Bother von Schangia (Alley to Nowhere (Mello & Matt)) ================================================================================ Kapitel 1: One good turn... --------------------------- ... deserves my dying. Laut und knallend zerschneiden Schüsse die ohnehin schon zum Zerreißen gespannte Luft, und das ohrenbetäubende Geräusch schmerzt in meinen Ohren. Statt nachzulassen werden es immer mehr. Mehr peitschende Schüsse, mehr Schmerzen. Ein Teufelskreis, der nach endlos langen Sekunden der Qualen abrupt abbricht. Blut. Tiefrotes Blut; es gehört zu mir. Ich rüge mich innerlich für diese unnötige Feststellung. Natürlich fließt der rote Lebenssaft aus meinen Wunden, aus wessen sonst; ich bin der Einzige ohne Waffe. Noch mehr Schüsse, immer mehr. Ich taumle zurück, und– Ich schrecke hoch. Ein Traum, schießt es mir durch den Kopf. Alles nur ein Traum. Nein; all das ist grausame Realität. Meine Realität, meine Vergangenheit, mein Schicksal. Ich zittere am ganzen Körper, und wahrscheinlich hätte ich geschrien, doch meine Kehle ist dafür anscheinend zu trocken, und so bringe ich nur ein heiseres Krächzen zustande. Mechanisch wandert eine Hand zu meiner schweißnassen Stirn, um ein paar feuchte Haarsträhnen beiseite zu wischen, während die andere auf den Nachttisch zusteuert und die Zigaretten packen will. Ich greife ins Leere; er scheint sie mir weggenommen zu haben. Obwohl dieser Tag, den mir mein Traum jede Nacht aufs Neue vor Augen führt, schon über einen Monat zurückliegt, sind die Erinnerungen daran noch genauso erschreckend echt, wie in dem Augenblick, an dem sich die Szene unaufhaltsam in mein Gedächtnis gebrannt hat. Dort ist sie seitdem fest verankert, an eisernen Ketten, die nicht zu bersten vermögen. Und wann immer mich diese bleierne Leere überkommt, nutzt das Biest meine Schwäche aus, um ans Tageslicht zu krauchen. Doch tückisch wie das Ungetüm ist, sucht es mich fast immer nachts heim. Nachts bin ich ihm schutzlos ausgeliefert, ohne den strahlenden Ritter [1] auf seinem prunkvollen Ross, der mich doch immer wieder aus den scheinbar aussichtslosen Situationen rettet. Ohne Waffe, mit der ich ihm mutig entgegentreten kann – wobei ich bezweifle, dass ich das je tun würde. Ob nun mit Gegenwehr oder ohne, allein bleibt allein. Und ich bin ein Feigling. Wish I was too dead to cry My self-affliction fades Es ist schwer für mich, meine wirren Gedanken zu ordnen. Obwohl es das eigentlich nicht sein sollte, denn ich weiß fast nichts mehr. Seit diesem einen Tag habe ich meine gesamten Erinnerungen verloren. Nur das einzige Ereignis kurz vor meinem von Gott geplanten Tod ist bestehen geblieben. Nun weiß ich nicht einmal mehr meinen Namen. Es mag seltsam klingen, denn der eigene Name sollte doch auf Ewig im Gedächtnis bestehen, aber da ich zu Lebzeiten – denn meinen jetzigen Zustand, der ja nur aus pennen, futtern und dahinvegetieren besteht, bezeichne ich nicht gerne als ›leben‹ – einen Decknamen gebrauchte, wundert mich das alles nun doch nicht. Wobei ich finde, zumindest dieser Alias hätte mir im Gedächtnis bleiben können. Aber immer, wenn ich das mit meiner Erinnerung besprechen und sie um Hilfe bitten will, weist das kleine Miststück mich kaltblütig ab. Ich überlege, ob ich aufstehen soll, um mir etwas Wasser zu holen. Wäre ich weniger faul, würde ich das wahrscheinlich auch tun. Ich will seufzen, doch meine Kehle streikt endgültig. Nun leicht angenervt schwinge ich meine Beine auf die eine Seite meines provisorischen Bettes, will gerade aufstehen, als die Tür aufgerissen wird und