeine Art und Weise überraschte ihn diese Aussage nicht. Eltern oder Familie waren Begriffe, die er mit Ryuzaki nie in Verbindung hatte bringen können. Es hätte ihn mehr überrascht, wenn der Schwarzhaarige von Eltern und Geschwistern berichtet hätte. „Stand es in England?“ „Eine gute Auffassungsgabe, Raito-kun.“ „Man hört es.“ „Eh?“ Ein deutlicher Laut der Überraschung. „Du sprichst kein dialektfreies Japanisch. Und du hattest England erwähnt. Bei unserem Tennisspiel, erinnerst du dich?“ „Sicher.“ „Außerdem hört man es, wenn du Englisch redest. Amerikanisches Englisch klingt ein wenig anders.“ Ryuzaki schmunzelte, dann legte er den Kopf auf seine Knie. „Ich dachte mir, dass es Raito-kun nicht entgehen würde. Ich bemühe mich, aber so ganz scheine ich den Dialekt nicht unterdrücken zu können.“ „Du sprichst ein sehr gutes Japanisch, mach dir darüber keine Sorgen. Mir ist es nur aufgefallen, weil du England erwähnt hattest.“ „Ich muss zugeben, dass ich dich in diesem Punkt ein wenig unterschätzt habe… Ich hätte nicht erwartet, dass du so einer kleinen Information solch eine Beachtung schenken würdest.“ Raito biss sich auf die Lippen. Er hatte ohne es zu wollen das Thema gewechselt. Und er konnte nicht deuten, ob Ryuzakis letzte Aussage positiv oder negativ zu sehen war. Würde er jetzt noch weitererzählen? Hatte er bereits zu viel verraten? Das Waisenhaus… Seine Heimat für viele Jahre und auch heute noch verfolgte ihn die Vergangenheit täglich in Form von Watari. Es waren schöne Jahre gewesen und Ryuzaki erinnerte sich gerne zurück, wann immer er einige Minuten für sich hatte und sich solche Sentimentalitäten erlauben konnte. Und der Fall in Los Angeles… Viele Zeitungen und Fernsehsender hatten darüber berichtet. Es war kein Geheimnis, das er gerade an Yagami Raito weitergab. Also gab es auch keinen Grund seine Erzählung nicht weiterzuführen. Raito bat darum, auch wenn er es nicht aussprach, sondern ihn lediglich mit ruhigen Blicken bedachte. „Sein einziger Antrieb war die Herausforderung an mich“, begann Ryuzaki seine Erzählung fortzuführen. „Er wollte mir einen Fall präsentieren, den ich nicht lösen können würde. In der Öffentlichkeit gab es vier Opfer und einen Täter. Nur er und ich wussten, dass es nur vier Opfer waren. Der Täter und das vierte Opfer waren ein- und dieselbe Person. Mit dem Ziel mir einen Fall zu stellen, bei dem ich am Ende keinen Täter präsentieren können würde, trat er gegen mich an… und verlor.“ Ein leichtes Lächeln legte sich wieder auf Ryuzakis Lippen. „Eineinhalb Jahre nach der Tat starb er durch Kiras Hand.“ Durch Kira. Wieder waren sie bei diesem Thema angelangt, das sie überhaupt erst zusammengeführt hatte. Raito stützte nachdenklich den Kopf auf seine Handfläche. Er hatte von dem Fall gehört, von dem Ryuzaki ihm gerade erzählt hatte. Doch er hatte sich nicht weiter damit beschäftigt. „Du sagtest, du hast mit einer FBI-Agentin zusammengearbeitet… Wenn sie in Amerika ist, kann sie uns nicht helfen?“ „Es tut mir Leid, Raito-kun. Misora Naomi-san verschwand Anfang dieses Jahres. Man geht davon aus, dass sie sich umgebracht hat, nachdem ihr Verlobter Raye Penber unter den zwölf FBI-Agenten war, die von Kira ermordet worden waren. Allerdings glaube ich, dass auch hinter ihrem Verschwinden Kira steckt…“ „Irgendwie legt er sich wie ein Schatten über unsere Arbeit… und behindert uns dabei.“ Raito seufzte tief. Eine Ermittlerin in Amerika wäre eine große Hilfe gewesen. Aber unter diesen Umständen… „Wie dem auch sei… Ich helfe dir. Ich bin mir sicher, dass wir den Fall lösen können, Ryuzaki.“ 16.07.2004 Zuversicht war eine wunderbare Charaktereigenschaft, doch leider absolut sinnlos, wenn man versuchte einen Fall zu lösen, der sich nicht lösen lassen wollte. Wann immer ein greifbarer Hinweis gefunden wurde, stellte sich über kurz oder lang heraus, dass er nutzlos war. Die Motivation in der Ermittlungszentrale sank mit jedem weiteren Tag und gleichzeitig stieg auch die Ungeduld angesichts der nicht vorhandenen Ergebnisse. Da Ryuzaki den Fall um die 29-Morde nicht offiziell angenommen hatte, hatte er keinen Leistungsdruck der Öffentlichkeit, lediglich den, den er sich erfolgreich selbst machte. Doch auch im Kira-Case konnte man keine nennenswerten Erfolge verbuchen. Das Sommerloch hatte die Ermittlungszentrale erreicht. „Nichts… Gar nichts. Auch nichts… Nein…“ „Ryuzaki… Ich weiß, es interessiert Sie nicht, dass wir Mittagspause haben, aber könnten Sie trotzdem leise recherchieren?“ Soichiro fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu. Im Gebäude lief die Klimaanlage auf Hochtouren, doch die Luft im Raum war wegen den laufenden Geräten und dem Fehlen an Fenstern stickig und abgestanden. „Nein, könnte ich nicht!