Nothing And Everything von -Moonshine- ================================================================================ O n e ----- Ich konnte das Gezeter schon hören, als ich die wenigen Stufen hinauf zur Haustür des vornehmen Sandsteinreihenhauses erklomm, das seit Kurzem mein neuer Arbeitsplatz war. Jeden Morgen um sieben Uhr musste ich auf der Matte stehen und hatte meistens erst nach einer Zwölf-Stunden-Schicht frei - wenn überhaupt! Ursprünglich nur für den Haushalt engagiert, ist Mr. Cooper wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass auch seine drei Kinder dazugehörten. So bekam ich unerwarteterweise Nachwuchs, der nicht einmal mein eigener war, auf's Auge gedrückt - und ich hatte wirklich nicht vor, und das muss man mir glauben, in absehbarer Zeit auch nur einen einzigen Gedanken an Kinder zu verschwenden. Tja, so schnell konnte es gehen, das Leben. Unentschlossen blieb ich auf der oberen Stufe stehen und, die Hand bereits an der Klingel, hielt ich inne. Ich musste die letzten Sekunden dieses Tages in Freiheit genießen, bevor mich diese Familie wieder voll und ganz in Besitz nahm. Nicht, dass ich die Kinder nicht mochte, aber sie waren anstrengend - wie man es eben von dreien dieser Sorte erwartete. "Aber Daaad!", kam es nun auch direkt aus dem Hausinneren nörgelnd, wie das Signal, das mich aus meinen Gedanken herauskatapultierte in die kalte, graue Wirklichkeit. Ganz eindeutig: das war Nicole, oder auch Nicky, die sich da über etwas aufregte. "Sie ist fürchterlich! So snobistisch!" Nicky hatte anscheinend wieder ein neues Wort gelernt. Ich ahnte schon, dass ich es den ganzen Tag über würde hören müssen. "Und sie ist ALT!" "Herrgott, Nicole. Clementia ist genauso alt wie ich!" Ich seufzte und drückte auf die Klingel, während der Streit, der wahrscheinlich von den Nachbarn interessiert mitangehört wurde, weiterging. "CLEMENTIA!", kreischte Nicky empört und verzückt zugleich. "Wie kann man nur so heißen! Das sagt ja schon alles!" Die Tür wurde geöffnet und ich lächelte Simon zu, der, verschlafen und mit einem Brot in der Hand, nur einen müden Blick für mich und die Auseinandersetzung seiner Familie übrig hatte. "Guten Morgen, Simon", begrüßte ich ihn munter, was er nur mit einem Brummen quittierte, das ich als "Guten Morgen, Anna" interpretierte. Wie gewohnt entledigte ich mich meiner Straßenschuhe und hängte die Jacke an die Garderobe - in diesem Haus musste alles picobello sauber sein und nach Regeln ablaufen, an die ich mich erst hatte gewöhnen müssen. Dann folgte ich Simon in die Küche, wo morgens immer gegessen und gestritten wurde, die Familienidylle schlechthin also. "Das reicht jetzt, Nicole", ermahnte Mr. Cooper seine älteste Tochter mit diesem Tonfall, der keinerlei Zweifel an der Endgültigkeit seiner Entscheidung offen ließ, und starrte wieder grimmig in seine New York Times. Er sagte zwar nicht "Noch ein Wort von dir und ich streiche dir dein Taschengeld für den Rest des Jahres und lass dich in der Armenküche aushelfen", aber wir waren uns alle sicher, dass er genau das meinte. "Guten Morgen", sagte ich ein wenig unsicher. Fakt war, dass Mr. Cooper mir ein wenig Angst einjagte. Fakt war auch, dass er allen um sich herum Angst einjagte, ausgenommen natürlich seiner Kinder, aber auch da war ich mir manchmal nicht ganz so sicher. Sie waren zwar rotzfrech, aber sie gehorchten am Ende doch immer wieder. "Morgen, Anna", murmelte Nicky und zog eine beleidigte Schnute, weil ihr morgendliches Streitgespräch auf so abrupte Art und Weise sein Ende fand, noch bevor sie all ihre angestauten Aggressionen hatte loswerden können. "Morgen", brummte Mr. Cooper missmutig wie immer - er hieß eigentlich Jack und forderte mich auch immer wieder auf, ihn so zu nennen, aber wenn jemand einem solche Angst einjagte, dann "jackte" es sich nicht so einfach herum. Ich warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr in der Mikrowelle. In spätestens fünf Minuten würde er zur Arbeit aufbrechen, das waren also fünf Minuten voller Schweißausbrüche und Todesangst, die ich durchstehen musste. Eine meiner leichtesten Übungen! In seiner Nähe kam ich mir immer wie ein blöder, kleiner Dorftrampel vor. Er strahlte so eine Autorität aus, dass ich mich fühlte, als wäre ich wieder in der ersten Klasse und mein Klassenlehrer der Schuldirektor persönlich. Damals bedeutete das ja noch etwas, aber heute würden über diesen Vergleich wahrscheinlich alle lachen. Ich glaube, ich hab zu diesem Job auch nur "ja" gesagt, weil ich viel zu viel Angst hatte, ihn abzulehnen. Das Vorstellungsgespräch habe ich irgendwie verdrängt und meine Erinnerung daran war leicht neblig. An seinen Gesichtsausdruck erinnerte ich mich allerdings sehr wohl - es war derselbe, den er jeden Tag trug, wenn ich hier ankam, und auch, wenn ich das Haus wieder verließ. Eine undurchsichtige Maske aus Missmut und Genervtheit und jeden Tag auf's Neue hoffte ich, dass das nichts mit mir zu tun hatte, konnte mir aber auch nicht helfen, wenn mich dieses Gefühl trotzdem beschlich. So wie jetzt. Aber meine Rettung nahte. Sie saß da in ihrem roten Kleid mit dem weißen Kragen und einem ebenfalls roten Band in ihrem braunen Haar und grinste mich aus vollem Kinderherzen an. "Hi, Annie!" Maddy wagte es nicht, aufzustehen, denn sie durfte den Tisch nicht verlassen, bevor sie nicht aufgegessen und um Erlaubnis gefragt hatte, aber ich wusste, dass sie mir am liebsten um den Hals gefallen wäre. Sie war so süß. Und sie war die Einzige in diesem Haus, vor deren Wünschen sogar Mr. Cooper kuschte. Aber das war normal - er war ihr Vater, sie sein Nesthäkchen. Und wer könnte diesen braunen Kinderkulleraugen schon widerstehen? Also ich nicht, und ich wusste mit Sicherheit: er auch nicht. Das war auch schon die einzige Sache, die wir gemeinsam hatten. Und selbst das fand ich bereits unheimlich. "Kommen Sie hier zurecht?", fragte Mr. Cooper unwirsch, ohne mich direkt anzusehen. Es kam mir vor, als täte er das nie. War ich vielleicht so hässlich, dass er diesen Anblick seinen Augen nicht zumuten wollte? Hatte ich irgendwelche Furunkel im Gesicht, die bei Blickkontakt auf ihn draufspringen würden? Er machte mich ganz nervös und unsicher! Dieser Mann war die Hölle. "Ja, Sir. Natürlich", beeilte ich mich zu sagen. Eine Sekunde des Zögerns und ich war mir sicher, ich würde gefeuert werden. Das konnte ich mir momentan nicht leisten, denn ich hatte Miete und eine Telefonrechnung zu bezahlen, ganz zu schweigen von Lebensmitteln, an denen ich sowieso schon sparte. "Jack", verbesserte er mich in dem selben harten Tonfall, faltete seine Zeitung zusammen und stand auf, schob seine halbvolle Kaffeetasse beiseite. Er trank immer nur die Hälfte und jeden Morgen goss ich den Rest in den Ausguss. Ausnahmslos jeden Morgen. "Äh, ja, Jack..." Ich musste mich fast übergeben, als ich seinen Namen herauswürgte, und duckte mich innerlich, doch es geschah nichts. Er nickte nur, murmelte ein "Gut" und verschwand aus der Küche. Er ging immer, ohne sich zu verabschieden - von seinen Kindern, meine ich, nicht von mir. Das wäre ja auch ein bisschen zu viel verlangt. Der Mann war ein Roboter, und nicht einmal ein netter. "Tschüss, Daddy!", rief Maddy ihm hinterher, bekam als Antwort aber nur die ins Schloss fallende Haustür. Doch es machte ihr anscheinend nichts aus, denn sie strahlte mich nun noch mehr an, stopfte sich ihr Brot in den Mund und hopste von ihrem Stuhl herunter. Bei mir durfte sie das. "Dad hat eine neue Freundin", informierte mich Nicky, die bis eben schmollend in ihrem Cornflakesbrei herumgerührt hatte, aus Protest nicht mit ihrem Vater redend, der das sicherlich nicht einmal mitbekommen hatte. Dass Mr. Cooper sich anscheinend mit einer Frau traf – deren Name schlimmer nicht hätte lauten können – war eine Tatsache, die ich schon aus dem allmorgendlichen Streitgespräch herausfiltern hatte können. "Ihr Name ist Clementia", merkte sie bedeutungsvoll an und hob die Augenbrauen hoch, um mich fragend anzusehen und darauf zu warten, was ich dazu zu sagen hätte. Ich nahm die Cornflakespackung, um sie wieder zurück in den Schrank zu stellen, und nickte. "Aha..." Was sollte ich auch sonst sagen? Anscheinend war das allerdings vollkommen ausreichend, denn Nicky interpretierte es als Aufforderung, noch mehr zu erzählen. "Und sie ist aaaalt! Und wie sie aussieht! Wie eine vertrocknete... Ich weiß auch nicht. Wie eine vertrocknete Clementine halt." Sie kicherte über ihren - ihrer Meinung nach gelungenen - Wortwitz und grinste. Simon, der seinem strengen Vater sehr ähnlich sah - mal abgesehen von den leicht abstehenden Ohren, die ich ganz niedlich fand, es ihm aber nie sagen würde, wegen Jungenstolz und so - schaute ziemlich ernst drein, als er das Wort an mich richtete. "Ich wette, diese Hexe wird uns in ein Internat stecken und sich dann hier einnisten." Maddy schlug erschrocken die Hände vor den Mund und erstarrte in ihrer Bewegung. Nicole nickte fachmännisch. "Genau. Irgendwohin nach Neuseeland oder so. Auf so ein Buschmännerinternat, wo wir nackt um ein Feuer tanzen und grausame Opferrituale ausführen müssen. Mit Jungfrauenopferung und so." Ich muss schon sagen, das Mädchen hatte eine ausgeprägte Fantasie. Ich wusste nur nicht, ob ich mir deswegen Sorgen machen sollte. Maddy wurde ganz bleich und warf mir einen entsetzten Blick zu, ihre Augen noch größer als für gewöhnlich schon. Ich nahm sie an der Hand und führte sie aus der Küche heraus. "Keine Angst, Nicky und Simon machen nur Spaß. Keiner wird euch in ein Internat stecken." "Aber Anna-", begann Nicky, doch ich warf ihr einen warnenden Blick zu, um ihr zu bedeuten, zu schweigen. "Zieht euch eure Schuluniformen an und ich mach euch Lunchpakete. Aber Beeilung, sonst kommen wir zu spät." Ich schob Maddy die ersten zwei Treppenstufen hinauf und Simon folgte ihr auf dem Fuße, doch Nicky blieb unten stehen und schaute mich recht unzufrieden an. "Du weißt, dass auch du deinen Job hier los bist, wenn wir ins Internat müssen", erklärte sie mir ernst. Ich schnappte überrascht nach Luft. Dreistigkeit kennt keine Grenzen! Aber ich setzte zum Gegenschlag an: "Du weißt, dass ich hier eigentlich nur für den Haushalt zuständig bin, oder?" Nicole lächelte mich unheilvoll an. "Tja, schade nur, dass Dad da anderer Meinung zu sein scheint", konterte sie keck. Mist. Eins zu null für sie. Ich runzelte die Stirn und scheuchte sie hoch in ihr Zimmer zum Umziehen. Ich glaubte kein Wort von diesem Internatsgehabe, das sich die Kinder ausgedacht hatten, denn ich war mir sicher, das hatte weder im Raum, noch jemals zur Debatte gestanden. Und wenn doch - warum sollte Mr. Cooper auf seine neue Freundin hören, mit der er anscheinend erst seit kurzem ausging, und seine Kinder abschieben? Lächerlich. Wenn ich angenommen hatte, dass ich Nicole nun los war, hatte ich mich aber geirrt. Am Treppenabsatz blieb sie stehen und beäugte mich mit einem ziemlich überheblichen Blick. "Ich hätte nicht gedacht, dass du so snobistisch bist, Annie." Ich rollte genervt die Augen. "Du weißt doch gar nicht, was das Wort bedeutet", wies ich sie zurecht, in der Hoffnung, ihr nun den Wind aus den Segeln genommen zu haben. Sie ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. "Es ist doch etwas Schlechtes, oder nicht?" Ich zögerte. "Ja." "Na siehst du." Sprach's und verschwand mit erhobener Nase aus meinem Blickfeld, ließ mich am Fuße der Treppe einfach so stehen. Zwei zu null für sie! Im Auto ging das unglückselige Gespräch weiter, aber erst, nachdem ich Maddy an ihrer Schule ausgesetzt hatte. Sie ging auf die Saint Ann's Lower School, ganz im Gegensatz zu ihren beiden Geschwistern, die die Middle School besuchten. Allerdings waren die Institutionen in verschiedenen Gebäuden, wenn auch nur ein paar Häuser voneinander entfernt. Saint Ann's war eine Privatschule in Brooklyn, nur etwa einen Kilometer von dem Zuhause der Kinder entfernt, und oft gingen wir zu Fuß zur Schule - ich musste Maddy begleiten, die anderen beiden konnten ja alleine gehen - aber heute war ein furchtbar regnerischer und mürrischer Tag und mir wurde ausdrücklich aufgetragen, an solchen Tagen das Auto zu benutzen. "Sie kommt heute Abend zum Essen, weißt du?" Nicky hatte absolut kein Feingefühl - sie sprach das, was sie beschäftigte, immer direkt an, und man selbst musste einfach schauen, dass man mitkam. "Clementine?", hakte ich nach. Ich musste schon zugeben, das war ein sehr seltsamer Name. Ich würde mein Kind doch auch nicht Orange oder Mandarine nennen! Aber anscheinend hatten da einige Eltern ganz und gar keine Skrupel. Jetzt wurde mir auch klar, warum Mr. Cooper mich gestern gebeten hatte, mich heute um das Abendessen zu kümmern. Nicht kochen diesmal. Da es etwas Vornehmeres sein musste, hatte er mir aufgetragen, etwas zu bestellen. Bei so einem superteuren Lieferservice für Reiche natürlich. Nicky kicherte. "Ja, Clementia. Dad will, dass wir sie kennen lernen." Sie sprach die Wörter "kennen lernen" mir so einer Abscheu aus, wie es nur ein vierzehnjähriges Mädchen konnte, das die neue Freundin seines Vaters auf Gedeih und Verderb loswerden wollte. Eines machte mir allerdings Sorgen und das war Simon. Er hatte heute morgen noch kaum ein Wort mit mir gewechselt und war erstaunlich ruhig gewesen. Bevor ich mir aber weiterhin über dieses Problem den Kopf zerbrechen konnte, nahm mich Nicky auch schon wieder voll und ganz in Anspruch. "Kannst du nicht was tun? Ihr Gift ins Essen mischen oder so?" Ich lachte freudlos. Nach so einer Aktion würde ich nicht nur meinen Job los sein, sondern bestimmt auch noch meine Freiheit. "Jetzt wart doch mal ab, Nicks, vielleicht ist sie ja nett. Du kennst sie doch gar nicht." Sie verzog das Gesicht zu einer angeekelten Grimasse. "Ich hab ein Foto von ihr gesehen. Wie nett kann man schon sein, wenn man nach einer Zitrusfrucht benannt ist?" Ich musste grinsen. "Sauer macht lustig", merkte ich an und hielt vor dem Gebäude Nummer 129, obwohl nirgends eine Hausnummer zu sehen war. Es war allerdings nicht zu übersehen: ein großes, rotes Backsteinhaus mit etlichen Stockwerken und der Aufschrift "St. Ann's School" über der großen, schweren Eingangstür. Recht imposant sah das Ganze ja schon aus, aber für jemanden wie mich eher furchterregend, war ich doch auf einer überbevölkerten öffentlichen Schule gewesen, wo auf Manieren, Geld und Bildung nicht besonders viel Wert gelegt wurde. Was vielleicht auch die Tatsache erklärte, warum ich jetzt drei Rotzgören durch die Gegend kutschieren musste, anstatt, wie beispielsweise Mr. Cooper, eine erfolgreiche Anwaltskanzlei betrieb. "Raus mit euch", sagte ich fröhlich, als die beiden sich keinen Zentimeter vom Rücksitz entfernten. "Holst du uns nachher wieder ab?", wollte Nicky hoffnungsvoll wissen, aber ich schüttelte entschieden den Kopf. "Die fünfzehn Minuten könnt ihr auch zu Fuß nach Hause laufen und wir sparen Sprit." "Ohh maaan", maulte sie und krabbelte aus dem Wagen, Simon ihr folgend, grimmig und schlechtgelaunt, wie immer in letzter Zeit. Wie sein Vater. Ich beschloss, später, am Nachmittag, mal mit ihm zu reden. Mit Simon natürlich, nicht mit Mr. Jack Cooper, denn lebensmüde war ich ganz sicherlich nicht. T w o ----- Es wird Zeit, zu erzählen, was passiert war: gar nichts, so einfach ist das. Ich ging zur Schule, machte meinen Abschluss, ging auf's College, machte meinen Abschluss, ging arbeiten, mein Arbeitgeber ging pleite, ich wurde gefeuert - und das war nun die Stelle, an der etwas hätte passieren müssen. Doch das tat es nicht. Es war schwer, in New York einen Job zu finden, für den man nicht über- oder unterqualifiziert war. Tag und Nacht kellnern? Nein. An der Wall Street arbeiten? Nein. Die würden mich nur auslachen. Ein Job musste her, und zwar dringend. Einer, bei dem ich wenigstens nachts über zu Hause schlafen konnte. Und so kam ich auf das hier. "Eine Haushaltshilfe gesucht" lautete das Inserat, und ich glaubte es. Ein Wunder nur, dass Mr. Cooper mich eingestellt hat, wenn er doch nur nach einem Babysitter gesucht hatte - ich hatte weder Referenzen noch irgendwelche Erfahrung mit Kindern vorzuweisen. Und ich wusste ja auch nicht, dass ich das hätte tun müssen, als ich mich zum Vorstellungsgespräch meldete... Tja, man sieht, bekam ich den Job trotzdem. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern sollte. Den ganzen Tag aufräumen, Matheaufgaben lösen, kochen, aufräumen, jemandem hinterher wischen, aufräumen. Aber hey. Wenigstens schlief ich nachts in einem eigenen Bett. Und zwar wie tot. Wie jeden Vormittag kümmerte ich mich um das Haus. Obwohl ich hier nicht wohnte, liebte ich diese Straße mit den alten Reihenhäusern aus rötlich-braunem Sandstein, die hohen Treppen, die zu den Haustüren führten, mit ihren schwarzen, verzierten Geländer, dem vielen Grün in der Gegend und der eher ruhigen Verkehrslage. Und das alles mitten in Brooklyn, New York, wer hätte das gedacht? Die Requisiten des Frühstücks entfernen, spülen, die Küche putzen. Die Kinderzimmer ließ ich Nicky, Simon und Maddy immer selbst aufräumen, schließlich sollten sie bei mir auch etwas für's Leben lernen, mit den Fenstern beschäftigte ich mich nur einmal die Woche, es sei denn, es war dringend notwendig, Staub wischte ich jeden zweiten Tag. Um die Wäsche musste ich mich auch kümmern, ebenso bügeln, und das nahm eigentlich die meiste Zeit in Anspruch. Natürlich noch Staub saugen und die Holzdielen wischen, die unangenehmste Tätigkeit - ich robbte nur ungern auf allen Vieren auf dem Boden herum und schrubbte mir einen Muskelkater an, aber was sein musste, musste eben sein. Dann natürlich: kochen. Gott sie dank blieben die Kinder bis nachmittags in der Schule und bekamen dort etwas zu Mittag, deshalb war ich nur für das Abendessen zuständig. Ich wurde erst entlassen, nachdem der Tisch gedeckt und Mr. Cooper nach Hause gekommen war, denn zu Abend wurde immer im Kreis der Familie gegessen, genauso wie beim Frühstück auch. Während sie also reinhauten, verkrümelte ich mich nach Hause, schmiss mich ins Bett und schlief ein, noch während der Fernseher lief. Privatleben? Fehlanzeige. Fairerweise muss ich dazu sagen, dass ich samstags und sonntags immer frei hatte. Na gut - meistens. Es sei denn, Jack Cooper hatte etwas Dringendes im Büro zu erledigen, was bis Montag nicht warten konnte. Aber das war bis jetzt nur zwei Mal vorgekommen, was angesichts der Tatsache, dass ich seit zweieinhalb Monaten hier arbeitete, eine Quote von 20% war. Damit konnte ich leben, vor allem deshalb, weil ich ja sowieso nicht nein sagen konnte. Freunde, fragt man sich dann? Klar hatte ich Freunde. Die Art von Freunden, die man schon seit halbes Leben lang kennt und mit denen man die erste Liebe, den ersten Korb, den ersten Liebeskummer und alles, was danach noch so alles kommt, durchmachte. Was danach kommt, ist natürlich noch mehr Liebeskummer, nur dass man irgendwann erwachsen geworden zu sein scheint, oder es zumindest von einem erwartet wird, und noch andere Probleme hinzukommen wie Arbeit, Heiraten, Kinder, Umzüge, Scheidungen, unheilbare Krankheiten, Tod der Eltern, und so weiter, und so fort. Tja, und das erklärte auch den Verbleib meiner Freunde: sie hatten alle viel zu tun und während ich Glückspilz mich nur mit einer Option herumschlug - Arbeit - hatte es manche von ihnen knüppeldick erwischt. Ray war gerade mit seiner neuen Flamme auf Hawaii, während sich seine Bald-Ex-Frau mit Anwälten und Scheidungspapieren herumschlug, die Kinder versorgen und nebenbei noch Geld verdienen musste. Ich kannte beide vom College und da waren sie schon seit Jahrhunderten ein Paar gewesen. Tja, nichts hält ewig. Laura hatte einen neuen Freund - und sie verbrachten Tag und Nacht zusammen. Wenn man sie zu einem gemütlichen Videoabend einlud, schleppte sie ihn mit, als hätten sie sich beide in eine einzige Person verwandelt. Irgendwann habe ich aufgehört, sie einzuladen, und sie meldete sich auch gar nicht mehr. Da ihre Beziehungen nie lange hielten, nahm ich an, sie würde bald anrufen. Kelly's Dad war vor kurzem gestorben, weshalb sie sich jetzt intensiv um ihre senile Mutter kümmerte - Kelly's Eltern waren schon älter gewesen, als sie geboren wurde. Das fand ihr Freund allerdings alles andere als prickelnd und schlug eine Beziehungspause vor. Was das heißt, wissen wir ja alle, und nun verbrachte Kelly den ganzen Tag damit, sich um ihre Mutter zu kümmern, die nicht in ein Pflegeheim sollte, und die ganze Nacht damit, sich die Augen auszuheulen. Julie war gerade voll und ganz in die Hochzeitsvorbereitungen vertieft - allerdings nicht in ihre eigenen, sondern in die von ihrem Bruder Steve, der ein kleiner, liebenswerter Idiot ist, der nichts auf die Reihe kriegt. Also hat seine Braut ihn abgeschoben und sich stattdessen seine Schwester geschnappt - natürlich nur, um die Hochzeit zu planen. Julie steht nämlich nicht auf Frauen, und ich bin mir fast sicher, Steve's Zukünftige auch nicht. Blieb also nur noch das Telefon als Kommunikationsmittel und ich erfuhr zumindest etwas von Kelly und Julie, da alle anderen entweder keine Zeit hatten oder aber Männer waren. So durfte ich mir Julie's Begeisterung und Schwärmereien über Brautkleider, Sahnetorten mit Zuckerguss und alte Gebäude, in denen möglicherweise die Hochzeit stattfinden würde, anhören, genauso wie Kelly's herzerweichende, aber nach einiger Zeit auch deprimierende und nervtötende Litanei, wie schlimm die derzeitige Situation war und wie alles nur so schrecklich aus dem Ruder laufen konnte. Das war allerdings etwas, was ich mich von Zeit zu Zeit auch fragte. Etwa gegen Mittag - ich war gerade vollkommen versunken in mein tagtägliches Selbstmitleid, das mich während des Putzens immer einholte -, hörte ich die Haustür ins Schloss fallen. Erschrocken fuhr ich zusammen. Jeder andere würde natürlich an einen Einbrecher denken oder sonst was, aber mein erster Gedanke galt der Möglichkeit, dass Mr. Cooper früher von der Arbeit nach Hause gekommen sein könnte - sehr viel früher! Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich stellte mich gerade hin, steif auf die Küchentür starrend, doch es war nur Simon, der mit langem Gesicht hereintrat und mich nicht einmal begrüßte. Erleichtert und besorgt zugleich entspannte ich mich wieder. "Simon, mein Gott, hast du mich erschreckt. Was machst du so früh schon zu Hause?" Selbst wenn Unterricht ausgefallen wäre, war es den Schülern nicht gestattet, vor zwei Uhr nachmittags nach Hause zu gehen. Sie sollten stattdessen ins Computerzentrum oder zur Betreuung. "...suspendiert...", nuschelte er, doch ich konnte nur dieses eine Wort verstehen. "Wie bitte?" "Sie haben mich suspendiert", wiederholte er, diesmal lauter und zorniger. Ich erstarrte schon wieder. "Was? Aber... warum?" Ich wollte noch mehr fragen, aber ich hielt den Mund, um ihn selbst erzählen zu lassen. Doch Simon zuckte nur mit den Schultern und setzte sich an den Tisch, hielt mir einen weißen Umschlag mit dem Schulsiegel hin, den er die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte. "Äh.... der ist doch sicher für deinen Vater", protestierte ich, nur allzu neugierig, was da wohl drinstehen mochte. "Den haben sie schon angerufen", murmelte er missmutig und verzog genervt das Gesicht, stur auf einen Punkt starrend. "Oh." Mir fiel nichts ein. Das war das erste Mal, dass ich mich in dieser Situation befand. Was sollte ich machen? Was sollte ich sagen? Es gab eigentlich nur eins: "Oh-oh..." Würde Mr. Cooper sauer auf mich sein, dass ich das zugelassen hatte? Aber was hab ich überhaupt zugelassen? Würde er mich feuern?! Wortlos nahm ich den Umschlag und riss ihn auf, warf einen kurzen Blick auf den Inhalt und legte ihn wieder beiseite, schaute Simon bedauernd an. "Du hast dich geprügelt? Warum?" "Er ist'n Arschloch." Kurz und prägnant. "Simon!", rief ich vorwurfsvoll. Wenn sein Vater hörte, dass er solche Ausdrücke benutzte, war ich geliefert! "Ja, aber es ist so", beharrte der Junge trotzig. "Und er hat mich beschimpft." Ich ließ mich ihm gegenüber nieder und seufzte. "Und dann?" Er zuckte mit den Schultern, als würde es ihn nicht im geringsten angehen. "Dann hab ich ihn zurückbeschimpft." Da kann kaum die ganze Geschichte gewesen sein... "Und dann?" "Dann hab ich ihn geschubst." "Aha." "Dad wird mich umbringen." Das war eine reine Feststellung, aber es war so ziemlich dasselbe, was ich in diesem Moment auch gedacht hatte. Und mich auch, fügte ich in Gedanken hinzu. Eine Weile lang saßen wir schweigend am Küchentisch und harrten der Dinge, die da kommen mochten, doch es passierte nichts, also stand ich wieder auf und seufzte, öffnete den Kühlschrank, um Butter und Eier herauszuholen. Auf der Anrichte lag schon die Schokolade bereit. Ich nahm die Tafeln und legte sie vor Simon auf den Tisch, während ich nach Schüssel und Rührbesen kramte. "Wir backen Cookies", verkündete ich auf seinen fragenden Blick hin, platzierte die Schüssel ebenfalls auf dem Tisch und gab ihm Schneidebrett und Messer. "Du darfst die Schokolade zerhacken. Aggressionen rauslassen und alles." Nur zögerlich langte er danach; sein Gesichtsausdruck verkündete mehr als nur bloße Skepsis. "Weiberkram", murmelte er, machte sich aber dennoch daran, die Schokolade aufzureißen und mit dem Messer zu bearbeiten. So verbrachten wir die Mittagsstunden, ohne viel Reden, dafür aber mit viel Backen. Ab und zu stellte ich eine Frage oder Simon sagte etwas von sich aus - ich wollte ihn nicht drängen, endlich den Mund aufzumachen - und auf diese Weise erfuhr ich, dass er für die nächsten zwei Tage suspendiert war - bis einschließlich Freitag also -, von dieser Tatsache aber ganz und gar nicht angetan war. Ich wäre an seiner Stelle begeistert gewesen! Zwei Tage schulfrei, und das auch noch ganz legal! Aber das hier war eine andere Welt. Jeder versäumte Tag hinterließ eine Brandmarke, die besagte: du bist ein Versager. Du hast es nicht drauf. Du fällst durch. Und für einen zwölfjährigen Jungen war das sicherlich keine leichte Last zu tragen. Nach sechs Backblechen - was zwar viel klingt, aber im Grunde fast gar nichts ist -, verzog er sich auf sein Zimmer und ich machte eine kleine Mittags- und Fernsehpause, behielt jedoch stets im Hinterkopf, dass ich noch den Lieferservice würde anrufen müssen, um ein elegantes Abendessen zu ordern. Kein Wunder also, dass ich nervös war - ein elegantes Abendessen belief sich bei mir auf Käsemakkaroni mit Billigrotwein und ich hatte so die leise Ahnung, dass das hier nicht auf große Begeisterungsstürme stoßen würde. Also, was servierte man einem reichen, anspruchsvollen Mann, der seiner Freundin das erste Mal seine Familie vorstellte? Hummer? Lachs? Kaviar? Zu gewöhnlich, zu abgedroschen... Nudeln kamen auch nicht in Frage, ganz zu schweigen von irgendwelchen Kartoffelgerichten. Trotzdem wurde von mir erwartet, ein anständiges Menü zusammenzustellen und die Cateringfirma damit zu beauftragen. Oder sollte ich einfach...? Ich wischte die Gedanken an meine weitere Tagesplanung beiseite und versuchte, mich auf die sinnlose Comedyserie zu konzentrieren, solange ich noch die Zeit dafür hatte. Heute Abend würde ich wieder wie tot ins Bett fallen, also waren sinnlose Comedysendungen am Nachmittag wohl das mindeste, was ich mir gönnen konnte. Wie ein Wirbelsturm, der plötzlich über einen kam, stürmte Nicky herein, ihre kleine Schwester im Schlepptau. In ihrer vollen Größe - was nicht halb so beeindruckend wirkte, wie sie wahrscheinlich dachte - baute sie sich vor mir auf, die ich gerade am Küchentisch hockte und eifrig telefonierte - vier Kataloge vor mir aufgeschlagen und mit den Nerven kurz vor dem Ende der Spätschicht. Dabei war es erst 16 Uhr! "Warum hast du mir nicht sofort Bescheid gesagt?", meckerte sie mich sogleich vorwurfsvoll an und warf mir ebensolche Blicke zu. Da ich sowieso in der Warteschleife hing, konnte ich mich auch ebenso gut mit ihr unterhalten - worüber auch immer. "Weswegen?" Sie rollte genervt die Augen. "Na, wegen Simon! Und seiner Suspendierung! Ich habe es von meinem Klassenlehrer erfahren, erst hinterher!" Ich war verwirrt. "Und wieso hätte ich dich informieren sollen?" Nicky war sichtlich erbost über meine Ignoranz und Einfalt - ich konnte es an ihrem Blick erkennen. Ich wusste sogar, was sich jetzt gerade in ihrem Kopf abspielte, denn ihre Gedanken waren so einfach zu lesen, waren ihr sofort in ihr hübsches Gesicht geschrieben, egal, wie sehr sie es zu verstecken suchte. Sie hielt mich für ahnungslos und nicht selten hatte ich mir schon anhören müssen, wie wenig ich über diese Welt - ihre Welt - und diese Art zu leben wusste. Na klar, ich war ja nur eine dumme Hausmagd. Was wusste ich schon? "Hör zu, Nicks", versuchte ich sie zu besänftigen, "das Ganze geht nur Simon und euren Vater etwas an, also lass ihn bitte in Ruhe damit, okay?" Der Arme tat mir sowieso schon leid, dass er auch noch die Erziehungsmethoden seiner nur um zwei Jahre älteren Schwester ertragen musste! "Es ist nur eine Suspendierung", hängte ich - zu meinem Leidwesen, wie ich später feststellen musste - dran und zuckte desinteressiert mit den Schultern. Alle machten so ein großes Aufhebens darum, dass es langsam anstrengend wurde. Nicky schnaubte, ganz so, als fehlten ihr die Worte, doch ich wurde immer wieder eines Besseren belehrt. "NUR eine Suspendierung! Annie, das ist eine wirklich schlimme Sache und darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden!", ermahnte sie mich todernst und stemmte die Hände in die Hüften. Auf die leichte Schulter genommen? Woher hatte das Mädchen nur solche hochtrabenden Ausdrücke? Ich konnte mir ein leises Kichern nicht verkneifen, woraufhin ich einen höchstbeleidigten Blick erntete. "Was ist so lustig?", presste sie halb verunsichert, halb empört, hervor. Ich grinste. "Du bist 14 und klingst wie 41." Das war gemein - aber so war Nicky nun mal. Sie dachte, sie hätte hier das Sagen und müsste auf alles aufpassen, nur, weil sie die Älteste war. Darüber vergaß sie aber vollends, das vierzehnjährige Mädchen zu sein, das sie letztendlich war. Und ich war der Meinung, sie musste sich einfach mal ein wenig entspannen, denn diese aufgesetzte Ernsthaftigkeit bekam ihr gar nicht gut, machte sie mürrisch, traurig. Als lastete die Welt auf ihren Schultern, die ganze Verantwortung. Sie knurrte irgendetwas - ich war mir sicher - Unflätiges und setzte schon wieder an, etwas zu sagen, als sich am Telefonhörer, den ich mir zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte, jemand meldete. Etwas aus dem Konzept gebracht, da ich über die Unterhaltung mit Nicky schon beinahe vergessen hatte, was ich eigentlich ursprünglich wollte, setzte ich mich gerade hin und stammelte ein paar unbeholfene Worte in den Hörer, kramte in den Zeitschriften vor mir herum, bis ich endlich die Richtige vor mir liegen hatte. Nicky hatte ich schon längst vergessen und bemerkte nur noch abwesend, wie sie sich murrend verzog, nicht, ohne mir einen letzten, grimmigen Blick zuzuwerfen. Maddy, sich bislang eher im Hintergrund haltend, gesellte sich zu mir, während ich der recht schnippischen Dame am Telefon meine Vorstellungen eines Dinners schilderte, und nahm sich einen Keks, die ich auf einem Teller drapiert hatte. Schweigend aß sie und wartete geduldig, bis ich das Gespräch beendete und den Kopf verzweifelt in beide Hände stützte. Ich hatte erreicht, was ich wollte - aber ich brauchte dringend Urlaub. Die ganzen Menschen um mich herum schienen in den geheimen Club eingetreten zu sein, dessen offiziell erklärtes Ziel es war, mich in die Klapse einweisen zu lassen. Ich kann euch sagen, ich war ganz kurz davor! "Annie?" Ich blickte auf. "Ja?" Maddy runzelte die Stirn. "Was ist mit Simon? Nicky hat gesagt, er darf nicht mehr zur Schule, stimmt das etwa?" Besorgt sah sie mich an. Ich schüttelte den Kopf und rang mir ein müdes Lächeln ab. "Nein, nein. Es ist nur für zwei Tage, weil er ein wenig... na ja, über die Stränge geschlagen ist...", versuchte