mit einem lauten Knallen an der Wand aufprallt. Erschrocken schießt mein Kopf hoch, mein Körper verkrampft sich; hat sich anscheinend immer noch nicht an das morgendliche Szenario gewöhnt. Stones to throw at my creator Masochists to which I cater Da steht er vor mir; mein Peiniger, meine arrogante (aber dennoch bessere) Hälfte – und leider Gottes auch meine letzte Hoffnung. Das ist es, was ich am meisten hasse. Ich bin auf ihn angewiesen, weiß er doch anscheinend so Vieles über mich, an das ich mich nicht erinnern kann. Er reibt es mir unter die Nase, bevormundet mich, und dieses scheinheilige, unechte Mitleid in seinen Augen macht mich krank. Wie er da steht, Arme vor der schmalen Brust verschränkt, die erschreckend großen Augen gehetzt und dunkel, von wenig Schlaf zeugende Ringe unter weit aufgerissenen Iriden – für jeden anderen hätte er aufgekratzt gewirkt, geplagt von Sorgen und um den ach so kostbaren Schlaf gebracht. Aber ich weiß es besser, denn er steht schon seit über einem Monat jeden Tag so vor mir; als wäre ich schuld daran, dass er zu wenig schläft. Habe ich ihn darum gebeten, jeden gottverdammten Morgen in der Tür zu stehen, wenn ich wieder schreiend aus einem Alptraum erwache? Nein, niemals. Habe es nie, werde es nie. Trotzdem ist er hier; und angesichts der Flasche Wasser, die er lässig in der einen Hand hält, auch an diesem Morgen wieder mal mein Retter in der Not. Wie ich diesen Vergleich hasse. Aufmerksam beobachtet er mich, achtet interessiert auf jede meiner noch so kleinen Bewegungen, während ich nichts weiter tue, als auf dem Bett zu sitzen und mich wie ein Tier im Käfig zu fühlen; angeleint, mit unerschütterlichen Ketten der Vergessenheit. Fast landet die Flasche in meinem Gesicht. Doch meine Reflexe haben mich davor bewahrt; gut sind sie schon immer gewesen, sagt zumindest der Blondschopf vor mir. In mir sträubt sich alles dagegen, meinen Durst zu stillen. Die rettende Flüssigkeit kommt von ihm, und das ist ein guter Grund, um nicht einen einzigen Schluck zu nehmen. »Ich weiß, dass du Durst hast.« Wie jeden Morgen. Eine weitere Tatsache, die sich nicht ändern lässt und die mich unheimlich stört: der Kerl kann mich so verdammt gut einschätzen. Kennt meine Gedanken, Gefühle und Gewohnheiten. Weiß genau, was ich als nächstes tun werde. Deswegen weiß er auch, dass sich die Flasche in meinen Händen kaum bewegen und mein Blick sich gen Boden richten wird. Verdammte Berechenbarkeit. »Jetzt trink schon.« Mein ewiger Trotz wird ihm also langsam lästig. Freut mich. Seufzend stößt er sich vom Türrahmen ab und dreht seine schmächtig scheinende Gestalt in meine Richtung. Erneut verkrampft sich mein Körper; ich mag seine Nähe nicht, und dessen ist er sich bewusst. »Ja ja...«, krächze ich leise, als sich mein Griff um die Flasche festigt, ich sie aufdrehe und in tiefen Schlucken trinke. Angesichts des siegessicheren Grinsens auf seinem Gesicht keimt in mir die Lust auf, ihm die Flasche samt Inhalt in die Psychofratze zu werfen. »›Ja ja‹ heißt soviel wie ›Leck mich‹.« Als ob ich das nicht wissen würde. Wieso bin ich elender Masochist eigentlich noch hier? Nur wegen meiner Erinnerungen? Während ich mir das kühle Nass die Kehle runtergieße, beobachte ich ihn. Das Grinsen ist verschwunden, ist einem besorgten Ausdruck bereitwillig gewichen. Er fährt sich mit der Hand durch die unbändigen blonden Haare, reibt sich die Schläfen. Der Kerl ist selbst ein Masochist, ein noch viel schlimmerer als ich es bin. Warum tut er es sich an, sich um ein Wrack wie mich zu kümmern? Vielleicht hat er mich in unseren früheren Leben gemocht. Warum ich ihn nie beim Namen nenne? Es ist nicht so, dass ich ihn nicht kennen würde; er hat ihn mir genannt – zumindest seinen Decknamen. Aber Mello nennt mich nie bei meinem Namen, also sehe ich keinen Sinn darin, das bei ihm anders zu machen. You don't need to bother; I don't need to be »Was willst du überhaupt hier?