“ Mit jedem Tag, der erfolglos verstrich, sank Ryuzakis Laune um ein paar Grad mehr. Er wurde immer aggressiver. Doch Raito ließ sich von seinen Launen nicht abschrecken, anders als die Mitglieder der Sonderkommission, die nur noch mit dem Ermittler redeten, wenn es wirklich nötig war. „Ich habe sämtliche Personen überprüft, die in der Nähe der Tatorte leben und deren Initialen B.I. oder I.B. sind. Du müsstest die notwendigen Daten längst auf deinem Laptop haben, Ryuzaki. Ich habe die gesondert sortiert, die bereits vorbestraft sind. Vielleicht ist ja etwas dabei, was uns irgendwie weiterhilft.“ „Ryuzaki.“ Der bislang schwarze Bildschirm auf dem Laptop in der Ecke wurde weiß. „Watari? Heute ist nicht der 29. Ist etwas vorgefallen?“ „Ich konnte in Erfahrung bringen, dass heute wieder Briefe bei einer Polizeibehörde in der Nähe von New York eingegangen sind.“ „New York… Der Ankunftsort der Briefe und die Tatorte liegen weit auseinander. Sind sie von ihm?“ „Offensichtlich ja. Ich habe die Kopien von einem Brief. Einen Moment, ich schicke sie Ihnen zu… Es gibt einen gravierenden Unterschied zu den ersten Briefen.“ Ryuzaki senkte den Kopf leicht und öffnete das E-Mail-Programm auf seinem Laptop. Mit diesen Briefen hatte alles angefangen. Vielleicht konnte er jetzt die amerikanische Polizei davon überzeugen, dass zwischen den Briefen und den beiden Anschlägen ein Zusammenhang bestand. „Unmög-…!“ Zufall? Nein, ausgeschlossen. Kein Zufall. Absicht! „Ryuzaki…?“ Hastig klappte der Ermittler den Laptop zu, nachdem er die Kopie der Briefe gesehen hatte. „Raito-kun, ich möchte unter vier Augen mit dir reden. Sie können weiter Mittagspause machen, dieses Mal werde ich Sie nicht dabei stören.“ Ein scheinheiliges Lächeln an die im Raum ansässigen Polizisten, dann drehte sich Ryuzaki um und stieg mit dem Laptop unter seinem Arm die Treppen nach oben. Raito hatte keine andere Wahl als ihm zu folgen. Die Kette der Handschelle klimperte und stieß bei jedem Schritt gegen das Treppengeländer, doch Ryuzaki ging weiter, ohne dem Jüngeren die Chance zu lassen zu ihm aufzuschließen. Erst als er in ihrem gemeinsamen Zimmer war und Raito die Tür hinter sich geschlossen hatte, kam er zur Ruhe, ließ sich auf dem Bett nieder und klappte den Laptop wieder auf. „Wer auch immer hinter den Morden steht, er richtet sie an mich.“ „Wie kommst du darauf?“ „Sieh es dir an…“ Die schmalen Hände des Ermittlers drehten den Laptop zu Raito. Auf dem Monitor geöffnet war die Kopie des Briefes. Und unter der großen, geschmierten 29 stand ein einzelnes L. „Er richtet den Verdacht auf mich. So als wären seine Briefe eine Warnung vor meinen Taten. Diese ganze Inszenierung… genau wie der BB-Case…“ „Ryuzaki, er kann es nicht sein. Du sagtest, er wäre tot.“ Ryuzaki hatte ihm gegenüber nie geäußert, dass er hinter den 29-Morden und dem BB-Case die gleiche Person vermutete. Doch Raito hatte sein Gegenüber längst durchschaut. „Du gehst davon aus, weil du Gemeinsamkeiten in beiden Fällen findest. Aber das muss doch nicht bedeuten, dass auch hinter beiden die gleiche Person steckt. Du hast genug Feinde auf dieser Welt, da sind Kira und der Täter im BB-Case doch nicht die Einzigen. Verrenn dich nicht in etwas, was nicht möglich sein kann.“ Raito konnte beobachten, wie Ryuzaki hastig Luft holte und sich im Zimmer umblickte, fast so, als hoffe er in dem kleinen Raum die Lösung für den Fall an der Decke niedergeschrieben vorzufinden. Doch schließlich fanden seine Augen lediglich Raitos Gesichtszüge. „Du hast Recht… Ich habe mich wirklich ein wenig hineingesteigert.“ „Darum wolltest du diese Kopie nur mir zeigen, nicht wahr? Weil du nur mir von diesem Fall erzählt hattest.“ Ein Nicken. Zögerlich. Unsicher. Instabil. Raito schmerzte es leicht Ryuzaki so aus der Bahn geworfen zu sehen, aber er wusste aus Erfahrung, dass sich der Ältere rasch wieder fangen und einer neuen Spur folgen würde. Wenn er erst einmal eine gefunden hatte, war er von der Arbeit wieder nicht abzubringen. „Wir sollten wieder nach unten gehen. Es ist nicht klug meinen Vater und die anderen von diesem Fall auszuschließen. Immerhin bemühen sie sich genauso um dessen Lösung wie wir.“ Für einen Augenblick war Raito verleitet Ryuzaki die Hand hinzustrecken. Doch dann zog er nur leicht an der Kette der Handschelle, um Ryuzaki wie einen Hund hinter sich herführen zu können. „Hmmm…“ Matsuda setzte eine Kennermiene auf und starrte auf die Kopie, die auf dem Laptop zu sehen war. „Hmm… Vielleicht will er uns damit etwas sagen!“, philosophierte er bedächtig und legte den Finger an die Lippen, wie Ryuzaki es immer tat, wenn er nachdachte. Ryuzaki umklammerte seine Kaffeetasse ausnahmsweise mit beiden Händen und drehte sich auf seinem Stuhl leicht hin und her. „Watari wird versuchen den Absender dieser Briefe ausfindig zu machen. Die Handschrift half uns leider nicht weiter… Wir konnten keine Person finden, zu der sie gehören könnte.“ „Ha! Vielleicht ist das ein Hinweis auf den Täter. Ja… Ja! Vielleicht hat L ja diese Taten begangen.