ich ihr behutsam begreiflich zu machen. "Nicky hat gesagt, er hat Mist gebaut", erklärte sie es in absolut kindlicher Einfachheit. "Äh... ja. Genau." Sie setzte wieder ein ernstes Gesicht auf, das so gar nicht zu ihren neun Jahren passte. "Ist das schlimm? Kriegt er jetzt Ärger?" Ich überlegte hin und her. Ich war mir sicher, dass Simon Ärger bekommen würde, aber wie sollte ich das Maddison klarmachen, ohne sie zu ängstigen? Doch ohne auf meine Antwort zu warten, zog sie bereits ihre eigenen Schlüsse. "Glaubst du, Daddy wird..." Sie wurde leiser. "Na... du weißt schon..." Mit vor Angst geweiteten Augen sah sie mich flehend an. Ich bekam ein ungutes Gefühl. "Nein... was?", wollte ich alarmiert wissen und versuchte, die Bilder und Gedanken in meinem Kopf der Logik unterzuordnen, die anscheinend dabei war, sich schleunigst zu verziehen. Was würde Mr. Cooper tun?! "Ach...", murmelte Maddy und wandte den Blick schnell von mir ab, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, zu viel gesagt zu haben, "nichts..." Schnell sprang sie vom Stuhl und erklärte mir, dass sie noch Hausaufgaben machen müsste, und dann ließ auch sie mich alleine in der Küche sitzen. Doch ihre Worte beunruhigten mich zutiefst. Was würde Mr. Cooper tun? Was meinte Maddy mit "du weißt schon"? Ich wusste gar nichts! Aber konnte es sein, dass die Kinder nicht umsonst solche Angst vor ihrem Vater hatten? Nein! Daran konnte und wollte ich nicht denken... Und ich versuchte wirklich, den ganzen restlichen Tag über, es nicht zu tun... T h r e e --------- "Ich kriege eine Krise", stöhnte ich entnervt, als ich den Telefonhörer wieder auflegte. Gerade hatte die Cateringfirma angerufen und mir ziemlich unfreundlich erklärt, dass meine Bestellung nicht rechtzeitig ausgeführt werden und dass ich mit einer Verspätung rechnen könnte. Ich war mir sicher, dass sie auch kein Einsehen gehabt hätten, hätte ich die Tatsache erwähnt, dass ich wegen ihrem Versäumnis meinen Job verlieren würde - deshalb erwähnte ich es auch nicht. Ich warf einen verzweifelten Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sechs Uhr abends und um sieben sollte alles bereits angerichtet sein, aber davon waren wir meilenweit entfernt. Zudem plagten mich Sorgen um Simon, so war es also kein Wunder, dass ich der aus dem Haus stürmenden Nicky, die sich mit einem hastigen "Anna, ich geh mit Nate und den Jungs in den Park, Baseball spielen" kaum Beachtung schenkte. Ein Kind weniger im Haus, das mich davon abhielt, hier meinen Job zu tun. Während ich nervös in der Küche saß und mit den Fingern ungeduldig auf die Tischplatte trommelte, hörte ich, wie die Haustür ins Schloss fiel. Der Moment der Wahrheit war also gekommen: Mr. Cooper war nach Hause gekommen - und das Essen war alles andere als angerichtet - es war nicht einmal innerhalb dieser vier Wände, wo es schon längst hätte sei müssen! Es war amtlich: meinen Job war ich jedenfalls nach dem heutigen Tag mit Sicherheit los. Ich hörte ihn im Nebenzimmer rascheln, wusste, dass er sich aus seinem Jackett schälte und die teuren, schwarzen Lederschuhe abstreifte, brachte es aber nicht über mich, die Küche zu verlassen und ihm von Angesicht zu Angesicht zu erklären, dass ich versagt hatte - auf ganzer Linie. Nicht nur, dass das Essen einfach nicht angerollt kam, nein: ich hatte es auch noch zugelassen, dass Simon suspendiert worden war! Obwohl sich beides meiner Kontrolle entzog, fühlte ich mich doch schuldig. Das hatte ich nun davon, dass die ganze Verantwortung auf meinen Schultern lastete. So in meine Gedanken vertieft, bemerkte ich gar nicht, wie die Geräusche im Flur verklangen und es wieder still wurde. Deshalb fuhr ich auch erschrocken zusammen und sprang kerzengerade vom Stuhl auf, als wollte ich salutieren, als die Tür zur Küche geöffnet wurde. Ich dachte, es wäre Mr. Cooper, doch es war nur Simon, der sich ungewohnt leise zu mir in den Raum schlich. In seinem Gesicht spiegelte sich mein Ausdruck wider: besorgt, ein wenig verschreckt. Ich machte den vergeblichen Versuch, ihm aufmunternd zuzulächeln. Maddy's Worte wollten mir nicht aus dem Sinn und je länger ich darüber nachdachte, desto unerhörter fand ich es - ich hätte nie gedacht, dass Mr. Cooper einer derjenigen wäre, die ihre Kinder schlagen, aber so machte doch alles seinen Sinn: dass sie so großen Respekt vor ihm hatten - manchmal zumindest -, dass er immer so streng war und vor allem Simon's Gesicht jetzt in diesem Augenblick sprach jawohl Bände. Er würde doch wohl nicht Hand an ihn anlegen, solange ich hier war? Und seine Freundin mit dem zitronigen Namen würde den Abend hier verbringen, also hatte Simon zumindest heute nichts mehr zu befürchten, oder? Und morgen früh würde ich ja schon wieder hier sein. Also kein Grund zur Sorge. Oder? Ich erhob mich und stellte mich zu Simon, der sich an die Anrichte gelehnt hatte und schweigend an einem Keks knabberte, den er sich aus der Schale hinter sich stibitzt hatte. "Simon, wenn-", setzte ich an, nicht genau wissend, was ich eigentlich sagen wollte, doch wurde ich ohnehin unterbrochen von der sich öffnenden Tür, und diesmal kam der echte Mr. Cooper herein. Er hatte sich inzwischen umgezogen, jedoch sah er auch nicht anders aus als sonst, wenn er auf die Arbeit ging. Nur, dass sein Jackett fehlte, doch das Hemd und die Krawatte saßen ausgezeichnet, die Haare waren gekämmt, sein Gesicht starr und emotionslos - alles an ihm war tadellos und angsteinflößend, wie immer also. Sein strenger Blick streifte erst Simon, blieb aber - zu meinem Erschrecken - an mir hängen. Er runzelte die Stirn. "Anna", sagte er und schwieg eine Weile, mich gnadenlos musternd, die ich unter seinem Blick gleich um zehn Zentimeter schrumpfte. "Ja?", fragte ich unsicher. Gleich würde er mich feuern! In Gedanken packte ich schon meine Sachen - welche Sachen?! - und verließ geknickt das Haus. "Wissen Sie, wo Nicole ist? Sie ist nicht in ihrem Zimmer und ich kann sie nirgends finden." Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen, deswegen brauchte ich ein wenig, um mich in der Situation zurechtzufinden. "Nicole?", hakte ich nach, um Zeit zu gewinnen und nachzudenken, wo ich sie das letzte Mal gesehen hatte. "Äh, sie..." Da fiel es mir wieder ein! Sie war in den Park gegangen, zusammen mit Nate, gerade, als ich so viel um die Ohren hatte wegen dem Essen. "Sie ist Baseball spielen gegangen mit Nathan", erklärte ich erleichtert und fühlte mich, als hätte ich die Prüfung bestanden. Mr. Cooper's Blick verfinsterte sich und er schaute ungeduldig auf seine Armbanduhr. "Meine... Mrs Ashworth wird gleich eintreffen", sagte er vorwurfsvoll. "Das Essen ist auch noch nicht angerichtet." Ich wurde noch ein Stück kleiner. "Ja, äh... das Cateringunternehmen hatte ein paar... äh, Lieferengpässe und sie... ich bin mir sicher, es wird bald geliefert... hoffe ich...", setzte ich viel leiser hinzu und starrte den Boden an, der sich zu meinem Leidwesen nicht auftat und mich einfach verschluckte, so, wie es sich eigentlich gehört hätte. Mr. Cooper schwieg. Es war eine unheilvolle Stille und ich wagte es nicht, aufzublicken, sondern begnügte mich damit, das Stuhlbein zu mustern. Es war aus Holz, stellte ich fest. "Ich verstehe", sagte er dann endlich langsam, nach gefühlten einhundert Jahren, und ich versuchte, so etwas wie Missbilligung herauszuhören, oder auch so etwas wie eine unausgesprochene Kündigung, aber da war nichts, was ich hätte reininterpretieren können. Vielleicht war ich einfach nicht konzentriert genug? Er unterbrach meine fieberhaften Überlegungen schon wieder, indem er sich dieses Mal an Simon wandte. "Simon, kann ich dich bitte im Wohnzimmer sprechen?" Panisch blickte ich ihn an, dann Simon, der im Begriff war, seinem Vater zu folgen, als würde er sich kommentarlos seinem Schicksal ergeben. Schneller, als ich denken konnte, trat ich neben ihn und legte ihm die Hände fürsorglich auf die Schultern, hielt ihn dadurch an. "Mr. Cooper..." Besagter drehte sich um und hob fragend die Augenbrauen. Was ist denn noch?, schien er sagen zu wollen, schwieg aber, wartete. "Ich... Sie..." Ich schluckte, drückte Simon näher an mich heran. "Bitte tun Sie ihm nicht weh", bat ich flehend und wusste mindestens im selben Augenblick, wenn nicht eine Viertelsekunde davor, dass ich mir damit nun wirklich Schwierigkeiten einhandelte. Verhängnisvolles Schweigen. Und dann geschah etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte - etwas regte sich in Mr. Cooper's Mienenspiel - er wurde wütend! Seine Augen weiteten sich erst vor Überraschung, und dann, als er verstand, verengten sie sich zu gefährlichen Schlitzen, seine Lippen pressten sich aufeinander. Ja, nun, das waren auch schon die einzigen Veränderungen, die da vor sich gingen, aber es war, als wäre er zum ersten Mal richtig zum Leben erwacht - leider war das nichts Positives, da ich, wie ich jetzt erst merkte, noch mehr Angst vor ihm hatte, wenn er wütend war - und ich war dafür verantwortlich! Das war's! Mein Ende! "Wie... bitte?", brachte er fassungslos, jedoch in kontrolliert ruhigem Tonfall hervor. Dass er seine Gefühle so im Griff hatte, war schon erstaunlich. Ich war mittlerweile so klein mit Hut. Das war wohl doch keine gute Idee gewesen. Simon starrte mich mit offenem Mund an. Er konnte seine offensichtliche Verwunderung nicht so gut verstecken, wie es sein Vater tat. Nun war es an mir, wieder etwas zu sagen... etwas Geistreiches... etwas, das ihn dazu brachte, mich nicht mehr umbringen zu wollen... "Er ist doch erst zwölf." Okay - das war es ganz offensichtlich nicht. "Anna." Die Stimme klang hart und unnachgiebig. "Holen sie Nicole. Ich möchte, dass sie noch vor Miss Ashworth wieder zu Hause und vorzeigbar ist. Danke. Simon?" Mit diesen Worten nickte er Richtung Tür - ein Zeichen für Simon, ihm zu folgen -, und verschwand aus der Küche, sein Sohn hinter ihm her, nicht, ohne mir einen halb verwunderten, halb ratlosen Blick zuzuwerfen, der so etwas sagte wie "Hast du etwa komplett den Verstand verloren?" – oder war es das, was ich dachte? Zurück blieb ich allein mit dem Gefühl, irgendetwas gehörig missverstanden zu haben. Nicky wedelte gerade mit dem Baseballschläger verwegen in der Luft herum, als ich am Spielfeldrand ankam. Ich hatte mich extra beeilt und war jetzt dementsprechend außer Atem, heiß war mir auch. Anscheinend hatte Nicky dasselbe Problem gehabt, denn ihr Pullover lag achtlos neben ihren Füßen im Staub, während sie irgendwelche unhöflichen Aufforderungen in den Wind schrie. Ihre normalerweise schulterlangen, blonden Haare hatte sie mit einem Haargummi zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das tat sie des Öfteren, wenn ihre Haare sie störten. Überhaupt war sie manchmal sehr jungenhaft und benahm sich auch so, aber hin und wieder kam auch wieder das Mädchen in ihr durch. Meist war sie jedoch stur, frech, vorlaut und störrisch wie der schlimmste Esel. "Nicky! Nicole!", rief ich zu ihr herüber und hatte schon Angst, dass sie es nicht hören würde, doch gerade in dem Moment, in dem der Werfer den Ball auf sie zuschmiss, schaute sie sich verwundert um, ihre Augen suchten den Spielfeldrand blitzschnell nach der Person ab, zu der diese Stimme gehörte. Der kleine Baseball flog ganz dicht an ihrem Ohr vorbei und genauso irritiert durch den Luftzug in ihren Haaren drehte sie sich wieder zur anderen Seite und folgte mit ihrem Blick dem Ball, der auf dem Boden ankam, ein paar Mal auf und ab hüpfte und schließlich ausrollend zum Stillstand kam. "BUH!", rief jemand, wahrscheinlich aus der anderen Mannschaft. "Typisch Mädchen!" "Halt die Klappe, Blödarsch!", schrie ein anderer, der in Nicky's Nähe stand und die Faust drohend in die Luft stieß. Ich erkannte in ihm Nate, eigentlich Nathan, Nicky's besten Freund, wieder. Nicks achtete gar nicht auf die Typen, sondern ließ den Schläger fallen, schnappte sich ihren Pullover vom Boden und lief auf mich zu. "Annie", keuchte sie, ebenfalls außer Atem. Ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet, aber sie sah einigermaßen zufrieden aus. Hier, beim Sport und mit ihren Freunden, konnte sie sich ein wenig austoben, und bei so viel Energie, wie sich tagtäglich bei ihr anstaute, war das auch gut so. "Was ist?" Was war? Ich hätte sie am liebsten am Arm gepackt und nach Hause gezerrt. Sie wusste doch genau, dass ein wichtiges Abendessen anstand, wie konnte sie da einfach abhauen und dann noch so tun, als wüsste sie nicht Bescheid? Wie hatte ich sie gehen lassen können, obwohl ich das doch ebenso gut gewusst hatte!? Wie konnte Mr. Cooper seine Kinder so behandeln? Meine Wut auf sie, auf mich, auf ihn vermischte sich mit den Anstrengungen des Tages und ich seufzte nur erschöpft. Ich wollte mich nicht streiten. "Dein Vater erwartet dich geschniegelt und gestriegelt zum Abendessen", erklärte ich ihr. Sie verzog unwillig das Gesicht, was ich ihr nicht verübeln konnte. Ich hätte auch lieber mit meinen Freunden gespielt, anstatt mich in mein Sonntagsdress zu werfen und die brave Tochter zu mimen, während sich irgendeine Clementia Ashworth meinen Vater unter den Nagel riss. Sie drehte sich zu Nate um, der sich mittlerweile zu uns gesellt hatte und uns fragend ansah. "Ich muss gehen. Die Zitrone kommt heute Abend." Ich musste fast grinsen. Nate nickte. "Okay. Dann bis morgen in der Schule. Tschüss, Anna", sagte er noch freundlich zu mir. Nate war ein lieber, netter Junge. Er war stets freundlich zu mir, anders als Nicky, und hatte auch nichts dagegen, ein wenig mit mir zu plaudern, anders als Simon. "Lass die Säcke nicht gewinnen!", forderte Nicole ihn streng auf, woraufhin ich hörbar die Luft einsog. "Nicky!" Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu, als wollte sie sagen 'Jetzt tu doch nicht so überrascht, dass ich solche Ausdrücke benutze', und Nate nickte feierlich und grinste. "Klar, niemals!", rief er ihr noch zu, während er auf's Spielfeld zurücklief und uns zuwinkte. Schweigend sahen wir ihm für einen kurzen Augenblick nach. Ich dachte an seine schwarzen, struppigen Haare und fragte mich, was Nicky in ihm sah. Was Nicky dachte, weiß ich nicht. Einmal, ganz zu Anfang, hatte ich den Fehler begangen und sie mit Nate aufgezogen. Damals wusste ich natürlich noch nicht, was 'abging', aber sie hatte äußerst allergisch darauf reagiert. Seitdem weiß ich, dass da absolut nichts 'abgeht'. "Man muss nicht immer gleich mit jemandem gehen!", hatte sie mir beleidigt erklärt, als wäre es tatsächlich etwas Persönliches gewesen. "Denk mal drüber nach!" 'Mit jemandem gehen' - ich schwöre, das hat sie wirklich gesagt. Irgendwie süß, oder? Aber ja - ich habe darüber nachgedacht und ich finde, sie hat Recht. Man muss nicht immer - na ja, was auch immer. Mit jemandem gehen halt. Der Park war nicht weit von der Cranberry Street entfernt, aber immerhin so weit, dass ich befürchtete, wir könnten es nicht schaffen. Nicky zog ihren Pullover wieder an, der voller Sand und Staub war, was ihr aber anscheinend nicht das Geringste ausmachte. Morgen würde ich ihn waschen müssen. Zum Glück gab es heutzutage Waschmaschinen, denn bei all dem Zeug, das die Kinder beschmutzten, hätte ich schon wund gescheuerte Hände gehabt. Bügeln musste ich allerdings noch per Hand. "Was ist mit Simon?", fragte sie mich auf dem Weg heim, klang jedoch ganz desinteressiert. "Hat er Hausarrest bekommen?" Ich schaute sie prüfend von der Seite an, erkannte aber nichts, was mir weitergeholfen hätte, wonach auch immer ich suchte. "Ich weiß es nicht." "Bestimmt", insistierte sie und schaute sich nach einem Hot Dog-Stand um, der auf der anderen Straßenseite stand. Mehr sagte sie nicht. Schweigend liefen wir nebeneinander her und ich dachte darüber nach, was sie gesagt hatte. Hausarrest. Das war ja gar nichts im Vergleich zu dem, was ich im Verdacht hatte. Hausarrest wäre ja noch richtig gut! "Was soll ich eigentlich anziehen?", holte sie mich aus meinen Überlegungen heraus. "'Ne Hose oder was?" "Ich weiß es nicht", gab ich zu. "Vielleicht etwas... Hübsches?" Nicky schnaubte. "Bestimmt. Für so eine Schreckschraube sicher nicht." "Du kennst sie doch gar nicht. Du gehst einfach hoch und ziehst etwas Nettes an, das du magst. Es wird schon nicht so schlimm werden und wenn doch, ist es ja spätestens heute Abend wieder vorbei. Sie wird ja nicht ewig bleiben." Nicky dachte intensiv über meine Worte nach und drehte sich dann fragend zu mir um. "Und wenn doch?" "Was?" "Wenn sie doch ewig bleibt?" Ich verstand zuerst nicht, aber dann dämmerte es mir doch. "Dann..." Mir fiel nichts ein. "Dann werden wir sehen." Ein Ruck ging durch Nicole und sie wurde ein bisschen schneller. "Ich will das nicht", sagte sie zu keinem Bestimmten. "Ich will, dass alles so bleibt, wie es jetzt ist." Das überraschte mich. Ich wusste nicht, dass sie es so, wie es jetzt war, gut fand. Für mich war es eher eine vorübergehende Situation, und ich dachte, das wäre ihr auch klar, nachdem sie und ihre Geschwister doch nie Kindermädchen hatten, die länger als ein paar Monate geblieben waren. Wie ich herausgefunden hatte, waren sie auch alle echt alt gewesen - ich war wohl die erste unter 50 Jahren seit... seit immer. Sie bewegte sich jetzt schon beinahe im Laufschritt und ich musste mich beeilen, mit ihr Schritt zu halten. Auf ihren Lippen konnte ich die Andeutung eines Lächelns sehen, aber es gefiel mir gar nicht - es war ein durchtriebenes, hinterlistiges Lächeln, das nichts Gutes verhieß. Aber ich würde in wenigen Minuten meinen Platz sowieso räumen und nach Hause gehen - ins Bett - deshalb interessierte es mich nicht. Sollte Mr. Cooper mit seiner pubertierenden Tochter fertig werden, immerhin war das als Vater sein Job. Was er und seine tausend Kindermädchen mit den Jahren verbockt hatten, konnte ich kaum in zwei Monaten wieder kitten, oder? Eben! "Glaubst du, sie ist schon da?", wollte Nicky wissen und klang zu meiner Beruhigung doch ein wenig nervös, als wir spionagemäßig die Stufen zum Haus hoch huschten. "Nein", keuchte ich, nach einem Blick auf meine Armbanduhr, und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ich benutzte ihn eigentlich nur, wenn Mr. Cooper nicht zu Hause war, aber im Moment hatte ich keine Zeit für falsche Bescheidenheit. "Aber ich hoffe, das Essen ist schon da. Oh, Maddy!" Ich konnte mir gerade noch einen Fluch verkneifen, als ich über Maddison’s Schuhe stolperte, die sie dekorativ vor der Tür abgestellt hatte. Standen die etwa schon die ganze Zeit da? Die jüngste Cooperstochter kauerte auf der untersten Treppenstufe, die Knie angezogen und die Arme darumgelegt, und sah mich besorgt an. Zum Glück war sie schon fertig angezogen. "Nicky, ab nach oben, zieh dich um", kommandierte ich die 14jährige, während ich mich nach den Schuhen beugte und sie an ihren rechtmäßigen Platz beorderte. "Ist das Essen schon da?", wollte ich dann von Nicky's kleiner Schwester wissen, als diese bereits auf dem Weg nach oben war. "Ja. Sie haben alles in die Küche gestellt. Soll ich dir helfen?" Sie wies mit dem Finger Richtung Küchentür und ich warf einen erneuten Blick auf die Uhr, weil ich wieder vergessen hatte, wie viel Zeit mir noch blieb. "Nein, nein. Schätzchen. Setz dich irgendwohin und mach keinen Unsinn." Anstatt mir zu gehorchen folgte die Kleine mir wie ein Anhängsel, während ich den Esszimmertisch deckte und anschließend das Essen irgendwie darauf unterbrachte. Das Dessert ließ ich noch im Kühlschrank stehen, sonst würde es schmelzen. "Wie geht's Simon?", fragte ich dann vorsichtig nach, als ich das Besteck links und recht von den Teller hinlegte und fast fertig war. Maddy ließ betrübt den Kopf hängen. "Daddy hat das gemacht, was ich gesagt habe", murmelte sie undeutlich, aber ich verstand trotzdem jedes Wort und hielt inne. "Was... was hat er denn gemacht?", hakte ich etwas nervös nach. Sie zuckte unbehaglich mit den Schultern. "Er hat Simon..." Dann wurde sie beunruhigend leiser und wisperte schon fast: "Hausarrest gegeben." Erwartungsvoll sah sie mich an, als müsste ich... in Ohnmacht fallen oder so. "Was", wollte ich tonlos wissen. "Hausarrest?" Bitte sag, dass das nicht wahr ist! Sie nickte. "War es das, weswegen du dir Sorgen gemacht hast?" Wieder ein Nicken. Ich schloss kurz die Augen und zwang mich, zu atmen. Mr. Cooper hatte Simon also nur Hausarrest gegeben. Und ich war in der Annahme gegangen, dass... nein... ich war nicht nur in der Annahme gegangen, ich hatte ihn sogar darum GEBETEN, ihm nicht weh zu tun! Oh. Gott. Ich hatte meinem Arbeitgeber - der, unter uns gesagt, nicht gerade wenig dafür springen ließ, dass mir seine Kinder auf der Nase herumtanzten -, vorgeworfen, er würde seinen Sohn schlagen! Ach du scheiße! Trotz all der Schamgefühle, die in mir aufstiegen, konnte ich dennoch nicht umhin, erleichtert zu sein. Mr. Cooper war also kein grausamer Mensch, er tat nur so, als ob! Oh Gott sei Dank! "Maddy", seufzte ich und schüttelte dann etwas fassungslos den Kopf. "Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?" Da sie nicht wissen konnte, was sich in meinem Kopf abgespielt hatte, schaute sie mich nur verständnislos an, und ich bin sicher, all die Informationen und die Art, wie sie sie mir gegeben hatte, machte für sie Sinn. "Hab' ich doch, Anna." Es klingelte. Und ich erinnerte mich daran, dass ich noch immer HIER war, obwohl ich bestimmt nicht mehr HIER sein sollte. Das war schließlich so ein Familiending, da hatte ich nichts zu suchen. Aber ich konnte mich ja auch nicht verstecken, immerhin wussten sowieso alle, dass ich noch da war. Also ergab ich mich meinem Schicksal und trat heraus auf den Flur, Maddy im Schlepptau. Im selben Augenblick flitzte Nicky die Treppe herunter. Sie sah sogar - zu meinem Erstaunen -, ganz präsentabel aus. Zwar hatte sie ihr nicht ihr bestes Kleid angezogen, aber immerhin eine relativ mädchenhafte, rosa Bluse. Ihre Haare trug sie offen und sie hatte sie sogar gekämmt. Eine Strähne hatte sie mit einen von Maddy's Haarspangen an der Seite festgemacht. Hinter ihr tauchte auch Simon auf und ich blickte mich kurz um, aber kein Mr. Cooper war in Sicht. Sollte ich einfach mal Butler spielen und die Tür öffnen? Es bot sich doch geradezu an... so würde ich mir wenigstens nicht total überflüssig vorkommen - was ich allerdings aber wirklich war. Jetzt war ich aber wirklich gespannt. Wie würde Clementia Ashworth wohl aussehen? Mutig legte ich die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Vor mir stand eine Dame, etwa in den Dreißigern, die mich ebenso neugierig musterte, wie ich sie. Ihre Haare waren blond, allerdings sehr viel blonder als meine oder die der Mädchen, und sie hatte ein paar Fältchen im Gesicht. Seltsamerweise war das das erste, was mir auffiel. "Hallo... Äh, kommen Sie doch rein." Ich trat zur Seite und ließ sie eintreten, fühlte mich aber plötzlich ein wenig ungelenk, wie ein Kind mit zu großen Gliedmaßen. Mr. Cooper war inzwischen auch erschienen. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören, aber nun trat er heran, begrüßte seine Miss Ashworth und nahm ihr den Mantel ab. Dabei konnte ich nicht mal die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht erkennen, was mich ein wenig verstörte. Konnte dieser Mann überhaupt irgendeine Art positiver Gefühlsregung zeigen?! Er kam mir vor, wie ein Roboter. "Danke, Jack", sagte Clementia und wandte sich dann demonstrativ den Kindern zu, die das ganze Schauspiel mitverfolgt hatten und sie misstrauisch bis neugierig anschauten. Maddy: neugierig. Nicky: misstrauisch. Simon hatte eine Art Pokerface aufgesetzt, das ich ihm am liebsten sofort aus dem Gesicht gewischt hätte, weil es mich so an den gefühlsarmen Mr. Cooper erinnerte, aber ich hatte schon genug angerichtet heute und sollte besser die Klappe halten. Simon sollte nicht so werden wie er! Er sollte ein normaler, glücklicher, fröhlicher Junge werden, der Mädchen an den Haaren zog, weil er sie insgeheim mochte und mit seinen Freunden an Halloween irgendwelche Häuser und Autos mit Klopapier bewarf. "Clemi, das sind meine Kinder", sagte Mr. Cooper. Ich schwöre, das hat er wirklich gesagt! 'Clemi'! Ich musste dringend aus diesem Irrenhaus raus, bevor ich einen Lachanfall allererster Güte bekommen würde. Ich sah, wie es auch in Nicky's Gesicht zuckte, und wir vermieden es, uns anzusehen, aus Sorge, laut loszulachen. "Das ist Nicole, die Älteste." Mr. Cooper war dazu übergegangen, sie der Reihe nach vorzustellen und 'Clemi' gab jedem brav die Hand. "Simon. Und Maddison. Das ist Clementia, wir kennen uns noch aus der Schule." Aha, so war das also. Eine alte Schulromanze, die aufgewärmt werden sollte, wenn das mal nicht rührend war. Während dieser kurzen Kennenlernphase hatte ich etwas Zeit, mir Clementia näher anzuschauen. Sie war eine schlanke, hochgewachsene Frau, was vermutlich an den meterlangen - so kam es mir zumindest vor - Beinen lag. Sie war etwa genauso groß wie Mr. Cooper, und manchmal kam er mir schon riesig vor. Könnte aber auch daran liegen, dass ich mir immer so klein vorkam in seiner düsteren Gegenwart. 'Clemi' hatte außerdem lange Wimpern und hübsche, schräg stehende Augen, wie eine Katze. Sie trug einen eleganten, beigen Hosenanzug und teure Schuhe, alles an ihr schrie förmlich: ICH HABE GELD! Das einzige, was nicht so recht passen wollte, war ihr Mund: dort, wo er eigentlich hätte sein müssen, war nur eine schmale, harte Linie, die all das machte, was auch ein Mund so machte: reden und sogar lächeln. Zumindest der Versuch, zu lächeln. Die perfekte Partnerin für Mr. Cooper. Mit der bräuchte er wenigstens nicht so zu tun, als würde er Spaß haben. Trotzdem, und Nicky würde mich wahrscheinlich für eine Verräterin halten, wenn sie das wüsste, war mir Miss Ashworth doch sympathisch. Vielleicht war sie ja auch nur nervös und sah deswegen so verkniffen aus, aber sonst hatte sie nichts an sich, das irgendwie abstoßend wirkte. Im Gegenteil – da was irgendwas, was sie recht... zerbrechlich wirken ließ. Vielleicht war es ihr unsicherer Gesichtsausdruck. "Und das ist Anna", sagte Mr. Cooper gerade und alle fünf Augenpaare richteten sich auf mich. Darauf war ich nicht vorbereitet und starrte nun überrascht zurück, bis ich bemerkte, dass Clementia mir die Hand hinhielt. Schnell ergriff ich sie. "Ähm, hallo, Mrs. Ashworth", beeilte ich mich schnell zu sagen, um meinen Patzer wieder gut zu machen. Da Mr. Cooper meine Funktion in diesem Hause nicht erklärt hatte, wollte ich noch hinzusetzen, dass ich nur die Kinderfrau war, aber da machte Clementia schon den Mund - oder das, was so aussah - auf und stellte klar: "Miss Ashworth. Ich war nie verheiratet." O-ho! Na das war ja vielleicht eine Ansage. Zumindest eine, die mich aus dem Konzept brachte. "Oh", sagte ich intelligenterweise und hoffte, dass sie es nicht als Missbilligung interpretieren würde. Frau musste ja heutzutage nicht mehr heiraten, nicht wahr? Aber wusste sie wirklich, worauf sie sich einließ? Ein geschiedener Mann mit drei Kindern? Und warum, zum Teufel, hatte Mr. Cooper sie mir gegenüber als Mrs. bezeichnet? Er war daran Schuld, dass ich jetzt wie ein Trottel dastand. Nicky sah genauso aus, wie immer, wenn die Rede auf Clementia fiel: unwillig und teilweise ablehnend. "Warum nicht?", fragte sie herausfordernd und handelte sich einen strengen Blick von ihrem Vater ein, den sie aber ignorierte. "Ach." Clementia machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte. "Es hat sich eben nie ergeben." Und damit war das Thema erstmal abgeschlossen. Nicky fiel auch nichts mehr ein, was sie darauf antworten könnte, außer vielleicht ein "Warum nicht?", aber selbst sie wusste, dass das provokativ und kindisch wäre. Ich huschte schnell zur Garderobe und raffte meine Sachen zusammen. Ich musste hier dringend raus. "Ich gehe dann. Das Essen ist angerichtet, Sie sollten sich beeilen, bevor es kalt wird", informierte ich Mr. Cooper und traute mich nach den heutigen Eskapaden nicht so richtig, ihn anzusehen. Vielleicht würde er mir bei direktem Blickkontakt per Telepathie zu verstehen geben, dass die Sache noch ein Nachspiel haben würde, also beschäftigte ich mich damit, meine Taschentücher in meine Tasche zu stopfen, während ich mit ihm sprach. "Was gibt's denn?", wollte Nicky wissen, als sich noch immer niemand von der Stelle bewegte und mir alle beim Jacke-Anziehen zusahen, was mich schon ein wenig nervös machte. Wahrscheinlich warteten sie höflicherweise darauf, dass ich das Haus verließ, bevor sie alle ins Esszimmer pilgerten. "Venusmuschelsuppe als Vorspeise und zum Hauptgang Paella Sushi mit Hummerkrabben“, leierte ich herunter, als hätte ich es auswendig gelernt, was ich auch tatsächlich hatte. "Igitt!", verkündete Nicole und streckte ganz undamenhaft die Zunge raus, rollte die Augen, sodass man nur noch das Weiße sah, um ihre Abscheu zu demonstrieren. "Gibt's wenigstens was Gutes zum Nachtisch?" Ich bezweifelte, dass sie Kräutersorbet als "etwas Gutes" bezeichnen würde, also drückte ich mich um die Antwort herum. "Das findest du später raus." "Was gibt's denn bei dir zum Essen?", fragte Maddy. Sie klang etwas schüchtern und warf ständig besorgte Blicke zu der neuen Frau in ihrem Haus herüber. Ich räusperte mich peinlich berührt. "Pizza." Mit Krabben und Cateringfirmas, die mir das Essen nach Hause brachten, konnte ich nicht mithalten. "Oh. Das ist doch etwas Anständiges", meckerte Nicky sofort herum, was irgendwie abzusehen war. "Warum können wir nicht auch Pizza essen, Dad?" "Daddy, warum muss Anna allein zu Hause essen, und isst nicht mit uns?", bat Maddy im selben Augenblick in herzergreifendem Tonfall. Ach du... Ich sah sofort, dass Mr. Cooper hilflos den Mund aufklappte, um etwas zu sagen, und ihn sofort wieder zuklappte. Er warf mir einen schnellen Blick zu, den ich, wie immer, nicht interpretieren konnte, und war dann wieder im Begriff, etwas zu sagen. "Anna ka..." "Ich muss doch nach Hause und das ist nur ein Essen für die Familie." Beruhigend lächelte ich ihr zu, obwohl es mich ein wenig wurmte, dass sie direkt davon ausging, ich würde 'allein' essen. "Morgen früh sehen wir uns schon wieder. Und..." Ich wandte mich an Clementia, die noch immer geduldig, und etwas unsicher, dastand und nicht wusste, was sie tun sollte, "einen schönen Abend." Ich hätte ihr gerne gesagt, sie sollte sich nicht abschrecken lassen von den Gören, da das sicherlich alles andere als ein "schöner Abend" werden würde, aber dann rief ich mir ins Gedächtnis, dass das nicht in meinen Aufgabenbereich fiel. Ich hatte genug damit zu tun, das Leben dieser dreier Kinder zu organisieren, da konnte ich mich um Clementia's private Erfolge nicht auch noch kümmern. Sie war erwachsen, sie würde schon klarkommen – obwohl 'verkraften' wohl eher das passende Wort war, das ich suchte. "Wo kommst du denn her?" Ich war kaum aus dem Haus herausgetreten und hatte die Tür hinter mir geschlossenen, schon ertönte diese Stimme. Irritiert, da ich nicht wusste, ob ich gemeint war oder nicht, drehte ich mich um und blickte auf einen Mann herunter. Er lehnte lässig an einer schwarzen, blank polierten Limousine und hielt eine Zigarette in der Hand, über seinem anderen Arm hing sein Jackett und bei dem Hemd, das er trug, waren die obersten zwei Knöpfe offen. Amüsiert und neugierig schaute er mich an. "Was?", wollte ich etwas verstört wissen und schaute mich um, um mich zu vergewissern, ob er wirklich mich gemeint hatte, aber außer mir war keiner auf der Straße. "Kennen wir uns?" Ich war mir ziemlich sicher, dass ich diesen Mann nicht kannte, aber er hatte mich geduzt und irgendwie so getan, als wäre er überrascht, mich zu sehen. "Noch nicht, aber gleich schon", versprach er und entblößte eine Reihe weißer Zähne, die sich von seiner gebräunten Haut abhoben. Oder, Moment mal - bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass es gar keine gebräunte Haut war - es war einfach sein natürlicher Teint. Sein Haar war rabenschwarz, kurz und nach hinten gekämmt. Ich nahm an, er