« Meine Stimme hat sich wieder erholt; klingt zum Glück einigermaßen sicher und beherrscht. Gewöhnlich rede ich nicht viel mit ihm, und genau das scheint ihn zu wundern. Zunächst blickt er mich leicht verwirrt an, bis dieses nervende Grinsen sich – wieder einmal – auf sein Gesicht schleicht. »Es hat mich nur gewundert, dass du um halb vier morgens so ’nen Radau machst. « Ungläubig starre ich ihn an. Soviel zum Thema Selbstbeherrschung. Es ist noch so früh? »Außerdem habe ich nur ein armseliges Krächzen gehört, also wollte ich mal nachsehen«, fügt er schadenfroh hinzu. Augenblicklich wandelt sich meine Verwirrung in Wut. Wut auf Mello, Wut auf mein schlampiges Gedächtnis, Wut auf all die Dinge, die er weiß, ich aber nicht wissen darf. Denn so unglaublich es auch klingt, Mello verbietet es mir. Und das klingt noch armseliger, als ich befürchtet habe. Aber er weigert sich nun mal strikt, mir auch nur den kleinsten Hinweis zu geben. Ich soll es selbst herausfinden. Toll. Es mag sich lächerlich anhören, dass ich mir von der blonden Witzfigur Vorschriften machen lasse, aber ohne Waffe keine Macht. Ohne Macht keine Freiheit. Und ohne Freiheit bin ich auf jemanden angewiesen, der mich kennt – obwohl ich bis jetzt noch daran zweifle, dass er das wirklich tut. So viel hat er mir gnädigerweise verraten: wir sollen uns angeblich seit frühster Kindheit kennen. Also locker mehr als zehn Jahre. Großartig. »Was denn? Auf einmal so still?« Stimmt ja, Mello ist noch hier. »Ist es wirklich erst halb vier?« Nicht, dass ich einen Grund habe das anzuzweifeln – wieso solle er mich in dieser Hinsicht belügen? –, aber ich kann dennoch nicht glauben, dass meine innere Traumuhr mich nach über einem Monat so im Stich gelassen hat. Jeden Tag hat sie mich um die gleiche Zeit mit schrecklichen Erinnerungen – meinen einzigen Erinnerungen – aus dem unerholsamen Schlummer geholt; jetzt auf einmal versagt sie. »Wieso sollte ich dich anlügen?« Darauf weiß ich keine Antwort. I'll keep slipping farther Er sieht ein wenig wütend – oder bestürzt, verletzt? – aus, als er die Arme wieder trotzig vor seiner Brust verschränkt. Ich seufze. Und nun? Es ist früh morgens, wir beide sind wach und können wohl nicht mehr einschlafen, und zu allem Überfluss ist es wieder einer dieser Momente voll von peinlicher Stille. Scheiße. »›Scheiße‹ ist keine Antwort auf meine Frage.«Habe ich das laut gesagt? Egal. »Es war auch keine Antwort auf deine Frage«, sage ich darum, die Worte kommen einfach so, und ich bin ein wenig erschrocken; klingt meine Stimme schon immer so gelangweilt? Ohne zu fragen – nun ja, es ist ja eigentlich sein Heim – bewegt sich Mello auf die Couch zu, die gegenüber meines Bettendes steht, und auf der ich bei genauerer Überlegung noch nie gesessen habe. Vielleicht werde ich das irgendwann einmal nachholen. Momentan jedoch besetzt der Blondschopf diesen Platz, also nehme ich mit meinem Bett Vorlieb und warte. Warte auf seinen nächsten Zug. Wieso sonst hätte er sich hier hinsetzen sollen; er bleibt nie lange. »Wovon hast du geträumt?