“ „Matsuda-san…“ Raito konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. „Ich zerstöre Ihre Euphorie ja nur ungern, aber wie bitte soll Ryuzaki nach Amerika fliegen und dort Hochhäuser sprengen, wenn er an mich gekettet ist?“ Matsudas Gesichtszüge kippten von heller Freude zu beschämter Unsicherheit. „Ehm…“, stotterte er Hilfe suchend und blickte sich in dem Raum um, bis er mit den Augen an dem Kalender hängen blieb. „Aber… Aber… Wer sagt denn, dass der Brief überhaupt von dem Mörder ist? Das heutige Datum hat ja nichts mit der 29 zu tun, oder?“ „16.07.2004… Sechzehn plus sieben ergibt dreiundzwanzig, plus zwei ergibt fünfundzwanzig, plus vier sind neunundzwanzig.“ „…“ „Wenigstens grenzen die heutigen Briefe das Feld der Verdächtigen wieder ein wenig ein. Es muss zumindest eine Person sein, die persönlichen Hass gegen mich hegt. Ein inhaftierter Verbrecher kann es nicht sein… Vielleicht ein Angehöriger…“ Hastig huschten die Finger des Schwarzhaarigen über die Tasten des Laptops. Raito lag ausgestreckt auf dem Bett und schenkte seinem Gegenüber nur mäßiges Interesse. Seine Augen brannten vor Müdigkeit, doch er war sich sicher, dass Ryuzaki heute nicht mehr schlafen würde und gewöhnte sich gedanklich bereits an das dauerhafte Klappern der Laptoptasten. Wenn er unbedingt recherchieren wollte, bis er umfiel, dann würde Raito ihn nicht daran hindern. Er konnte auch schlafen, wenn Ryuzaki neben ihm werkelte. „Schlaf gut“, murmelte Raito lächelnd und schob die Beine unter die Decke. „Falls du heute überhaupt noch schläfst.“ 29.07.2004 „Heute ist es wieder so weit…“ Keiner stritt ab, dass heute wieder eine Meldung über eine Mordreihe den Alltag bestimmen würde. Ryuzaki biss nervös auf seinen Daumennagel. Die Informationen, die er gestern gefunden hatte, beunruhigten ihn, auch wenn sie die Lösung des Falles bedeuteten. Was er gestern herausgefunden hatte, würde er keinem der anwesenden Polizisten sagen. Auch Raito-kun nicht. Niemandem. Zu erschreckend, zu greifbar war die Lösung des Falles. Eine seiner beiden Vermutungen war richtig und es widerte ihn an, dass er nicht schon viel früher eine ausführliche Recherche gestartet hatte. Die heutige Meldung würde keine neuen Informationen für ihn bereit halten, alles, was er wissen musste, wusste er bereits – alles lief auf die Lösung des Falles hin… die jedoch noch einen Monat in Anspruch nehmen würde. Ryuzaki zischte leise, drehte sich auf seinem Stuhl und leckte sich die Lippen. Nichts tun zu können war fast noch schlimmer als nicht voran zu kommen. Er kannte den Mörder… und konnte rein gar nichts machen, außer der Ermittlungszentrale beim Recherchieren zuzuhören. „Was glaubt ihr, welche Opfer sucht er sich dieses Mal?“, spekulierte Matsuda und schenkte Kaffee in die bereit gestellten Tassen. „Und wo wird die 29 dieses Mal sein?“ „Fragen Sie den Täter doch einfach, Matsuda-san, vielleicht verrät er es Ihnen ja.“ Der zynische Unterton in Ryuzakis Stimme entging Raito nicht. Schon heute Morgen hatte sich der Ältere seltsam verhalten, doch Raito hatte nicht weiter nachfragen wollen. Den Augenringen und der blassen Haut nach zu urteilen hatte Ryuzaki seine Nacht jedoch wie so oft vor dem Laptop verbracht und nicht eine Minute geschlafen. Pünktlich zur Mittagspause kam die Meldung. Elf Beamte in einem Stadtteil in der Nähe von Beverly Hills. Und dieses Mal gestaltete sich die umständliche Suche nach der versteckten Ziffer erstaunlich einfach. Für Ryuzaki war sie nach einer halben Stunde gefunden. Und er war sich sicher, dass auch Raito längst wusste, aus welchem Anlass der Mörder diese elf Männer ausgewählt hatte. Doch keiner von beiden machte sich die Mühe, der Sonderkommission auch nur einen Hinweis zu geben. „Du weißt es, oder…?“, murmelte Raito in die Tasse Kaffee, aus der er gerade trinken wollte. „Natürlich. Beides… Ich weiß, wer es ist. Ich weiß, wann dieser Fall gelöst sein wird. Ich muss noch herausfinden wo wir ihn stellen können. Nur wir beide, Raito-kun. Ich möchte nicht, dass noch weitere Personen dabei sind.“ Raito nickte langsam, trank einen Schluck und stellte die Tasse dann ab. Seine Finger strichen über Ryuzakis Handrücken und stoppten an der Handschelle. „Ich habe dir doch versprochen, dass wir den Mörder finden werden. Außerdem… habe ich eine andere Wahl als mit dir zu kommen?“ Ein Lächeln legte sich auf die Lippen des Braunhaarigen. Er, den Ryuzaki für Kira hielt, würde die Fesseln erst loswerden, wenn Kira gestellt war. Aber es war nicht auszuschließen, dass das bald der Fall sein würde. Es war immer noch möglich, dass der 29-Mörder Kira war. „Hast du nicht… Aber deine Hilfe könnte ich nun durchaus gebrauchen. Hilf mir hier in Japan eine 29 zu finden. Ich bin mir sicher, dass wir dort den Mörder stellen werden.“ „Ich glaube, ich weiß es! Alle Opfer sind entweder an einem 29. eingestellt worden oder waren seit 29 Wochen im Dienst… Hier zum Beispiel. Vom 08. Januar 2004 bis zum 29. Juli 2004. Oder…“ „Matsuda-san, das ist mir bereits klar. Nett, dass Sie es für alle erläutert haben.