war so etwas wie ein Italoamerikaner und außerdem der Chauffeur dieser Karre - Miss Ashworth's Karre! Man oh man, die Frau hatte ja anscheinend mehr Geld, als ich gedacht habe! Nicht mal Mr. Cooper fuhr so einen Wagen. Trotzdem war ich ein wenig skeptisch. Was wollte dieser Typ? "Nun guck doch nicht so. Ich bin Luca und du?" Also hatte ich wirklich recht gehabt. Langsam kam ich die Treppe herunter und blieb dann auf dem Bürgersteig stehen. "Anna", sagte ich und wartete, ob er mir die Hand hinstrecken würde, aber das tat er nicht. Stattdessen nahm er ganz gemächlich einen weiteren Zug und grinste mich dümmlich an. Irgendwie hatte er was... "Cool, Anna. Was machst du hier? Du bist doch nicht etwa... Tochter dieses Hauses?" Die letzten drei Worte sprach er extra geschwollen aus, auch ein bisschen spöttisch. Ich musste lächeln. "Nein. Ich bin das Kindermädchen der Töchter des Hauses", erklärte ich. "Und Sie... du bist der Chauffeur?" Das war zumindest ein Versuch, höfliche Konversation zu machen. "Was du nicht sagst", griente er und schwieg, sagte weiter nichts mehr. Ich war ein wenig verwirrt... ein seltsamer Typ. Und wie alt war er überhaupt? Ich schätzte ihn so auf Ende Zwanzig, aber andererseits war ich noch nie gut im Schätzen gewesen. "Also dann, Luca... ich muss los." "Cool", nickte er, und dann, als ich dabei war, mich abzuwenden, fiel ihm noch etwas ein: "Hey, wenn mein Boss deinen Boss rumkriegt, sehen wir uns noch öfter, was?" Ich warf ihm einen irritierten Blick zu, was vielmehr damit zusammenhing, dass sich in meinem Kopf ein Bild formte, wie Miss Ashworth Mr. Cooper... nun ja, 'rumkriegte'. Keine schöne Vorstellung. Igitt, irgendwie sogar eine, die mir ein wenig Übelkeit verursachte. "Äh, ja, stimmt...", sagte ich fahrig und nickte Luca abwesend zu. "Bis dann", rief er mir hinterher und hob zum Abschied die Hand, während ich bereits auf dem Weg zur U-Bahnstation war. F o u r ------- Ich weiß noch immer nicht genau, wie ich mich plötzlich in dieser Cocktailbar wiederfand, obwohl ich doch nach diesem reichlich anstrengenden Tag schon beinahe im Bett lag und nur noch schlafen wollte. Aber da saß ich nun, inmitten einer lauten, bunten Bar mit dunklem, schmutzigem Holzfußboden in Park Slope, einem Stadtteil von Brooklyn, und starrte die Cocktailkarte an, die Julie mir vor die Nase gelegt hatte. "Jetzt guck doch nicht so", beschwerte sie sich gutgelaunt und ich wusste nicht ganz, ob sie mich damit meinte oder Kelly, die ebenfalls so aussah, als sei sie hier völlig fehl am Platz. Fakt ist, dass Julie uns zusammengetrommelt hatte, weil sie wieder mal "ausgehen" wollte, um einen "klaren Kopf" von den ganzen Hochzeitsvorbereitungen zu bekommen. Außerdem hatten wir uns schon lange nicht mehr gesehen, womit sie durchaus Recht hatte, aber ich wäre jetzt trotzdem lieber im Bett. Das "Commonwealth" war eine kleine, gemütliche Collegebar mit Rockmusik, die hauptsächlich von Studenten und anderen, eher jungen Leuten, besucht wurde. Aber das war nicht der Grund, weshalb wir hier waren. Der Grund hatte kurze, blonde Haare, die durch das Wunder "Haargel" interessant vom Kopf abstanden, eine längliche Narbe direkt unter dem Ohr, die er einem unglücklichen Footballspiel in der Highschool zu verdanken hatte und blaue Augen, deren Ausdruck ich nur allzu gut kannte. Er kam grinsend auf uns zugeschlendert und blieb, mit dem Notizblock bewaffnet, an unserem Tisch stehen. "Hey Mädels. Hi Annie. Lang nicht gesehen." Jamie fuhr mir mit den Fingern durch mein Haar und lachte, als ich ihm einen genervten Blick zuwarf, der besagte: "Entweder du lässt es bleiben oder du bist tot!" Das kannte er schon. "Hi Jamie", flötete Julie, die schon seit Jahren total in meinen jüngeren Bruder verschossen war. Nicht ernsthaft verliebt, aber doch verknallt genug, um uns immer wieder hierher schleppen zu müssen, um ihm ein paar Mal im Monat beim Arbeiten zusehen zu können. Jamie arbeitete nämlich hier, aber es war nur ein kleiner Nebenverdienst neben dem College, um wenigstens sein Zimmer im Studentenwohnheim bezahlen zu können. "Ich wusste gar nicht, dass du heute Dienst hast", trieb es Julie weiter auf die Spitze und strahlte ihn an. Er war zwar ein Jahr jünger als sie, aber das schien ihr nichts auszumachen. Und Jamie, so naiv wie eh und jäh, kapierte überhaupt nichts. "Natürlich wusstest du das nicht...", murmelte ich leise und rollte unbemerkt die Augen, woraufhin Julie mich unter dem Tisch ganz gemein ins Schienbein trat. "Wisst ihr schon, was ihr wollt?", fragte Jamie ganz geschäftig. Ich wusste, das war nichts Persönliches, aber die Kellner sollten sich nicht allzu lange mit ihren Gästen aufhalten. Schließlich waren sie ja hier, um zu arbeiten und nicht, um einen Plausch zu halten. "Ich hätte gerne Sex on the Beach", erwiderte Julie wie aus der Pistole geschossen und ohne rot zu werden und sah ihn dabei ganz direkt an. Pflichtbewusst notierte sich Jamie ihren Wunsch, ohne auf ihre Avancen einzugehen. "Für mich eine Cola. Mit extra viel Koffein, wenn's geht", maulte ich. "Ich muss schließlich wach bleiben." Ich warf Julie einen vernichtenden Blick zu, die mich ignorierte. "Alles klar. Eine Extraportion Koffein für Schwesterherz." Jamie grinste. "Und du, Kel?" Kelly, die sich bis dato ganz ruhig verhalten hatte, schaute nun endlich auf und schien ganz und gar unentschlossen. "Ich glaube... ich brauch‘ was Härteres." Julie, ich und sogar Jamie rissen überrascht die Augen auf. War das tatsächlich die gute, alte Kelly, die fast nie trank und wenn, dann nur Softgetränke mit wenig Alkoholgehalt? Und die verlangte gerade "etwas Härteres"? Auch Jamie, der meine Freundinnen mindestens ebenso lange kannte, wie ich selbst, blinzelte ein paar Mal irritiert. "Äh, etwas Härteres? So etwas wie... einen doppelten Scotch?", hakte mein Bruder unsicher nach, als hoffte er, Kelly würde erstaunt den Kopf schütteln und etwas in der Art sagen wie: "Nein, ich meinte eigentlich einen Kirsch-Bananen-Saft". Sagte sie natürlich nicht. Sie nickte nur. Nachdem Jamie gegangen war, stützte Julie ihren Kopf in die Hand und starrte Kelly unverwandt an. "Was ist los, Kel?", verlangte sie zu wissen. Kelly war jemand, dem man die innere Unruhe und Sorgen sofort ansehen konnte und deshalb war es für sie unmöglich, etwas vor uns geheim zu halten. Leider ließ sie sich auch viel zu schnell von ihren Problemen runterziehen. "Gar nichts", murmelte sie und vermied es, eine von uns anzusehen. Nach einigen Sekunden des Schweigens seufzte sie schließlich, bemerkte, dass sie uns nichts vormachen konnte. "Max hat Schluss gemacht. Endgültig." Julie und ich sagten nichts. Das kam nicht unerwartet. Nach der wochenlangen "Beziehungspause" war es nur der nächste Schritt, der von einem der beiden getan werden musste. Dass nicht Kelly diejenige sein würde, war von Anfang an klar gewesen. Ich befürchtete, sie würde auf der Stelle in Tränen ausbrechen, aber sie hielt sich tapfer. Wahrscheinlich hatte sie sich schon zu Hause die Augen ausgeweint und konnte nun nicht mehr. Julie legte ihre Hand auf Kelly's Arm und setzte eine sorgenvolle Miene auf. "Das tut mir leid, Kel. Aber... ich meine... hast du es denn nicht kommen sehen?", fragte sie vorsichtig. Kelly, irgendwie nicht richtig anwesend heute, zuckte mit den Schultern. Ob das ein ja, nein oder vielleicht war, konnte ich nicht ganz genau sagen. Aber zu mehr ließ sie sich nicht hinreißen. Sie tat mir leid. Erst der Tod ihres Dads, dann die Krankheit ihrer Mum und nun auch noch ihr Freund, der sie verließ. Konnte man soviel Pech auf einmal haben? "Ähm... meinst du nicht, du solltest deine Mum in ein... äh, Heim geben?" Bei diesem Thema musste man extrem vorsichtig sein, denn Kelly war da sehr empfindlich. Sofort starrte sie mich hellwach und entsetzt an. "Wie kannst du so etwas sagen, Annie?", zischte sie erbost. "Sie ist meine Mutter! Bedeutet dir das denn gar nichts?" Unwohl wand ich mich auf meinem Stuhl. Ich wusste doch, dass ich das Thema nicht hätte ansprechen sollen. Ich konnte jedes Mal nur froh sein, dass ich nicht mit körperlichen Verletzungen davonkam. "Doch, natürlich... ich denke nur... deine Mum hätte so ein Leben für dich doch auch nicht gewollt, oder?" Das würde mein letzter Versuch sein, sie umzustimmen. Kelly konnte zwar nicht viel stärker oder schwerer sein als ich, aber die Kraft einer verzweifelten Frau, die nichts mehr zu verlieren hat, sollte man nicht unterschätzen. Doch anstatt sich auf mich stürzen, wurde ihr Blick wieder ein wenig weicher und abwesender. "Sie hat sich dieses Leben für sich selber sicher auch nicht gewünscht", sagte sie leise und betrachtete die schmutzige Tischplatte aus dunklem Holz. Da hatte sie allerdings Recht. Kelly hat es sich nicht gewünscht, schon mit 25 eine Halbwaise zu sein, Kelly's Mutter hatte nicht um ihre Krankheit gebeten und ich habe mir nicht gewünscht, für drei kleine Kinder verantwortlich zu sein und jeden Tag meinem Alptraum - also meinem Boss - von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Deshalb wollte ich Kelly im Moment auch nicht treffen. Sie zog mich runter und erinnerte mich daran, dass meine Probleme gar keine Probleme waren. Und daran erinnerte ich mich viel zu ungern, denn ich liebe es, im Selbstmitleid zu versinken, wie es sich für eine Frau gehört. "Na, na." Julie tätschelte mit aufgesetztem Grinsen Kelly's Arm und versuchte, die angespannte Atmosphäre ein wenig aufzulockern. "Ich bin sicher, es wird sich bald alles ins Gute wenden, du wirst schon sehen", sprach sie ihr Mut zu und erntete dafür ein wenig überzeugtes, aber dankbares Lächeln von Kelly. Nachdem Jamie uns unsere Getränke gebracht und Julie ein paar auffällige und unangebrachte Anzüglichkeiten ein seine Richtung abgelassen hatte, die er entweder nicht verstand oder aber ignorierte, befand sie es an der Zeit, sich einem viel interessanteren und spannenderen Thema zu widmen. "Gibt es etwas Neues?", hakte sie lauernd nach, mich mit ihren Blicken festnagelnd. "Oder jemand Neues?", fügte sie unschuldig grinsend hinzu. Ich verdrehte die Augen. Nicht nur, weil sie mich das jedes Mal fragte, wenn wir uns trafen... nein! Sie benutzte dabei jedes Mal genau denselben Wortlaut! "Ganz bestimmt nicht", versicherte ich ihr knapp. Wo sollte ich denn auch schon jemanden kennenlernen? Während ich die Küche der Coopers schrubbte oder doch vielleicht, wenn ich nachts meine acht Stunden durchschlief? Julie schien enttäuscht. "Nicht mal ein bisschen? Trifft du denn keine Leute da bei diesem reichen Kerl?" Mit dem "reichen Kerl" meinte sie Mr. Cooper. "Na ja." Ich zuckte mit den Schultern. "Heute Abend war seine neue Freundin zum Essen da, aber die Kinder schienen nicht sehr begeistert von ihr zu sein. Und - oh!" Mir fiel ein, dass ich doch jemanden kannengelernt hatte. Obwohl "kennengelernt" etwas übertrieben wäre. Getroffen eben. Und zwar Clementia's Chauffeur, diesen merkwürdigen Italiener. Seltsam, dass das erst vor wenigen Stunden passiert war. Es kam mir vor, als wären schon Tage vergangen, so müde war ich! Julie hatte ein Händchen dafür, Sensationsstories zu wittern. "Was 'oh'?", drängte sie und starrte mich neugierig mit aufgerissenen Augen an. Auch Kelly schien halbwegs interessiert, nachdem sie ihr "hartes" Getränk in einem Zug geleert hatte. Ich zögerte, obwohl das zweifelsohne das war, was die zwei wissen wollten. "Da war dieser... der Chauffeur von Miss Ashworth, Mr. Cooper's neuer Freundin. Der stand vor dem Haus, als ich gegangen bin." Mehr brauchte ich nicht zu sagen, denn der Stein war bereits ins Rollen gekommen. Julie's Augen glitzerten. Als selbsternannte Kupplerin liebte sie jede Art von "Mädchen trifft Junge"-Geschichten. Ich entschied mich dafür, ihr die Vollversion zu erzählen und ein bisschen dicker aufzutragen, damit sie nachts nicht wach liegen und sich Sorgen um mein nicht-existentes Liebesleben zu machen brauchte. "Er heißt Luca, ist Italiener und ganz süß", erklärte ich mit fehlendem Enthusiasmus. Mist, daran, mich wie ein verknallter Teenanger aufzuführen, musste ich aber noch arbeiten! Julie machte das allerdings nichts aus - sie brachte genug Begeisterung für uns drei mit. "Seht ihr euch wieder?" Mir schien, als hätte Julie ein paar grundlegende Fragen übersprungen, beispielsweise: "Wie sieht er aus?" oder sogar: "Habt ihr miteinander geredet?" "Äh... möglicherweise", räumte ich vorsichtig ein. Wenn Clementia 'Clemi' Ashworth uns mal wieder mit ihrer glorreichen Anwesenheit beehren würde, dann sicherlich. Julie grinste. "Wunderbar. Siehst du, du musst dich nur ein wenig anstrengen, dann klappt das schon. Wartet... ich muss mal auf die Toilette." Während ich ihr fassungslos hinterher starrte, schlängelte sie sich durch die eng aneinandergereihten Tische und Stühle mit abgewetzten Lehnen, die keineswegs zueinander passten und alle bunt durcheinander gewürfelt waren, und verschwand in der roten Tür zur Damentoilette, gleich neben der alten Jukebox, die hin und wieder von einem übermütigen Studenten benutzt wurde, was allerdings eher selten vorkam. Kelly lächelte entschuldigend. "Hast du dich wirklich mit ihm verabredet?", fragte sie sanft, als wüsste sie bereits, dass Julie mal wieder vom ersten in den fünften Gang geschaltet hatte, ohne nachzudenken. Ich schüttelte den Kopf. "Nö, überhaupt nicht. Er stand nur vor dem Haus und wir haben kurz miteinander geredet, mehr nicht." Sie nickte. "Typisch Jules. Sie ist immer so voreilig und will alles auf der Stelle erledigt haben." Das stimmte. Julie, die als Eventplanerin fungierte, wollte alles oder nichts, und das am liebsten auf einmal. Sie war höchst organisiert, aber übersprang hin und wieder ein paar grundlegende Sachen, die andere möglicherweise nützlich fanden. In Ihrem Job hatte sie damit nie Probleme - außer bei den anderen Angestellten, die ihren Ideen und Taten nicht ganz folgen konnten -, aber privat war es etwas irritierend. Doch nichts, woran man sich nicht gewöhnen konnte. "Tut mir leid", entschlüpfte es mir und ich war selbst ganz überrascht, mich das sagen zu hören. Das hatte ich nicht geplant. "Wegen vorhin. Was ich über deine Mutter gesagt habe..." Ich war nicht der Typ, der sich gerne und oft entschuldigte, also wurde ich ein wenig rot und rutschte verlegen auf meinem Stuhl hin und her. Irgendwie hatte mich plötzlich das Bedürfnis überkommen, mich bei Kelly zu entschuldigen. Sie hatte es schon schwer genug, oder etwa nicht? Kelly lächelte wehmütig. "Schon gut, Annie. Ich weiß ja, dass du Recht hast. Aber ich bringe das einfach nicht über mich." Ich nickte verständnisvoll. Ich hätte wahrscheinlich auch Bedenken dabei, einen meiner Elternteile einfach abzuschieben. "Und", fuhr sie etwas trauriger fort, "jetzt, wo ich mich nicht mehr um Max kümmern muss, hab ich mehr Zeit für sie..." Sie klang allerdings gar nicht so, als würde sie sich darüber freuen, deshalb schwieg ich unbehaglich. "Wollt ihr noch was?" Jamie stand wieder an unsrem Tisch und wippte mit dem Fuß zu der Rockmusik, die aus den Lautsprechern dröhnte. Wie immer hatte er diesen zufriedenen, ausgeglichenen Gesichtsausdruck, der mich ganz neidisch machte. Wie kam ein einzelner Mensch bloß dazu, so glücklich und befriedigt auszusehen - und wahrscheinlich auch zu sein? Wie schaffte er das? So war es schon seit unserer Kindheit gewesen. Während Sandra - unsere älteste Schwester, mit Leib und Seele Karrierefrau - und ich uns fast die Köpfe einschlugen, war Jamie immer der ruhende Pol gewesen, niemals laut, niemals unglücklich, niemals gestresst. Zumindest kam es mir so vor. "Für mich nichts mehr, danke. Ich glaube, ich kriege Kopfschmerzen", beschwerte sich Kelly und lächelte verlegen, dachte wahrscheinlich an ihren nicht ganz freiwilligen Ausflug ins Scotch-Land, den sie jetzt anscheinend schon bereute. Gut so. Jamie schien erleichtert. Ich schüttelte ebenfalls den Kopf, um ihm zu bedeuten, dass ich nichts mehr brauchte. "Ich muss dringend ins Bett", gähnte ich. "Aber fahr nicht alleine mit der U-Bahn", riet mein Bruder mir besorgt. "Soll ich dir ein Taxi rufen?" Ich grinste. "Nein danke. Viel zu teuer für mich. Aber Jules und Kel müssen ja auch in die Richtung." Wir wohnten zum Glück alle nicht so weit auseinander. Julie lebte zwar ein wenig außerhalb und musste nicht so lange mit der Bahn fahren, aber Kelly stieg nur eine Haltestelle vor mir aus, weil uns nur wenige Meilen voneinander trennten. Die Mieten in Brownsville waren eben nicht besonders hoch, glücklicherweise. Jamie runzelte die Stirn und nickte uns dann zu. "Okay, passt auf euch auf, Mädels." Ich sah meinem Bruder ein wenig wehmütig hinterher. Was für ein Leben führte er wohl? Ich kannte natürlich die Eckdaten - Student, Nebenjob, Freunde, und so weiter -, aber wie sah sein Alltag aus, worüber redete er mit anderen, worüber lachte er, worüber machte er sich Gedanken und am allerwichtigsten: hatte er es viel einfacher in diesem Leben als ich? Ich kam mir vor wie ein Fisch auf dem Trockenen. Obwohl ich einen Job hatte, fühlte ich mich arbeitslos. Niemand konnte mir vorgaukeln, dass den Haushalt führen und auf Kinder aufpassen eine anständige Arbeit für erwachsene Leute ist! Es war irgendwie... erniedrigend. Wie konnte ich nur in so eine Situation hineingeraten?! Während ich noch in meine Gedanken versunken war und Kelly an meiner Cola nippte - sie wusste, dass sie das durfte -, kehrte Julie zurück und setzte sich wieder zu uns an den Tisch. "Schade, gerade hast du Jamie verpasst", grinste ich sie an und setzte noch einen drauf: "Nur um zwei Sekunden!" Julie schaute bestürzt drein. "Wirklich?" "Ja, und wir gehen jetzt. Es ist spät." Es war 22 Uhr, aber für Leute wie Kelly und mich war 22 Uhr spät genug. Julie schaute noch bestürzter drein. "Was, schon?" Dann warf sie einen heimlichen Blick zu Jamie, der gerade einen anderen Tisch bediente. "Wir haben kaum geredet..." Und Jamie kaum angestarrt, fügte sie wahrscheinlich in Gedanken hinzu. "Es wird andere Tage geben, Jules", sagte ich erbarmungslos. "Ich kann dir ein Foto von Jamie geben, das du anschmachten kannst, wenn du das willst." Kelly konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen und Julie warf mir einen tadelnden Blick zu. Da sie nichts sagte, ergriff ich wieder das Wort. "Ich versteh echt nicht, was du an ihm findest. Warum fragst du ihn nicht einfach, ob er mit dir ausgeht?" Während ich das sagte, erhob ich mich vom Stuhl und schlüpfte in meinen Mantel, den ich über die Stuhllehne gehängt hatte. "Ach was." Sie besaß doch tatsächlich die Dreistigkeit, rot zu werden wie eine Tomate. "Das ist nichts. Ich meine, er ist ganz süß und so, aber... er ist nicht so mein Typ, wisst ihr." Ich schnaubte. Aha, ganz süß und so, aber nicht ihr Typ. "Du traust dich bloß nicht", feixte ich. So vorlaut und frech sie manchmal sein konnte, so schüchtern wurde sie auch hin und wieder. Solange Jamie sie ignorierte, hatte sie kein Problem damit, ihn anzuflirten, aber ich wette, sollte er einmal darauf angehen, dann würde ihr bald die Luft ausgehen. Und das sogar ziemlich schnell. "Halt die Klappe, Annie", maulte sie trotzig und reckte ihr Kinn vor, "er ist immerhin dein kleiner Bruder. Das kann ich nicht machen. Und er ist jünger als ich", fügte sie hinzu. Ich zuckte mit den Schultern. "Das macht mir nichts aus." Und Kelly kicherte. "Aber Julie schon", fügte sie hinzu. Ich war erstaunt. Nach dem doppelten Scotch hatte sich ihre Laune wirklich gebessert, auch, wenn sie immer noch so todtraurig aussah, als würde sie sich jeden Moment von der Brücke stürzen. Das war zumindest ein Anfang. Schon bald würde es ihr besser gehen, davon war ich überzeugt. Und Max - wer braucht schon einen Kerl, der seine Freundin in einer so schwierigen Situation alleine lässt? Mitten in meine Gedanken hinein knurrte Julie verächtlich und schüttelte fassungslos den Kopf. Als seien wir alle Schwachsinnige, die sie nicht verstehen. Ich ließ meinen Blick zur Theke schweifen und erkannte zwischen den Köpfen einiger Gäste, die sich auf den schwarz-silbernen Barhockern tummelten, meinen Bruder, der gemächlich ein Glas abputze. Er fing meinen Blick auf und winkte mir fröhlich zu, die gelben Leuchter, die von der Decke hingen und einander ebenfalls überhaupt nicht glichen, tauchten ihn in oranges Licht, sodass sein blondes Haar und seine helle Haut irgendwie rötlich wirkten. Einige Gäste drehten sich nach mir um, um zu gucken, wem Jamie da zugewunken hatte und er sagte etwas, wahrscheinlich so was wie „Das ist meine Schwester“, woraufhin sie nickten und sich wieder desinteressiert abwandten. Ich stieß die Tür auf und trat hinaus in die kühle Abendluft, zog meinen Mantel fester um mich. "Wohnt dein Mr. Cooper nicht hier irgendwo?", wollte Julie neugierig wissen und blickte sich interessiert um, als könnte sie ihn hier irgendwo mitten in Park Slope entdecken. Na wohl kaum. "Äh, na ja…" In der Nähe nun nicht unbedingt und was sollte "dein Mr. Cooper" überhaupt bedeuten?! Aber bevor ich das klären konnte, feixte Julie bereits und grinste verschlagen. "Ich würde ihn gerne mal sehen. Ist er wirklich so schrecklich, wie du sagst? Zeig uns doch mal sein Haus. Das ist bestimmt eins dieser neureichen Villen-" "Du spinnst, Julie", stellte Kelly, stets die Vernünftige, kopfschüttelnd klar, während mir noch immer der Mund offen hing. "Sollen wir mitten in der Nacht in Brooklyn‘s reichstem Stadtviertel herumschleichen und nachher von der Polizei aufgegabelt werden? Also echt nicht." "Und außerdem bin ich dann meinen Job los", warf ich noch ein, weil mir diese kleine Tatsache am wichtigsten erschien. "Langweilige Spielverderber", murmelte Jules. "Wir sollten uns beeilen, Mädels. Die Bahn kommt in sechs Minuten", verkündete Kelly nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr und beendete somit unser kleines Streitgespräch. Ich musste dringend ins Bett. Der Abend mit Julie war fast noch anstrengender, als elf Stunden am Stück für die Coopers zu arbeiten. F i v e ------- Ich war gut gelaunt an diesem Morgen - die U5, die U-Bahnlinie von meinem Wohnort bis zu Mr. Cooper's, war nicht so überfüllt wie sonst immer und ich hatte meinen geldbringenden Job noch - zumindest, bis ich in der Cranberry Street ankam und vor der Haustür fast mit Mr. Cooper zusammenstieß. "Oh, Entschuldigung, Sir", stotterte ich, obwohl er derjenige war, der mich beinahe umgerannt hatte. "Anna", sagte er nur und starrte mich schweigend an. Irritiert zog ich die Augenbrauen in die Höhe und sah ihn fragend an. Er hatte seine Autoschlüssel in der einen, seine Ledertasche in der anderen Hand. Sein dunkler Anzug saß perfekt, genauso wie die Krawatte. Schnell wandte er den Blick ab und starrte nun stattdessen über meine Schulter an mir vorbei. "Sie sind spät dran", verkündete er sodann, was mich noch mehr verwirrte und mich dazu veranlasste, einen Blick auf meine Armbanduhr zu werden. Ich war sogar sehr pünktlich. "Entschuldigung", murmelte ich trotzdem und betrachtete seinen Krawattenknoten. Ich kam mir blöde dabei vor, ihm ins Gesicht zu schauen, wenn er sich nicht einmal dazu herblassen konnte oder wollte, mich direkt anzusehen, während er mit mir redete. "Nun..." Er räusperte sich und betrachtete irgendeinen Punkt auf oder hinter meinem Ohr. "Ich würde nach der Arbeit gerne mit Ihnen reden. Wenn Sie also heute fünf Minuten länger bleiben könnten?" Ich wurde nervös. Ich wusste ganz genau, worüber er mit mir reden wollte. "Äh, ist es wegen gestern?", wollte ich wissen. "Wegen dem Essen und..." Er unterbrach mich. "Nein, nein. Darum geht es nicht. "Dann warf er einen hastigen Blick auf sein Handgelenk. "Entschuldigen Sie mich bitte." Ich ging verunsichert einen Schritt zur Seite und ließ ihn vorbei. Wenn er mit mir nicht über's Essen reden wollten, dann sicher über Simon... oder mein unmögliches Benehmen gestern. Oder über die Tatsache, dass Miss Ashworth mich hier gesehen hatte. Aber so peinlich war ich nicht und ich war immer der Ansicht gewesen, dass niemand sich für mich zu schämen brauchte. Mr. Cooper war ein Idiot, wenn ich ihm wirklich peinlich war. Mein arbeitgebender, geldbringender Idiot. Er hatte mich ja gar nicht erst einstellen müssen, wenn das tatsächlich der Fall sein sollte... Noch bevor ich ins Haus kam, war ich meine gute Laune flöten gegangen und wurde durch eine dunkle Gewitterwolke über meinem Kopf ersetzt. In der Küche fand ich nur Simon vor, der auf dem Stuhl kippelte und gedankenverloren aus dem Fenster starrte, ein unangetastetes Marmeladenbrot in der Hand. "Hey Simon", sagte ich und stellte meine Umhängetasche ab. Er erschreckte sich ein wenig und setzte sich sofort ordentlich hin, schien aber erleichtert, dass nur ich es war, die ihn beim Kippeln erwischt hatte. "Wo sind die Mädchen?" "Ziehen sich um", murmelte er und legte das Brot weg. Ich betrachtete ihn genauer. Er sah müde und lustlos aus und ganz eindeutig war dieses Marmeladenbrot nicht seine Idee gewesen. Simon aß nie Marmelade. Er stand mehr so auf salziges Zeug, wie Erdnussbutter oder Chips, zur Not auch irgendwelche ungesüßten Cornflakes. Die Mädchen waren da schon anders, sie verzehrten sich nach allem, was auch nur den Anschein erweckte, gezuckert zu sein - ganz schlimm waren diese Schokogetreideflocken, die es in Supermärkten in Hülle und Fülle gab. "Chocoloops" oder "Chocorice" hießen die Dinger meistens, waren kugelnrund und braun und ließen anscheinend Kinderherzen höher schlagen. Trotzdem konnte ich nicht verstehen, warum Simon hier unten hockte und gewaltsam frühstückte, wenn er doch sowieso einen - gezwungenermaßen - freien Tag hatte. "Warum bist du schon auf?", wollte ich von ihm wissen, während ich mir Orangensaft in ein Glas einschenkte. "Dad", erwiderte er bloß, als sei dieses eine Wort die Antwort auf alle Fragen. Und schließlich war es ja genau so. Ich fragte trotzdem nach. "Dad?" "Er hat gesagt, ich sollte genau wie die anderen auch aufstehen und den Vormittag über lernen...", murmelte er missmutig und warf mir einen gelangweilten Blick zu. Aha. Es wohl eines dieser Gespräche gewesen, in der Art von "Mein Sohn, es gibt keinen Grund, auf eine Suspendierung stolz zu sein oder sich auf die faule Haut zu legen" und so weiter. Im Grund alles nur Bestrafung. Der Sklaventreiber! "Ab mit dir ins Bett", kommandierte ich. "Aber sag deinen Schwestern nichts davon." Er starrte mich mit großen Augen an. "Aber..." "Simon. Du hast frei, es ist früh... geh schlafen, oder setz dich mit einer Tüte Chips vor den Fernseher und schau dir das Vormittagsprogramm an. Mach irgendetwas, was normale Jungen in deinem Alter machen, wenn sie die Schule schwänzen. Du wärst mir hier unten doch sowieso nur im Weg." Ich zwinkerte ihm zu. Er zögerte. "Aber Dad hat gesagt..." "Ist Dad hier?", unterbrach ich ihn bestimmt. Er schüttelte den Kopf. "Na also. Was Dad nicht weiß, macht Dad nicht heiß." Ich musste über meinen eigenen, blöden Spruch grinsen. Das war Sandra’s, Jamie’s und mein Motto gewesen, als wir noch Kinder waren. Und im Grunde war es doch sowieso das Motto eines jeden Kindes, oder etwa nicht? Er warf mir noch einen letzten unsicheren Blick zu und ich nickte aufmunternd, also stand er auf und gab zwar vor, gemächlich aus der Küche zu schlendern, jedoch hörte ich ihn daraufhin lautstark die Treppe hinaufpoltern und musste grinsen. Ich schaute aus dem Fenster, als ich den Tisch abräumte, und stellte fest, dass das Wetter noch immer schön war, wie in der Frühe, als ich meine Wohnung verlassen hatte. Es versprach, ein warmer Tag zu werden, also konnte ich die Mädchen zu Fuß losschicken. Nicky würde zwar wie immer protestieren, aber ich hatte mich schon daran gewöhnt. Wenn sie nicht mindestens 75% meiner Anwesenheit lang an etwas herummäkelte, dann konnte ich mir relativ sicher sein, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Als hätte sie es förmlich gespürt, dass ich über sie nachdachte, betrat sie den Raum. "Hi Annie", grüßte sie, noch gut gelaunt. Ihre jüngere Schwester trottete hinter ihr her und lugte zu mir herüber. "Hallo ihr zwei", sagte ich und war froh, dass sie bereits angezogen waren. Die Lunchpakete waren - zu meinem großen Erstaunen - auch schon gepackt. "Fertig?" "Jepp. Fahr den Wagen vor", forderte Nicky mich auf und grinste. Ich war mir sicher, das hatte sie aus irgendeinem Film aufgeschnappt, wie so ziemlich jeden ihrer frechen Sprüche. "Heute mal nicht, Nicks" Ich griff nach den Brottüten und reichte sie den beiden, mich am Rande darüber wundernd, wenn sich denn hier die Mühe gemacht hatte, mir meine Arbeit des Brötchenschmierens abzunehmen. Nicky zog ein langes Gesicht. "Nach den dämlichen Muscheln gestern war mir echt übel, du könntest also ruhig ein bisschen Wiedergutmachung leisten!" Maddy kicherte und lugte in ihre Papiertüte. Ich ignorierte Nicole's Manipulationsversuche. "Was Gutes drin?", fragte ich an die Kleine gewandt, die mir strahlend zunickte. "Daddy hat mir Erdnussbutter mit Gelee draufgemacht", verkündete sie so stolz, als sei es ihr eigenes Werk gewesen. Ich wusste zwar, dass Erdnussbutter und Gelee Maddy am besten schmeckte, aber die andere Information irritierte mich sehr. Ich konnte mir Mr. Cooper bei langem nicht als brotschmierenden Hausmann vorstellen. Darum bemüht, keine allzu verwunderte Miene zu ziehen, blinzelte ich sie an. "Ach ja?" Sie nickte. "Ja, er hat es gestern Abend versprochen, als er mir noch vorgelesen hat und er hat es nicht veressen!" Sie war mächtig stolz auf ihren Vater. Und ich war mächtig erschlagen von der Flut an Infos. In meinem Kopf erschien ein Bild von Mr. Cooper, wie er abends an Maddy's Bett saß und ihr Märchen vorlas. Das allerdings konnte ich nicht in Einklang bringen mit dem Bild des immer gestressten, mürrischen Mannes, der mehr Zeit im Büro als zu Hause verbrachte. Hilflos blickte ich Nicky an, als würde sie mir jeden Moment verraten, dass Maddy sich nur über mich lustig machte, doch sie zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. "Sie schläft sonst nicht ein. Ist halt ein Baby." Der Seitenhieb saß und Maddy machte ein düsteres Gesicht. "Ich bin kein Baby! Du bist das Baby!", konterte sie, wirklich in dem Glauben, das würde Nicky ein wenig zurechtstutzen. Sie war wirklich allerliebst! "Buhu. Na, jetzt hast du's mir aber richtig gegeben." Sie verdrehte die Augen und stolzierte an der schmollenden Maddison vorbei zur Garderobe, um sich ihre Jacke zu holen. "Toll", murmelte Nicky, während sie sich anzog. "Simon hat hier den ganzen Spaß und wir dürfen in der Schule sitzen." Ich reichte Maddy ihren roten Mantel, den sie so liebte, damit sie hineinschlüpfen konnte. "Simon wird keinen Spaß haben. Er wird zu Hause bleiben und lernen", tröstete ich sie. Sie sollte nicht denken, dass sich Suspendierungen lohnten - obwohl sie es in meinen Augen natürlich taten. Aber ich war in dieser Welt ein ungebildetes, kleines Kindermädchen und wusste ohnehin nichts. Nicky seufzte. Ich befürchte, sie glaubte mir nichts. Ich hatte natürlich ganz andere Pläne mit dem Jungen. Doch zuerst widmete ich mich der Hausarbeit, wenn auch nur halbherzig. In diesem Männer-Kinder-Haushalt wurde Sauberkeit ohnehin nicht wertgeschätzt und ich bezweifle, ehrlich gesagt, ob überhaupt jemand den Unterschied bemerkte. Tatsächlich war es den ganzen Vormittag über still und Simon ließ sich nicht blicken - was eigentlich nicht sonderlich verwunderlich war. Wahrscheinlich holte er wirklich den Rest Schlaf nach, der ihm nach dem Aufwachen entgangen war. Als er kurz nach zehn Uhr doch auftauchte, um sich etwas zu essen zu holen, grinste ich ihn vielsagend an. Simon runzelte verunsichert die Stirn, ahnte wohl schon, dass ich etwas mit ihm vorhatte. "Mach dich fertig, wir machen einen kleinen Ausflug." Er war misstrauisch. "Wohin denn?" "Ach." Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. "In den Supermarkt. Ins Kino." Mit großen Augen starrte er mich an, schwieg, ganz der folgsame Sohn. "Die Kinosäle sind schön leer um diese Uhrzeit und du willst doch nicht den ganzen Tag hier rumsitzen? Das ist ungesund." Ich hatte mir das feste Ziel gesetzt, Simon wenigstens ein bisschen näher zu bringen, was "Spaß" bedeutete. Hier, mit so einem Vater und lauter Mädchen um ihn herum – obwohl ich auch eins war, aber ich wusste wenigstens, was cool war -, bekam er wohl nicht soviel davon ab und es wunderte mich kein bisschen, dass er so ein ernster, ruhiger Junge war, der seine Aggressionen dann und wann anderswo herauslassen musste. "Dad würde so was nie erlauben", flüsterte er, als würde er befürchten, in dem Raum wären Wanzen angebracht und sein Vater bekam alles mit, was hier so Illegales getrieben und geredet wurde. "Dad muss es ja nicht erfahren", grinste ich, fühlte mich aber gleichzeitig, als würde ich ein Verbrechen begehen. Wenn "Dad" das herauskriegen würde, dann wäre ich dran, aber so was von! Immerhin stellte ich ja hier seine Erziehungsmethoden in Frage, beziehungsweise... setzte sie einfach außer Kraft. Aber er und ich, wir mussten ja nicht immer gleicher Meinung sein, oder? So rechtfertigte ich mich zumindest vor mir selbst. Und Simon würde uns schon nicht verpfeifen, zumindest hoffte ich es. Dieser haderte noch mit sich selbst und war noch nicht ganz von dieser Idee überzeugt. "Und wenn er fragt...?" "Dann sagen wir, dass wir einkaufen waren. Da müssen wir sowieso noch hin." Das Alibi war wasserdicht! Zumindest, solange keiner von uns beiden einen Pieps zu Mr. Cooper sagte... Was das wirklich ich gerade, die versuchte, einen zwölfjährigen Jungen dazu zu bringen, seinen eigenen Vater anzulügen? Ich fühlte einen kleinen Anflug von Schuldbewusstsein, schob diesen Gedanken jedoch schnell beiseite. Dann bemerkte ich Simon's zweifelnden Gesichtsausdruck. "Keine Sorge. Wenn er etwas herausfindet, dann bin ich diejenige, die einen drauf kriegt", beruhigte ich ihn lächelnd. Und es stimmte ja auch - Simon würde nichts passieren. Es beruhigte ihn tatsächlich und dann flackerte kurz so etwas wie selten gesehene Vorfreude in seinen Augen auf, als er mich gespannt ansah. "Was schauen wir denn?", wollte wieder leise wissen, aus Angst vor den Wanzen. Ich zuckte mit den Schultern und verkniff mir ein Lächeln. Ich hatte ihn doch noch rumgekriegt und es beruhigte mich zu sehen, dass irgendwo tief unter dieser spaßlosen Fassade doch ein Junge steckte, der gerne Regeln brach und etwas Spaß haben wollte. "Was immer du willst, außer, es ist für Erwachsene." Diese Ansage hätte ich mir auch sparen können. Als würden um elf Uhr vormittags irgendwelche Pornofilme in den Kinos laufen! Er grinste. "Ich schaue im Internet nach, was läuft!", verkündete er aufgeregt und lief schnell hinaus. In der Tat taute Simon im Laufe des Tages auf. Ich nahm ihn mit in mein Lieblingskino, in der Nähe meines Wohnortes, ein kleines schlechtbesuchtes Kino mit nur zwei Kinosälen, die beide in etwa die Größe meiner Wohnung hatten, was ja schon eine Menge aussagt. Es war eine eher altmodische Einrichtung und deshalb gefiel es mir dort auch so gut. Die dunkelroten Vorhänge aus schwerem Samt zogen sich, sobald die Lichter ausgingen, automatisch zurück und die Sitze waren kuschelig weich. Einmal war ich sogar eingeschlafen, mitten im Film, nach einem harten Tag bei der Arbeit. Damals arbeitete ich noch bei Banks & Co., einem kleinen Finanzunternehmen, und hatte am Ende des Tages sogar noch genug Kraft und Zeit, mir einen Kinobesuch zu gönnen. Mittlerweile war das anscheinend nur noch möglich, wenn die Kinder von der Schule flogen und ich mich ihnen rausschleichen musste. Wie traurig war mein Leben doch geworden! Mit der Ticket- und Popcornverkäuferin des Kino war ich schon per Du. Nicht, weil ich so oft herkam, sondern weil die Kindschaft - nun ja, aus einem nicht gerade sehr großen Kreis von Eingeschworenen bestand. Ich wette, Sandy, also die Popcornfrau, konnte breites Statistiken darüber aufstellen, welcher Kinogast wie oft kam, an welchen Wochentagen und zu welcher Tageszeit. Bestimmt wunderte sie sich, dass ich plötzlich mitten in der Woche, an einem Vormittag, und zusammen mit einem Jungen hier auftauchte, so sah sie zumindest aus, als sie mich aus ihren großen Augen, die unglücklicherweise durch eine nicht gerade schmeichelhafte Brille mehr als nur riesig wirkten, anstarrte. Simon war die ganze U-Bahnfahrt lang sehr still gewesen und hatte die Leute aus wilden Augen angeschaut. Klar, die meisten von ihnen waren weder reich, noch konnten sie sich wahrscheinlich ein Auto leisten, aber ich fragte mich, ob der Junge überhaupt schon mal mit der U-Bahn gefahren war. Misstrauisch beäugte er sie alle: Jugendliche, die höchstwahrscheinlich gerade die Schule schwänzten und Igelfrisuren hatten - ja, auch die Mädchen -, schwangere Frauen, alte Omas mit Gehstöcken, Obdachlose, von denen kein besonders wohlriechender Duft ausging, ein paar wenige Businessmänner in Anzügen, die allesamt beschäftigt und wie Mr. Cooper aussahen, kleine Kinder, die jammernd an den Händen ihrer Mütter hingen und den Rest. Der Rest bestand aus solchen Leute wir mir, nicht besonders auffällig, jung, in bequemeren, legeren Klamotten und allesamt mit einem gehetzten Gesichtsausdruck und einem Pappkaffeebecher in der Hand. Vielleicht sogar Studenten. Wahrscheinlich hatte Simon noch nie so viele "einfache" Menschen auf einem Haufen gesehen und war von dem Anblick schier erschlagen. Ja, da draußen gibt es sie wirklich, die Annas dieser Welt, die nicht in privilegierten Verhältnissen groß werden und auf teure Privatschulen verzichten müssen. Auch, als wir ausstiegen und eine Weile durch die Gegend liefen, betrachtete der Junge genauestens seine Umgebung. Alte, leerstehende Fabrikgebäude, verkommene Vorgärten, ungepflegte Reihenhäuser, verschmutzte Straße und nirgends ein Park oder eine Grünanlage in der Nähe. New York für das gewöhnliche Volk eben. Wenn man zu der oberen Schicht gehörte, sah es nicht so aus, natürlich nicht, aber hier lebte ich - ein gewöhnlicher Mensch in einem gewöhnlichen Stadtteil für gewöhnliche Leute. Wenn ich das alles so mit Simon's Augen betrachtete, war es wirklich ein trostloses Plätzchen. Aber seine Augen sahen nicht alles und ich kannte zum Glück auch die schönen Seiten dieser Gegend. Zumindest brachte es einige Vorteile, und wenn man sich auskannte, war es gar nicht mal so übel. Immerhin war es immer schön ruhig und niemand randalierte, die Miete war vergleichsweise günstig und die vielen kleinen Läden hatten Persönlichkeit und - ja, sie waren auch günstig! Wir sahen uns irgendeinen Animationsfilm mit sprechenden, chaotischen Tieren aus dem Weltall an, der ganz lustig war, und wie ich vorhergesagt hatte, waren wir beide – mal abgesehen von den zwei knutschenden Teenagern in der dunkelsten Ecke des Saals - die einzigen Besucher an diesem Vormittag, was eigentlich wenig verwunderlich war. Im Supermarkt um die Ecke kauften wir ein wenig ein, nur das nötigste für das Abendessen. Mr. Cooper hatte mir zwar zu Anfang gesagt, das sich ihm Einkaufszettel schreiben könnte, wenn ich etwas für den heimischen Kühlschrank anschaffen wollte, aber das hatte ich mich bis jetzt noch nie getraut. Stattdessen versuchte ich immer, etwas aus den bestehenden Zutaten zu zaubern und da die Coopers genug davon vorrätig hatten, war ich noch nie in Bedrängnis gekommen. Ich musste ja auch kaum kochen, mal abgesehen für das Abendessen. Die erste Zeit war ich immer furchtbar nervös gewesen, da Mr. Cooper auch aß, was ich kredenzte, aber er hatte sich nie beschwert, also sah ich keinen Grund dazu, etwas härtere Geschütze aufzufahren. Vorerst würde es also bei Spaghetti, Kartoffelbrei und Reis bleiben, natürlich alles mit gesundem Gemüse und ein wenig Fleisch, der Kinder wegen. Ich hasste Gemüse, aber ich musste es ja auch nicht essen. Die Kinder hassten es übrigens auch. Wir waren erst am Nachmittag wieder zu Hause, und da dauerte es auch nicht mehr lange, bis die Mädels aus der Schule kamen. Mit Simon, der sich jetzt nach oben verzogen hatte, um freiwillig ein bisschen für die Schule zu arbeiten, hatte ich nicht darüber reden können, deshalb kam mir Nicky jetzt ganz gelegen, als sie sich, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester, zu mir ins Wohnzimmer setzte, während ich mir beim Bügeln eine spanische Telenovela anschaute. Nicht, dass ich so etwas mochte, aber irgendwie musste man sich ja die Zeit vertreiben und diese höchst melodramatischen Ereignissen, die den Figuren da zustießen, lenkten mich einigermaßen von meinem trostlosen Kindermädchendasein ab. "Wie war es gestern?", fragte ich neugierig und stellte den Ton des Fernsehers leiser, damit mir auch ja keine pikanten Details entgingen. Nicky sah so aus, als schien sie nur auf diese Gelegenheit gewartet zu haben. "Schreeeeckliich!", verkündete sie mit genervter Miene. "Ich wäre lieber mit dir zu deiner Pizza mitgegangen, anstatt mir einen so langweiligen Abend anzutun." Maddy schaute ratlos von Nicky zu mir und wieder zurück, kletterte dann auf das Sofa und hockte sich im Schneidersitz hin. "Daddy hat gesagt, Nicky war sehr unhöflich", informierte sie mich ernst und warf ihrer Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu. "Er hat mir ihr geschimpft, das hab ich gehört." Nicky schnaubte. "Dad hat keine Ahnung. Diese verklemmte Tussi aus der Park Avenue glaubt, sie könnte sich hier alles unter den Nagel reißen, aber nicht mit mir!", rief sie entschlossen aus, die Hände zu Fäusten geballt. Ich hatte Mühe, mir das Kichern zu verkneifen ob ihrer kindlichen Entschiedenheit. "Ich glaube", versuchte ich sie zu besänftigen, "sie wollte euch nur mal kennenlernen." "Du bist genauso blauäugig wie Dad, Annie. Ich hätte von dir erwartet, dass du dieser Sache mehr Aufmerksamkeit entgegenbringst." Verächtlich starrte sie mich an. "Bitte?" "Ja." Nicky lächelte unheilvoll. "Wenn hier eine Frau ins Haus kommt, dann wirst du nicht mehr gebraucht. Und dann bist du arbeitslos. Das ist dir doch klar, oder?" Maddy machte große Augen. "Annie, musst du dann gehen?", fragte sie verzweifelt und legte mit vorgeschobener Unterlippe den Kopf schief, was mir fast das Herz brach. "Nein, nein, Schätzchen. Deine Schwester hat nur eine lebhafte Fantasie, weißt du." Ich zwang mich zu einem Lächeln. "Noch bleibe ich für eine Weile hier." Hoffte ich zumindest... "Außerdem", fügte ich hinzu, obwohl ich mit Nicks eigentlich nicht darüber diskutieren wollte, "hat Miss Ashworth bestimmt einen Job und überhaupt keine Zeit, den ganzen Tag auf euch aufzupassen." Und bestimmt auch nicht die Nerven dafür... Nicky grinste, was nichts Gutes hieß. "In welcher Welt lebst du eigentlich, Anna? Park Avenue-Frauen haben keine Jobs. Sie sind einfach nur reich und leiten irgendwelche Wohltätigkeitsorganisationen und lassen ihre Hunde in Limousinen spazieren fahren und süffeln den ganzen Tag Cocktails. Das steht alles in der Vogue. Liest du denn keine Zeitung?" Die Vogue oder andere Tratschblättchen als Zeitungen zu bezeichnen... nun ja, sie war eben erst vierzehn. In Büchern hatte ich von solchen Frauen gelesen, aber dass mir gestern Abend tatsächlich einen von denen über den Weg gelaufen sein sollte? Obwohl... ihr Chauffeur und die schwarze Limo vor dem Haus sprachen eine ganz andere Sprache... Vielleicht hatte Nicky doch Recht. Sie war zwar schrecklich rechthaberisch und altklug, aber auch ziemlich clever und stets auf dem neuesten Stand. Maddy kicherte leise, als erinnerte sie sich an etwas Lustiges aus der Vergangenheit. "Nicky hat Miss Ashworth gestern gefragt, wo sie arbeitet." Ich horchte interessiert auf. "Und?" "Sie hat fast vor Schreck ihr Glas fallen lassen", erwiderte Nicole trocken und verdrehte die Augen. "Und dann hat sie doch tatsächlich gesagt, dass Frauen nicht arbeiten." Wir starrten und einen Moment lang schweigend an, keiner verzog eine Miene. War es wirklich das, was solch privilegierten Kindern beigebracht wurde? Das konnte doch nicht wahr sein! "Und was denkst du darüber?", hakte ich vorsichtig nach. Ich durfte jetzt in kein Fettnäpfchen treten und entschieden meinen Standpunkt verteidigen, sonst würde das noch an den Oberboss weitergetragen werden und ich konnte Goodbye sagen zu meinen drei kleinen Blagen. "Wenn ich groß bin, werde ich auf jeden Fall arbeiten gehen", erklärte Nicky mir ernst. "Wenn man etwas will, dann muss man auch etwas dafür tun, sagt Dad immer. Und ich werde Journalistin." Interessant, welche Ansichten Dad so hatte... Ich hätte eher gedacht, er war einer dieser konservativen Männer, die nur eine Nanny einstellten und sich nie bei ihren Kindern blicken ließen, genauso spießig und ätzend wie die ganzen anderen reichen Mistkerle. Aber anscheinend versuchte er auch noch, seinen Kindern ein bisschen Realitätssinn zu vermitteln. "Daddy hat auch gesagt", mischte sich Maddison nun auch mit ins Gespräch ein, "dass Mummy deshalb gegangen ist, weil sie nicht gearbeitet hat." Meine Ohren spitzten sich wie von selbst und mein Blick heftete sich auf die kleine Maddy, die ganz arglos da saß und gar nicht wusste, dass sie soeben etwas Hochexplosives von sich gegeben hatte. Nicky senkte den Kopf und schien auf einmal ganz befangen. So kannte ich sie gar nicht, aber es wunderte mich nur am Rande, da ich so überrascht von Maddy's Ansage war. Noch nie zuvor hatte irgendjemand aus diesem Haushalt die Mutter der Kinder erwähnt, was mich verständlicherweise immer neugieriger gemacht hatte. Und natürlich würde ich niemals danach fragen, also war das hier fast schon eine Sensation. "Eure... Mutter?", stammelte ich überwältigt. Die Kleine nickte. "Daddy hat mir gesagt, dass sie sich gelangweilt hat und-" "Halt die Klappe, Maddy!", schrie Nicky erregt und starrte ihre Schwester mit wutverzerrtem Gesicht an. "Das interessiert Anna doch überhaupt nicht! Das interessiert überhaupt keinen!" "Aber...", wimmerte Maddy, die es mit der Angst ob des plötzlichen Ausbruchs ihrer Schwester bekommen hatte. "Schon gut", unterbrach ich sie lächelnd. Anscheinend hatte sie eben einen wunden Punkt bei Nicky getroffen, obwohl ich nicht wusste, was genau dieser Punkt war. Nur, dass es mit ihrer Mutter zu tun hatte. "Willst du nicht nach oben gehen und Hausaufgaben machen? Wenn du Schwierigkeiten hast, helfe ich dir, okay?" Zögernd rutschte sie von der Sofakante und warf ihrer grimmigen Schwester einen unsicheren Blick zu. "Na gut...", murmelte sie nicht gerade überzeugt und trollte sich aus dem Zimmer, sehr wohl in dem Bewusstsein, dass gerade etwas schrecklich schief gelaufen war und erst mal geklärt werden musste. Ich trat zu Nicky heran, die sich dem Fernseher zugewandt hatte und meine Telenovela wegschaltete. Einige Sekunden lang zappte sie lieblos durch die Sender, bis sie, wieder angekommen bei meiner Soap, die Fernbedienung sinken ließ. "Nicky? Alles okay?", wollte ich besorgt wissen, aber sie schien sich wieder gefangen zu haben und nickte nachdrücklich. "Maddy erzählt manchmal so einen Schwachsinn", erklärte sie mir abfällig. "Hör einfach nicht auf sie." Ich nickte verwirrt und versuchte, erfolglos durch ihre Fassade hindurchzublicken, aber sie gab sich keinerlei Blöße und mein supermanmäßiger Röntgenblick schien nicht zu funktionieren. Was war da nur im Busch? War die Mutter der drei wirklich abgehauen? Aus Langeweile? Und wieso erzählt Mr. Cooper seiner kleinsten Tochter so etwas? Ich verstand es einfach nicht. "Wart ihr echt im Kino?", unterbrach Nicky meine Gedanken und schaute mich ein wenig neidisch an. Abermals nickte ich, nicht ganz bei der Sache, doch dann besann ich mich eines Besseren. "Aber sag nichts deinem Vater..." Herrje, wie armselig klang das denn? Erst der Junge, und nun bat ich auch noch seine Schwester, ihren Vater anzulügen! Ich war das Allerletzte. Zumindest jetzt gerade im Moment. "Bitte", fügte ich unglücklicherweise noch unterwürfig hinzu. Nicky zuckte nur gleichmütig mit den Schultern. Ich hatte nicht erwartet, dass sie so gelassen reagiert, allerdings schien auch sie ein wenig geistesabwesend zu sein. "Klar, ich weiß schon. Dad ist nicht so der spaßige Typ, was?" Ich grinste verlegen, unfähig, mit meiner Meinung über ihn hinter dem Berg zu halten. "Ich... ja, gut möglich", druckste ich herum. Sie war schließlich seine Tochter und liebte ihn nichtsdestotrotz. Egal, was für ein Langweiler er auch war. "Dafür bist du ja hier", seufzte sie, nicht, weil sie genervt von mir war, sondern vor Erschöpfung. Sie sah auch plötzlich ganz müde aus. "Ich glaub, ich geh hoch, bevor Nate rüberkommt. Er hat das neue Gameboy-Spiel bekommen und will es mir zeigen." Sie sagte mir noch den Namen des Spiels, aber ich hörte nicht recht hin, obwohl sich irgendwie tief in meinem Inneren eine kleine Stimme meldete - eine wirklich sehr, sehr leise Stimme, die kaum zu hören war -, dass ich als verantwortungsvoller Erwachsener zumindest die Altersfreigabe des Spiel kontrollieren sollte. Aber ich war heute mit einem zwölfjährigen, von der Schule suspendierten Jungen, durch Brooklyn gezogen und hatte ihn illegalerweise zum Kino verführt, also wo bitteschön war die pflichtbewusste Erwachsene, die ich so dringend sein müsste? Den Rest des Tages verbrachte ich abwechselnd mit bügeln - unfassbar, wie viele Klamotten diese Kinder hatten! - und darüber nachzudenken, worüber Mr. Cooper wohl am Abend mit mir sprechen wollte. Gut, ich muss zugeben, die meiste Zeit über tat ich beides gleichzeitig. Ich war mir sicher, er wollte mir Vorhaltungen machen über Nicky, die anscheinend viel zu unfreundlich zu Miss Ashworth gewesen war, oder aber über ihr plötzliches Verschwinden und dass ich zu nachlässig mit ihr war, was das Aufpassen anging. Was auch immer es war, er würde mir jedenfalls keinen Orden für das weltbeste Kindermädchen der Welt überreichen und mir eine Gehaltserhöhung zugestehen. Und, wie wir alle wissen, "Wir müssen reden" oder "Ich muss mit Ihnen reden" und ähnliches, waren, egal in welcher Sprache auch immer, immer ein Zeichen dafür, dass darauf etwas Negatives folgte. Je länger ich wartete, je später es wurde, desto nervöser wurde ich. Ich spielte die Gespräche, wie sie möglicherweise stattfinden könnten, in meinem Kopf ein paar Mal ab, sah dabei aber immer nur den grimmigen, schlechtgelaunten Mr. Cooper, der mich nicht allzu freundlich auf meine ganzen Verfehlungen aufmerksam machte und mich im Nachhinein feuerte. So spielte es sich immer ab. Ich wusste nicht, warum er so eine Wirkung auf mich hatte, und ein rationaler Teil von mir wusste auch, dass er mir nichts abhaben konnte, aber seine Strenge und seine Ernsthaftigkeit schüchterten mich immer wieder ein. Und je mehr ich mich in das Ganze hineinsteigerte, desto schlimmer wurde es. Zudem war mir seine Anwesenheit immer stets unangenehm. Ich wusste nie, was ich sagen sollte oder durfte, und auch er schwieg eisern, was das Ganze noch viel, viel unangenehmer machte. Im Klartext: ein sehr unangenehmer Mann! Wie hielt es diese Miss Ashworth nur mit ihm aus? Wenn deren Beziehung nur aus Schweigen und schlecht-gelaunt-sein bestand, würde mich das kaum wundern! Die Minuten gingen dahin, irgendwann kam Nate vorbei und ich hörte ihn und Nicky in der Küche um das Gameboy-Spiel streiten, danach verlagerten sie ihren Aufenthaltsort zu mir ins Wohnzimmer. Ich räumte die Bügelsachen und die frischen Kleider weg, Simon kam auch herunter, gefolgt von Maddy. Nate versuchte, Simon zum Baseball zu überreden, Nicky war strikt dagegen und machte sich ein wenig über ihren Bruder lustig - keine Sportskanone und so -, Maddy hingegen, sich in jedes Gespräch einmischend, war hellauf begeistert von der Aussicht, einmal mitspielen zu dürfen, doch in dieser Hinsicht waren Nate und Nicky eine geeinte Front und lehnten die Kleine entschieden ab. Ich hörte mir das Geplänkel zwischen den Kindern an und musste hier und da kurz einschreiten - beispielsweise, als Nicky gerade im Begriff war, ihren Bruder als Versager zu betiteln -, doch alles in einem war ich froh, dass die drei sich zumindest hin und wieder wie normale Kinder verhielten, aufgeweckt und sich neckend, aber trotzdem im sozialen Kontakt miteinander. Doch das Grauen kam. Ich sah durch die halboffene Tür ganz genau, wie er seine Tasche abstellte, die Schuhe abstreifte und sein Jackett an den Haken hängte. Und ich war extrem nervös. Was wollte er von mir? Was wollte er mir sagen? Doch nicht etwa, dass ich meinen Job los war, oder? Etwas verloren stand ich zwischen Wohnzimmer und Diele, während die Kinder auf dem Sofa herumlümmelten und sich um die Fernbedienung stritten. Maddy wollte sich einen Disney-Zeichentrick anschauen, Simon die Ninja Turtles und Nicole, ganz die erwachsene, reife Schwester, zog es zu einer Quizsendung, zu der ihr, glaube ich, Nathan geraten hatte, als er vorhin da war. Aber es gab nur einen Fernseher und das Gezeter war groß. Ich achtete gar nicht auf die Drei, sondern war ganz in meine eigenen Gedanken versunken. "Was möchte er wohl mit mir besprechen?", fragte ich abwesend murmelnd, redete eher mit mir selbst, aber Simon war so gütig, mir trotzdem zu antworten: "Nicky hat ihm heute morgen erzählt, dass du auf ihn stehst." Er sagte es so ruhig und desinteressiert, dass ich anfangs Probleme hatte, den einschlägigen Inhalt seiner Aussage herauszufiltern. Sprachlos starrte ich ihn an - und dann Nicky, die meinem Blick auswich und somit bestätigte, dass Simon die Wahrheit sagte. "Was?", krähte ich verzweifelt und stellte mich zwischen die Couch und den Fernseher, meine volle Aufmerksamkeit auf Nicky gerichtet. "Du hast WAS getan?" Sie sah mich entschuldigend an. "Mir blieb keine andere Wahl", verteidigte sie sich kleinlaut. Sie glaubte doch selbst nicht an das, was sie da sagte?! Mit offenem Mund wartete ich auf weitere Erklärungen. "Gestern Abend war eine Katastrophe... diese doofe Frau..." Sie flüsterte, damit ihr Vater es nicht hören konnte. "Sie ist so... langweilig. Also habe ich ihm gesagt, dass er sich nicht mehr mit ihr treffen darf." Sie hielt inne und sah mich an, als erklärte das bereits alles. Ich hob ungeduldig beide Augenbrauen und signalisierte ihr, dass dem nicht so sei. "Und er wollte wissen, warum", fuhr sie also fort und klang ganz so, als hätte sie nicht mit dieser Frage gerechnet. "Da hab ich eben gesagt, dass du auf ihn stehst. Tut mir leid, Anna", bat sie flehend. Mir blieb die Luft weg. Dieses Mädchen hatte meinem griesgrämigen, mürrischen, furchteinflößenden, wortkargen CHEF erzählt, dass ich ihn mochte! Ich war geliefert. Ich war so was von tot. Ich wurde ganz bleich und konnte mich plötzlich mehr von der Stelle rühren... Aber ich musste. "Anna? Schön, dass Sie noch da sind." Mr. Cooper betrat das Wohnzimmer und ließ seinen Blick über seine Kinder gleiten. Nicky, die Verräterin, kicherte schadenfroh und Simon vermied jeglichen Blickkontakt, als fürchtete er, es stand ihm auf der Stirn geschrieben, dass er den Tag über etwas Unerlaubtes getan hatte. Nur Maddy strahlte ihn fröhlich an. "Daddy, heute gibt es Schokopudding zum Nachtisch!", verkündete sie aufgeregt und er rang sich ein kurzes Lächeln ab, das ihn fast menschlich erscheinen ließ. Ein ganz kurzes Lächeln, aber ich sah es trotzdem. Ich fühle mich, als hätte ich etwas Verbotenes gesehen. "Das ist schön." Er wandte sich mir zu und ich konnte praktisch hören, was er denken musste: "Mein Kindermädchen ist in mich verliebt." Oh mein Gott!! Ich war eine wirklich bemitleidenswerte Kreatur! Mit eingezogenem Schwanz und hängendem Kopf trottete ich hinter meinem Boss her in den Flur und positionierte mich möglichst nah an der Haustür, um im Falle eines Falles schnell verschwinden zu können. Das hier würde peinlich werden! Er räusperte sich und sah mich kein einziges Mal an. Anscheinend war ihm das Ganze genauso unangenehm wie mir. "Also, Anna... Sie wissen, dass Sie eine wertvolle Bereicherung unseres Lebens sind... äh..." Ein Räuspern. "Für die Kinder, meine ich natürlich. Und... ich weiß, ich bin nicht besonders gut darin, aber... Ich möchte wirklich nicht, äh, undankbar erscheinen und ihre Gefühle verletzen, aber..." Oh Gott, das war das Peinlichste, was mir je im Leben passiert ist! Er wand sich, ich wand mich, und ich wusste nicht recht, wer von uns beiden lieber im Erdboden versinken wollte. Und dann versuchte er auch noch, so höflich zu sein. Lächerlich, aber höflich. Unfassbar... Mr. Cooper schien sich einigermaßen wieder zusammenzureißen und probierte jetzt, in ganzen Sätzen zu sprechen. "Tatsache ist doch, dass ich zu alt für Sie bin, Anna. Ich könnte theoretisch ihr Vater sein!" Er errötete ein wenig, was ich kaum wahrnahm, da ich vollkommen fasziniert von seiner Taktik war. So fasziniert, dass ich ganz vergaß, diese ganze unglückselige Sache abzustreiten. Stattdessen überschlug ich kurz die Zahlen in meinem Kopf. Er war 35, soweit ich wusste. "Dann müssten Sie ja schon mit zehn Jahren Vater geworden sein", bemerkte ich verwundert und, ich muss zugeben, auch etwas belustigt. Doch Mr. Cooper blieb ganz ernst, was für ihn sicherlich kein allzu großes Kunststück war. Der Mann wurde ernst geboren! Bestimmt hatte sich sogar schon der zuständige Arzt von seiner natürlichen Autorität einschüchtern lassen. "Sie wissen, wie ich das meine", sagte er streng und ich fühlte mich wieder wie ein kleines Kind, das unangemessene Witze in einer unpassenden Situation machte. "Ja, Sir", sagte ich unterwürfig und senkte den Blick. Dieser Mann machte mich psychisch einfach fertig. "Jack", korrigierte er mich, wie immer. "Jack", wiederholte ich, wie immer, etwas widerwillig. Es wurde Zeit, diesem Spektakel ein Ende zu bereiten und uns beide zu erlösen. "Hören Sie, das ist alles ein großes Missverständnis." "Was?" Ich hoffte nur, ich hörte mich nicht an wie jemand, der die offensichtliche Wahrheit aus Verzweiflung abstritt. Obwohl das ja nun wirklich nicht die offensichtliche Wahrheit, sondern eine glatte, dreiste Lüge war. "Das, was Nicky gesagt hat. Ich habe nie behauptet, dass... ich meine... Sie wissen schon." Ich musste schlucken und wurde von Wort zu Wort nervöser. "Nicht, dass sie kein attraktiver Mann wären", versuchte ich schnell, ihn zu besänftigen, falls er sich irgendwie angegriffen oder zurückgewiesen fühlen sollte, "oder nicht begehrenswert. Das sind Sie sogar sehr... ääh..." Das passierte mir immer. Ich redete mich immer weiter in die Bredouille hinein, wenn ich so durcheinander war. "Ich meine...", stotterte ich, ohne Hoffnung auf Besserung. Herrje, jetzt hatte ich es echt versiebt. Mr. Cooper, der so freundlich war - haha - mich nicht zu unterbrechen und mir die ganze Zeit über geduldig und aufmerksam zugehörte hatte, kratzte sich kurz unbehaglich am Nacken - eine Geste, die mir total neu war. "Aha. Ich verstehe schon." Er klang irgendwie... abweisend? Ach was! So klang er doch immer! Ich ließ schuldbewusst den Kopf hängen. "Es tut mir leid." Was genau mir leidtat, oder mir leidtun sollte, wusste ich nicht, aber ich fühlte mich verantwortlich. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade meinem Chef einen Korb gegeben! Wie konnte das sein? Wieso war ich in dieser vermaledeiten Situation? "Nein, mir tut es leid. Ich habe Sie in Verlegenheit gebracht", gab er zu, doch sein Gesichtsausdruck, der zur Abwechslung mal etwas anderes zeigte als absolute Starrheit, sagte noch viel mehr: Und dass ich aus mir einen totalen Vollidioten gemacht habe. Ich lachte nervös und winkte ab. "Schon gut, passiert mir ständig." Passiert mir ständig?? Was zum...? Ich musste dringend hier raus. "Sie... ich meine... macht es Ihnen etwas aus, wenn ich...? Ich muss... nach Hause", würgte ich hervor, ganz ohnmächtig in seiner Anwesenheit. "Ja... ich meine, nein. Natürlich, gehen Sie. Ich habe Sie schon lange genug aufgehalten." Ich schluckte. Warum starrte er mich immer noch so an? "Danke..." "Und ich werde Nicole natürlich sagen, dass sie solche... Märchen nicht einfach so erzählen darf. Nochmals Entschuldigung." "Tja, schon gut...", murmelte ich und schnappte mir meine Jacke und meine Tasche, die an der Garderobe hingen, vermied den Blickkontakt mit Mr. Cooper, der immer noch leicht unschlüssig im Weg herumstand. "Auf Wiedersehen." Er nickte. "Bis morgen dann." Uff! Endlich! Morgen würde Nicky dran glauben müssen! Erst, als ich draußen an der frischen Luft war, musste ich unwillkürlich grinsen, während mein Kopf immer noch hochrot war und dampfte wie der Kochtopf eines Fünf-Sterne-Kochs. Hatte dieser Mann, mal abgesehen davon, dass er uns beide total blamiert hatte, etwa tatsächlich zugegeben, dass ich eine "Bereicherung" für seine Familie war? Das musste ich mir erst mal langsam auf der Zunge zergehen lassen... S i x ----- Bis spät in die Nacht habe ich am Computer gesessen und Jobangebote studiert, doch die wenigsten kamen für mich in Frage. Entweder wurden die Stellen intern ausgeschrieben, verlangten jahrelange Berufserfahrung oder kamen mir einfach nur zwielichtig vor - was sich nach einem kurzen Blick auf die Gegend, in der die Unternehmen saßen, auch meistens bestätigte. Trotzdem suchte ich ein paar Angebote heraus und beschloss, dort in nächster Zeit ein paar Bewerbungen hinzuschicken. Schaden konnte es ja nicht. Als ich übermüdet und lustlos bei den Coopers ankam, hatte ich das untrügliche Gefühl, dass mir auch Mr. Cooper, genauso wie ich ihm, aus dem Weg zu gehen schien. Nicht, dass wir uns sonst mit Küsschen und was weiß ich begrüßt hätten, aber er schien noch steifer und angespannter zu sein, als sonst. Auch mied er nicht nur den Blickkontakt, indem er stets knapp an mir vorbeisah, nein! Er schaute gar nicht mehr in meine Richtung, und sein gemurmeltes "Guten Morgen" - das auch sehr missgelaunt klang - hätte genauso gut seinen Schuhen gelten können, die er sich gerade in diesem Moment mit sorgfältigster Präzision anzog. Sollte mir nur recht sein, ich war ebenfalls nicht scharf auf irgendwelche Gespräche mit ihm, auch, wenn mir vollkommen klar war, dass er selbst an der ganzen Sache gar keine Schuld trug. Bei diesem Gedanken fiel mir auch prompt die schuldige Person ein, die sich anscheinend oben in ihrem Zimmer verkrochen hatte und nicht traute, runterzukommen. Tatsächlich war keiner von den dreien bis jetzt unten aufgetaucht, was mich ein wenig wunderte. Mr. Cooper erzählte seiner Aktentasche, die er nochmals auf dem Tisch abstellte, um darin herumzuwühlen, dass er ein wenig später kommen würde, und ich antwortete dem Kühlschrank, dessen Inneres ich gerade betrachtete, dass das in Ordnung ging. Dann rauschte er zu meiner Erleichterung auch schon davon und ich schloss etwas entspannter die Kühlschranktür, die mir, ich muss es zugeben, nur als Alibi gedient hatte, wieder zu. Während ich die Brote schmierte - Erdnussbutter für Simon, Erdnussbutter mit Gellee für Maddy und Käse mit Salat und Tomate für Nicky - musste ich mir unwillkürlich eingestehen, dass es nicht Mr. Cooper und seine - zugegebenermaßen - peinliche Ansage war, die mir Kopfzerbrechen, oder besser gesagt, Schamgefühle, bereitete. Nein, es war die Tatsache, dass ich gestern nicht hatte an mich halten können und, nur, um mich aus dem ganzen Schlamassel unbeschadet herauszuholen, mich nur noch tiefer hineingeritten hatte. Was hatte ich da zu ihm gesagt?! Die Erinnerung trieb mir immer noch die Röte ins Gesicht - und dabei werden meine Ohren auch immer ganz heiß, was ich total schlimm finde -, aber ich konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken. Es war ähnlich, wie mit den Windpocken: es juckt und man kann einfach nicht aufhören, zu kratzen. Man kann einfach nicht aufhören WOLLEN. Also kamen diese Gedanken immer und immer wieder in meinen Kopf - meine Worte. "Nicht, dass sie kein attraktiver Mann wären - oder nicht begehrenswert. Das sind Sie sogar sehr." Oh. Mein. Gott. Ich konnte es noch immer nicht glauben. Ich hegte die Befürchtung, dass das alles noch viel schlimmer gemacht haben könnte. Man ging nicht einfach zu seinem Chef hin und nannte ihn einen attraktiven und begehrenswerten Mann. Klar, dass Mr. Cooper nicht schlecht aussah, war