«, fragt er mich, während er von einer Tafel Schokolade abbeißt – Himmel, wo hat er die denn jetzt schon wieder her? Noch schockierender ist allerdings die Tatsache, dass er mich so direkt fragt. Das tut er sonst nie. Sowieso ist heute alles anders. Und das gefällt mir nicht. Gewohnheiten und geregelte Abläufe sind wichtig für mich; das weiß Mello auch, hat es immer geachtet und befolgt. Nur heute nicht. Ich will ihm nicht auf diese Frage antworten. Es geht ihn erstens nichts an, und zweitens weiß er es bestimmt auch so. Ich fühle mich unwohl unter seinem bohrenden Blick, wende meinen Kopf von ihm ab und starre die Wand an. »Wo sind meine Zigaretten?« Ich wähle die erste Frage, die mir in den Sinn kommt. Einfallsreich, ich weiß. Ich spüre diesen irritierten Blick in meinem Nacken, der sich aber schnell wieder in Gleichgültigkeit umwandelt. »Weg.« Es raschelt hinter mir und ein leises ›crack‹ ist zu hören, als Mello einen weiteren Bissen Schokolade verschlingt. Nein, wie aufschlussreich. »Das sehe ich auch. Wo sind sie?« Langsam werde ich ungeduldig. Normalerweise bringt mich Mello nicht so weit – ich ihn für gewöhnlich auch nicht –, aber heute ist, wie gesagt, alles anders. »Im Müll«, ist seine Antwort, der ein leises Kichern folgt. Ich hätte mir gerne die flache Hand gegen die Stirn geschlagen, vor allem angesichts seines nächsten Satzes. »Ich mag es nicht, wenn du rauchst. Damit musste ich lange genug klarkommen.« »Das ist mir egal; ich muss auch mit deiner dämlichen Schokoladensucht klarkommen«, rutsch es mir raus. Er provoziert mich; Arschloch. Anscheinend scheint ihn das Gespräch zu amüsieren. Er lacht in sich hinein, überlegt kurz. Schüttelt den Kopf, als ob er die ihm gekommene Idee wieder verwerfen will. Kurz ist es still, dann zuckt er nur mit den Schultern und erwidert: »Mit dem kleinen Unterschied, dass du dich nur an den vergangenen Monat meiner ›Schokoladensucht‹, wie du es nennst, erinnern kannst, ich deine Nikotinabhängigkeit aber schon gute 4 Jahre ertragen muss.« Das hat gesessen. Es ist unfair von ihm, dieses Argument zu gebrauchen; das wissen wir beide. Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als wolle Mello eine Entschuldigung murmeln, aber selbst wenn ihm sein Stolz nicht im Wege stehen würde; in seinen Augen ist er fehlerfrei, und wenn jemand etwas anderes behauptet, dann muss er entweder verdammt dumm sein, unbedingt sterben wollen oder eine kugelsichere Weste tragen. Mello trifft nämlich in 99% der Fälle. Ich sage nichts, will nicht auf diese verletzende Aussage antworten. Erneut ist es still zwischen uns, nur das leise Klacken der leeren Flasche ertönt, wenn meine zitternden Hände sie gegen die Bettkante schlagen lassen. Nicht Angst oder Trauer sind der Anlass. Wut, blinde Wut droht mich zu übermannen, etwas, dass ich in diesem Monat erst einmal verspürt habe. Es ist ein paar Tage nach meinem Gedächtnisverlust gewesen. Ich bin aufgewacht; ein fremdes Bett, ein fremdes Zimmer; statt dem so vertrauten Geruch nach Zigarettenrauch hat der süßliche Duft von Schokolade in der Luft gehangen. Ein blondes Etwas hat neben meinem Bett gesessen. Ich habe ihn nicht gekannt, er mich aber anscheinend. Er hat mir nicht sagen wollen, wer ich war. Hat mir keine Auskunft über mein früheres Leben geben wollen. »Wenn du dich von selbst an deinen Namen erinnern kannst.« Dieser Satz hat mich so sehr in Rage gebracht, dass ich trotz der lähmenden Schmerzen aufgesprungen bin und ihn mit allem beworfen habe, was mir in die Hände gekommen ist, geschrien und getobt habe. Danach hat er mich ein paar Tage in Ruhe gelassen. Wieder zurück in der Gegenwart seufze ich lautlos. Ich will nicht daran denken. Langsam verebbte die Wut wieder; nicht so schnell wie ich es hoffe, aber stetig, und das reicht im Moment, obwohl ich mir sicher bin, dass sie wieder nach mir greifen wird. Die zunehmende Nikotinarmut – an diesen Stoff scheint mein Körper gewöhnt zu sein – macht mich aggressiv. »Erzähl es mir.