“ Matsuda verzog das Gesicht, als Ryuzaki ihm so grob ins Wort fiel. „Ich wusste nicht, dass Sie es schon wussten… Warum haben Sie nichts gesagt, Ryuzaki-san?“ „Während Sie nach der 29 gesucht haben, waren Sie sinnvoll beschäftigt. Das gab mir Zeit über den Täter und seine Motive nachzudenken. Ich denke, der Fall ist mir jetzt ziemlich klar… Entschuldigen Sie, aber ich werde erst darüber sprechen können, wenn ich mir zu 100% sicher bin.“ Der nächste Mord würde definitiv wieder an einem 29. sein. Am 29.08.2004. Aber dieses Mal würde es nur ein einziges Opfer geben. Die einzige Frage, die noch offen im Raum stand, war… …wo? 22.08.2004 Japan bot viele Orte, die sich mit einer 29 in Verbindung bringen ließen. Nahezu jede Straße hatte eine solche Hausnummer. Es gab Läden mit einer 29 in ihrem Titel. Viele Namen, die mit ‚Bi‘ begannen. Doch Ryuzaki war sich sicher, dass es kein so offensichtlicher Ort sein würde. Und vor allem kein Ort, der mitten im Auge der Öffentlichkeit lag. Der Mord würde abgeschieden stattfinden. Ryuzakis dunkle Augen ruhten auf einer Karte von Los Angeles und der näheren Umgebung, sowie einem Stadtplan von New York. Kleine, rotköpfige Pins markierten die drei Stellen, an denen die Morde statt gefunden hatten, sowie die beiden Polizeireviere, in denen die Briefe eingegangen waren. Schon seit er wach war, fixierte er diese Pläne, in der verzweifelten Hoffnung einen Hinweis zu finden, der auf einen Ort in Japan schließen ließ. Doch je länger er die kleinen eingezeichneten Straßen anstarrte, desto mehr verliefen sich seine Gedanken im Sand. Es konnte doch nicht sein, dass er den Ort nicht fand. Ein außerhalb liegendes Gebäude mit einer 29. Auch die Versuche die drei Pins auf der größeren Karte mit bekannten Linien zu verbinden, hatten zu keinem Ergebnis geführt. Kein Kreuz. Kein Stern. Keine Route, denen Täter sonst ab und an folgten. Demotiviert schob Ryuzaki den Bleistift zwischen seine Lippen und begann an dem Radiergummi zu kauen, der hinten in einer Metallhalterung befestigt war. Für ein „L“ waren die Linien zu ungerade. Ryuzaki folgte einer gebogenen Straße mit den Augen, die von dem Bombenanschlag der Gebäude zu den Fundorten der Frauenleichen führten. Und mit einem Mal blickte er auf. Gebäude. Fundorte. Sein Arm schoss zur Seite und zog die kleine Dose mit den Pins zu sich. Mehrere. Nicht einer, mehrere. Ohne noch einmal im Computer nachsehen zu müssen, platzierte er die Pins an jeder Stelle, die im Fall erwähnt worden war. Das gesprengte Krankenhaus. Die Schule. Die Behörde. Das Mehrfamilienhaus. Die Fundorte der Leichen in einem Park, in der Nähe eines Kaufhauses, vor der Polizeistation. Unruhig folgte er den einzelnen Nadelköpfen mit dem Bleistift, malte die gebogene Straße nach, die ihm vorhin schon aufgefallen war. Ein Bogen, dann nach unten zu dem Kaufhaus, eine Ecke zu der Polizeistation, wo eine der Frauen gefunden wurde, eine Gerade zu dem Fundort eines Beamten. Eine 2. Ryuzaki ließ den Bleistift fallen und starrte wieder auf die Karte vor sich. Die Ziffer. War es Zufall oder würde sie ihm verraten, wo sich der Mörder mit ihm treffen würde? Langsam folgte er der Linie mit dem Blick. Und erstarrte, als er sah, wo sie endete: Am Los Angeles River. „Raito! Hast du die Liste mit den gefundenen Orten? Streich alles, was nicht am Wasser liegt.“ „Wäre es zu viel verlangt, wenn du dich erst einmal erklärst, Ryuzaki?“ Wortlos schob Ryuzaki Raito die Karte hin. „Es kann nur diese Lösung geben… Bitte sag mir, dass es hier etwas gibt, das am Wasser liegt.“ Raito schenkte der Karte nur kurz seine Aufmerksamkeit, dann blickte er wieder zu dem jungen Mann, der nervös auf dem Stuhl vor ihm wippte. „Gibt es. Am Hafen ist eine Lagerhalle namens Yellow Box. Und sie trägt die Nummer 29…“ „Das wollte ich hören… Damit wäre es gelöst. Ich weiß wann, ich weiß wo und ich weiß wer. Am 29.08.2004 müssen wir zur Yellow Box. Da ich die Uhrzeit nicht weiß, werden wir ab Mitternacht vor Ort sein… Bewaffnet.“ Bewaffnet. Wann hatte sich Ryuzaki schon mit etwas anderem bewaffnet als seiner Intelligenz? Raito war nicht wohl bei dem Gedanken an das, was in sieben Tagen passieren würde. Ryuzaki kannte den Mörder, aber er schien es nicht für nötig zu halten Raito auch nur ein Wort über ihn zu erzählen. Aber wenn er nicht unbewaffnet zu dieser Halle wollte, dann musste es jemand besonderes sein. Jemand gefährliches. Kira? Der Gedanke fühlte sich gut und schlecht zugleich an. Kira hieß, dass Raito endlich frei sein würde. Aber Kira hieß auch, dass sie ein tödlicher Feind erwartete. Doch da war immer noch der Fakt, dass diese Tötungsmethoden nicht zu Kira passten. Jedenfalls nicht zu dem Kira, der aktiv war, bevor Ryuzaki sich an Raito gekettet hatte. Kira auszuschließen war eine schlechte Idee – lieber bereitete sich Raito auf alle Möglichkeiten vor. „Ryu… Oh.