mir sofort beim ersten Mal aufgefallen. Auf irgendeine grimmige Art und Weise, wenn man denn auf solche Männer stand. Aber das tat ich nicht. Es war mir lediglich aufgefallen und ich habe es zur Kenntnis genommen. Hunderte von Männern sehen gut aus, aber trotzdem bindet man das denen nicht unbedingt auf die Nase, wenn man nicht will, dass sie etwas Falsches denken. Oder das Richtige. Oder – ach! Überhaupt irgendetwas denken. Und das alles mal außer Acht gelassen - er war mein BOSS! Ein Geräusch von oben vertrieb meine selbstmörderischen Gedanken und holte mich in die Realität zurück. Ich beschloss, mich ein wenig erwachsener zu benehmen und dieses ganze Debakel zur Seite zu schieben - obwohl ich natürlich wusste, dass mir meine unglückseligen Worte vom Vorabend dennoch weiterhin durch den Kopf geistern würden. Mein rationales Denkvermögen sagte mir, dass es nur ein kleiner Ausrutscher war, und dass das allen mal passierte. Ihm war es bestimmt viel peinlicher, angenommen zu haben, dass seine Angestellte heimlich für ihn schwärmt - und darüber hinaus auch noch mit seiner vierzehnjährigen Tochter über ihre Gefühle für ihn redet. Was nicht das eigentlich das wirkliche Lächerliche an der Sache? Ich konnte darüber jedenfalls nicht sonderlich lachen. Nicky kam in Deckung ihrer zwei Geschwister runter und redete wie ein Wasserfall über irgendwelche unwichtigen Sachen, bloß, damit ich sie nicht auf den Abend zuvor ansprechen konnte. Aber ich hatte auch noch ein Ass im Ärmel, denn sie vergaß, dass ich zehn Jahre älter und somit auch weiser und gerissener war. Na gut, lassen wir das "weiser" weg. Gerissener war. "Setzt euch schon mal ins Auto", sagte ich zu den beiden Jüngeren. "Heute fahr ich euch ausnahmsweise." Ich lächelte gewinnend, die zwei strahlten - und ich bekam sogleich ein paar Pluspunkte gutgeschrieben. Nicky versuchte, sich unauffällig davonzuschleichen, aber ich legte ihr unbemerkt eine Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. Ihren schuldbewussten Blick, als sie zu mir aufsah, konnte sie nicht verbergen. Sie seufzte, als ihr klar wurde, dass sie sich ihrem Schicksal - im Moment in Gestalt von mir und meinem Ärger - nicht entziehen konnte. Ich beschloss, ihr eine Chance zu geben, um unbeschadet aus der Sache wieder herauszukommen. "Also?", fragte ich. "Rede." Sie zuckte die Schultern und spielte das Unschuldslamm. "Was denn?" Ihr Blick schien zu sagen: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts! Ich hob zweifelnd die Augenbrauen. Musste wohl doch die Initiative ergreifen und auf den Punkt kommen. "Du kannst doch nicht einfach deinem Vater erzählen, dass ich... ich..." Es fiel mir schwer, das auszusprechen. "...Gefühle für ihn habe?!" Nicole ging in die Defensive, das sah man ihr schon allein durch ihre Körperhaltung an. Sie reckte eigenwillig das Kinn vor und hob den Kopf. "Ich sagte, du stehst auf ihn. Das ist etwas anderes", erklärte sie mir altklug und verschränke widerwillig die Arme vor der Brust. Ich starrte sie einen Moment lang an. "Nein, ist es nicht! Wie kommst du überhaupt auf so eine bescheuerte Idee?!", verlangte ich erbost zu wissen. Die Kleine konnte einen echt alle Nerven kosten, vor allem, wenn sie so stur war und einem auch noch mit merkwürdigen Widerworten kam. "Ich wollte eben, dass er aufhört, sich mit Miss Orangenhaut zu treffen!", rief sie aufgebracht, immer noch ihren Standpunkt verteidigend. "Und wie sollte das helfen?" "Das hab ich dir doch gestern schon erzählt." Nicky klang genervt. Wahrscheinlich hatte sie schon am Abend zuvor eine Standpauke von ihrem Dad erhalten. Möglicherweise war sie auch deshalb nicht runtergekommen, als er noch zu Hause war. Sie war wütend auf ihn gewesen. "Mir fiel eben nichts anderes ein. Ich kenn ja sonst keinen." Ich musste mich sehr zurückhalten, um nicht zu grinsen. Das war irgendwie echt... lustig und idiotisch zugleich. "Tolle Idee", sagte ich, so sarkastisch, wie ich gerade konnte. "Und das sollte ihn überzeugen?" Was hatte sie gedacht, würde er dann tun? Vielleicht denken: Oh, Anna steht auf mich - verlasse ich doch meine millionenschwere Freundin und stürze mich auf dieses mittelose junge Ding? Wahrscheinlich hatte Nicky noch nicht mal so weit gedacht. Vollkommen ahnungslos bezüglich meiner sarkastischen Gedanken sagte sie: "Wenn er schlau wäre, ja." Und das sagte sie so ernst und so trotzig, wie nur ein Kind es konnte, das seine Absichten wirklich für ehrenhaft und überzeugend hielt. Jetzt konnte ich nicht mehr, ich musste einfach lächeln. "Hab ich dich in Schwierigkeiten gebracht?", hakte sie dann nach einem Moment Stille doch noch einlenkend nach. Ich nickte. "Ja, ein wenig." Das schien ihr nicht zu gefallen. "Entschuldige." "Schon gut", seufzte ich. Was sollte ich auch sonst sagen? Freitags hatten die Kinder nur bis zwei Uhr Schule und danach musste ich sie zu ihren verschiedenen "Freizeitaktivitäten" kutschieren. So nannte es zumindest Mr. Cooper, ich nannte es reinste Folter. Simon hasste das Basketballspielen und generell einfach jeden Sport, Maddy wollte lieber Klavier statt Geige spielen, Nicky, wenn sie einmal nicht aus Prinzip nörgelte, beschwerte sich, dass sie mit den ganzen arroganten Bonzenkindern - zu denen sie sich anscheinend nicht zählte -, nichts zu tun haben wollte. Drei Stunden kurvten wir - besser gesagt, ich - in Manhattan herum, was vielmehr am verstopften Verkehr lag, als an der Fülle an Aktivitäten, und kamen schließlich, etwa gegen fünf Uhr, wieder zu Hause an. Schnelles Nudelkochen mit Tomatensoße reichte aus, die Kids zufriedenzustellen und auch meinen Hunger zu stillen und nach diesem anstrengenden Tag durfte jeder machen, was immer er wollte. Nicky entkam dem schrecklichen Einfluss, der während des Nachmittags auf sie ausgewirkt wurde, indem sie sich mit Nate zum Baseball im Park verabredete, Maddy hatte ich bei einer Pyjamaparty abgesetzt, in der Hoffnung, eine von den vielen Nannys würde auch auf sie ein Auge haben. Mr. Cooper hatte mir ausdrücklich versichert, dass es nicht nötig war, sie Tag und Nacht zu bewachen und um ehrlich zu sein, hielt ich es auch für ein wenig übertrieben, wenn ich dort noch hätte die Nacht verbringen müssen. Wahrscheinlich in Kindermädchenuniform mit weißer Schürze und Haube oder so. Kein Scherz, manche liefen echt so rum! Was Simon anging, so verzog er sich direkt nach der Ankunft mürrisch in sein Zimmer, immer noch wütend auf die ganze Welt im allgemein und auf seinen Vater im besonderen, dass er sich das antun musste. Gerade, als ich das Geschirr in die Spülmaschine einräumte und sie startete, klingelte es. Ich wunderte mich. Es war erst sechs und wir rechneten mit niemandem. Mr. Cooper hatte einen Schlüssel und würde ja, wie gesagt, später kommen. Doch das, was mich draußen erwartete, war eine Überraschung extraordinaire. "Miss... Ashworth?", stammelte ich überflüssigerweise. Ja, es war eindeutig Clementia Ashworth, die da eben vor der Tür stand und mich unsicher anlächelte, die Lippen wie immer aufeinandergepresst, als wäre sie dauergestresst. "Hallo Anna." Schön, dass mich alle Welt bei meinem Vornamen nannte. Wessen Angestellte war ich hier eigentlich?! "Jack hat gesagt, ich könnte jederzeit vorbeikommen, Sie wären den ganzen Tag über da." Ich gab mir Mühe, den Mund zu schließen, bevor ich sie verdattert anstarrte. Soso, hatte Jack das? Das war ja wunderbar freundlich von Jack. Jetzt musste ich anscheinend auch noch seine Geliebte babysitten, als wäre ich mit den Kindern nicht ausgelastet genug. Sie blickte mich fragend an, als wollte sie sagen: Und? Sind Sie da? "Äh", meldete ich mich hastig zu Wort, als ich bemerkte, dass sie noch immer an der Türschwelle stand und ich ihr den Weg ins Hausinnere versperrte, "dann kommen Sie doch rein." Ich trat zur Seite und ließ sie herein, was sie mit einem dünnlippigen, angespannten Lächeln quittierte. "Was füh-" Ich wurde jäh unterbrochen. "Anna, hast du meinen Baseballhandsch-" Nicky, die polternd die Treppe heruntergekommen war, blieb auf der Mitte stehen und hielt inne, als wäre ihr von einem vorbeifahren Bus der Weg abgeschnitten worden. Sie sah so aus, als wollte sie sagen: "Auch DAS noch!" Misstrauisch schaute sie Clementia an, umklammerte das Treppengeländer krampfhaft mit einer Hand. "Hi", sagte sie dann skeptisch, lauernd, ohne den Blick von der Freundin ihres Vaters abzuwenden. Oder was auch immer sie war. "Hallo Nicole", erwiderte Miss Ashworth höflich - und ein wenig schüchtern. Die Art, wie sie "Nicole" aussprach, ließ aber keine Zweifel daran, wie distinguiert sie tatsächlich war. Ich kam mir sofort deplaziert vor. "Ich heiße Nicky", schmetterte Nicks ihr sofort erbarmungslos entgegen, ohne das wackelige Lächeln ihrer "Gegenspielerin" zu erwidern. Sie war eine harte Nuss und sie kannte keine Skrupel! Clementia fühlte sich sichtlich einschüchtert von dieser unnachgiebigen Vierzehnjährigen, deren Blicke zwar noch nicht töten konnten, aber wenn sie noch ein wenig übte, es auch bis dahin sicherlich nicht allzu lange dauern würde. "Also gut." Sie verzog wieder die Mundwinkel, sah aber alles andere als glücklich aus. "Nicky." "...aber nur meine Freunde dürfen mich so nennen", fuhr Nicky unversöhnlich fort, ganz so, als hätte sie es nicht auf eben diese Art von Gespräch angelegt. Miss Ashworth wirkte nun ganz und gar verloren, öffnete den Mund - und schloss ihn wieder. Ich schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Das hier würde anstrengend werden. "Dein Handschuh ist in Simon's Zimmer. Gehst du wieder mit Nate in den Park?", hakte ich nach. Ich musste schließlich immer auf dem Laufenden sein, wo sich die Kinder aufhielten und so weiter. Das Übliche eben. "Wieso das denn?", wollte Nicky entgeistert wissen und war schon dabei, auf dem Absatz kehrt zu machen, um in Simon's Zimmer zu stürmen. Das Ganze, ohne Clementia, die von einem auf den anderen Fuß tretend immer noch mit mir im Flur stand, zu beachten. "Weil ich wissen muss, wo du steckst?!", erwiderte ich pikiert. Immerhin wurde ICH hier dafür bezahlt, die Blagen sicher durch den Tag zu führen, da waren solche Fragen doch überflüssig. Nicky allerdings rollte nur genervt mit den Augen. "Ich meine, wieso ist der Handschuh bei Simon?!" Oh. "Weil du ihn dort als letztes hingeworfen hast?!" Hm, 50% der Gespräche zwischen Nicks und mir waren Antworten, die als Fragen oder Fragen, die als Antworten kaschiert waren. Ob mir das zu denken geben sollte? "Gehst du in den Park?!", rief ich ihr ungeduldig hinterher, als sie schon beinahe ganz verschwunden war. "Jaha", kam es dumpf aus dem oberen Stockwerk. Nun hatte ich endlich Zeit, mich um meinen - ungebetenen - Besucher zu kümmern. Ich war recht erschöpft und müde und hatte kaum die Energie, jetzt noch eine Fünfunddreißigjährige zu verhätscheln, aber was blieb mir denn anderes übrig? Ich rang mich zu einem Lächeln durch. "Entschuldigen Sie bitte." Ich tat zerknirscht. Nicky's Verhalten war zwar peinlich gewesen, aber nicht für mich. Ich war hier nur das Kindermädchen, das genauso darunter litt. Mr. Cooper war jawohl der Verantwortliche für diese zwei Desaster, die hier wohnten. Und für Maddy. Aber es wurde sicherlich von mir erwartet, zerknirscht zu sein, also tat ich so, als ob. "Ein schwieriges Kind." Seltsam. Das fühlte sich fast so an als ob... ich Nicole in den Rücken fallen würde! Ein merkwürdiges Gefühl, das ein wenig nach Verrat schmeckte, machte sich in mir breit. Schnell schüttelte ich es ab. Clementia nickte besorgt, zögernd. Höchstwahrscheinlich wagte sie es nicht, etwas gegen Mr. Cooper's Kinder zu sagen, weil sie fürchtete, ich würde es ihm petzen und er sie dann vor die Tür setzen. Wenn sie wüsste...! "Ich fürchte, sie mag mich nicht besonders...", stellte sie leise fest und sah die Treppe hinauf, dort, wo Nicky eben verschwunden war. Sie hatte natürlich den Nagel auf den Kopf getroffen. "Nicht besonders" war noch sehr untertrieben, aber ich sah an ihrem Blick, dass sie es von mir erwartete - ja mich geradezu anflehte - ihr zu widersprechen. Ich tat ihr den Gefallen. "Ach, was. Sie ist vierzehn. Sie mag niemanden", erwiderte ich trocken und beschloss, dass es besser wäre, so schnell wie möglich in Erfahrung zu bringen, was Miss Clementia Ashworth herführte. Das würde auch den schönen Nebeneffekt haben, dass sie möglicherweise auch so schnell wie möglich wieder abdampfte. Ich musste mich dringend auf die Couch schmeißen und die dreihunderttausendste Wiederholung von "Friends" anschauen, obwohl mir, wie jedem anderen Weltenbürger auch, Ross' verzweifelte Jagd nach Rachel schon langsam in der Seele wehtat. Clementia stand immer noch unsicher im Flur. Ob sie auf eine schriftliche Einladung wartete, das Wohnzimmer betreten zu dürfen? Ich hatte sie doch schon ins Haus gelassen und so, wie ich das sah, gehörte sie jawohl eher hierher als ich. "Möchten Sie..." Ich überschlug kurz in meinem Kopf, was ich ihr anbieten konnte. Tee, Kaffee? Dauerte zu lange. Ich wollte sie so schnell wie möglich loswerden. "Einen Keks?" Hm. Ein Keks war schnell gegessen. Aber so, wie sie aussah, hätte ich ihr vielleicht Sushi anbieten sollen, vom Nobel-Japaner in der Park Ave, oder irgendetwas anderes Nobles aus einem anderen Nobel-Restaurant. Jedenfalls irgendetwas Teures. Mit Diamanten und Blattgold besetzte Schokoladencookies. Ich musste kurz grinsen bei dieser Vorstellung und fing dabei unglücklicherweise einen irritierten Blick ihrerseits auf. Mist. "Nein, vielen Dank", erwiderte sie höflich. Möglicherweise hatte ich ihr Angst gemacht und sie wollte nun so schnell wie möglich der geisteskranken Nanny Annie - haha - entfliehen. Umso besser. "Ich wollte eigentlich nur meine Handtasche abholen. Vorgestern habe ich sie hier vergessen", erklärte sie mir und wandte sich suchend um. "Jack ist noch nicht zurück?" AHA! Der typische Ich-vergesse-meine-Handtasche-bei-ihm-zu-Hause-Trick! Pech nur, dass Mr. Cooper heute länger arbeitete und es ihr anscheinend nicht gesagt hatte. "Nein. Mr. Cooper bleibt heute etwas länger im Büro." Ich lächelte und konnte mir gerade noch ein "Hat er es Ihnen denn nicht gesagt?" verkneifen. Das wäre überaus unhöflich und überaus unprofessionell gewesen. Und überaus spaßig. Aber Nicky war nicht dabei und außerdem, rief ich mir in Erinnerung, war das hier nicht mein Kampf, den es auszutragen galt. Ich war neutral. Ich war die Neutralität persönlich. Ich war... die Schweiz. Auch, wenn dieser Vergleich bereits total ausgelutscht war - die Schweiz war ich trotzdem. "Ich habe Ihre Handtasche gar nicht gesehen", gestand ich ihr. "Wo haben Sie sie denn liegen lassen?" So ein edles Stück von Prada oder Gucci wäre mir sicherlich aufgefallen... Miss Ashworth wirkte wieder verloren. "Es ist eine cremefarbene Versace-Tasche", half sie mir auf die Sprünge. "Ich glaube, ich habe sie an der Garderobe abgegeben." An der Garderobe ABGEGEBEN?! Unwillkürlich drehte ich mich um und starrte den Garderobenschrank an. Ein ganz normaler Schrank. Da gab es nichts abzugeben. Die Frau schien mir leicht verwirrt. Wir waren hier doch nicht in einem Nobelschuppen, in dem man seinen Edelmäntelchen abgibt und dann dem Personal einen Hundertdollarschein in die Hand drückt, damit sie auch ja gut auf die Chinchillapelze et cetera aufpassen! Und überhaupt... welches Personal?! "Na ja..." Sie zögerte. "Das ist nicht so wichtig. Eigentlich bin ich nur gekommen, weil..." Ja, weil was? Weil Sie nicht arbeiten und den lieben langen Tag lang in der Gegend herumkurven und ihren Chauffeur beschäftigen musste, um sich nicht allzu sehr zu langweilen? Dabei fiel mir Luca ein, dieser italienische Typ, der den Limo-Fahrer für sie mimte. Ob er wohl da draußen stand und wartete? Ich reckte den Kopf und versuchte, heimlich aus dem Fenster zu lugen, aber ich war zu weit entfernt und konnte nicht richtig hinaussehen. "...ich mit Ihnen reden wollte." Huch?! Ich unterbrach meine Verrenkungsversuche und blickte Clementia irritiert an. Ich hatte mich bestimmt verhört. "Entschuldigung...?" "Ja, nun..." Sie schien das gar nicht seltsam zu finden und plauderte - na gut, plauderte wäre vielleicht übertrieben - so nervös wie die Frau war, plauderte sie nicht, vielmehr stotterte und stammelte sie - einfach weiter, ohne an meiner ungläubigen Miene Anstoß zu nehmen, "Sie scheinen ja gut mit den Kindern auszukommen. Nicole... äh, Nicky... nein, Nicole, sie hat gestern dauernd von Ihnen geredet und nun ja..." Aha, da kamen wir der Sache schon näher. Wollte sie mich etwa abwerben? Für einen kurzen Moment überlegte ich, wen ich wohl bevorzugen würde - Mr. Cooper, die personifizierte miese Laune, oder Miss Ashworth, das reinste Nervenbündel -, und entschied mich für ersteren, hauptsächlich, weil Nicky mir wahrscheinlich sonst Prügel androhen würde. Zu Recht. "Da dachte ich, Sie könnten mir etwas beibringen." "Was?!" Oh. Hatte ich das etwa laut gesagt?! Wie unhöflich von mir, aber... WAS?! "Ja, Sie wissen schon. Mir vielleicht etwas erzählen. Wie Kinder so sind. Ich hatte bis jetzt eigentlich noch nie etwas mit Kindern zu tun und... Jack..." Sie schien etwas über ihn sagen zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren und änderte ihre Taktik. "Sie kennen sich ja aus." Aha. Ihr Ich-vergesse-meine-Handtasche-bei-ihm-zu-Hause-Manöver war also gar nicht dazu gedacht gewesen, Mr. Cooper wiederzutreffen, sondern, um das Kindermädchen wiederzutreffen! Irgendwie obszön... Ich ahnte allerdings, was sie damit bezwecken wollte. Ich wusste es einfach. Sie wollte ihn beeindrucken. Ihm zeigen, dass sie bestens mit seiner Brut auskam. Sie wusste, sie würde nie alleine an erster Stelle stehen, aber zumindest konnte sie versuchen, es eben dorthin zu schaffen, auch, wenn sie sich die Platzierung würde teilen müssen. Anscheinend starrte ich sie einen Moment zu lange mit offenem Mund an, denn sie setzte wieder zum Sprechen an. "Sie müssen mir nur sagen, was ich falsch mache. Hören Sie - ich weiß, das ist seltsam. Und normalerweise bitte ich das Personal nicht um Hilfe-" An dieser Stelle schnappte ich kaum hörbar nach Luft, "aber Sie sind die Einzige, die mir da einfällt. Sie leben ja mit ihnen zusammen." Ich musste mich erst mal setzen, aber der Stuhl schien zu weit entfernt zu sein. Ich wusste nicht, was mich mehr aus der Fassung brachte: dass sie mich eben tatsächlich gebeten hatte, ihrem Liebesglück auf die Sprünge zu helfen oder dass sie mich, im selben Atemzug, irgendwie indirekt beleidigt und sich gleichzeitig auf eine viel höhere Stufe gestellt hatte?! Von wegen "ich bitte das Personal nicht um Hilfe". Als ob sie nicht auf die Hilfe ihres Hausmädchens, ihres Chauffeurs und ihrer wahrscheinlich dreißig anderen Angestellten angewiesen wäre. Ich hätte gerne gesagt, dass sie sich doch bitte an das Personal eines anderen Haushaltes wenden sollte, aber ich wollte es mir nicht mit meinem Chef verscherzen. Wer wusste, was sie ihm sonst erzählen würde. "Dein Kindermädchen hat mich zum weinen gebracht" oder so. Und auch, wenn sie nicht auf Platz eins in seinen All-Time-Favourites stand - ich belegte ganz sicher einen weitaus niedrigeren Rang, wenn ich überhaupt in den "Charts" mit vertreten war. Das schien allerdings eher unwahrscheinlich, vor allem nach der gestrigen Katastrophe. Je länger ich diese Frau kannte - und das war noch wirklich nicht allzu lange angesichts der Tatsache, dass ich sie erst vorgestern kennengelernt und erst heute ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte -, desto mehr kam mein neutraler Schweiz-Status ins Schwanken. Ich fürchtete, ich konnte nicht länger die Schweiz sein, sollte sie noch irgendetwas Verqueres von sich geben - und die Wahrscheinlichkeit dafür war ziemlich hoch. "Ähm", druckste ich herum - jetzt fühlte ich mich noch schlechter als gestern Abend, allerdings aus einem ganz anderen Grund, "ich fürchte, das ist nicht ganz so einfach... Sie müssen sich eben einfach mit Ihnen anfreunden. Was gemeinsam unternehmen und so..." Mhm, das war sehr vage, was ich da sagte, und das war mir auch bewusst. Nicky und Simon würden wahrscheinlich lieber zu Fuß die 1860 Stufen des Empire State Buildings erklimmen, als dreißig Minuten mit dieser Frau im Zoo zu verbringen. Maddy war da allerdings eher unkompliziert. Sie mochte jeden und jeder mochte sie. Allerdings war sie noch klein und ganz offensichtlich Daddy's Liebling. Sie hatte keine Konkurrenz zu fürchten. Nicht jetzt und nicht in fünfzig Jahren. Es überraschte mich, dass 'Clemi' sich meine Ratschläge nicht notierte. Sie schien mir so der Typ dafür zu sein. "Und", fuhr ich weiter fort, "sie werden nicht warm mit Ihnen, weil sie merken, dass Sie ihnen gegenüber noch unsicher sind. Und natürlich, weil Sie sich den Vater schnappen wollen." Clementia riss erschrocken die Augen auf und starrte mich entgeistert an. Hatte ich etwas Falsches gesagt? "Den Vater... schnappen?", würgte sie hervor, als wäre das eine unverzeihliche Kränkung. Okay, ich geb's zu, das war nicht die schönste Ausdrucksweise, aber hey - ich war ja nur das Personal! Total zurückgeblieben und asozial. Hm, das fing langsam an, Spaß zu machen... Leider wählte die Gute gerade diesen Zeitpunkt, um wieder aufzubrechen. Wahrscheinlich war sie zu geschockt, um sich weiterhin mit mir über irgendwelche Erziehungsmethoden unterhalten zu können oder wollen. "Nun gut, Anna... vielen, äh... Dank für Ihre Hilfe. Ich werde demnächst gegebenenfalls auf Ihr Angebot zurückkommen und einen Termin mit Ihnen vereinbaren." Moment mal... welches Angebot?! War die Frau dreist, oder war die Frau dreist?! Ein Termin mit ihr befand sich auf meiner Liste jedenfalls nicht unter den Top Ten. Oder unter den Top... Ach, was. Es befand sich gar nicht drauf! "Okay. Sie wissen ja, wo ich arbeite", sagte ich trocken, ohne eine Miene zu verziehen, und dachte: Mist! Sie weiß, wo ich arbeite! Aber gleichzeitig auch: Gott sei Dank weiß sie nicht, wo ich wohne! Ich war mir sicher, sie würde angesichts von Brownsville einen ausgewachsenen Herzinfarkt bekommen. Sie ging. Und ich fragte mich, wie viel ich eigentlich noch ertragen musste. Die Kinder waren echt problemlos - aber alles andere wuchs mir allmählich über den Kopf. S e v e n --------- An diesem Nachmittag waren wir bei einem Baseballspiel im Park. Das Wetter war gut und Nicky spielte, also hatte ich mir Maddy und Simon geschnappt, die eigentlich zum Klavier-, Gitarren-, oder was weiß ich für einen Unterricht mussten, und war mit ihnen in den Park gegangen. Maddy war geschockt, dass wir so einen kleinen, außerplanmäßigen Ausflug unternahmen, aber Simon kannte das schon und er lächelte mir scheu, aber komplizenhaft zu. Wir machten es uns auf der Tribüne hinter dem Gitter bequem, wo schon ein paar andere saßen. Freunde, Eltern, die mit ihren Kindern auch in den Park gekommen waren, Jugendliche, die einfach nur rumlungerten und die Kleineren anpöbelten und andere Kinder, die darauf warteten, dass man sie auch ins Team wählte. Der Hot Dog-Wagen stand ganz in der Nähe, denn hier fand er offensichtlich reißenden Absatz. Wir bewaffneten uns also mit den warmen Brötchen und Nicky, die heute gute Laune hatte, winkte uns zu. Um uns herum war es wunderschön. Der Frühling war schnell gekommen und die Bäume blühten bereits in hellem Grün, es roch nach frisch gemähtem Gras und die ersten allergiegeplagten Menschen niesten herum. Der Himmel war an diesem Tag blau, ohne ein einziges Wölkchen, und alles fühlte sich unheimlich idyllisch an. So hatte ich es mir immer vorgestellt, eine Familie zu haben. An den Wochenenden und Nachmittagen mit den Kindern zum Baseball in den Park zu gehen, oder ein Picknick zu machen. Nur dass mir der Mann fehlte und das hier nicht meine Kinder waren. Aber ich war entschlossen, das Beste aus der Situation zu machen. "Simon, warum spielst du nicht mit?", schlug ich gut gelaunt vor, doch der Junge warf mir nur einen düsteren Blick zu. "Lieber nicht", antwortete er sehr kryptisch und wandte sich wieder dem Spiel zu, um mir zu bedeuten, die Unterhaltung wäre hiermit beendet. Das sah ich aber ganz und gar nicht so. "Warum denn nicht? Das macht sicher Spaß und die anderen scheinen doch ganz nett zu sein?" Simon versteifte sich plötzlich und wagte es gar nicht mehr, mich anzusehen. "Ich hab Freunde", erwiderte er kühl, "in der Schule." Ich war verwirrt. Das war zwar nicht das, worauf das Gespräch hinauslaufen sollte, aber dass Simon Freunde hatte, bezweifelte ich. Er sprach nie von ihnen, brachte nie welche mit, es rief nie jemand für ihn an und er traf sich auch nie mit jemandem nach der Schule. Stattdessen prügelte er sich, wurde suspendiert und erbrachte auch ansonsten eher durchschnittliche bis schlechte Leistungen. Aber ganz offensichtlich war es ihm unangenehm, über dieses Thema zu reden, und ich wollte es mir nicht mit ihm verscherzen. "Ich weiß, ich meinte nur... Nicky scheint viel Spaß zu haben. Und Nate", fügte ich hinzu. "Nicky ist ja auch eine Sportskanone", sagte er, fast ein wenig neidisch. "Die kann das." "Und du nicht?", wollte ich mitfühlend wissen. Da quatschte Maddy mit vollem Mund dazwischen. "Daddy hat Simon mal zum Fußball geschickt, aber er hat sich dabei eine Gehirnerschütterung geholt und wollte nicht mehr hingehen", verkündete sie naseweiß und nickte nachdrücklich. "Nicky sagt, Simon ist ein einziger Fehler." "MADDY!", rief ich entsetzt aus. "So etwas sagt man nicht! Außerdem ist Simon kein Fehler. Manche Menschen mögen eben Fußball lieber und andere etwas anderes." Das Mädchen hatte offensichtlich nur nachgeplappert, was ihre ältere Schwester gesagt hatte, und war sich keiner Schuld bewusst. Wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, was sie da eben gesagt hatte. "Ich mag fernsehen", erklärte sie mir ernsthaft, und ich musste fast ein wenig lachen. "Und Klavierspielen." Das überraschte mich aber doch. "Tatsächlich?" Sie nickte. "Es hört sich schön an, finde ich. Und man kann alle Lieder selbst nachspielen. Simon mag Bücher, aber ich lese nicht so gerne. Das ist anstrengend." Ich wagte einen heimlichen Blick zu Simon, aber er schien gar nicht mehr interessiert an dem Spiel zu sein, sondern ließ resigniert die Schultern und den Kopf hängen und scharrte mit einem Fuß auf dem Boden im Sand herum. Kein Wunder, dass er so down war. Niemand freute sich darüber, als "Fehler" bezeichnet zu werden. Jemand musste Nicky dringend die Flausen aus dem Kopf treiben. "Ich mochte es immer, wenn meine Mum mir etwas vorgelesen hat, als ich noch klein war", führte ich meine Unterhaltung mit Maddy fort, war aber nicht mehr wirklich bei der Sache. Die Kleine strahlte mich an und Ketchup tropfte von ihrem Hot Dog auf ihre Shorts, knapp an ihrem T-Shirt vorbei. "Ich auch!", rief sie aufgeregt. "Daddy liest mir jeden Abend etwas vor, schon immer, aber er sagt ständig, dass es genauso schön ist, selbst zu lesen." Sie verzog fast angewidert das Gesicht zu einer Grimasse, das ihre Einstellung diesem Thema gegenüber nur allzu deutlich machte. Ich musste lachen. "So ist es aber. Wenn man niemanden mehr hat, der einem vorliest, bleibt einem nichts anderes mehr übrig." Maddy riss erschrocken die Augen auf. "Soll das heißen, Daddy wird irgendwann nicht mehr da sein?!" Da hatte ich ja was Schönes angerichtet! Ich sollte besser aufpassen, was ich sagte. "Nein, so meinte ich das nicht... aber wenn man größer wird und mit der Schule fertig ist und von zu Hause auszieht, dann muss man wohl oder übel für sich selbst lesen, Schätzchen." Ich strich ihr zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht, während sie angestrengt über diese neue Erkenntnis nachdachte. "Meinst du, Clementia wird unsere neue Mum?", fragte sie mich dann plötzlich und traf mich damit total unvorbereitet. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber sofort wieder. "Ich habe keine Ahnung", verkündete ich dann ehrlich. "Willst du das denn?" Maddy zuckte nur mit den Schultern. "Ich weiß nicht, wie das ist, mit einer Mum." Simon hatte die Hände zu Fäusten geballt und funkelte seine kleine Schwester böse an. "Wenn Dad diese Frau heiratet, ziehe ich aus!", drohte er. "Wohin?", fragte Maddy wieder mit großen Augen. Simon dachte nach, und es fiel ihm anscheinend nichts Besseres ein, als "Zu Annie!" Ich verschluckte mich fast an dem Würstchen und fasste mir mit der Hand an den Hals. "Wie bitte?", krächzte ich. "Wenn sie bei uns einzieht, dann gehe ich nicht mehr nach Hause", präzisierte Simon. "Dann hau ich ab." Dann sah er mich allerdings ein wenig erschrocken an, als hätte er Angst, zu viel gesagt zu haben. "Aber sag das nicht Dad, okay?" Ich nickte verwirrt, und noch bevor ich etwas erzieherisch Wertvolles sagen konnte, plapperte Maddy wieder dazwischen. "Dann komme ich auch zu dir, Annie", zwitscherte sie fröhlich. "Wenn Simon nicht mehr da ist, dann will ich auch nicht mehr. Das wird sicher lustig!" Unwillkürlich stellte ich mir uns drei in meiner winzig kleinen Wohnung vor. Und wo Simon und Maddy waren, würde Nicky nicht weit sein. Also uns vier. Meine winzig kleine Wohnung schien in meiner Vorstellung noch kleiner und enger zu werden, so schrecklich voll gestopft mit Menschen. Mir war zwar klar, dass die zwei nur fanatisierten, aber dass ihre Gedanken in solch eine bedenkliche Richtung gingen, das beunruhigte mich allerdings doch. Es konnte doch nicht sein, dass ein Zwölfjähriger darüber nachdachte, von zu Hause abzuhauen, obwohl es mir natürlich auch schmeichelte, dass er mich anscheinend als einen weiteren, sicheren Hafen ansah. Und da wiederum stellte sich mir die Frage, ob das Verhältnis zwischen mir und den Kindern überhaupt so vertraut und eng sein durfte, oder ob wir hinterher alle nur darunter leiden würden, wenn ich... nun ja, einen richtigen Job bekommen würde. In der Pause kamen Nicky und Nate zu uns und besorgten sich ebenfalls Hot Dogs. Während Nicky still vor sich hinfutterte, versuchte Nate, Simon dazu zu überreden, mitzuspielen. "Keine Chance", sagte ich, "ich hab es schon versucht." Simon schüttelte nur starr den Kopf und murmelte etwas von wegen er könnte das nicht, aber Nate glaubte ihm kein Wort. "So schwer ist das nicht", beteuerte er. "Ich zeig's dir, komm mit!" Nicky verzog das Gesicht. "Lass das. Es ist besser für alle, wenn Simon nicht mitspielt." Der Zwölfjährige wurde rot wie eine Tomate, doch anstatt seine Schwester anzumaulen, wie alle Kinder es tun würden und wie es sich in einem solchen Fall auch gehörte, ließ er nur den Kopf sinken und starrte schon wieder seine Schuhspitzen an. Maddy schaute interessiert von einem zum anderen. Ich hatte unendliches Mitleid mit dem Jungen, der anscheinend von allen herumgeschubst zu werden schien. Sein Vater, seine Schule, seine Schwestern! "Ich bin sicher, Simon kann das. Er ist nur ein wenig schüchtern", verteidigte ich ihn deshalb und warf Nicky einen warnenden Blick zu. "Komm, Simon, zeig's den Banausen." Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, nickte Nate mir begeistert zu und packte Simon’s Handgelenk, zog ihn an der Hand hoch und dann hinter sich her, während der überraschte Junge nur noch mit weit aufgerissenen Augen zu uns zurückstarren konnte. Nicky seufzte theatralisch. "Du weißt ja gar nicht, was du eben angerichtet hast", murmelte sie mir zu und machte sich langsam trottend auch auf dem Weg zurück zum Baseballfeld. Maddy und ich sahen uns ratlos an und dann holte sie seelenruhig eine Tüte Süßigkeiten heraus, die sie mit in ihre Tasche geschmuggelt hatte. Es war eine Katastrophe. Ich habe noch nie jemanden so schlecht spielen sehen, wie Simon. Normalerweise fällt ein schlechter Spieler unter den anderen acht nicht so sehr auf, aber hier schienen alle Augen nur auf Simon zu sein. Er schlug zu früh, oder zu spät, er fiel beim Laufen hin und er warf... wie ein Mädchen. Ich konnte gar nicht mehr hinsehen und verfluchte mich selbst, dass ich ihm das angetan hatte. Die Leute auf der Tribüne fingen schon an, zu buhen, was ich unglaublich unverschämt fand. Noch bevor die zweite Halbzeit zu Ende ging, trottete Simon vom Spielfeld, seine Kleidung vollkommen verdreckt und verstaubt. Er schaute mich nicht einmal an, als er sich niedergeschlagen zu uns setzte. Maddy lächelte ihn an. "Hast du gehört, Simon, die Zuschauer haben dir sogar zugejubelt!", versuchte sie ihn zu trösten, da sie merkte, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Sie hatte anscheinend nicht wirklich verstanden, was da eben auf dem Spielfeld abgelaufen war. Simon warf ihr nur einen giftigen Blick zu, als würde sie sich über ihn lustig machen. "Na ja", versuchte ich, ihn ein wenig zu beruhigen, "das war doch gar nicht mal so schlecht... für's erste Mal..." "Ich hab doch gesagt, ich kann das nicht!", fauchte er wütend. "Nie hört mir einer zu!" Ich fühlte mich schrecklich schuldig. "Du musst nur noch ein wenig üben, schätze ich...", erwiderte ich daher lahm. Aber ich konnte mich auch nicht bei ihm entschuldigen, denn eine Entschuldigung käme einem Zugeständnis gleich. Einem vernichtenden "Hätte ich wirklich gewusst, wie mies du spielst, dann hätte ich dich nie auf' Feld gelassen!" Niemals würde ich so etwas sagen! Simon schnaubte nur verächtlich. Ich verstand nicht ganz, was dort draußen mit ihm los gewesen war. Er war schrecklich nervös gewesen und furchtbar ungeschickt. So kannte ich ihn gar nicht, denn normalerweise war er die Ruhe selbst. Zu Hause zumindest. Den Rest des Spiels schwieg Simon mich, die Verräterin, wütend an. Das hatte ich verdient. Nicky wischte sich den Schweiß von der Stirn, als sie zurückkam, und warf erst Simon, dann mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Ganz so, als wollte sie sagen: "Ich hab's dir ja gesagt!" Nate war, wie immer, ganz optimistisch und gut gelaunt. Er ließ seinen Baseballschläger mit einem lauten Scheppern auf den Boden fallen und grinste Simon an. "Kommst du morgen wieder?", wollte er wissen und Simon starrte ihn nur an, als hätte Nate eine Schraube locker, antwortete nicht. "Wenn du früher kommst, können wir noch ein bisschen üben. Da sind meistens nicht so viele Leute da." Mir ging ein Licht auf. Anscheinend hatte Nate etwas begriffen, was mir bis jetzt verborgen geblieben war. Dabei war es so glasklar! Wieso war ich nicht schon vorher drauf gekommen?! Simon hasste Menschenmengen, oder auf der Bühne zu stehen, oder auch auf dem Baseballfeld, wo alle Augen auf ihn gerichtete waren. Er hasste Fußball und Basketball wegen den vielen Menschen, den Mitspielern, den Zuschauern. Er schien mir so etwas wie ein Einzelgänger zu sein, allerdings ein äußerst einsamer Einzelgänger. Simon antwortete nicht, aber Nate plapperte schon weiter. "Du musst auch nicht zum Spiel bleiben, wenn du nicht willst", schlug er freundschaftlich vor. Es war wirklich süß, dass Nate sich so um Simon bemühte. Ich war gerührt. Und mit diesem Jungen war Nicky tatsächlich befreundet?! Ich verstand ja, dass sie ihn nett fand, oder was auch immer sie an ihm fand, da musste man ja vorsichtig sein, aber was hatte er von dem vorlauten, frechen Mädchen, das mehr einem Jungen glich als einem weiblichen Wesen? "Jetzt sag schon ja", zischte eben diese ihrem Bruder ungeduldig zu, der, sich anscheinend unter Druck gesetzt vorkommend, doch noch mit dem Kopf nickte, wenn auch recht unwillig. Nate freute sich. "Cool!" Dann blickte er Maddy an, die ihn mit leuchtenden Augen ansah. "Sorry, Kleine", sagte er zu ihr ganz in alter James Dean-Manier, und schenkte ihr ein überhebliches Lächeln, "du bist leider noch ein wenig zu klein für so was." Maddy's Stimmung kippe sofort und ihr freundlicher Gesichtsausdruck verschwand auf der Stelle. Grimmig starrte sie ihn an und ich musste lächeln. So nett Nate auch sein konnte, er würde später bestimmt mal ein Herzensbrecher allererster Klasse werden. Wir trafen zeitgleich mit Mr. Cooper zu Hause ein, aber er schien so geistesabwesend, dass er gar nicht fragte, wo wir in solch legeren Klamotten überhaupt gewesen waren. Oder warum da ein riesiger Ketchupfleck auf Maddy‘s Shorts prangte. Bei dem Versuch, ihn abzuwischen, hatten wir beide das Desaster nur noch verschlimmert. Typisch eben. Nach unserem peinlichen Zusammentreffen letztens war ich schon viel lockerer in seiner Gegenwart, aber möglicherweise lag es auch nur daran, dass er viel angespannter und nervöser war. Anscheinend war ihm die Sache immer noch unangenehm. Aber das sollte mich nicht weiter stören, denn wenn ich aussuchen müsste, wer von uns beiden in der Nähe des anderen nervöser war, dann würde ich egoistischerweise immer wieder ihn wählen. Er stellte seine schwarze, lederne Aktentasche ab und schlüpfte aus seinem Jackett, das ziemlich warm aussah. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und schien mich erst da richtig wahrzunehmen. Einen Moment lang blickte er mich stumm an, doch erst, als ich fragend die Augenbrauen hob, besann er sich wieder. "Anna, ich wollte Sie noch um einen Gefallen bitten", sagte er und wand sich wieder ab, um, wie gewohnt, mich gar nicht erst anzusehen, wenn er mit mir redete. "Ja?", hakte ich nach, als er nichts mehr sagte. "Können Sie am Wochenende auf die Kinder aufpassen?", fragte er, während er sich vor dem Spiegel seiner Krawatte entledigte, mir freundlicherweise den Rücken zugewandt. Ich zuckte mit den Schultern. "Klar." Er überhörte das. "Ich muss kurzfristig auf Geschäftsreise. Natürlich bezahle ich Sie für Ihre Überstunden. Wenn Sie also so freundlich wären...?" Ich runzelte die Stirn und fragte mich, warum er mich so ignorierte. "Okay", stimmte ich noch einmal zu. Ich hatte für das Wochenende sowieso noch nichts vor, und wenn Mr. Cooper nicht da war, würden wir noch viel mehr Spaß haben, ohne Angst haben zu müssen, dass er uns auf die Schliche kam. "Wann kommen Sie denn wieder?", fragte ich höflich nach, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Im Spiegel warf er mir einen kurzen Blick zu. "Sonntag früh. Freitag Morgen fliege ich." Ich nickte. Ich würde wohl hier übernachten müssen, aber das war auch nicht das schlimmste auf der Welt. Das Haus war geräumig und gemütlich, und zudem viel größer als meine Wohnung. Als schien er meine Gedanken gelesen zu habe, sagte Mr. Cooper: "Sie wissen ja, wo das Gästezimmer ist. Sie können sich dort einrichten." "Ja, Mr. Cooper", erwiderte ich gehorsam. "Jack", verbesserte er mich energisch und ging vom Spiegel weg, nahm seine Aktentasche vom Boden und stellte sie stattdessen auf einen kleinen Hocker. Mit einem Klicken öffnete er sie und blätterte irgendwelche Dokumente durch. "Jack", wiederholte ich leise, mich wieder einmal unwohl fühlend. E i g h t --------- "Wie geht's deinem Mr. Cooper?", löcherte mich mein kleiner Bruder Jamie und nahm eine seltsame, unförmige Keramikfigur in die Hand, um sie sich genauer anzusehen. "Er ist nicht MEIN Mr. Cooper", knurrte ich genervt. "Wieso sagt das denn jeder?!" Jamie zuckte unbeteiligt mit den Schultern. "Keine Ahnung. Wer denn noch?" So beschäftigt, wie er war, war klar, dass er auf eine Antwort nicht unbedingt viel Wert legte, also ersparte ich mir das. "Was hältst du eigentlich hiervon?" Ich nahm das merkwürdige Ding genauer in Augenschein. "Für Mum? Das ist wohl das hässlichste Teil auf Gottes Erde." Er lachte. "Kann schon sein. Aber schau mal, wie griesgrämig das guckt. Das würde doch gut passen, oder?" Er drehte das kugelrunde Ding, das wohl ein Tier oder so etwas ähnliches darstellen sollte, in der Hand hin und her und betrachtete es von allen Seiten. "Jamie!" Ich versuchte zwar, empört zu sein, konnte mir das Grinsen aber dennoch nicht verkneifen. Irgendwo hatte er ja recht. Unsere Mutter war wirklich einer der grimmigsten Menschen auf der ganzen Welt. Wenn sie einmal wütend oder schlecht gelaunt war, konnte das Tage anhalten, ohne Aussicht auf Besserung. Sie war wie eine von diesen alten Damen, die den lieben langen Tag lang nur herumnörgelten und sich über alles und jeden beschwerten, mit dem einzigen Unterschied, dass sie noch nicht so alt war, um sich das tatsächlich erlauben zu können. Das sollte keineswegs heißen, dass sie eine schreckliche Mutter war, ganz im Gegenteil, aber sie meckerte nun mal liebend gern an allem herum und hatte dabei diesen schrecklich grimmigen Gesichtsausdruck auf, über den Jamie, Dad und ich immer lachen mussten. Die Cooper-Bälger waren noch in der Schule und so nutzte ich meinen freien Vormittag, um mit meinem Bruder, der anscheinend wieder mal sein Seminar schwänzte, ein wenig durch die Stadt zu bummeln und nach einem Hochzeitstagsgeschenk für unsere Eltern Ausschau zu halten. Dabei klapperten wir einfach alles ab, was uns in die Quere kam: Antiquitätenläden, Elektrofachmärkte, Supermärkte, Drogerien, Schuhläden, und so weiter, und so fort. Nur um das Sexkino machten wir einen Bogen. Wir waren uns sicher, dass das nicht so rechten Anklang bei unseren Eltern finden würde. "Komm, leg das Ding weg. Lass uns weitergehen, hier finden wir nichts", forderte ich ihn auf und stieß beim Umdrehen an eine alte, verstaubte Kommode aus dunklem Holz, deren Ecke sich äußerst schmerzhaft in mein Hinterteil bohrte. "Ouch, verdammt!" Das würde bestimmt einen blauen Fleck geben. Hier war es einfach viel zu eng. Lauter nicht zusammenpassende und teils auch noch hässliche Dinge standen herum, Dekorationszeug, Möbel, altes Geschirr, das als solches oftmals gar nicht mehr zu erkennen war. Alles, was man aufeinanderstapeln konnte, war auch aufeinandergestapelt worden. Um die zwei Dutzend Leuchter hingen von der Decke herab, manche so niedrig, dass man sich gut hätte den Kopf daran stoßen können, wenn man nicht aufpasste. Ich fand es grauenvoll hier. Und außerdem verströmte jedes einzelne, hässliche Teil in diesem Laden diesen typischen Geruch von vermodertem Holz, gekochtem Kohl und alten Menschen. "Ich bin immer noch für diesen... dieses Tier hier", witzelte Jamie, stellte das obszöne Ding aber wieder zurück ins Regal und folgte mir raus an die frische Luft. Dort atmete ich erst mal richtig durch und wandte mich dann zu meinem Bruder um. Ratlos starrten wir uns an. "Meinst du, ein Küchengerät wäre angebracht?", fragte er mich dann hoffnungsvoll. Ich verdrehte die Augen. "Weißt du noch, was Mum damals mit Dad gemacht hat, als er ihr einen Mixer geschenkt hat?" Jamie grinste. "Oh ja. Sie hat ihn mit dem Mixer durch die ganze Küche gejagt und-" "Mein Gott, sind unsere Eltern bescheuert...", unterbrach ich ihn, da mir ganz plötzlich diese Erkenntnis gekommen war. Hin und wieder überfiel sie mich ohne Vorwarnung und dann konnte ich es einfach nicht fassen, was wir schon alles mit unseren Eltern durchmachen mussten. "Hoffentlich werden wir nicht auch mal so." "Liegt alles in den Genen", klugscheißte mein ach-so-schlauer Bruder, "aber dann kommen noch die Umwelteinflüsse dazu. Was dir vorgelebt wurde, wie du aufgewachsen bist, all so was." Ich stöhnte. "Tolle Aussichten." "So wie ich das sehe", griente mein Bruder schon wieder verschlagen, "hast du sowieso keinen Mann, den du mit einem Mixer jagen kannst, also mach dir mal keine Sorgen darüber." "Sehr charmant", murmelte ich missmutig. "Bist du zu allen Frauen so bezaubernd?" Solche kleinen Kabbelein hatten wir ständig, es war also nichts Besonderes. Aber heute war ich viel zu empfindlich für seine Sticheleien. Das musste er mir angesehen haben, denn er zuckte entschuldigend die Schultern. "War nur Spaß, das weißt du doch." Dann wandte er sich wieder der Frage nach dem Geschenk zu. "Also, auch kein Küchengerät", schlussfolgerte er. "Vielleicht eine CD?" Ich dachte nach. "Und welche?", wollte ich skeptisch wissen. Da unsere Eltern musik- und geschmackstechnisch noch irgendwo in den Siebzigern gefangen waren, war es gar nicht so einfach für uns, ihnen in dieser Hinsicht etwas zu besorgen. Jamie und ich kannten uns kein bisschen in diesem Zeitalter aus. Wer war angesagt gewesen, wer nicht? Und vor allen Dingen: wen davon fanden unsere Eltern gut, und wen nicht? Er zuckte mit den Schultern. "Keinen blassen Schimmer." Eine Weile lang spazierten wir schweigend nebeneinander her, die Straße herunter, und dachten beide angestrengt nach. Nun, zumindest weiß ich, dass ich angestrengt nachdachte, ob oder was Jamie tat, weiß ich nicht. "Das ist schwieriger, als ich dachte", gestand er dann stirnrunzelnd. "Es ist genau so, wie jedes Jahr", erinnerte ich ihn ungeduldig. "Wir laufen ziellos durch die Gegend und finden nichts." "Und dann", ergänzte er der Wahrheit halber, "kaufen wir irgendeinen Mist aus Verzweiflung." Wir grinsten uns einvernehmlich und auch ein bisschen entmutigt an. "Wieso können wir also nicht gleich zu dem Teil mit dem Verzweiflungskauf übergehen?", schlug er vor und ich seufzte. "Ja, warum eigentlich nicht?" "Was hältst du von diesem runden Ding aus dem Antiquariat?" Er konnte einfach nicht locker lassen. "Sieht doch sehr nach Verzweiflung aus, oder nicht?" Ich blieb stehen, drehte mich um und schaute wieder die Straße hinauf. "Oder Blumen und einen Kuchen per Post?" Er riss die Augen auf. "Warum bist du nicht schon früher drauf gekommen?!", verlangte er aufgeregt zu wissen. "Dann hätten wir uns das hier sparen können!" "Entschuldige, dass ich deine kostbare Zeit so in Anspruch genommen habe", erwiderte ich trocken und steuerte die nächste U-Bahn-Station an. "Kriegst du das hin, Blumen und Kuchen per Internet zu bestellen?", hakte ich nach. "Kein Problem!" Jamie streckte einen Daumen in die Luft, aber ich war mir sicher, dass er es vergessen würde. "Ich ruf dich morgen an und erinnere dich daran." "Du traust mir wohl gar nichts zu", schmollte er, so wie schon damals, als er acht war und ich zehn und ich ihm nicht erlauben wollte, an meiner Pyjamaparty teilzunehmen. Wir waren sechs Mädchen gewesen und wir wollten von unseren Lieblingsstars schwärmen und deren Poster anschmachten, während wir Oreos in uns reinstopften, da hätte ein nerviger, kleiner Achtjähriger gerade noch gefehlt. Jedenfalls hat er mir das noch Wochen später vorgehalten, aber skrupellos, wie ich war, hatte ich ihn einfach ignoriert. "Sei nicht blöd, Jamie. Du weißt selbst, dass du immer alles schleifen lässt." "Wie charmant", äffte er mich mit blöder Stimme nach, die meiner nicht mal im Entferntesten ähnlich war, "bist du zu allen Männern so bezaubernd?" "JA!", fauchte ich ihn an. Ich wusste ja, dass er es nicht ernst meinte, aber momentan war ich ein bisschen pikiert, wann immer die Sprache auf mein nicht-existentes Liebesleben fiel. Stattdessen durfte ich mich mit den Liebesleben anderer befassen: Maddy hatte mir gestern noch verkündet, dass Kyle Harrison sie gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wollte. Auf meine Frage hin, was sie darauf geantwortet hatte, setzte sie eine nachdenkliche Miene auf und verschränkte die Arme vor der Brust, als müsste sie erst einmal angestrengt überlegen. "Ich muss mir das noch durch den Kopf gehen lassen", erwiderte sie und imitierte dabei den Tonfall einer Erwachsenen. "Er hat mir nicht gesagt, was für mich dabei rausspringt." Ich musste nach Luft schnappen. "Für dich rausspringt?!" Dann verwandelte sich die Kleine wieder in die Maddy, die ich kannte. Das achtjährige, kleine, naive Mädchen. "Ich weiß nicht. Nicky hat das gesagt. Was bedeutet das, Annie?" Ich stöhnte. "Das heißt, dass du noch zu jung bist für einen Freund. Warte lieber noch ein paar Jährchen." Sie überlegte wieder und ich konnte fast sehen, wie die Zahnräder hinter ihrer Stirn arbeiteten. Wahrscheinlich versuchte sie das, was Nicky gesagt und die Bedeutung, die ich ihr gerade geliefert hatte, in Einklang miteinander zu bringen. Dann entschied sie sich. "Okay. Ich sag ihm das. Kann ich dann trotzdem mit ihm gehen?" Bei der Erinnerung an dieses Gespräch musste ich grinsen. Das ging mir in letzter Zeit oft so, dass ich, wann immer ich schlecht gelaunt war, an irgendetwas denken mussten, was eines der Kinder gesagt oder getan hatte, und das brachte mich dann wieder zum Lachen oder stimmte mich zumindest etwas fröhlicher. "Gut." Jamie schien ein wenig eingeschüchtert von meiner gegenwärtigen Miesepetrigkeit zu sein und ging ein paar Schritte auf Abstand, als würde ich mich gleich auf ihn stürzen, wenn er sich nicht schnell genug in Sicherheit brachte. "Ähm..." Ich sah auf und musterte ihn prüfend. Er schien irgendwie nervös zu sein, die ganze Zeit schon, aber mir fiel das jetzt erst auf. "Was?", hakte ich misstrauisch nach. Er sah nicht so aus, als wollte er mir gute Neuigkeiten überbringen. "Tja, äh, nichts eigentlich", winkte er schnell ab und fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare, seine Augen wanderten unruhig hin und her. Mich selbst sah er nicht an. Ich verdrehte die Augen. Das war ja schon fast genauso anstrengend, wie mit Mr. Cooper zu sprechen. "Spuck's schon aus. Je früher du's mir beichtest, desto schmerzfreier wird dein Tod, ich versprech's", forderte ich ihn grinsend auf. Jamie lächelte halbherzig, hob dann den Kopf und starrte ein paar Sekunden lang in den Himmel. Ich folgte seinem Blick, aber es war nichts Interessantes dort oben erkennbar. Wolken, Dächer, Reklametafeln. "Jamiiieee", stöhnte ich ungeduldig. "Ich muss los." "Ich hab ein Date mit Julie", platzte es plötzlich aus ihm heraus und sofort duckte er sich und schirmte seinen Kopf mit den Armen ab. Verdattert glotzte ich ihn an. Er schien zu merken, dass ich ihm nicht an die Gurgel springen wollte, also begab er sich wieder in eine halbwegs aufrechte Position. Mein Bruder war echt ein Komiker, tz... "Wie kommt's?", wollte ich dann doch noch wissen. Wenn ich so über Jamie's Ahnungslosigkeit nachdachte und über Julie's Abneigung dagegen, dass er jünger war als sie... seltsam, oder? "Ach, tja... das bleibt unser kleines Geheimnis, Annie", grinste er verschmitzt und ich war mir plötzlich ziemlich sicher, dass ich überhaupt nicht wissen wollte, wie es dazu gekommen war. "Uah. Ist vielleicht auch besser so", erwiderte ich skeptisch und beäugte meinen kleinen Bruder misstrauisch. "Sie hat dich doch nicht dazu gezwungen oder so?" Man konnte bei Julie ja nie wissen... Sein Lächeln wurde breiter. "Na ja, also, kommt drauf an, was-" "Okay, okay, ist gut!", unterbrach ich empört. "Behaltet die schmutzigen Details für euch, kapiert?" Er zuckte amüsiert mit den Schultern. "Klar, wie du willst." "Uff, ist das komisch", murmelte ich, während ich das alles noch verdaute. Mein Bruder mit meiner besten Freundin... das sollte doch schön sein. Ich sollte mich freuen. Warum hatte ich dann das Gefühl, ausgeschlossen zu werden? Ein bisschen neidisch war ich auch. Jeder hatte ein Liebesleben, sogar zwei so komplizierte Personen wie Julie und Jamie, nur ich nicht. Sogar Maddy, die Glückliche! Wo ich gerade an Maddy dachte, erschrak ich und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. "Oh, schon so spät, Jamie. Ich muss los. Die Kids kommen gleich aus der Schule und ich muss das ganze Wochenende über babysitten, weil Mr. Cooper auf Geschäftsreise ist oder so", sprudelte es hastig aus mir heraus. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. "Denk bitte an das Geschenk, ja? Ich ruf dich an, grüß Julie von mir!" Die würde ich wahrscheinlich auch nicht mehr so schnell zu Gesicht bekommen. Jamie öffnete den Mund, um mir zu antworten, aber ich ließ ihn nicht, denn da spurtete ich schon längst zu meiner U-Bahn die Treppe herunter. N i n e ------- Keuchend und schnaufend kam ich gerade rechtzeitig bei den Coopers an. Stimmt nicht ganz - ich war sogar fünf Minuten früher als die Kids. Das ließ mir genug Zeit, um die Einkäufe - Chips, Eis und andere Leckerbissen -, zu verstauen, damit die Kinder sich nicht sofort darauf stürzten. Mittlerweile war es schon zur Tradition geworden, dass wir, wann immer ich über das Wochenende blieb, eine kleine Party veranstalteten, mit lauter Zeug, das dem Magen sicherlich nicht gut tat, und mit ein paar Videos. Letztes Mal war es ein Disney-Video gewesen, aber da ich Maddy später zu einer Pyjamaparty bringen musste, würde sie dieses Wochenende nicht anwesend sein, deshalb standen die Chancen gut, dass Nicky, Simon und ich heute etwas "Erwachseneres" gucken konnten. Nicky beschwerte sich schon lange, dass ihr diese Kinderfilme langsam zum Halse heraushingen, aber ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass das nur Wichtigtuerei war. Ich hatte gerade das Eis versteckt, da kamen die drei schon zur Tür herein und, ohne mich zu begrüßen, waren sie auch schon nach oben abgerauscht. Wirklich, ich fühlte mich hier von Tag zu Tag heimischer, ganz so, als gehörte ich bereits zum Inventar. Obwohl Möbelstücke natürlich nicht den Chauffeur spielten, das Essen zubereiteten und die Betten machten... Ich warf einen Blick auf die Uhr und entschied, den Kids heute nicht mit meiner ewigen "Macht die Hausaufgaben"-Tour zu kommen, denn es war Freitag und dafür hatten sie noch genug Zeit. Ich erinnerte mich an meine eigene Schulzeit, die noch gar nicht allzu lange her war, und wie ich immer Sonntag abends verzweifelt vor meinen Schulbüchern saß und versuchte, mir irgendwelche Gedichte, Zahlen oder Formeln einzuprägen, bereits wissend, dass ich am nächsten Tag kläglich versagen würde. Jamie, der Streber, machte seine Aufgaben natürlich schon immer direkt nach der Schule. Besonders so eklige Fächer wie Mathe, Chemie, Physik und Biologie lagen ihm - also alles, was auch nur im Entferntesten mit Naturwissenschaften zu tun hatte. Einfach widerlich, fand ich damals, und je länger ich Sonntags an den Hausaufgaben saß, desto mehr perfektionierte ich meine Fähigkeiten in Kunst - oder besser gesagt im "kleine Schmierereien ins Heft kritzeln". Meine Lehrer waren nicht erfreut, meine Eltern nach den Elternsprechtagen noch weniger, aber irgendwie schaffte ich es immer, einigermaßen passable Noten nach Hause zu bringen. Wie ich dann allerdings nach meinem Studium von "Archivwesen" - ja, ich hielt das damals tatsächlich für eine gute Idee -, und bei meiner Aversion gegen Zahlen bei einem kleinen Finanzberatungsunternehmen landen konnte, das kann ich mir auch heute noch beim besten Willen nicht erklären. Ich muss möglicherweise geistig umnächtigt gewesen sein, oder meine Arbeitgeber müssen geistig umnächtigt gewesen sein, dass sie so etwas wie mich überhaupt einstellten. Nun, letztendlich sind sie ja pleite gegangen, und ich schwöre, es war nicht meine Schuld, obwohl ich so eine Option durchaus im Bereich des Möglichen vermutete. Ein Gutes hatte es ja, bei Mr. Cooper zu arbeiten. Ich musste weder rechnen, noch mit ätzenden, störrischen Kunden ihre in den Keller gesunkenen Finanzen durchkauen, während ich in einem stickigen, heißen Raum saß, von meinen Kollegen nur durch eine Pappwand abgetrennt und durch sämtlichen Lärm immer wieder gestört. Dagegen war das hier fast schon Luxus, das musste ich mir eingestehen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ich so lange wartete, bis ich mich endlich nach einem neuen Job umsah... Ich hatte zwar verschiedene Gesuche ausgedruckt, hatte aber weder eine Bewerbung geschrieben, noch irgendetwas Anderes dafür getan. Es war wie mit den Hausaufgaben am Sonntag, nur, dass es hierbei nicht um den nächsten Schultag ging, sondern um die Zukunft. Und Zukunft, so schien es mir, war ein großes Wort. Eines, dem ich nicht gewachsen war. Maddy kam runter und unterbrach meine tiefsinnigen Gedanken. Eine Weile lang stand sie nur da und sagte kein Wort, als ob sie darauf wartete, selbst angesprochen zu werden. Ich tat ihr den Gefallen, obwohl ich es nicht gewohnt war, sie so zurückhaltend zu erleben. "Was ist los, Maddy?", hakte ich freundlich nach und wusch meine Hände über der Spüle. Sie zuckte unbeteiligt mit den Schultern, wich aber meinem Blick aus. "Nichts." Na, nach "nichts" sah mir das aber nicht aus, dennoch verkniff ich mir diesen Kommentar. "Müssen wir schon los? Wann musst du da sein?" "Um sechs erst." Und so einsilbig war sie heute auch noch. Langsam begann ich wirklich, mir Sorgen zu machen. "Alles in Ordnung?", wollte ich jetzt doch ernsthaft wissen, trocknete mir die Hände ab und machte einen Schritt auf die Kleine zu, doch wieder blockte sie nur ab, schaute weg und nickte. Ich war ratlos. Hatten denn alle Kinder in diesem Haus einen Knacks? "Tja, dann...", murmelte ich hilflos, "mach dich schon mal fertig. Soll ich dir beim Packen helfen?" Endlich zeichnete sich so etwas wie ein schiefes Lächeln auf ihren Zügen ab. "Nee. Daddy hat mir gestern schon geholfen." Aha, "Daddy" also schon wieder. Nach allem, was ich bisher wusste, konnte ich nicht umhin, mir früher oder später eingestehen zu müssen, dass Mr. Cooper doch nicht so ein schlechter Vater war, wie ich ihn mir ausgemalt hatte. Sicher, er schien streng und konservativ und er machte auch immer den Eindruck, schrecklich überarbeitet zu sein, aber er kümmerte sich wirklich um seine Kinder. Irgendwie machte ihn das in meinen Augen weniger furcheinflößend. Menschlicher. Und sind wir doch mal ehrlich - ein alleinerziehender, anständiger Mann läuft einem nicht jeden Tag über den Weg. Also mir zumindest nicht. Maddy stand noch in wenig in der Küche herum und scharrte mit den Füßen, machte jedoch keine Anstalten, etwas zu sagen, also ließ ich sie in Ruhe. Wenn sie soweit war, würde sie mir schon von selbst mitteilen, was sie auf dem Herzen hatte. Sicherheitshalber sollte ich mir aber dennoch ihre Packtasche anschauen. Ich glaubte ihr zwar, dass schon alles fertig war, aber Mr. Cooper war ein Mann, und Packen und Männer waren nicht unbedingt das Dreamteam schlechthin. Mein Vater zum Beispiel konnte ohne meine Mutter nicht einmal einen Bund Karotten in den Einkaufswagen legen, geschweige denn seinen Koffer reisefertig machen. Andererseits war Mr. Cooper anscheinend schon lange nicht mehr auf die Hilfe einer Frau angewiesen, also könnte es durchaus möglich sein, dass er den Bogen bereits raus hatte. Trotzdem sollte ich nachschauen gehen. So in Gedanken versunken merkte ich gar nicht, wie Maddy wieder ging, aber als ich mich nach ihr umdrehte, war sie schon weg. Ich machte mich auf den Weg nach oben, denn das Gästezimmer, das sich dort befand, durfte ich benutzen, solange ich hier war. An Wochenenden war das meine Unterkunft und auch an sonstigen, regulären Arbeitstagen konnte ich mich dorthin zurückziehen. Es war das typische Gästezimmer: klein, mit Bett und Kommode, einem Fenster mit Vorhängen, einem Nachtschränkchen, einem Papierkorb und einem Schreibtisch mit Leselampe. Also absolut ausreichend für mich, da ich hier sowieso nichts anderes tat, als auf dem Bett zu liegen - mittags, wenn die Kinder in der Schule waren -, oder zu schlafen - nachts, wenn alle anderen auch schliefen. Gegenüber befand sich Mr. Cooper's Schlafzimmer, direkt nebenan Nicky's Zimmer. Ich warf mich rücklings auf's Bett und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Es war zwar erst Nachmittag, aber irgendwie war ich geschafft. Zum Glück hatte ich noch ein paar Minuten, bis ich Maddy ausliefern sollte und solange die Brut ruhig war, sollte mir das recht sein. Kaum hatte ich diesen Gedanken zuende gedacht, klopfte es. Ich hob den Kopf und sah Simon leise hereinschleichen. Unsicher blickte er mich an und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Ich setzte mich aufrecht hin. "Hi Simon, was gibt's?", fragte ich schon wieder, nur ein anderes Cooperkind. Irgendwas schien heute im Busch zu sein. "Hi Annie", murmelte er, trat ein paar Schritte näher, blieb aber am Schreibtisch stehen und lehnte sich dagegen. Ich bemerkte, dass er ein Blatt Papier mitgebracht hatte und auf seiner Unterlippe herumkaute. Ich schwieg und wartete auf eine Antwort, aber er sagte nichts, also lächelte ich ihm aufmunternd zu. Was immer er wollte, ich würde ihm schon nicht den Kopf abreißen. Das schien zu wirken, denn plötzlich kam er zu mir und hielt mir das Blatt hin. Ich nahm es und überflog kurz den Inhalt des Schreibens. Es war von seiner Schule und die Eltern wurden gebeten, Termine für den Elternsprechtag zu vereinbaren. "So bald schon", murmelte ich, als ich das angesetzte Datum sah. "Das musst du deinem Dad geben, damit er sich schnell einen Tag frei nehmen kann." Simon verzog das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. "Ich dachte eigentlich... also, kannst du nicht einfach stattdessen hingehen?" Für einige Sekunden war ich sprachlos, aber ziemlich gerührt. Dann schüttelt ich bedauernd lächelnd den Kopf. "Du weißt schon, es heißt ELTERNsprechtag. Nicht Kindermädchensprechtag." Ich zwinkerte ihm zu, um ihn ein bisschen aufzuheitern, aber er blickte mich nur niedergeschlagen und mit hängenden Schultern an. "Bitte, Annie", flehte er leise, "Dad soll da nicht hin. Er versteht das alles nicht!" Perplex sah ich ihn an. "Was denn?" "Dass ich nicht in die Schulfußballmannschaft will. Oder in irgendeinen komischen Schulclub, so was wie Theater und so. Kannst du denen das nicht sagen? Die wollen, dass ich dahin gehe." Ich fühlte ich ein wenig hilflos, ungefähr genauso, wie Simon aussah, und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte, also griff ich nach seiner Hand und zog ihn auf das Bett, sodass er sich neben mich setzte. "Wieso sagst du deinem Dad nicht einfach, was du willst und was du nicht willst und dann sehen wir schon, ob er das verstehen wird?", schlug ich vor. In so einer Sache einfühlsam vorzugehen und beiden Seiten gerecht zu werden, war schwieriger, als gedacht. Simon ließ den Kopf sinken und nuschelte irgendetwas Undeutliches, dessen Inhalt wahrscheinlich der war, dass ein Gespräch mit seinem Dad einer Diskussion mit einem Stein glich. Aber vielleicht waren das auch nur meine eigenen Gedanken. Ich verstand nicht, warum ausgerechnet Simon sich so vor seinem Vater ängstigte, wo doch Maddy und Nicky bestens mit ihm auskamen. Na gut, Maddy kam bestens mit ihm aus, Nicky legte sich immer wieder mit ihm an und musste das letzte Wort haben, aber immerhin setzte sie sich mit ihm auseinander. Einem spontanen Impuls folgend legte ich den Arm um Simon's Schultern und drückte ihn kurz an mich, und weil uns das beiden plötzlich unangenehm war, verstrubbelte ich ihm anschließend die Haare, die wunderbar weich waren. "Hör zu, du kannst mir das hier lassen und ich rede mit deinem Vater, aber auf den Elternsprechtag gehen kann ich wirklich nicht. Die würden mich wahrscheinlich nicht mal reinlassen." An so einer Privatschule für Bonzen, fügte ich in Gedanken hinzu. "Aber die Lehrerin wird... sie wird ihm erzählen, dass..." Er stockte, als ob er merkte, dass er dabei war, sich zu verplappern und seufzte, schien jedoch wenig überzeugt zu sein von meiner Idee. "Na gut", murmelte er schließlich geschlagen. "Wenn du meinst." Ein bisschen mehr Vertrauen konnte er mir schon entgegenbringen, dachte ich, doch dann fiel mir ein, dass ich mich soeben freiwillig einverstanden erklärt hatte, mit Mr. Cooper über so ein sensibles Thema zu reden, und mir wurde klar, dass Simon mir genau das Vertrauen entgegenbrachte, das angebracht war. Trotzdem wollte ich ihn nicht so deprimiert gehen lassen. "Überleg dir schon mal, während ich weg bin, was wir heute Abend gucken wollen, okay?", rief ich ihm fröhlich hinterher, als er aus dem Zimmer schlurfte. Er murmelte ein "Mhm" und verschwand aus meinem Blickfeld, und ich widmete mich dem Schreiben, das er dagelassen hatte und fragte mich, was die wohl tun würden, wenn ich dort auftauchte anstatt seinem Vater. Und was sein Vater tun würde, wenn ich das tatsächlich machte. Ich grinste schief und legte das Papier schnell beiseite, bevor mir noch weitere Schnapsideen kamen. Aber was hatte Simon damit gemeint, als er sagte, dass seine Lehrerin seinem Vater irgendetwas erzählen würde? Da war doch noch mehr faul als dieser Unwille, Mannschaftssport zu betreiben. Ich sollte das herausfinden und möglicherweise würde die neunmalkluge Nicky mir eine große Hilfe dabei sein, allerdings würde ich vorher Maddy zu ihrer Pyjamaparty bringen müssen und je schneller ich das erledigte, desto besser. Ein Zusammentreffen