« Der gleiche Satz wie damals. Er ist mir einfach so in den Sinn gekommen, und ich fordere es nur, um die Stille durchbrechen zu können. »Sag mir zuerst deinen Namen.« »...Arschloch.« »Nah dran.« But once I hold on, I won't let go 'til it bleeds Der Kerl macht mich echt fertig. Wieso soll ich denn alleine auf meinen Namen kommen, verdammt noch mal? Was hat er davon? Lange Zeit denke ich darüber nach, das Knistern von Mellos Schokolade das einzige Geräusch, welches den Raum erfüllt. Er wartet. Worauf? Dass ich etwas sage. Weil er weiß, dass ich noch etwas zu meiner Verteidigung vorbringen möchte. Damit muss ich mich allerdings beeilen, denn zu den Stärken meines Gegenübers zählt Geduld ganz bestimmt nicht. Eigentlich ist es doch erstaunlich: Mello und ich sind so grundverschieden, dass wir uns gegenseitig den Kopf abreißen sollten (was er in manchen Momenten sicher auch gerne tun würde), aber dennoch ergänzen wir uns auf eine verrückte, total verdrehte Weise. Und anscheinend kennen wir uns schon Jahre lang. Wieso erzählt er mir dann nicht einfach von meiner Vergangenheit, meinem früheren Leben, unseren gemeinsamen Zeiten und– »...das ist es«, entfährt es mir. »Was?« Ich sollte mir angewöhnen, meine Gedanken nicht laut auszusprechen, sonst durchschaut Mello meinen Plan noch (sofern man das denn Plan nennen kann). »Mello...?« Meine Stimme ist fragend, als ich mich langsam zu ihm drehe. Er zuckt unmerklich zusammen; ich rede ihn sonst nie mit seinem Namen an. »Anwesend.« Ich hasse seine Antworten. »Erzählst du mir–«, beginne ich, doch er unterbricht mich mit einem schneidenden ›Nein!‹. »...von deinem Leben, bevor ich... bevor das alles passiert ist?«, beende ich meinen Satz ungerührt, und mit einer gewissen Zufriedenheit betrachte ich, wie sich Unglaube in seinem Gesicht ausbreitet. Es ist pure Genugtuung, ihn verwirrt zu sehen, denn für gewöhnlich achtet er darauf, beherrscht und lässig, allwissend zu wirken; als habe er immer alles im Griff. Aber in solchen Momenten wird mir immer wieder bewusst, dass Mello auch nur ein Mensch ist. So wie ich – nur eben anders. Bis jetzt hat er noch nichts zu meiner Bitte gesagt. Ein Anflug von Verzweiflung greift nach mir. Ich muss es wissen! Es ist meine Vergangenheit, nicht seine. Egal, was er gleich von mir halten wird, soll er mich ruhig als armselig und schwach abstempeln, aber nach über einem Monat purer Leere muss ich meine Gedanken mit irgendetwas füllen. »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es ist, wenn du jeden Morgen schreiend aufwachst, weil dich die einzig greifbare Erinnerung immer wieder heimsucht? Wenn du nichts über dich weißt, aber jeden Tag einem Mann gegenüberstehst, der es scheinbar tut und dir nichts verraten will? Falls du es dir nicht vorstellen kannst; es ist schrecklich. Unfair und unmenschlich.« Mir ist klar, dass er die Verzweiflung raushört, die mehr und mehr Besitz von meiner Stimme ergreift, und umso mehr überrascht es mich, dass er mir konzentriert zugehört und anscheinend versucht hat, es zu verstehen. Zu verstehen, was ich durchmache. Und welche Rolle er dabei einnimmt. Eigentlich ist das meine Rechtfertigungsrede gewesen, aber anscheinend hat mein Unterbewusstsein noch etwas hinzuzufügen: »Wenn du nicht einmal die Freiheit hast, dem ganzen ein Ende zu bereiten.