“ Raito setzte sich leicht auf und blickte im Halbdunkeln zu dem Bett, das nur wenige Schritte von seinem eigenen entfernt stand. Ryuzaki lag mit dem Gesicht zu ihm, die Augen geschlossen und die Lippen einen Spalt geöffnet. „Na, wenigstens einer von uns kann beruhigt schlafen…“ Er wollte ihn nicht wecken. Nicht, nachdem er die letzten Nächte durchgearbeitet hatte. Und so verschränkte Raito die Arme hinter seinem Kopf und sah an die Decke. Nur noch sieben Tage… Dann würde sich alles auflösen. „Haben Sie gestern Abend noch etwas herausgefunden?“, war das erste, was Matsuda am nächsten Tag noch vor einem ‚Guten Morgen‘ von sich gab. „Ja. Aber ich möchte es erst erläutern, wenn die Sonderkommission komplett ist. Ich wiederhole mich ungern…“ Raito hatte neben Ryuzaki die Beine übereinander geschlagen und rührte in seiner Kaffeetasse. Sie waren auch erst seit einer Stunde wach, doch der Schlaf schien Ryuzaki gut getan zu haben. Zumindest war er nur noch halb so unfreundlich, wenn er mit jemandem sprach, der nicht gerade Yagami Raito hieß. „Das wird nicht lange dauern. Ich habe Aizawa-san und Yagami-san in der Garage gesehen, als ich zum Aufzug gelaufen bin. Und Mogi-san müsste auch bald kommen.“ Matsudas Enthusiasmus war unerschütterlich. „Ich koche noch eine Kanne Kaffee. Falls noch jemand etwas zum Wachwerden braucht.“ „Hilft es bei dir eigentlich?“ „Was?“ Raito blickte zur Seite, als Ryuzaki die Frage so unvermittelt in den Raum warf. „Kaffee. Wirst du davon wach?“ „Nein.“ „Gut. Ich dachte schon, ich wäre der Einzige, bei dem Koffein nicht so wirkt, wie es sollte.“ „Bei dir liegt es am Zucker, Ryuzaki. Du trinkst keinen Kaffee mit Zucker, sondern Zucker mit Kaffee.“ „Zucker ist Brennstoff für das Gehirn…“ „Oh, das brauchst du mir nicht erklären. Ich weiß auch so, dass deines auf Hochtouren läuft. Und zwar rund um die Uhr.“ Smalltalk war etwas, was Ryuzaki selten zuließ. Aber es war entspannend einmal über banale Dinge reden zu können. Nicht über Morde, Täter, Beweise und Indizien… sondern über Kaffee. „Guten Morgen.“ Mogi stellte seine Aktentasche auf das kleine Sofa in der Raummitte und ließ sich von Matsuda eine Tasse in die Hand drücken. „Jetzt, wo alle hier sind, kann ich den aktuellen Ermittlungsstand verkünden. Hören Sie bitte zu… Der nächste Mord wird am 29.08.2004 geschehen. Ich weiß wo und ich weiß durch wen. Aber anders als bisher wird es nur ein einziges Opfer geben.“ „Woher wollen Sie das wissen, Ryuzaki? Bisher handelte es sich immer um einen Massenmord…“ „Bitte akzeptieren Sie einfach den Fakt, dass ich es weiß. Es gibt Dinge, die Sie nicht zu interessieren haben, Matsuda-san.“ 29.08.2004 Raito gähnte und kauerte sich noch ein wenig enger in seine Jacke. Der neue Tag war erst wenige Minuten alt. Der Tag, an dem der 29-Mörder endlich gestellt werden würde. „Ich schätze, er wird sein Schema beibehalten. Dass er sich an bereits Geschehenem orientiert, hat er schon bewiesen.“ „Ryuzaki, solange du mir nicht sagst, um wen es sich handelt, kann ich dir weder Recht geben noch dir widersprechen.“ „Und ich kann dir erst sagen, wer es ist, wenn er sich zeigt. Entschuldige, Raito-kun. Aber wir dürfen jetzt nicht nachlässig werden. Wahrscheinlich ist er schon längst in der Nähe und hält sich versteckt, bis die richtige Zeit gekommen ist.“ „Die richtige Zeit? Ich hoffe nur, diese Zeit ist bald. Ich bin müde…“ Ein ruhiges Lächeln lag auf Ryuzakis blassen Lippen. „Raito-kun. Ich habe gelogen. Fakt ist, dass es heute drei Opfer geben könnte, es aber mindestens eins geben wird. Ein Stück weit bereue ich, dass ich diesen Fall angenommen habe. Er hat mir sehr viel Zeit mit Raito-kun geraubt.“ Er musste es nicht erklären. Raito verstand, was diese Aussage zu bedeuten hatte. Es war möglich, dass sie diese Lagerhalle nicht mehr lebend verlassen würden. „Es ist schon in Ordnung, Ryuzaki. Mach dir keine Vorwürfe… Ich habe zugestimmt dir zu helfen. Bis zum bitteren Ende.“ „…“ „Was ist…?“ „Kira wäre mir lieber gewesen. Persönlich. Ich habe nie darüber nachgedacht wie ich sterben wollen würde, weil es so fern lag, dass ich überhaupt sterben könnte. Aber durch Kira hat sich das geändert… Ich war jeden Tag darauf vorbereitet, dass mein Herz aufhören würde zu schlagen. Darum denke ich… ist es gewissermaßen auch sein Recht mein Leben zu beenden. Klingt das… lächerlich?“ „Ich kann es verstehen, Ryuzaki.