mit diesen ganzen Bonzenmüttern und deren Nannys war mir nicht geheuer und es war immer besser, pünktlich zu sein, denn so würde ich ihnen, die generell die vorgeschriebenen fünfzehn Anstandsminuten später kamen, nicht begegnen. Ich läutete die dritte Runde des heutigen Spiels "was ist bei den Cooper-Kids im Busch" ein, als Maddy in den Wagen stieg und mir andauernd wieder diese vielsagenden Blicke zuwarf. Wir waren nur noch ein paar Autominuten von der Wohnung ihrer Freundin und ich nur wenige Augenblicke davon entfernt, meine Vorsätze, sie selbst reden zu lassen, über Bord zu werfen, als sie endlich den Mund aufmachte. "Du, Annie", nuschelte sie leise. "Ja?", fragte ich hoffnungsvoll. Endlich! "Muss ich Kyle wirklich küssen?" Ich war kurz davor, auf die Bremsen zu steigen und sofort wieder nach Hause umzudrehen, um mir ein paar Beruhigungstabletten einzuschmeißen. Ich ließ es sein. "Wie bitte?" Sie errötete ein wenig. "Er sagte, wenn wir miteinander gehen, muss ich ihn küssen. Das machen Erwachsene auch so, weißt du?" "Nee", machte ich unwillkürlich, und es hörte sich eher ein wie ein stumpfes "Määh" von einem Schaf. Maddy schaute mich mit großen Augen an. "Du weißt das nicht, Annie?", fragte sie fassungslos, fast schon vorwurfsvoll. Natürlich wusste ich das. Aber sie hatte das nicht zu wissen mit ihren acht unschuldigen Jahren! Mein Gott, ich war nicht vorbereitet auf solche Gespräche. Wenn das schon so anfing, wohin sollte das führen? Wo war ihr Vater, verdammt, das war schließlich sein Job hier! "Doch, doch", beeilte ich mich schnell zu sagen, bevor sie zum Schluss kommen konnte, dass ich eine unglaublich unfortschrittliche und mittelalterliche, verbohrte Erwachsene war, die nicht einmal wusste, dass man jemanden küsste, wenn man sich lieb hatte. Haha, dabei hätte sie gar nicht mal so falsch gelegen. Das letzte Mal, dass ich jemanden geküsst hatte, war... aber hier geht’s gerade nicht um mich. "Ich frage mich nur, warum du über so etwas nachdenkst." Ich lachte nervös. Ich wollte am liebsten herumbrüllen und toben, dass sie das Wort "küssen" nicht einmal in den Mund nehmen sollte bis sie achtzehn ist, aber das wäre auch schon das Ende unserer Freundschaft gewesen. Maddy zuckte mit den Schultern. "Kyle hat das gesagt." Ach ja, genau, Kyle. Kyle, was ist das überhaupt für ein Name? Und wie kommt Kyle dazu, meinem kleinen Mädchen solch verdorbene Gedanken in den Kopf zu pflanzen? Wenn ich den in die Finger kriege... "Du musst nichts tun, was du nicht willst", sagte ich diplomatisch, aber es klang so gezwungen, als hätte ich es irgendwo auswendig gelernt und würde selbst nicht so recht dran glauben. Tat ich ja auch nicht, zumindest in diesem speziellen Fall. "Ich meine", fügte ich noch schnell hinzu, nur für den Fall, dass Maddy es doch wollte, "am besten ist es natürlich, wenn man schon älter ist und wirklich weiß, dass man jemanden küssen will. Und was für Folgen das alles haben kann und so weiter..." Oh je, ich redete mich in Schwierigkeiten hinein! Maddy warf mir einen fragenden Blick zu. "Was denn für Folgen?", wollte sie neugierig und auch ein bisschen ängstlich wissen. Ich hätte gleich wissen sollen, dass ich mit meiner Schwafelei nur diese eine Frage heraufbeschwören würde. Mensch! "Äh, also weißt du... manchmal passiert noch mehr und... das sollte einfach nicht passieren." Mist, Mist, Mist! Hör auf damit! "Was denn?" Große, braune Augen starrten mich an. "Zerbrich dir darüber nicht den Kopf und... erzähl deinem Vater bloß nichts davon." Vor allem nicht, was für einen Schrott ich hier verzapfe... "Ah, wir sind ja schon da!" Mit einem Ruck hielt ich an und sprang aus dem Auto, um Maddy’s Tasche von der Rückbank zu holen. Auch sie stieg aus und betrachtete mich stirnrunzelnd, wartete anscheinend noch, dass ich weitererzählte, aber da kam schon zum Glück der Portier und nahm mir die Sachen ab, um Maddy und mich ins Haus zu begleiten. Diese warf mir noch einen ratlosen Blick zu, sagte aber vor dem netten Mann zum Glück nichts mehr darüber. Er versprach, sie nach oben zu begleiten und ich war froh drum, denn so konnte ich sofort wieder fahren und mich von dem Schock eben erholen. Und mir vielleicht schon mal überlegen, was ich beim nächsten Mal sagen konnte... Mensch, wenn Mr. Cooper wüsste, wie sehr ich seine Kinde verkorkse, dann würde er mich sicherlich nicht mehr bei sich zu Hause arbeiten lassen, zumindest nicht ohne Aufsicht. Zurück in der Cranberry Street bot sich mir – als wäre dieser Tag noch nicht Strafe genug gewesen -, ein grauenhafter Anblick des Wohnzimmers: Alle Schranktüren standen sperrangelweit offen und der Fußboden schien unter ein Papierlawine begraben worden zu sein. Mittendrin Nicky, die seelenruhig ein paar Dokumente studierte und sich in ihr Schulheft Notizen machte. Vor lauter Entsetzen konnte ich nicht einmal die nötige Empörung aufbringen, sondern stand nur wie angewurzelt in der Tür und betrachtete fassungslos das Durcheinander. "Nicky", wimmerte ich hilflos und machte einen wackeligen Schritt auf sie zu, "was zum Teufel machst du da?!" Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich um wichtige Papiere handelte, halt alles, was man eben so aufbewahren sollte. Dokumente von Behörden, Pässe, wichtige Schreiben, und so weiter. Alles lag verstreut in der Gegend herum, vereinzelt auch Ordner mit diversen Aufschriften, wie "Ablage", "Arzt", "Bank" und so weiter. Ach du liebe Güte! Nicky blickte auf und sah so aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Zu allem Überfluss zuckte sie auch noch unbeteiligt mit den Schultern, sich keiner Schuld bewusst, und erklärte lammfromm: "Ich musste für eine Schulaufgabe etwas recherchieren." "Recherchieren?" Meine Stimme klang schrill. "Hier?!" Mit "recherchieren" konnte unmöglich gemeint gewesen sein, das Wohnzimmer zu Grunde zu richten! Aber es war nicht diese Unordnung, die mir in diesem Moment Sorgen bereitete, sondern vielmehr, dass ich dieses ganze Durcheinander nicht mehr beseitigt kriegte, zumindest nicht ganz, denn woher sollte ich bitte wissen, welches Blatt Papier wozu und in welchen Ordner und in welche Reihenfolge gehörte? Mr. Cooper würde denken, ich hätte in seinen Sachen geschnüffelt. Die Kündigung wäre die logische Konsequenz hiervon, schien mir aber in diesem Augenblick nicht das Schlimmste zu sein, sondern die Tatsache, dass er durch diesen Vorfall meine Integrität in Frage stellen würde. Niemals würde ich es wagen, in fremden Sachen herumzustöbern, aber genau das würde er denken! Ich merkte, dass ich ein wenig überreagierte und holte erst einmal tief Luft, um mich zu beruhigen. Natürlich würde Nicky ihm sagen, dass ich damit nichts zu tun habe. Kann man diese Kinder denn keine halbe Stunde alleine lassen? Ich hätte einen Babysitter beauftragen sollen, was durchaus ironisch gewesen wäre, da ich ja hier der Babysitter war. "Wir sollten etwas über unsere Blutgruppe herausfinden. Nächste Woche machen wir eine Führung durch ein Krankenhaus und die erklären uns alles über Blutspende." "Toll", sagte ich trocken. Das Ganze stieß bei mir auf nur wenig Begeisterung. "Und dafür der ganze Mist hier?" Ich machte eine ausholende Handbewegung und verwies auf den papierbedeckten Boden. "Dad hat die ganzen Sachen so gut versteckt, da musste ich erst einmal suchen", verteidigte sie sich. "Schau mal, ich hab die Blutgruppe B positiv." Sie stand auf, wedelte mit ihrem Heft in der Luft und grinste ob der Leistung, die sie erbracht hatte. "Meine Lehrerin sagt, nur neun Prozent der Weltbevölkerung haben das." "Herzlichen Glückwunsch", murmelte ich missmutig, in Gedanken bereits vollauf beschäftigt mit Aufräumen. Als hätte ich hier sonst nichts zu tun! "Ja. Ich bring das eben weg und dann helfe ich dir beim Aufräumen." Nicky stapfte durch das Papier an mir vorbei und stieg die Treppe hoch. Ich blieb noch einen Augenblick stehen, betrachtete ihr Werk und seufzte schließlich schicksalsergeben. Je schneller das beseitigt war, desto früher konnte ich zu anderen Dingen übergehen. Ich wette, Nicky hätte sich nie getraut, so etwas zu veranstalten, wenn ihr Vater zu Hause gewesen wäre. Ich machte mich also daran, alles grob zu ordnen, und setzte mich im Schneidersitz auf den Boden. Arztrechnungen auf einen Haufen, Bankangelegenheiten auf einen anderen. Ganz oft fand ich mir vollkommen unverständliches juristisches Zeug, das auf den "Ich weiß nicht wohin damit"-Haufen kam. Ob Mr. Cooper das alles alphabetisch oder nach Datum sortierte? Na ja, Nicky konnte es mir bestimmt sagen, wenn sie gleich wiederkam. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihr das entgangen sein konnte, wo sie doch so sorgfältig darauf bedacht gewesen war, so viel Chaos wie möglich anzurichten. Ich nahm ein paar Papiere von dem kleinen Couchtisch und warf einen Blick darauf. Es waren Ergebnisse von einer Blutuntersuchung und Nicky's Name stand drüber. Das Datum allerdings lag schon fast acht Jahre zurück. Mr. Cooper war ein wirklich gründlicher Mensch, wenn er so was noch aufbewahrte. Ich blätterte den kleinen Stapel Papier kurz durch und es fanden sich auch die Blutergebnisse der anderen beiden darin wieder, alle mit demselben Datum gekennzeichnet. Nicht besonders beeindruckt legte ich das Zeug auf den "Arztrechnungen"-Haufen, und fand es ziemlich witzig, dass alle drei Kinder verschiedene Blutgruppen hatten. Als ich weiter den Tisch abräumte, fiel mir noch ein Stapel solcher Ergebnisse in die Hände, dieses Mal stand Mr. Coopers Name drauf und auch das Datum lag schon länger zurück als das von den Unterlagen eben. AB, las ich, und runzelte die Stirn. Irgendetwas in meinem Hinterkopf schlug Alarm, aber ich wusste nicht genau, was das war. Dann blätterte ich auch diese Unterlagen wieder durch, diesmal misstrauischer, und stieß tatsächlich auf das Papier, das an "Mrs. Marie Cooper" adressiert war. Mein Herz begann vor Aufregung etwas schneller zu schlagen. War das etwa seine Ehefrau? Oder seine Ex-Frau, oder wie auch immer? Hier im Haus wurde über sie nicht geredet, und dann fiel mir plötzlich so ein wichtiges Dokument in die Hände! Und sie hatte meinen Zweitnamen! Ich war ganz aus dem Häuschen, schon allein dadurch, dass die unbekannte Frau jetzt einen Namen bekommen hatte. Ich fühlte mich plötzlich, als täte ich etwas Verbotenes, indem in diese Unterlagen in den Händen hielt. Instinktiv schaute ich mich um, ob mich jemand beobachtete, aber es war natürlich niemand da und von Nicky war noch immer weit und breit nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie es sich oben gemütlich gemacht und dachte gar nicht daran, mir beim Aufräumen zu helfen. Aber im Moment war das nicht meine größte Sorge, denn ich war viel zu fasziniert von diesem einen Blatt Papier, dass die Blutdaten dieser Frau enthielt, die hier anscheinend ein Tabuthema war. Neugierig betrachtete ich die Zahlen, die die Werte der weißen und roten Blutkörperchen angaben, des Cholesteringehaltes im Blut und anderes, wovon ich nicht wirklich etwas verstand. Vielleicht würde dieses Stück Papier mir Aufklärung darüber verschaffen, was mit der Frau passiert war. Vielleicht hatte sie eine Krankheit gehabt. Nicht, dass ich das irgendwie erkannt hätte an diesen ganzen Ziffern, die mir rein gar nichts sagten. Dann fiel mein Blick auf ihre Blutgruppe und das Gefühl des Unwohlseins verstärkte sich plötzlich zusehends. Blutgruppe B. B positiv, aber war da nicht etwas gewesen... etwas, das ich übersehen hatte? Ich tastete nach den Unterlagen der Kinder, die ich gerade auf den Arzthaufen geschmissen hatte, und suchte nach der Unstimmigkeit, die ich gesehen zu haben glaubte und die mir jetzt fast die Luft abdrückte. Ich schaute mir alles noch einmal an und überflog die wichtigen Zeilen. Nicole Alexandra Cooper, blablabla, B Rhesus positiv, Simon Andrew Cooper, blablabla, AB Rhesus positiv, Maddison Marie Cooper, blablabla, 00 Rhesus positiv. Ich bin zwar kein Mediziner, aber selbst ich wusste, dass da irgendetwas nicht stimmen konnte. Eine böse Vorahnung veranlasste mich dazu, all die Sachen, die ich gesehen und gelesen hatte, schnell unter den Stapel mit den Arztrechnungen zu stecken. Dann stand ich auf und fischte mit zitternden Fingern mein Handy aus der Hosentasche hervor. Ich wählte eine Nummer. "Ich hab den Kuchen und die Blumen schon bestellt, du Kontrollfreak", begrüßte mich mein Bruder sofort 'liebevoll'. Mein Bruder, der Biologie an der New York University studierte! "Jamie!", keuchte ich, als wäre ich einen Marathon gelaufen. "Welche Blutgruppen können Kinder haben, deren Eltern AB und B haben?" Jamie lachte. "Nette Begrüßung", stichelte er, obwohl er nicht weniger unverschämt gewesen war. "Mir geht's gut, danke der Nachfrage, und dir?" Ich ignoriert ihn; mir war jetzt wirklich nicht nach Späßen zu Mute. "Kann ein Kind mit Gruppe 0 dabei herauskommen?", verlangte ich atemlos zu wissen. Er kicherte wie ein kleiner Junge, der sich über jemanden lustig macht. "Unmöglich. Hast du denn in der Schule nie aufgepasst?" Ich schwieg und mein Blick fiel unweigerlich auf ein Foto, auf dem die drei Kinder zusammen zu sehen waren. Simon und Nicky schauten beide ziemlich finster drein, aber Maddy lächelte. Maddy mit den hellbraunen Haaren und dem schmalen Mund und der kleinen Stupsnase. Maddy mit den braunen Augen. Maddy, die plötzlich ganz anders aussah als ihre beiden blonden Geschwister. "So ein Paar kann höchstens Kinder mit den Blutgruppen A, B und AB bekommen", ertönte Jamie's Stimme an meinem Ohr, stolz, seiner großen Schwester auch mal etwas erklären zu dürfen, das sie noch nicht wusste. Mir wurde plötzlich ganz schlecht und meinen Bruder, der jetzt doch ein wenig besorgt "Annie? Bist du noch dran?" ins Telefon rief, hörte ich gar nicht mehr richtig. "Danke, Jamie. Bis dann", sagte ich geistesabwesend und legte den Hörer auf, immer noch das Foto anstarrend. Das konnte einfach nicht sein. T e n ----- Ich hatte nicht viel Zeit, meine Gedanken zu ordnen, denn schon kurz nach meiner desaströsen Entdeckung kam Nicky endlich herunter, um mir doch noch, wie versprochen, beim Aufräumen zu helfen. Ich konnte sie kaum angucken. Ob sie wusste, dass Maddy nicht ihre leibliche Schwester war? Und wie konnte so etwas überhaupt passieren? War Maddy adoptiert worden, oder...? Ich wagte es gar nicht erst, den Gedanken zu Ende zu führen, sondern versuchte, all meine Energie darauf zu verwenden, mir vor Nicky nichts anmerken zu lassen. Anscheinend machte ich meine Sache nicht besonders gut, denn schon bald warf sie mir seltsame Blicke zu und fragte schließlich: "Alles okay?" Ich hustete vor Schreck und nickte schnell mit dem Kopf. "Sicher." Nicky zog eine Augenbraue in die Höhe, sagte jedoch nichts und widmete sich wieder dem Aufräumen. Zu zweit schafften wir schnell, die Unordnung zu beseitigen, die sie angerichtet hatte, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass Mr. Cooper einen Herzinfarkt bekommen würde, wenn er das nächste Mal seine Ordner sah. Alles war mehr schlecht als recht sortiert und nicht gerade liebevoll in die Akten gestopft worden, aber alles war besser, als das Chaos auf dem Wohnzimmerteppich. "Hast du... deine Hausaufgaben gemacht?", wollte ich schließlich von Nicky wissen, meine Stimme hörte sich nervös und kratzig an, als hätte ich sie schon Jahre nicht mehr benutzt. Aber ich musste irgendetwas sagen, denn zu schweigen, das hätte sie noch misstrauischer gemacht. Ich würde Nicky ja fragen, was es damit auf sich hatte, aber erstens wusste ich nicht, ob sie überhaupt Bescheid wusste, und zweitens reagierte sie immer höchst empfindlich auf das Thema "Mum". Außerdem ging es mich ja eigentlich gar nichts an... "Jepp", antwortete sie und stopfte die letzten Ordner in den Schrank, die ich ihr reichte. "Und... hat das alles gut geklappt?", hakte ich unsicher nach. Wenn sie es nicht wusste - hatte sie womöglich auch etwas bemerkt? Aber andererseits hatte sie die Ergebnisse ihrer Geschwister kaum beachtet. Sie warf mir einen seltsamen Blick zu und hob ganz leicht die Augenbrauen. "Klar. Ist doch nicht so schwer. Bio ist easy, find ich." Dem konnte ich mich nicht gerade anschließen, aber diese Aussage ließ mich an Jamie denken. "Mein kleiner Bruder studiert auch Bio", sagte ich, froh, ein Gesprächsthema gefunden zu haben, das weder mich, noch Nicky's Familie direkt betraf. Sie neigte neugierig den Kopf. "Echt? Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast." Stimmt. Ich hatte ihr noch nie etwas von meiner Familie erzählt... aber ich hatte ja mit ihrer schon genug zu tun. "Das ist bestimmt interessant. Bio", fügte sie hinzu. "Ist er cool, dein Bruder?" Über diese Frage musste ich kurz brüten. "Ich glaube, er würde sagen, ja." Nicky seufzte theatralisch. "Hast du ein Glück. Mein Bruder ist eine Memme." "Das stimmt doch gar nicht", widersprach ich ihr empört. "Sei nicht immer so gemein zu Simon. Ich denke, er könnte ein bisschen Unterstützung gut gebrauchen." Mir kam eine Idee und ich versuchte, an Nicky's Narzissmus zu appellieren. "Du hast doch viele Freunde und bist beliebt..." Sie horchte auf und sah mich interessiert an. "Und Simon hat es schwer in der Schule. Glaube ich..." Nicky fiel mir ins Wort. "Ja. Er weigert sich, am Sportunterricht teilzunehmen, und er wird dauernd gehänselt." Das enthüllte mehr, als Simon mir jemals erzählt hatte. Obwohl es wirklich nicht überraschend kam, schockte es mich doch, und ich sah Nicky niedergeschmettert an. "Aber warum?" Nicky senkte den Kopf und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Sie überlegte anscheinend, was sie mir erzählen durfte und wie sie das anstellen sollte. Dann sah sie mich ernst an. "Es gibt da so ein paar Jungs in seiner Klasse. Sie... na ja, sie sind ziemlich mies, weißt du. Sie sagen ständig Sachen wie 'Kein Wunder, dass deine Mum euch verlassen hat, bei so einem Feigling wie dir' und so was. Ich hab es bis jetzt nur ein paar Mal mitbekommen." Das schockte mich noch viel, viel mehr. Wenn Mr. Cooper das nur wüsste! Was würde er dann tun? Und was sollte ich jetzt machen, bewaffnet mit diesem neuen, erschreckenden Wissen? "Hat er sich deshalb geprügelt?", wagte ich zu fragen. Wieso hatte ich Nicky nicht eigentlich schon viel früher ausgehorcht? Sie nickte. "Ja. Als ich die Jungs einmal deswegen zur Rede gestellt habe, haben sie noch mehr auf ihm rumgehackt und er hat mich danach angeschrieen. Ich misch mich nicht mehr ein, aber... wenigstens hat er sich einmal gewehrt." Sie nickte abermals und ballte die Hand zur Faust. Es schien, als würde ihr es doch etwas ausmachen, wie ihr Bruder in der Schule behandelt wurde. Diese ganze Gleichgültigkeitsmasche war also nur vorgespielt - wie es sich bei Geschwistern eben gehörte. Ich wusste nur allzu gut, wie das funktionierte - immerhin hatte ich auch einen jüngeren Bruder. Wir waren prinzipiell immer gegensätzlicher Meinung, es sei denn, es kam wirklich darauf an. So war es wohl auch hier. "Und dein Dad legt ganz schön viel Wert aus so was, hm?", dachte ich laut nach. Nur passte Nicky viel besser in dieses Teamsportprogramm als Simon, der es wie die Pest hasste. Ich glaube, Simon war eher ein Typ für Bücher und Computer, ein Einsiedler, ein Einzelgänger. "Jepp", sagte Nicky und stand auf. "Aber er legt ja auch viel Wert auf diese Clementia und man sieht ja, dass da nichts Gutes bei rauskommt." Sie verdrehte demonstrativ die Augen. Ich lächelte schwach, mit meinen Gedanken noch ganz woanders. Nicky machte sich wieder auf den Weg nach oben. "Nicks!", rief ich ihr nach. "Macht euch bettfertig und dann könnt ihr noch ein bisschen fernsehen, ja?" "Jaaha!", kam es zurück. Geschafft! Im wahrsten Sinne des Wortes. Vollkommen erledigt ließ ich mich auf mein provisorisches Lager im Gästezimmer - das man eigentlich schon als mein Zimmer bezeichnen konnte -, fallen und atmete durch. Es war ein langer Tag gewesen und ich war so müde wie schon lange nicht mehr. Ich warf einen Blick auf meinen Rucksack, in dem ich meine Schlafsachen verstaut hatte, und überlegte mir, ob ich noch etwas lesen oder lieber direkt schlafen gehen sollte. Nicky und Simon würden bestimmt wieder viel zu früh aufwachen und Krach machen - wobei Simon eher weniger das Problem war, denn er verhielt sich immer leise und wagte es nicht, jemanden zu stören. Nicky war der Krawallmacher in der Familie. Außerdem würde ich am Morgen Maddy von ihrer Pyjamaparty abholen müssen und ich konnte nur hoffen, dass sie ihre Pläne mit Kyle, dem Casanova, fallen gelassen hatte. Ich schloss nur kurz die Augen, und ich weiß nicht mehr, wie lange ich da so im Dunkeln lag, aber plötzlich hörte ich ein leises Klicken - und fuhr wie von der Tarantel gestochen auf. Einen kurzen Moment lang musste ich meine Orientierung wiederfinden, bis mir klar wurde, dass ich mich im Haus der Coopers befand und sich anscheinend gerade jemand zur Haustür hereingeschlichen hatte. Ein Einbrecher - das hatte mir noch gefehlt! Vielleicht, redete ich mich beruhigend ein, war's ja nur eins der Kinder. Aber was sollten die um diese Uhrzeit noch draußen machen? Ich atmete tief ein, um meinen Herzschlag unter Kontrolle zu halten, und stand leise auf, darauf bedacht, das Bett oder die Dielen nicht zum Knarren zu bringen. Vorsichtig, auf Zehenspitzen schleichend, öffnete ich die Tür und wagte es nicht, das Licht anzumachen, um mich nicht zu verraten. Im Wandschrank griff ich nach Nicky's Baseballschläger, der zum Glück dort war, wo er immer stand: in der Ecke unter dem Lichtschalter. Ihn fest mit einer Hand umklammernd, die andere um das Treppengeländer gelegt, um nicht hinzufallen, tastete ich mich langsam vorwärts, einen Fuß vorsichtig vor den anderen setzend und mich langsam am Geländer festhaltend. Im Wohnzimmer brannte Licht und ich hörte ein Rascheln, leise Schritte, ein Seufzen. Ein männliches Seufzen! Es waren also auf keinen Fall Nicky oder Simon, die dort herumstöberten! Panik kroch langsam meine Brust empört und staute sich in meiner Kehle - meine Hände zitterten unkontrolliert und dann... stolperte ich über etwas am Fuße der Treppe. Die schwarze, lederne Aktentasche zu meinen Füßen fiel um und ich versuchte verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten. Der Baseballschläger knallte gegen den Türrahmen und in der Stille der Nacht schien dieses Geräusch - dieses Poltern - das ganze Haus erbeben zu lassen. Mit Angstschweiß auf der Stirn und in Angriffshaltung stand ich plötzlich in der Wohnzimmertür Mr. Cooper gegenüber, der interessiert den Kopf geneigt hatte und mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. Dann fiel sein Blick auf den Baseballschläger. "Anna", sagte er, ganz ruhig und geduldig, als machte es nicht den Anschein, als wollte ich ihn gerade zusammenschlagen. "Alles in Ordnung?" Ich keuchte laut - mehr aus Erleichterung, als vor Schreck -, und dann entschlüpfte mir ein leises, aber sich hysterisch anhörendes Geräusch, das halb Lachen, halb Wimmern war. "Ja, ich... Sie haben mich nur erschreckt. Ich dachte, Sie wären ein Einbrecher..." Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. War das nicht einer furchtbar peinliche Situation? Gott, ich war wirklich ein Fall für die Klapsmühle. Mr. Cooper dachte das sicherlich auch, obwohl er sich absolut nichts anmerken ließ. "Entschuldigung", sagte er und nahm mir behutsam den Baseballschläger aus den Händen, den ich noch immer umklammert hielt, als fürchtete er, ich könnte plötzlich doch noch zuschlagen. "Ich wollte niemanden wecken. Meine Geschäftsreise hat ein jähes Ende gefunden und ich hab mich entschieden, den letzten Flug nach New York zu nehmen", erklärte er. Während die Verwirrung sich langsam in meinem Kopf lichtete, betrachtete ich Mr. Cooper, wie er den Baseballschläger gegen die Wand lehnte und sich aus seinem Jackett schälte. Sein Haar wirkte nicht mehr so tadellos, sondern war durch und durch unordentlich, so, als wäre er schon diverse Male mit den Fingern hindurchgefahren. Sein Blick wirkte auch nicht mehr so streng wie sonst immer, und seine Erklärung war wohl das längste, das er jemals zu mir gesagt hatte. "Verstehe", murmelte ich und rieb meinen Oberarm. "Dann... gehe ich jetzt besser mal nach Hause." Er warf einen Blick auf die Wanduhr und ich folgte diesem. Es war schon nach ein Uhr nachts - ich war also tatsächlich eingenickt, und das nicht nur für ein paar Minuten! "Dafür ist es doch viel zu spät", schüttelte Mr. Cooper stirnrunzelnd den Kopf. "Selbstverständlich können sie die Nacht über hier bleiben." Sein Angebot war nett gemeint, aber ich käme mir seltsam dabei vor, hier zu nächtigen, während er nur ein Zimmer entfernt war - allerdings war die Aussicht, mich nachts noch in der New Yorker U-Bahn herumzutreiben viel weniger verlockend. Er interpretierte mein Zögern anscheinend falsch. "Natürlich bezahle ich Sie dafür, wie vereinbart." Ich errötete. Er dachte, ich würde wegen des Geldes nicht bleiben wollen. Hastig schüttelte ich den Kopf. "Nein, darum... darum geht es gar nicht, Sir", stammelte ich verlegen. "Es ist nur... ich will keine Umstände machen, ehrlich." Mr. Cooper wandte sich mit einem müden Seufzer ab und kniete sich hin, um seine Aktentasche aufzuheben, gegen die ich lautstark gepoltert war. "Anna, Sie erweisen mir tagtägliche große Dienste. Wie kommen Sie auf die Idee, sie würden irgendjemandem hier Umstände machen?" Huch... was war nur mit dem alten Mr. Cooper passiert und woher kam dieser... irgendwie sogar nette Mann her?! Er warf mir über die Schulter einen Blick zu. "Lassen Sie mich wenigstens für ein Taxi bezahlen, das Sie sicher nach Hause bringt." Das war mir noch unangenehmer. Mr. Cooper sollte für gar nichts bezahlen, was nicht unmittelbar während meiner Arbeitszeiten geschah. "Nein, Sir-" "Jack", unterbrach er mich. "Das ist sehr freundlich, aber... die U-Bahn-" Er warf mir einen strengen Blick zu, der mich sofort verstummen ließ. "Kommen Sie, Anna." Er winkte mich zu sich heran, und wie ein artiges Kind stapfte ich verunsichert hinter ihm her. "Setzen Sie sich." Ich setzte mich auf die Couch und fragte mich, was er wohl vor hatte. Kurz verschwand er aus dem Zimmer, und kam gleich darauf mit einer Flasche Rotwein und zwei Weingläsern wieder. So langsam wurde das hier ziemlich kurios. Er entkorkte gekonnt die Flasche und goss uns ein. Als er mir das Glas hinhielt, schüttelte ich den Kopf, ohne die Hand danach auszustrecken. "Heben Sie sich den teuren Wein doch...für besondere Gelegenheiten auf", riet ich ihm verlegen. Er sah mich fragend an. "Teurer Wein? Billiger Fusel aus dem Supermarkt um die Ecke", winkte er müde lächelnd ab. "Probieren Sie. Dafür schmeckt er wirklich gut." Mr. Cooper trank spät nachts mit seinem Kindermädchen billigen Fusel aus dem Supermarkt um die Ecke und redete so viel, wie ich ihn die ganzen Monaten über, die ich schon hier arbeitete, habe nicht reden hören! Mein Weltbild geriet langsam aber sicher ins Wackeln. Zaghaft griff ich nach dem Weinglas, Mr. Cooper nicht aus den Augen lassend. Er ließ sich mir gegenüber im Sessel nieder, streckte die Beine aus und schloss kurz die Augen, während er sein Glas in der Hand hielt. Ich nippe an meinem. Es schmeckte gar nicht so schlecht. Zumindest nicht ganz so eklig wie die sonstigen Rotweine, die ich bisher so probiert hatte - ich verstand nichts davon. Aber wenn Mr. Cooper, der sich da bestimmt gut auskannte, es sagte, dann musste es wohl so sein. Wo ich schon hier war - und es hatte nicht den Anschein, als würde ich heute Nacht noch nach Hause kommen -, konnte ich auch gleich mit ihm über Simon reden. "Mr. Cooper - Jack", korrigierte ich mich selbst, und er schaute mich aufmerksam an, "ich wollte mit Ihnen über Simon reden, er..." Ich suchte nach den passenden Worten, aber Mr. Cooper schien meine Gedanken zu lesen, denn er seufzte bekümmert auf. "Ich weiß. Er ist ein stiller, zurückhaltender Junge. Und ich fürchte, er kommt in der Schule nicht besonders gut zurecht." Ich nickte. "Also... er hat mich gefragt, ob ich nicht anstelle von Ihnen, zum, äh, Elternsprechtag gehen kann", gab ich zu und sah mit an, wie diese Aussage Mr. Cooper doch sehr überraschte. Zunächst weiteten sich seine Augen, aber dann nickte er nur verstehend. "Vielleicht sollten Sie das tun." Nun war es an mir, überrascht zu sein. "Aber ich bin doch nicht... ich meine, es heißt doch Elternsprechtag!", verteidigte ich mich. "Ich glaube nicht, dass ich die Richtige dafür bin..." Er lächelte müde und lehnte sich zurück. "Simon vertraut Ihnen. Das macht Sie automatisch zu der Richtigen. Ich bin froh, dass er Sie hat." Das waren fast zu viele Nettigkeiten an einem einzigen Abend. Misstrauisch beäugte ich Mr. Cooper. Er nahm einen Schluck von seinem Wein und erwiderte ernst meinen Blick. "Ich weiß, Anna, dass das nicht Ihr Traumjob ist. Aber glauben Sie, Sie könnten noch ein bisschen durchhalten? Die Kinder... Sie tun ihnen gut. Sie sind viel lebhafter geworden." Er lachte leise und nahm noch einen Schluck, lockerte seinen Krawattenknoten, öffnete den ersten Hemdknopf und fuhr sich wieder durch die Haare. Es war nicht zu übersehen, wie müde er war - er sah total fertig aus. Zerstrubbelt und unordentlich und irgendwie... war das ganz schön attraktiv. Empört über mich selbst schob ich diesen Gedanken beiseite. Das wäre ja noch schöner! Das hier ist Mr. Cooper, rief ich mir in Erinnerung. Mein immerwährend grimmiger Boss. "Ich hab es sogar gewagt, mich zu verabreden", gestand er mir frei heraus mit einem schiefen, unechten Grinsen. "Ich fürchte, die Kinder mögen Clementia nicht besonders..." Ich schwieg diplomatisch, was diese Sache anging, und wechselte das Thema: "Ich fürchte nur, ich bin wenig geeignet als Kindermädchen... ich hab keinerlei Erfahrung oder Referenzen. Warum..." Ich nahm meinen Mut zusammen und stellte die Frage, die ich mir schon immer gestellt hatte, seit ich hier war. "Warum haben sie mich eingestellt?" Er setzte sich aufrechter hin und betrachtete mich geduldig. Unter seinem Blick wurde ich ein bisschen unruhig, doch endlich sprach er. "Sie sind jung. Und Sie scheinen - Verzeihung, wenn ich das so sage, es soll keineswegs eine Beleidigung sein -, aus einfachen Verhältnissen zu kommen. Dort, wo die Menschen noch solide Grundwerte haben. Ich halte Sie für überaus geeignet. Vor allem, wenn es darum geht, den dreien beizubringen, dass nichts im Leben selbstverständlich ist, schon gar nicht die Privilegiertheit, in der sie aufwachsen. Die Kinder können mit Ihnen über alles reden, worüber sie mit mir nicht reden können... Das betrifft vor allem Nicole, sie ist jetzt... schon ein Teenager. Das bringt..." Er räusperte sich und wurde ein wenig verlegen, "gewisse Tücken mit sich, wie Sie wissen." Dann lächelte er, um seine Augen bildeten sich kleine, kaum merkliche Lachfältchen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Mr. Cooper so etwas haben konnte. "Außerdem waren Sie mir sympathisch." Ich verschluckte mich fast an meiner eigenen Zunge. Mr. Cooper erschien mir nach und nach menschlicher - und ich merkte, wie auch ich ihn immer besser leiden konnte. Ich wusste nur nicht so recht, ob mir das gefiel oder nicht. "Ähm, danke", sagte ich hastig, da mir das Ganze etwas unangenehm war. "Also wegen Simon... ich hab von Nicky erfahren, dass er in seiner Klasse von Halbstarken herum geschubst wird. Wahrscheinlich hat er sich nur gewehrt, bei diesem Vorfall..." Mr. Cooper spitzte die Ohren. "Ja, sie...", fuhr ich fort, ermutigt über seine Aufmerksamkeit, "sie hänseln ihn wegen seiner... äh, Mutter..." Er lehnte sich wieder zurück und fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. "Wirklich?", fragte er dann nach schier einer kleinen Unendlichkeit. Ich nickte widerwillig. Vor lauter Nervosität kippte ich den ganzen Rest, der sich noch in meinem Glas befand, herunter. Das war auf nüchternen Magen keine gute Idee. Ich hatte seit Stunden nichts mehr gegessen und merkte schon, wie der Alkohol mir direkt zu Kopf stieg. Da er nichts sagte, redete ich