« Ich spreche es leise aus; schäme mich dafür, ihm gegenüber meine Schwäche zuzugeben. Jetzt heißt es Abwarten. Ich freue mich schon unheimlich auf Mellos sarkastischen Kommentar. Wish I was too dead to care If indeed I cared at all »Na gut.« Seufzend lehnt der Blonde sich zurück, macht es sich auf der weichen Couch noch ein wenig bequemer. »Weißt du, eigentlich hatte ich nie vor, dir davon zu erzählen, bis du nicht zumindest wieder deinen Namen weißt, aber wenn du es so unbedingt willst.« Leichter Ärger schwingt nun in seiner Stimme mit, und ich frage mich unwillkürlich, ob ich das alles wirklich wissen will. Natürlich will ich es wissen. Warum sonst hätte ich ihm hier ’nen Seelenstriptease hinlegen sollen? Aus reinem Spaß an der Freude? Verarschen kann ich mich alleine. Ich knurre genervt, schlucke die Wut hinunter. Mich wieder unter Kontrolle bringend nicke ich leicht; ein Zeichen für Mello, endlich anzufangen. »Ich überspringe mein Leben jetzt einfach mal. Willst wahrscheinlich eh nur wissen, was kurz vor diesem Zwischenfall passiert ist.« Es ist eine Feststellung, die ich bestätigen möchte. Mein ersticktes ›Ja‹ unterstütze ich durch ein weiteres Nicken. Ihm wird anscheinend etwas unwohl, er rutscht nervös auf dem weichen Polster rum, und die Abstände zwischen seinen Bissen Schokolade verlängern sich immer mehr, bis er die Süßigkeit endgültig weglegt. »Fangen wir einfach mittendrin an, sonst müsste ich zu weit ausholen. Dass wir beide früher gute Freunde waren, hast du bestimmt mittlerweile in deinen Schädel reingekriegt, hmm?« Den fast schon gekränkten Unterton ignorierend nicke ich widerstrebend. Freunde? Na egal. »Wir waren gerade dabei, einen Plan zu verwirklichen, der ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu Kiras Festnahme gewesen wäre, als–« Ich muss ihn einfach unterbrechen: »Also erstens: wenn du wir sagst, meinst du ganz bestimmt ich, mit deiner unfreiwilligen Hilfe, und zweitens: Was ist Kira denn für ein bekloppter Name? Suchst du ’nen Hund, oder wie jetzt?« [2] Er zieht die Augenbrauen zusammen, schließt die Augen, um sich zu beruhigen. Mello wird genauso ungern unterbrochen wie ich. »Na schön. Ich war kurz davor mit einem genialen Plan einen irren Serienkiller, der die ganze Welt auszulöschen droht, zu überführen und festzunehmen. Und du hast dich bereit erklärt, mir zu helfen – als Ablenkungsmanöver, sozusagen, damit ich unauffällig mit der Geisel verschwinden konnte.« Was redet er da für einen Mist? »Als ob ich«, beginne ich, doch er schneidet mir das Wort ab. »Oh bitte! Jetzt erzähl’ ich dir endlich, was du schon so lange wissen willst, und dann unterbrichst du mich ständig? Meine Fresse...« Er stöhnt genervt auf, sieht mich dann mit provozierendem Blick an. »Vielleicht sollten wir das Gespräch einfach verschieben.« Meine Gesichtszüge müssen mir entglitten sein, denn Mellos Grinsen erscheint wieder. »Arschloch.« »Du wiederholst dich.« Wie gerne würde ich ihn schlagen, aber mit geschwollenem Gesicht kann er schlecht sprechen. Ich seufze ergeben. »Na gut, dann bin ich eben still.« »Braver Junge.« Er macht sich nicht die Mühe, sein Lachen zu verbergen. Ich habe erwähnt, dass ich ihm dieses überhebliche Psychogrinsen am liebsten vom Gesicht fegen möchte, oder? Bestimmt. Und wieder macht er es sich bequemer. »Versprich, dass du mich jetzt nicht mehr unterbrichst, bis ich fertig bin.« Kindische Forderung. »Wenn du nicht hören willst...