“ Ein weiteres Lächeln des Ermittlers. Dann schwieg er und blickte zu den Kisten, die in der Halle verteilt standen. Raito rieb die Hände aneinander und legte den Kopf auf seine Knie. Zwar war es mitten im Sommer, aber in der Nacht kühlte es merklich ab. Die kalte Luft stand in der Lagerhalle und ließ den Braunhaarigen frösteln. Sein Blick fiel wieder auf Ryuzaki neben ihm. Die bleichen Hände ruhten auf den angezogenen Knien, seine Brust hob und senkte sich ein wenig schneller als gewöhnlich. Er zitterte. Er könnte heute sterben. Der Gedanke war ganz plötzlich wieder da, als Raito den bebenden Körper neben sich fixierte. War es wegen der Kälte oder wirklich Nervosität? Hatte er Angst? Raito wagte nicht den Schwarzhaarigen darauf anzusprechen. Es war ein seltsames Gefühl. Zu wissen… oder zu ahnen… dass die Person, die direkt neben ihm saß und an die er so lange Zeit gekettet war, bald nicht mehr sein könnte. Ohne es selbst zu merken, stimmte es Raito melancholisch. Er hatte das Empfinden, dass er irgendetwas verpasst hatte. Zeit mit Ryuzaki? Dass er ihm etwas sagen musste, was er bisher nicht getan hatte. Doch Raito konnte nicht definieren, um was es sich handeln konnte. Irgendetwas… Etwas, womit er Ryuzaki aufmuntern konnte? Aber ein „Ich bin sicher, heute wird alles gut und wir finden Kira danach“ klang in seinem Kopf schon plump und gefühllos. „Ryuzaki…“, begann er, ohne zu wissen, wie er weiter sprechen sollte. Ryuzaki hob den Kopf und drehte das Gesicht in seine Richtung. Seine Augen waren halb geschlossen und wirkten trübe. Müde. Erschöpft. Hatte er geschlafen? Nein, ausgeschlossen. Er schlief so selten und zu so einer Zeit an so einem Ort war einfach der falsche Augenblick. „Wenn… Wenn das hier vorbei ist… Wenn alles vorbei ist… Möchtest du dich dann für deine Niederlage bei unserem Tennisspiel revanchieren?“ Einen Moment wirkte der Ermittler ratlos. So als wüsste er nichts mit Raitos Frage anzufangen. Doch dann nickte er langsam. „Gerne. Ich möchte Raito-kun auch einmal verlieren sehen.“ Und dann lachte er. Kurz, aber ehrlich. Es war das erste Mal, dass Raito solch einen Laut überhaupt von Ryuzaki hörte. Aber es sagte ihm, dass seine Frage die Richtige gewesen war. „Abgemacht… Beim nächsten Mal verliere ich.“ Auch Raito merkte, dass sein Lächeln ehrlich wurde, als er Ryuzaki die Hand reichte, um das Versprechen zu besiegeln. Ryuzakis lange Finger schlossen sich um Raitos Handballen, dann drückte er leicht zu und nickte. Mehr war nicht nötig. Eine stille Übereinkunft zweier Personen, die keine Worte benötigten, um sich zu verstehen. Ein schlurfendes Geräusch ließ beide aufsehen. Raitos Uhr stand auf neun Minuten nach zwei. Irgendwo hinter den Kisten bewegte sich etwas – oder jemand. Ein Knacken, dann gingen flackernd die Lampen in der gewaltigen Lagerhalle an. Raito merkte, wie Ryuzaki neben ihm aufstand, während sich seine Augen noch an das Licht gewöhnten. „Er ist da…“ Kein Zweifel. Sie hatten Recht gehabt. Mit dem Tag. Mit dem Ort. Raito sah, wie Ryuzaki schauderte. Ein Schatten erstreckte sich an der hinteren Wand. Ein Schatten, der sich bewegte. „End… lich…“ Weich. Und überraschend hell. Jung. Aber der kalte Klang der Stimme ließ es Raito schwer fallen auch nur einen Schritt auf den Schatten zuzugehen. Ryuzaki biss sich auf die Lippen. Seine Vermutungen waren richtig, doch obwohl er es sonst schätzte, wenn seine Ergebnisse stimmten, wünschte er sich jetzt, dass er sich geirrt hatte. Er wollte der Person, die sich noch vor ihnen versteckt hielt, nicht unter die Augen treten. Er wollte ihn nicht sehen, ihn nicht stellen. Er hatte damit gerechnet, aber so war das nicht geplant. Er hatte so sehr gehofft, dass er sich irrte. Doch die Person, die langsam hinter den Kisten hervortrat, nahm darauf keine Rücksicht. Die Hände tief in der weiten Jeans vergraben, begab er sich Stück für Stück ins Licht der Lampe, die tief über ihm hing. So lange hatte er warten müssen. So viel Vorbereitung. Der Komplize in Amerika. Die täglichen Observationen des Ermittlers. Die geplanten Anschläge. Das Aussuchen der Opfer. Alles für den heutigen Tag. Heute würde es enden… ‚Zwillinge!‘, war der erste Gedanke, der Raito durch den Kopf schoss. Doch nur auf den ersten Blick. Diese Person… Sie sah aus wie Ryuzaki. Die gleiche Kleidung. Die gleiche Haltung. Die gleiche Haarfarbe. Doch ein Detail unterschied beide deutlich: Narben, wohl von verbrannter Haut, bedeckten den ganzen Körper der Kopie. „Endlich…“, raunte sie erneut und bewegte sich langsam auf die beiden jungen Männer zu, den Blick der dunklen Augen amüsiert auf die Handschelle gerichtet. „… Wie. Du bist tot.“ Ryuzakis Stimme klang so fremd. „Oh, wie du siehst, bin ich eigentlich sehr… lebendig. Wobei… lebendig ist relativ. Du hättest mich einfach sterben lassen sollen…“ „Ich hatte die Meldung, dass du gestorben bist…“ „Wunderbar, nicht wahr?“, fiel die Kopie Ryuzaki ins Wort. „Es ist gar nicht so schwer sich unter die Opfer zu mischen, wenn so viele jeden Tag sterben. Weißt du, bei so vielen Toten jeden Tag wird man irgendwann nachlässig. Ist es nicht ironisch, dass du dich an den gekettet hast, dank dem ich überhaupt entkommen konnte?“ „…!