einfach weiter. "Und sie wollen, dass er sich in der Schule engagiert... für Sport oder Theater und so was. Aber das ist nicht Simon's Welt. Ich fürchte, er ist nicht so... jemand, der gerne viele Menschen um sich herum hat." Mr. Cooper schaute auf. "Und finden Sie, dieses Einzelgängerverhalten sollte man fördern?", fragte er, aber es klang vielmehr nach einer Bitte um Rat, als nach Zweifel an meiner Aussage. Ich zuckte mit den Schultern. "Ich finde, man sollte ihn nicht dazu zwingen und ihn da nicht einfach so gegen seinen Willen hineinwerfen. Vielleicht eher... vorsichtig an das Ganze heranführen?", schlug ich vor. "Ich war mit ihm Baseballspielen und ich muss ehrlich zugeben... es war eine einzige Katastrophe." Ich wusste nicht, ob es der Alkohol war, der mich so frei reden ließ und meine Zunge lockerte, oder die entspannte Anwesenheit von Mr. Cooper, der anscheinend ein viel angenehmerer Gesprächspartner war, als ich es vermutet hatte. Mr. Cooper lächelte. Und ich konnte es kaum fassen, dass ich hier saß und mich tatsächlich ganz normal mit ihm unterhielt! "Glauben Sie, dass vielleicht eine öffentliche Schule besser geeignet wäre für ihn?", wollte er wissen und ich sah es hinter seiner Stirn schon kräftig arbeiten. Ich stieß überfordert die Luft aus. Gleichzeitig imponierte es mir, dass er, erfolgreicher Anwalt, der er war, tatsächlich über eine öffentliche Schule nachdachte, wo doch in seiner Welt alle ihre reichen, privilegierten Kinder auf teure Privatschulen schicken – wie er selbst es auch tat. Aber anscheinend kannte er auch die Alternativen, und die machten ihm nichts aus. "Puh. Ich weiß nicht. Andererseits.... wäre dann der ganze Druck weg, oder?" Ratlos zuckte ich mit den Achseln. "Fragen Sie Simon doch, was er davon hält?" Er nickte. "Wahrscheinlich war es ganz gut, dass er für ein paar Tage frei hatte - auch wenn der Grund dafür natürlich weniger beeindruckend ist. Danke, dass Sie sich um ihn gekümmert haben. Obwohl ich glaube, dass er ein bisschen mehr Spaß hatte, als er eigentlich sollte..." Mr. Cooper zog fragend eine Augenbraue hoch und sah mich abwartend an. Oh, oh. Das klang ganz so, als... Ich räusperte mich. "Ich weiß, dass eine Suspendierung eigentlich dazu gedacht ist, zu Hause zu sitzen und den Stoff nachzuholen, aber Simon ist ein kluger Junge und ich finde, er ist irgendwie... viel zu ernst für einen zwölfjährigen Jungen", verteidigte ich mich und fügte etwas trotzig hinzu: "Deshalb... hab ich ihn ins Kino mitgenommen." Mr. Cooper sah mich eine Weile lang schweigend an, dann wandte er sich ab und schenkte uns beiden nach. "Ich weiß", sagte er leise und stellte die Flasche behutsam wieder ab. "Ich frage mich, ob es daran liegt, dass er lange Zeit keine weibliche Bezugsperson hatte." Dazu konnte ich selbstverständlich nicht viel sagen, und er blickte wieder auf. Vielleicht sollte ich ihm doch die Sache mit den Akten erzählen... "Mr. Cooper, Jack, meine ich. Nicky hat heute... Sie musste für ihre Biologiehausaufgaben recherchieren und hat in ihren Akten gestöbert, während ich Maddy zu ihrer Freundin gefahren habe. Na ja, wir haben dann alles natürlich eingeräumt, aber..." Ich suchte nach den richtigen Worten. "Die Hausaufgabe ging um Blutgruppen... und mir ist aufgefallen... Na ja, mein Bruder studiert Bio, wissen Sie, deshalb kam es mir etwas seltsam vor... die Blutgruppen der Kinder sind... ähm." Ich hielt inne. Was war denn, wenn Mr. Cooper gar nicht ahnte, dass Maddy nicht seine leibliche Tochter war?! Ritt ich mich hier gerade in Schwierigkeiten hinein? "Maddy", murmelte er in meinen Gedanken hinein. Ich nahm das als Entwarnung, atmete auf und nickte. Er schwieg, sah sich träge im Raum um und nippe nachdenklich an seinem Glas. Ich wartete. "Ich hab Marie kennen gelernt, als ich siebzehn war", erzählte er dann langsam, "und sie war fünfzehn Jahre alt. Sie war... so bunt. Lebensfroh. Und sie hat immer gelacht. Wir waren unzertrennlich, wie man so schön sagt. Später bin ich studieren gegangen, wie es von mir erwartet wurde, und Marie wurde mit achtzehn schwanger. Obwohl sie das Kind nicht wollte, war sie gegen eine Abtreibung, und wir heirateten, weil das einfach zum guten Ton gehörte. Es machte mir nichts aus - sie war meine erste und einzige Freundin gewesen. Anfangs ging alles gut. Meine Eltern haben uns in dieser Zeit sehr geholfen, sodass ich weiter studieren gehen konnte, aber Marie war immer zu Hause und passte auf die Kleine auf." Er machte eine kurze Pause. "Sie müssen mir das nicht erzählen", sagte ich leise, ein wenig peinlich berührt, denn es war so sehr privat, so sehr intim, dass mir mehr als nur bewusst wurde, wie wenig es mich doch alles anging. Er schüttelte den Kopf. "Die Kinder reden. Sie stellen Fragen. Es ist gut, wenn Sie Bescheid wissen. Immerhin sind Sie so was wie ein Teil dieser Familie. Also... Zwei Jahre später wurde Simon geboren. Ich liebte die drei, aber ich hatte sehr viel zu tun, denn es ging nicht mehr nur darum, das Studium erfolgreich abzuschließen, sondern auch noch darum, eine Familie durchzubringen... Ich merkte nicht, wie Marie immer unzufriedener und ungeduldiger wurde. Das Familienleben bekam ihr nicht..." Er hielt inne. Ich nahm an, jetzt kam der richtig schlimme Teil - denn ganz anscheinend hatte diese Geschichte kein Happy End. Zumindest keins, das alle fünf Beteiligten beinhaltete. "Sie war... sie versuchte, sich ihr Leben wieder zurückzuholen - zumindest waren das ihre Worte", erklärte er niedergeschlagen, während meine Empörung langsam zu wachsen begann ob meiner düsteren Vorahnung. "Sie ging abends aus und blieb die ganze Nacht weg. Immer öfter musste ich die Arbeit schwänzen oder meine Eltern um Hilfe bitten, um auf die Kinder aufzupassen. Sie..." Er schluckte. "Sie wurde wieder schwanger. Und eigentlich hätte ich wissen müssen, dass... aber... Erst im Krankenhaus hat sie es mir gesagt. Kurz vor der Entbindung, im Kreissaal. Es war mitten in der Nacht, und... und sie sagte: 'Das ist nicht dein Kind.'" Ich keuchte leise auf. Obwohl ich es schon geahnt hatte, erschien es mir doch unbegreiflich. Mr. Cooper schwieg erneut. Es fiel ihm sichtlich schwer, darüber zu reden, und ich fragte mich, wie vielen Leuten er diese Geschichte wohl noch anvertraut hatte - bestimmt nicht jedem Dahergelaufenem. Ich empfand Mitleid für ihn. Es war eindeutig herauszuhören, dass er Marie sehr geliebt haben musste. Anscheinend so sehr, dass er ihre nächtlichen Touren toleriert hatte, und wahrscheinlich noch viel mehr... "Was... was haben Sie dann gemacht?", hakte ich leise nach. "Sie sagte... Sie sagte, dass sie das Baby nach der Geburt zur Adoption freigeben würde. Und dass sie sich von mir scheiden lassen will. Aber ich... ich hatte monatelang in dem Glauben gelebt, ein Mädchen zu bekommen. Eine Tochter. Und nach der Geburt..." Er lachte freudlos auf. "Hat die Hebamme sie mir als erstes in die Arme gelegt. Nicht Marie, nein, mir. Und sie sagte: 'Hier ist dein Daddy.'" Ich war kurz davor, laut loszuheulen, also machte ich besser keinen Mucks. "Ich konnte sie nicht einfach wieder hergeben. Ich habe Marie gesagt, ich würde mich um das Kind kümmern. Sie ist gleich nach der Entlassung mit einem Typen auf einem Motorrad - ich vermute mal, dem biologischen, äh, Erzeuger von Maddison -, abgehauen. Hin und wieder", fügte er dann mit einem Achselzucken hinzu, "schickt sie Geburtstagskarten an Nicky und Simon." Ich schniefte und wischte mir hastig mit dem Ärmel über die Augen. Wer hätte das gedacht?! Wer hätte gedacht, dass dieser grimmige, schlechtgelaunte Mann so viel Tiefgang hatte? So eine Vergangenheit hatte? "Maddy ist also gar nicht... ihre leibliche Tochter?", fasste ich mit dünner Stimme zusammen, und hoffte, in diesen Satz so viel Anerkennung hineinlegen zu können, wie es mir nur möglich war. Er fasste es anscheinend falsch auf. "Ich liebe meine Tochter. Sie gehört genauso zu mir, wie die anderen beiden. Die Blutgruppe ist mir egal", verteidigte er sich gekränkt. Ich musste lächeln. "Das verstehe ich", sagte ich langsam. "Das... mit Ihrer Frau tut mir sehr leid." Er sah mich lange an, und wandte sich dann ab. "Ex-Frau. Es ist schon lange her", wich er mir aus. "Maddy, sie... ihr zweiter Name...", begann ich. Er seufzte. "Ja. Ich war ein verliebter Narr. Selbst nach ihrem erschreckenden Geständnis habe ich Maddy nach ihr benannt. Ich dachte, so könnte ich mir immer etwas von ihr bewahren." Er seufzte schicksalsergeben. "Ich verstehe, wenn Sie sich darüber lustig machen wollen." Mir entfuhr ein ungläubiges Lachen. "Das würde ich niemals tun", versicherte ich ihm empört. "Hätte ich auch nicht gedacht." Er massierte sich erschöpft die Schläfen, dann schenkte er die Reste des Rotweins aus. "Simon und Nicole wissen davon. Nicole war zwar erst fünf, aber sie hat damals vieles mitbekommen. Und ich hielt es für besser, ehrlich mit den beiden zu sein. Maddy, sie... sie hat keine Ahnung. Bitte behalten Sie es ihr gegenüber für sich." "Natürlich", nickte ich. "Gar keine Frage." Während ich so darüber nachdachte, was Mr. Cooper mir erzählt hatte, konnte ich nicht umhin, zu bemerken, dass er mir ganz eindeutig dadurch sehr viel sympathischer geworden war. In so kurzer Zeit. Dass er ein so großes Herz hatte, hätte ich niemals gedacht. Es ließ ihn plötzlich viel menschlicher erscheinen. Trauriger. Gar nicht mehr so groß, streng und autoritär. Und seine Ex-Frau - unfassbar. Dafür hatte ich keine Worte. Ich hatte zwar keine eigenen Kinder, aber ich wusste mit Sicherheit, dass ich nie und nimmer in der Lage dazu wäre, meine Kinder einfach so zurückzulassen. Ohne mit der Wimper zu zucken! Das waren einfach Menschen, die ich nicht verstehen konnte. Geistesabwesend griff ich nach meinem Weinglas und spülte es hinunter. Es brannte in der Kehle und ich war schon ein wenig angetrunken, und jetzt, da Mr. Cooper da war, konnte ich nicht so einfach in die Küche gehen, um mir etwas zu essen zu holen. Das war immerhin noch sein Haus. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. "Es ist schon spät. Soll ich Ihnen nun ein Taxi rufen, für das ich bezahle", betonte er, "oder wollen Sie doch lieber hier bleiben?" Seine Mundwinkel zuckten. "Von mir aus auch umsonst, wenn sie darauf bestehen. Wir haben hier übrigens eine Alarmanlage." Er nickte mit dem Kopf Richtung Tür. "Keinen Grund, sich unsicher zu fühlen." Ich ließ mir die Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Ich fühlte mich nicht mehr so unwohl, mein Kopf schwirrte angenehm und das Bett war nur wenige Meter die Treppe hoch entfernt... sehr verlockend. "Ich möchte wirklich keine Umstände machen...", begann ich wieder von vorn, nur der Höflichkeit halber, aber er schnitt mir das Wort ab. "Das sind keine Umstände. Sie übernachten hier, wie vereinbart, und dürfen morgen früh Maddison abholen, wenn sie sich dadurch besser fühlen." Ich musste grinsen. Das war ein Vorschlag, mit dem ich schon viel besser leben konnte. "Okay", stimmte ich zu. "Sie ist pünktlich zum Frühstück hier." Er stand auf, nahm mein Weinglas und ging in die Küche, um beide Gläser in die Spüle zu stellen. "Ich räum hier unten noch was auf. Gute Nacht", sagte er zu mir, und ich sah das als Aufforderung, nach oben zu verschwinden und mich bettfertig zu machen, der ich nur allzu gerne nachging. Ich ließ mir besonders viel Zeit, denn noch immer grübelte ich über das gerade erst Gehörte nach. Ob ich heute Nacht überhaupt würde schlafen können? Ich bezweifelte es. Zu aufwühlt war ich und wahrscheinlich würde ich gar nicht erst abschalten können. Andererseits hatte ich Alkohol getrunken und davon wurde ich immer so schläfrig. Vielleicht war das sogar ein guter Ausgleich. Ich öffnete die Tür, um zum Badezimmer zu gehen und merkte, dass Mr. Cooper schon überall das Licht gelöscht hatte. Es war mucksmäuschenstill im Haus - wahrscheinlich schlief er bereits. Also schlich ich mich ins Bad, schloss erst die Tür hinter mir und versuchte, mir dann so leise wie möglich die Zähne zu putzen. Dann schlüpfte ich in mein Top mit Spaghettiträgern, das ich immer zum Schlafen trug, und in meine Boxershorts, die Julie mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Hätte ich gewusst, dass Mr. Cooper nach Hause kommen würde, hätte ich mir natürlich etwas Züchtigeres zum Schlafen mitgenommen, aber er würde mich sowieso nicht zu Gesicht bekommen - hoffte ich zumindest. Ich machte das Licht im Bad wieder aus, bevor ich die Tür öffnete. Langsam tastete ich mich vorwärts, das Gästezimmer war nur einige Schritte von hier entfernt, und stieß dann gegen einen Widerstand, der vorher definitiv nicht da gewesen war. Erschrocken und überrumpelt stolperte ich zum zweiten Mal in dieser Nacht über irgendetwas und ein Paar Arme fingen mich auf und zogen zurück mich auf die Beine. "Autsch", fluchte ich leise. "Anna?", fragte Mr. Cooper verwirrt. "Warum schleichen Sie denn in der Dunkelheit herum?" "Das gleiche könnte ich Sie fragen", piepste ich, mir wohl bewusst, dass ich noch immer gegen seine Brust gedrückt dastand. Meine Stirn lehnte fast an seiner Nasenspitze, und seine Hände lagen auf meinen Schultern. Himmel, roch der Mann gut. Ich war ihm vorher noch nie so nah gewesen, als dass ich es hätte merken können. Er schwieg und wir standen eine Weile lang gespannt im Dunkeln, in der Stille dort auf dem Flur, und dann, ganz allmählich, rutschte seine Hand langsam tiefer, glitt meinen Rücken hinab, bis zu den Schulterblättern. "Sie müssen... vorsichtiger sein", sagte er leise, mit heiserer Stimme, und mein Gehirn schien sich anscheinend nur noch auf die lebensnotwendigsten Aufgaben zu konzentrieren: schnelle, flache Atmung, erhöhter Herzschlag. Ich weiß nicht genau, inwiefern weiche Knie zum lebenserhaltenden Repertoire meines Körpers gehörten, aber auch das war eine der Folgen. Einem Impuls folgend - ich weiß gar nicht, wo das herkam, wahrscheinlich war es bloß der Alkohol - stellte ich mich auf die Zehenspitzen und drückte meinen Mund gegen seinen. Er seufzte, doch er schien Nichts dagegen zu haben, und nach dem Bruchteil einer Sekunde erwiderte er den Kuss hungrig, viel leidenschaftlicher, als ich es ihm je zugetraut hätte. Mir fiel ein, was er gesagt hatte... 'Ich habe es sogar gewagt, mich zu verabreden' - damit wollte er doch nicht sagen... das erste Mal seit der Scheidung mit Marie?! Ehe ich mich versah, hatte er mich umgedreht und mich zwischen der Wand und sich eingeklemmt. Mit einer Hand stützte er sich an der Wand hinter mir ab, mit der anderen presste er mich fest an sich. Unter meinen Fingern ertastete ich seine Hemdknöpfe – er hatte sich also noch nicht umgezogen -, und ich fühlte seine warmen Körper an meinem. Langsam, aber sicher dirigierte er mich in Richtung Schlafzimmer, mit den Fingern fuhr er vielversprechend über den Saum des Tops, berührte nur ansatzweise meine Haut, und ich hörte mich selber leise aufseufzen. Nicht nur Mr. Cooper hatte lange Zeit auf so etwas verzichten müssen... Wir landeten auf dem weichen Bett, und ich sank unter seinem Gewicht in der Matratze ein, während er ungeduldig meinen Hals liebkoste. Mein Kopf war wie leergefegt, und ich war kurz davor, mich absolut gehen zu lassen, an gar nichts mehr zu denken und mich dem Moment hinzugeben. Das hier war so verlockend... dieser Mann war so verlockend... dieser Mann, vor dem ich mich so gefürchtet hatte, nur weil er mein Chef war... Mein Chef... Etwas begann wieder zu arbeiten. Ich vermutete, es war ein letztes Fünkchen Verstand in meinem angetrunkenen, hormongesteuerten Gehirn. "Wir...Wir können das... ah... nicht machen...", stammelte ich, während ich ihn bereitwillig mein T-Shirt über den Kopf ziehen ließ. Seine Stimme war erstaunlich weich und ich hörte die Spur eines Lächelnd heraus. "Doch, wir können... Du findest mich attraktiv und begehrenswert, schon vergessen?" Das hatte ich tatsächlich gesagt... irgendwann... aus welchem Grund auch immer. Ich erinnerte mich nicht mehr. Aber das war er auch - ich konnte mir da nicht widersprechen. "Ja... Nein... ich weiß nicht", nuschelte ich gegen seinen Mund, und dann, als seine Hände tiefer glitten: "Mr. Cooper..." "Jack", sagte er sanft, leise. "Jack..." E l e v e n ----------- Eine sich leise schließende Tür weckte mich, aber ich wagte es noch nicht, die Augen zu öffnen. Hinter meinen roten Augenlidern erahnte ich das morgendliche Sonnenlicht, aber ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ich war mir der fremden Laken, des fremden Kissens, des fremden Bettes und des fremden Zimmers sehr wohl bewusst, und während ich so mit geschlossenen Augen dalag, damit die Realität mich nicht einholte, bevor ich für sie bereit war, überschlug ich kurz in Gedanken die letzten Geschehnisse. Ich hatte mit meinem Chef geschlafen. Dem gefühlskalten Mr. Cooper, der eigentlich gar nicht so gefühlskalt war. War das nun gut oder schlecht? Einerseits war er mein Boss und ich war für seine Kinder verantwortlich. Wie sollte ich das den dreien erklären? Er bezahlte mich für meine Arbeit- und das könnte auf Dauer zu vielen Missverständnissen führen. Andererseits aber war er ein erfolgreicher, attraktiver und pflichtbewusster Mann - und ein Knaller im Bett. Ich seufzte, entschied mich weder für die eine, noch für die andere Seite, und stellte fest, dass ich ihm gar nicht mehr kritisch gegenüberstand. Ganz im Gegenteil... wenn ich über ihn nachdachte, war da plötzlich so etwas Weiches... etwas... Sentimentales. Gefühle. Ich schluckte und schlug die Augen auf. Gefühle. Das konnte niemals gut gehen. Das Schwierigste war es, aus dem Zimmer zu schleichen. Wenn die Kinder mich sahen - sie würden sonst was denken. Tolles Vorbild, das ich da war. Gestern hielt ich Maddy noch Predigten über Jungs und das Küssen und ein paar Stunden später werfe ich selbst alle Bedenken über Bord. Ich öffnete die Tür einen Spalt breit und lugte heraus. Niemand war zu sehen. Von unten hörte ich Stimmen aus dem Fernseher, vermischt mit Nicky's hellem Aufschrei und Simon’s "Aua!". Sie waren also alle unten. Außer vielleicht Mr. Cooper - Jack -, also schlich ich mich schnell heraus, nachdem ich meine Schlafsachen eingesammelt hatte, und unterzog mich im Bad einer schnellen Katzenwäsche. Als ich den Fuß auf die Treppe setzte, begann mein Herz höher zu schlagen. Heute war ein ganz normaler Tag. Es war hell, nicht mehr Nacht. Wir waren nüchtern, nicht mehr angetrunken. Mr. Cooper hatte mir seine persönliche Lebensgeschichte erzählt, was ihm bestimmt viel Überwindung und Mut gekostet hatte. Und dann hatte er mich geküsst. Und dann... Aber jetzt, jetzt sah alles anders aus. Im grelllen Licht des Tages fühlte sich alles nur noch... seltsam an. So fremd. Aber zugleich so aufregend. Was würde ich zu ihm sagen? Was er zu mir? Wie würde es weitergehen? Nach vergangener Nacht konnte ich nicht anders, als mir einzugestehen, dass ich wie auch immer geartete Gefühle für Mr. Cooper hegte. Und nach gestern Nacht hatte ich auch eine Ahnung, wie diese Gefühle aussahen. Das machte mir Angst. Er war mein Chef - aber andererseits war er auch Jack. Und es war sicher nicht in seiner Rolle als mein Chef, in der er mit mir geschlafen hatte. Seine private Seite, dieses Verletzliche, zugleich aber Starke, leichte Verzweifelte, aber Entschlossene an ihm - das machte ihn unglaublich menschlich - und mich unglaublich an. Ich nahm all meinen Mut zusammen und stieg die Stufen hinab. Ein Blick in das Wohnzimmer signalisierte mir, dass Nicky und Simon fernsahen. Sie schienen sich beruhigt zu haben, oder aber sie hatten sich so gestritten, dass sie kaum mehr miteinander redeten, jedenfalls waren sie ruhig. Ich hielt den Atem an, als Mr. Cooper aus der Küche trat. Er hatte seine Frühlingsjacke umgeworfen, trug eine Jeans und einen schwarzen Pullover. So leger gekleidet hatte ich ihn noch nie gesehen. Er sah aus, als ob er wegfahren wollte, denn in seiner Hand klimperten die Autoschlüssel. Er hob den Kopf und sah mich. Plötzlich schaute er zutiefst ertappt und betroffen drein und wandte sich von meinem Anblick ab. Sein Blick signalisierte mir nichts Gutes. Ich ahnte zu wissen, was jetzt passieren würde. Eine innere Stimme flüsterte es mir zu. Ein flaues Gefühl setzte sich in meinem Bauch fest und mein Magen begann zu rumoren. Aber schlimmer als alles war das Herz, das sich wie krampfhaft zusammenzog. Schmerzlich. "Anna..." Er räusperte sich. "Guten Morgen." Er konnte mir kaum in die Augen sehen. Es war ihm offensichtlich total unangenehm. "Ich... kann ich Sie bitte in der Küche sprechen?" Er drehte sich um und ich folgte ihm schweigend. Alles in mir wappnete sich auf das Kommende. Alle Schutzwände wurden hochgefahren, alle Erwartungen fallen gelassen. "Schauen Sie..", begann er peinlich berührt. "Das gestern, das war..." Er warf mir einen Blick zu. "Mir tut das unglaublich leid. Ich habe mich hinreißen lassen und dafür möchte ich mich aufrichtig entschuldigen. Was passiert ist, ist ein Fehler gewesen und es ist selbstverständlich alles meine Schuld. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut." Alles, was ich erwartet hatte, war nicht so schlimm wie das, was ich da von ihm zu hören bekam. Sämtliche Schutzwälle reichten nicht aus, um das zu verdauen. Ich starrte Mr. Cooper nur ausdruckslos an. Es war ein Fehler.... konnte jemand noch verletzender sein? Er nahm die Schuld auf sich - die Schuld! Als ob es ein Verbrechen gewesen wäre. Als sei es... falsch gewesen... Ich weiß nicht, ob mein Schweigen ihn nervös machte oder ihn dazu ermutigte, fortzufahren mit dieser Farce. Vielleicht interpretierte er es als stille Zustimmung. Ganz bestimmt dachte er nicht daran, dass ich ihn möglicherweise mochte. Wie sollte er auch? Er hatte keine Ahnung! "Verstehen sie mich nicht falsch... Sie sind eine, äh, sehr attraktive, äh, Frau. Aber... na ja... Ich fahre Maddison abholen-" Ich machte den Mund auf, um ihm zu widersprechen - Maddy abzuholen war ja mein Job gewesen -, aber er kam mir zuvor. "Ich hatte sowieso Zeit und... nehmen Sie sich doch einfach die Woche frei. Ich habe mir heute früh Urlaub genommen und vielleicht..." Er beendete den Satz nicht, starrte aber geradeaus an mir vorbei. "Nächste Woche können Sie eine Stunde später anfangen. Ich werde die Kinder zur Schule bringen. Sie ähm... Ich lege Ihnen den Schlüssel unter den Blumenkübel." Ein kurzes, peinliches Schweigen folgte. Er wollte mich nicht mehr sehen. Ich sollte mir Urlaub nehmen. Ich sollte später kommen. Wenn er längst außer Haus war. Er wollte mir nicht einmal mehr begegnen. Und seine Haltung vorhin ließ sich nur so interpretieren, dass er abhauen wollte, noch bevor ich ihn zu Gesicht bekam. Oder er mich. Noch nie, niemals in meinem Leben, war ich so schmachvoll von einem Mann abgeblitzt worden - ach was - abgeschmettert! Dazu aber von einem Mann, der offensichtlich keine Ahnung hatte, was er mit seinen - vermutlich - gut gemeinten Worten alles anrichtete. Zu spät bemerkte ich, dass er mich fragend musterte - beunruhigt sogar - und auf eine Antwort wartete. Eine positive Antwort. "Toll", erwiderte ich matt, ihm zuliebe. "Urlaub." Er lächelte erleichtert, ganz kurz nur. Wahrscheinlich fühlte er sich, als hätte er zumindest etwas von seinem schlimmen Fehler von gestern Nacht wieder gutmachen können. Dann drehte er sich um, murmelte einen Abschiedsgruß und ging. Ließ mich allein und verloren in seiner Küche. Orientierungslos sah ich mich um und mein Blick fiel auf die Morgenzeitung auf dem Tisch und die leere Kaffeetasse. Wie automatisch setzte ich mich in Bewegung, faltete die Zeitung zusammen und stellte die Tasse in die Spüle. In meinem Kopf hämmerten unaufhörlich seine Worte. "Es war ein Fehler. Ich nehme die Schuld auf mich." Dann schnappte ich plötzlich nach Luft, als erreichte die Bedeutung jetzt erst mein Gehirn. War das nicht eine Unverschämtheit? War das nicht dreist? War es nicht... einfach traurig? War es nicht Ironie des Schicksals? In nur ein paar lausigen Stunden zu erkennen, wen man liebte, ihn haben zu können und ihn dann wieder zu verlieren? Das war mein Rekord - bisher. Ich schnappte mir meine Jacke und meine Tasche und flüchtete aus dem Haus. Ich glaube nicht einmal, dass Nicky und Simon es mitbekommen hatten. Mir fiel jetzt nur eine einzige Person ein, die ich in diesem Moment sehen wollte. T w e l v e ----------- Ich klingelte und verlagerte mein Gewicht vor Nervosität von einem Bein auf das andere. Hoffentlich war Jamie zu Hause. Ich wollte jetzt nicht alleine sein. Tatsächlich öffnete er mir die Tür. Seine kurzen, blonden Haare standen struppig ab und es war unübersehbar, dass ich ihn gerade aus dem Bett geklingelt hatte. "Anna?" Jamie blinzelte überrascht. "Was machst du denn hier?" Sein Blick wanderte weiter runter und blieb an dem Pizzakarton hängen, den ich in den Händen hielt. Man tauchte eben nicht ohne Gastgeschenk frühmorgens irgendwo unerwartet auf... vor allem nicht beim eigenen Bruder, dem Ausschlafen über alles ging. "Was..." Er schüttelte den Kopf vor Staunen. "Ist das etwa Pizza? Wo kriegt man denn um 10 Uhr morgens frische Pizza her?" Er starrte mich misstrauisch an. Ich machte eine unbestimmte Kopfbewegung und verzog den Mund. "Wir sind in New York." Er stierte mich einen Augenblick weiter an, beäugte dann den Karton und anschließend wieder mich. Dann zuckte er mit den Schultern - ein Zeichen von gleichgültiger Zustimmung - und machte einen Schritt zur Seite, um mich hinein zu lassen. "Womit habe ich das Vergnügen?", wollte er amüsiert wissen und fuhr sich durch die Haare. "Musst du nicht eigentlich arbeiten?" "Na ja", murmelte ich leise und ging zerstreut im Zimmer auf und ab, betrachtete es nur nebenbei. Es war ein kleines Zimmer im Studentenwohnheim, kaum größer als unsere ehemaligen Kinderzimmer zu Hause. Ein Bett befand sich darin, sowie ein Schreibstich, ein Schrank und ein Wandregal, das über dem Schreibtisch hing und in dem sich lauter Biologiebücher stapelten. Eine Tür führte in das kleine Badezimmer samt Dusche. Ich wusste, dass es nur eine Gemeinschaftsküche gab, die über den Flur für alle zu erreichen war. So, wie ich Jamie kannte, benutzte er höchstens hin und wieder mal den Backofen, um tiefgefrorene Pizzen aufzubacken. "Jamie, ich stecke in Schwierigkeiten", seufzte ich dann und ließ mich auf sein Bett fallen. Er hatte sich inzwischen an der Pizza zu schaffen gemacht und biss herzhaft hinein. "Was denn?" witzelte er. "Hast du etwa mit deinem Chef geschlafen?" Ich fuhr auf und starrte ihn entgeistert an. Er grinste, doch als er merkte, dass ich seine Freude nicht erwiderte, ließ er die Pizza sinken. Nervös stieß er ein kurzes Lachen aus. "Du machst Witze", stellte er wenig hoffnungsvoll fest. Ich starrte ihn weiterhin an, ohne den Mut zu haben, seine Vermutung zu bestätigen - oder zu dementieren. "Nein", sagte er dann nach einer Schweigepause. "Nein, nein. Annie. Nein." "Es ist einfach so passiert!", platzte es verzweifelt aus mir heraus. "Ich wollte das gar nicht, ich... na ja. Als es dann soweit war, wollte ich natürlich doch. Aber vorher... ich meine, da war nichts zwischen uns. Vorher." "Du redest Quatsch", stellte Jamie geistesabwesend fest und stand immer noch in der Mitte des Raumes, ließ die Arme kraftlos links und rechts an seinem Körper herabhängen. "Aber Mr. Cooper ist gar nicht so furchtbar", redete ich unbeirrt weiter, unfähig, meine Gedanken zu sammeln. "Ich meine, klar... er ist furchteinflößend... aber seine Frau hat ihn verlassen und ihm das Kind untergemogelt, die Kleine, und er behauptet, sie wäre seine Tochter. Nicht nur WIE seine Tochter, sondern SEINE Tochter, verstehst du? Und er liest ihr abends vor und macht ihr Erdnussbuttersandwiches mit Gelee." Jamie sah wenig überzeugt aus. "Und deshalb bist du mit ihm... ins Bett gegangen?" "Nein... Ja... nein. Gestern, er... er ist nach Hause gekommen, obwohl er erst heute früh kommen sollte. Und ich wollte gehen, aber er ließ mich nicht. Und wir haben geredet. Und getrunken. Und dann... na ja, es ist passiert, weißt du? Er war so charmant und so..." Ich schluckte. Bei dem Gedanken an die letzte Nacht und Mr. Coopers Art hatte ich wieder Schmetterlinge im Bauch. "...so sexy irgendwie." "Das möchte ich gar nicht wissen, Annie", beschwerte sich Jamie mit einem panischen Unterton. "Du bist meine Schwester! Kannst du das nicht... Julie erzählen oder Kelly oder deinem Therapeuten oder so?" Er wand sich, aber dafür hatte ich kein Verständnis. Nicht hier und nicht heute. Tatsächlich war Jamie mein erster rettender Gedanke gewesen. Er war immerhin meine Familie, ich war mein Leben lang mit ihm aufgewachsen. Wir wussten vielleicht nicht alles voneinander, aber er war mir die nächste Person. Und um ehrlich zu sein, konnte ich momentan weder Julies Sensationsgier ertragen, mit der sie sich sicher auf diese Neuigkeit stürzen würde, noch Kellys verantwortungsvollen, depressiven Ernst, der mir meine schwierige Lage erst recht vor Augen führen würde. "Nein", antwortete ich düster. "Vielleicht überlege ich mir das mit dem Therapeuten, aber nur, wenn mir den jemand bezahlt..." Jamie schien sich endlich aus seiner Starre zu lösen und kam zu mir herüber. Er kaute auf seinem Stück Pizza herum, aber längst nicht mehr so genussvoll wie noch zuvor. "Vielleicht bezahlt Mr. Cooper dir ja einen", schlug er vor. "Geht nicht", erwiderte ich und war froh, mich dieser Sache zumindest unter dem Deckmantel des schwarzen Humors annehmen zu können, "der muss schon die Therapien seiner Kinder bezahlen, nachdem er seine Clementia endgültig in deren Gesellschaft eingeführt hat." Obwohl nur leichthin gesagt, erschrak ich. An seine Freundin, Clementia Ashworth, die "Park Avenue-Tussi", wie Nicky sie nannte, hatte ich noch gar keinen Gedanken verschwendet. Meine Güte, Anna, sagte ich mir geschockt. Was hast du nur gemacht. Was ist nur aus dir geworden? Ich schluckte. Jamie musste dasselbe denken, denn er schwieg unheilvoll. "Das ist alles ein großer, großer Fehler gewesen...", murmelte ich niedergeschlagen. "Mein Leben war fast in Ordnung, noch gestern, und heute..." "Und", wollte Jamie wissen und unterbrach mich, "was ist jetzt? Habt ihr euch nochmal gesehen, oder hast du dich auf die gute alte Art und Weise rausgeschlichen?" "Er hat mich in Urlaub geschickt", sagte ich tonlos. "Nachdem er sich entschuldigt und zugegeben hat, dass alles ein Fehler war." Jamie nickte. "Na, das ist doch gut, oder? Ihr seid beide der gleichen Meinung, und ein bisschen Urlaub tut dir bestimmt gut. Also eigentlich kein Problem, oder?" Ich dachte darüber nach. Ein Fehler war es gewesen... aber warum behagte mir der Gedanke nicht, dass wir uns einig waren, Mr. Cooper und ich? Ich war zutiefst verletzt gewesen, als er sich entschuldigt hatte. So enttäuscht. Dachte ich so, weil Mr. Cooper dachte, es wäre ein Fehler gewesen? Würde es sich weniger falsch anfühlen, wenn auch er der Meinung wäre, das wäre nicht so? Schuldbewusst sah ich Jamie an. Seine Augen weiteten sich. "Aber Annie", stammelte er verwirrt, und dann sagte er sehr, sehr streng: "Nein. Annie: Nein! Du kannst Cooper nicht leiden! Er ist ein herrischer Boss und gar nicht freundlich. Das sagst du jedes Mal!" Ich wollte weinen. "Ich weiß doch..." Jamie wollte noch etwas sagen, ließ es aber bleiben. Kraftlos saßen wir nebeneinander und hingen jeweils unseren eigenen Gedanken nach. Hin und wieder schüttelte Jamie fassungslos den Kopf und seufzte dann. Ich sagte gar nichts. Ich fühlte mich leer und ausgelaugt. "Ich dusche jetzt..." sagte Jamie schließlich und stand auf, beäugte mich mit einem mitleidigen Blick. "Dann bestellen wir uns mehr Pizza und schauen uns Actionfilme auf dem Laptop an. Okay?" Ich nickte, dankbar um einen so tollen Bruder und um die Ablenkung. "Okay." "Gut." Er räusperte sich. "Du wirst sehen", fügte er nochmal hinzu, als er schon fast im Badezimmer war. Aber dann brach er ab, als wüsste er nicht, was ich sehen würde, und schloss die Tür hinter sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)