“ Ryuzaki wich einen Schritt zurück. „Glaub nicht, dass ich nichts über dich wüsste…“, fuhr die Kopie leise fort. „Ich weiß, dass du den Kira-Case übernommen hast. Und ich weiß auch, dass du diesen Bengel hier verdächtigst. Das hast du ihm doch selbst gesagt… Damals… nach diesem Tennisspiel…“ Raito lief es eiskalt den Rücken runter. Die geladene und gesicherte Schusswaffe steckte hinten in seiner Hose. Aber Raito konnte sich nicht überwinden sie zu ziehen. Jede Bewegung schien unmöglich. Er konnte einfach nur still zuhören. „Du hast gut recherchiert… Aber von dir habe ich auch nichts anderes erwartet.“ „Wenn es nach mir ginge, wärst du schon lange tot… L. Ich muss zugeben, ich hatte nicht erwartet, dass du aufwachen würdest.“ Der Schatten nachts im Zimmer. Das blitzende Messer in der geschlossenen Hand. Aber… es war kein Traum? „…B…“ „Ich werde nett sein und dir erzählen, was du hören möchtest. Du weißt sicherlich, wie radikal Kira Verbrecher ausgerottet hat. Dank dir waren mein Name und mein Bild bekannt… Etwas, das ich dir bis heute nicht verzeihe. Jedenfalls… starben täglich mehrere dutzend Verbrecher. Ich bin lediglich auf diesen Zug… aufgesprungen, nachdem ich wusste, was mit ihnen geschah. Man brachte die Leichen in den Gefängnishof, weil man mit deren Beseitigung nicht hinterherkam. Und von dort zu fliehen, war ein Kinderspiel. Was ist? Wolltest du nicht hören, wie nachlässig die sind, die für dich die Drecksarbeit machen?“ Die Kopie lachte. Kalt. Und verbissen. „Was danach kam, war gar nicht schwierig. Ich wusste, dass du in Japan warst… Das hattest du im Fernsehen ja selbst verkündet. Dich aufzuspüren und diesen Plan auszuarbeiten… Oh, ich wusste, dass du nach meinen Spielregeln spielen würdest. Du bist so einfach zu durchschauen.“ „Genug.“ „Was? Erträgst du die Wahrheit nicht? Oder kannst du es nicht ertragen, dass jemand, der einmal du sein sollte, mordet? Was ist es, L? Was?!“ „Ich sagte genug!“ „Es ist mir egal, was DU möchtest. Du hast genug angerichtet… Du hättest mich vor zwei Jahren sterben lassen sollen, so wie ich es gewollt hatte. Aber nein, dein verdammter, verbohrter Stolz hat es nicht zugelassen! Bloß kein Fleck auf der weißen Weste des so perfekten L! Ich könnte kotzen, wenn ich dich nur ansehe.“ „Dieses Mal werde ich bei deiner Hinrichtung persönlich dabei sein…“ „Oh, da war ja noch etwas. Natürlich. Die Hinrichtung. Aber der ach so gnädige L plädierte auf eine lebenslange Haftstrafe. Du hast mir den Tod missgönnt. Lebe mit den Konsequenzen…“ Raito fuhr zusammen, als er plötzlich eine Hand an seinem Rücken spürte. Ryuzaki. Die langen Finger glitten nach unten, schoben den Stoff der Jacke beiseite und legten sich um den Griff der Waffe. Raito hörte, wie Ryuzaki sie entsicherte. „Du wirst heute sterben, L.“ Ohne Vorwarnung überbrückte B die kurze Distanz, die er die ganze Zeit zwischen sich und Ryuzaki gehalten hatte. Die Kette der Handschelle klirrte und Raito fühlte, wie die Waffe aus seiner Hose gerissen wurde. Nur wenige Sekunden später prallten beide Schwarzhaarigen gegen die Wand. „Du bist selbst Schuld… Nur du. Du hast alles zerstört, was ich mir aufbauen wollte!“ Bs Faust traf Ryuzakis Gesicht. „Ryuzaki…!“ Zu Raitos eigener Überraschung drehten sich beide zu ihm. Für einen kurzen Moment fand er den Blick in Ryuzakis Augen, dann schlossen sich die Hände Bs um den Hals des Ermittlers. „Du hast mir meinen Namen geklaut… Elende Ratte. Schreckst du vor gar nichts zurück?“ „Rai-…“ „Lass… ihn los!“ Mit seinem ganzen Körpergewicht warf sich Raito gegen B und ließ ihn nach hinten taumeln. Ryuzaki schnappte geräuschvoll nach Luft, dann setzte er die Waffe auf den Handballen seiner linken Hand und zielte auf sein Spiegelbild. „Zwei gegen einen… Wie unfair.“ Sichtlich amüsiert wich B zurück und verschwand hinter einem Stapel Kisten. „Raito…“ „Ist das der Kerl, der mit dir im Waisenhaus war?“ „Ja…“ „Du hättest es mir sagen müssen!“ „Ich habe doch…“ „Ryuzaki!“ „Raito, wir müssen vorsichtig sein.“ „Das brauchst du mir nicht sagen!“ Raito war wütend. Darum also hatte Ryuzaki ihm nicht gesagt, wen er als Mörder vermutete. Weil es jemand war, den er kannte. Schlimmer noch: Sein Nachfolger… oder Vorgänger. Oder etwas in der Art. Und nur wegen dieser Person waren sie nun beide in Lebensgefahr. „Warum hast du nicht einfach abgedrückt? Du hattest Zeit genug!“ „Ich… konnte es nicht.“ „Du konntest es nicht? Gott, das wird immer besser…“ Er hatte noch nie getötet. Nicht direkt. Menschen verurteilen war eine Sache, aber ihnen persönlich das Leben nehmen, damit konnte Ryuzaki nicht umgehen. „Gib mir die Waffe!“ „Habt ihr euch geeinigt?“ B lächelte. Mit einer schnellen Bewegung sprang er über eine auf dem Boden stehende Kiste und rannte geduckt auf Raito und Ryuzaki zu. Seine Hand schloss sich um die Kette, ehe er sich zu Boden fallen ließ, um unter ihr durchzurutschen. Ein lauter Schuss dröhnte durch die leere Halle und der Fehlschuss prallte an einem Deckenbalken ab. „Rai…“ „Habe ich dich…!“ B war wieder auf den Beinen, griff mit beiden Armen nach Raitos Händen und hielt die Waffe von sich weg. „Einen nach dem anderen…“ „Ahh…!“ „Raito!“ Verschwommene Schemen bewegten sich vor Raitos Augen. Er spürte die rauen Nägel der Kopie, die sich in seine Haut drückten. Eine Hand hielt die Waffe nach hinten, die andere hatte sich um seinen Hals gelegt. Raitos Lunge brannte. Bunte Flecken tanzten vor seinen Augen. „Ry…u…“ „Ah!“ Ein heftiger Ruck an der Kette verriet, dass Ryuzaki den Halt verloren hatte. Doch im nächsten Augenblick strömte wieder Luft in Raitos Lungen. Hastig atmete er ein und versuchte seine Umgebung wieder klar erfassen. Zwei undeutliche schwarz-blaue Schatten rangen auf dem Boden miteinander. „Ryuza…ki…!“ Wer von beiden war wer? Raito tastete nach der Schusswaffe, nach irgendetwas, was er gegen beide richten konnte. Seine Hand bekam etwas zu fassen. Das raue Leder von alten, abgewetzten Turnschuhen. Nur den Bruchteil einer Sekunde später spürte er einen heftigen Schmerz an seiner Schläfe und fiel zur Seite. Die Umgebung um ihn herum wurde dunkel. „Ry…“ … … … 29.08.2004 10:37 Uhr „Allmählich müssten sie doch zurückkommen…“ Nervös drehte Matsuda die Daumen ineinander. „Wer weiß, wann der Kerl auftaucht. Vielleicht hat Ryuzaki auch falsch recherchiert und er kommt gar nicht.“ „Das denke ich nicht, Aizawa-san…“ Die ganze Nacht hatte Matsuda schon nicht schlafen können. Kurz vor 23 Uhr waren Ryuzaki und Raito zur Halle gefahren. Seit fast zwölf Stunden waren sie schon weg. Und Matsuda fühlte sich unwohl dabei, dass er und die Sonderkommission nicht mitgenommen worden waren. Aber Ryuzaki hatte gesagt, dass er den Mörder allein stellen wollte. Kein Warum war von dem Ermittler erklärt worden. Sie hatten es hinnehmen müssen. Auch Soichiro wirkte unruhig. „Hoffentlich kommen Sie-… Ah!“ Die Tür hatte sich geöffnet. Ryuzaki stolperte in den Raum. Die leere Handschelle rutschte klimpernd über den Boden. „Ge… gelö… st…“ Seine Stimme klang kraftlos. Nur kurz blickte er sich in dem Raum um, dann brach er zusammen. „Die Haut an Beinen, Armen und am Oberkörper ist zu großen Teilen verbrannt. Er ist noch ein wenig instabil, aber ich denke, Sie können zu ihm.“ Watari klappte den Erste-Hilfe-Kasten zu. „Ich werde ein Krankenhaus verständigen… Fassen Sie sich also kurz.“ „Wir sollten nicht alle zu ihm. Matsuda-san, wollen Sie mit?“ Hastig nickte Matsuda und fuhr sich nervös durch die Haare. Er wollte sich diesem Anblick nicht stellen. Aber er wollte auch wissen, was passiert war. „Ryuzaki…“ Er sah schrecklich aus. Oberkörper und Arme waren bis zu den Fingerspitzen bandagiert. Die Haut seiner Wangen verschwand unter einer zentimeterdick aufgetragenen, weißen Creme. Und auch Teile seines schwarzen Haares waren verkohlt. „Ryuzaki… Was ist passiert? Wo ist Raito?“ „… konnten nicht… nicht… aufhalten…“ „Was…?“ „… konnte ihn nicht… retten…“ Zitternd holte Ryuzaki Luft und biss sich auf die blutigen Lippen. „… Er legte… Er legte Feuer in der Halle… Raito-kun…“ Soichiro schloss die Augen. „Matsuda-san… Entschuldigen Sie mich bitte… Ryuzaki-san…“ Seine Augen glänzten, als er aufstand und den Platz neben Ryuzakis Bett verließ. Matsuda hörte ihn schluchzen. „Was… Können Sie uns denn sagen, was der Mörder erreichen wollte…? Was… sein Motiv war?“ Ryuzaki drehte den Kopf in Matsudas Richtung. „Es tut mir Leid… Aber… es gibt Dinge, die Sie… nicht zu interessieren haben…“ Die dunklen Augen des jungen Mannes huschten über Matsudas Kopf. „… Matsuda-san.“ „Warum erwische ich eigentlich immer die Fragen, die Sie nicht beantworten wollen?“ Matsuda lachte verlegen. „Genau das Gleiche haben Sie nämlich vor einer Woche schon einmal zu mir gesagt…“ Ein leichtes, kaltes Lächeln legte sich auf Ryuzakis verbrannte Lippen. „… Ach… wirklich? So ein Zufall…“ Ryuzaki drehte den Kopf weg. Und das Lächeln verzog sich zu einem zufriedenen Grinsen. Nachwort Ich ahne, dass das Ende teilweise auf ein großes Fragezeichen stoßen könnte. Ich habe mich bemüht die Hinweise klar zu streuen. Sollte es trotzdem unverständlich sein: Raito und L sind tot. Der, der zum Hauptquartier zurückkehrt, ist B. Darum auch der Blick über Matsudas Kopf, damit B mit den Shinigamiaugen Matsudas Namen erfahren kann. B nannte sich während des BB-Cases „Ryuzaki“. Nach seiner Niederlage übernahm L den Namen als eine Art Trophäe. Alle im Text quer gedruckten Stellen (mit Ausnahme des Traums) sind aus Bs Sicht. Sein Komplize heißt namentlich Noris, ist aber für das Verständnis nicht weiter interessant =p Noris jedenfalls erhält nach dem Fall eine nette Auszahlung für seine Hilfe. Was tut man für Geld nicht alles. Ich weiß, dass es für B eine Überwindung sein muss, sich dem Feuer noch einmal zu stellen. Doch es war der einzige Weg seine Brandnarben zu verstecken. Wer B nicht kennt, der hat an dieser Stelle Pech gehabt =p Lest Another Note, dann kennt ihr ihn. So, der Autor verabschiedet sich. Ich hoffe, ihr hattet Spaß beim Lesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)