« Mit diesen Worten zieht er demonstrativ langsam seine Knarre aus der am Ledergürtel befestigten Tasche. »Scheiße, willst du mich abknallen?!« »Nur, wenn du mir noch mal dazwischen plapperst«, sagt er mit der seelenruhigen Tonlage eines eiskalten Killers. Ich muss ernsthaft überlegen: sterben, und nie etwas über meine Vergangenheit erfahrne, oder leben, aber ihn dafür weiterhin ertragen? »Ist ja gut; fahr fort.« Der zigste Seufzer entweicht mir an diesem taufrischen Morgen. »So jung kommen wir nie mehr zusammen.« Die nächsten paar Minuten schaffe ich es tatsächlich, ihm zuzuhören, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. Doch was ich zu hören bekomme, gefällt mir ganz und gar nicht. Ich wiederhole das Gehörte noch mal in meinem Kopf. »Wir waren kurz vor Erreichen eines weiteren Etappenziels gewesen. Um an die Geisel zu kommen, solltest du sie mit einer Schießerei von deiner Karre aus in Aufruhr versetzen, während ich mit der Zielperson abhaue. Es hat auch wirklich perfekt geklappt.« – Angesichts seines zufriedenen und komplett von sich selbst überzeugten Gesichtsausdrucks würde ich am liebsten die Augen verdrehen. Dann werden seine Züge merkwürdig ernst. – »Aber als ich mit ihr davonfuhr, beschlich mich ein komisches Gefühl. Zweifel überkamen mich, und ich fragte mich, ob nicht irgendetwas schief gehen könnte. Es war das erste Mal, dass du so aktiv an einer Mission beteiligt warst, und ich machte mir Sorgen, dass ich nicht alles komplett in Betracht gezogen hatte und dich so in Gefahr bringen könnte.« Wir beide sind kurz still; wissen, dass es untypisch für Mello ist, so offen über seine Gefühle, Ängste und Sorgen zu sprechen. Besonders schwer muss es ihm fallen, von Selbstzweifeln zu erzählen. Lügt er? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich diesem selbstsüchtigen Arsch wichtig sein soll. Plötzlich fährt er fort, hat sich wohl genug gesammelt: »Ich hätte wissen müssen, dass sie Wagen in Reserve hatten, die nur auf den Attentäter warten würden.« Es klingt anklagend, echt. Der nächste Satz ist nur sehr schwer zu hören, und ich muss mich anstrengen, um die einzelnen Silben zu erhaschen. »Ich habe dich in die Falle laufen lassen...« Er strafft seine Schultern, atmet tief ein, und ich frage mich, ob ich mir diesen Blick von ihm nur eingebildet habe. Haken wir das einfach unter ›optische Täuschung‹ ab, denke ich, als ich darauf warte, dass er weiter erzählt; von seiner, meiner, unserer Geschichte. »Das ungute Gefühl ließ mich nicht los, also hab ich Takada – die Geisel – vom Motorrad geworfen und bin umgekehrt. Auf dem Weg zur Kreuzung, an der sie dich abgefangen haben mussten, fielen mir die ganzen Gaffer auf. Ich habe mich gefragt, in was für Schwierigkeiten du dich jetzt schon wieder gebracht hast.« – Er lacht ein wenig, leicht melancholisch, und ich frage mich, ob er nur versucht, dieses ernste Gespräch aufzulockern. – »Aber als ich mein Motorrad abgestellt und mich durch die Massen gekämpft hatte, wäre ich am liebsten schreiend davon gerannt.« Ich spüre mit Entsetzen, dass ich gar nicht mehr wissen will. Ich habe Angst vor dem, was kommt. Wenn Mello schon so mitgenommen dreinblickt, was passiert dann erst mit mir? Ich will es nicht wissen. Hör auf. Ich will meinen Alptraum nicht von dir erzählt bekommen. Die nächsten Sätze flüstert er nur, aber in dem kahlen Raum hallen die Worte hohl von den Wänden wieder, schaffen eine unheimliche Atmosphäre. Wie passend für das traurige Spiel, meine Tragödie. »Du lagst einfach nur da. Hast dich nicht bewegt, nicht geatmet. Überall auf deiner Weste war Blut. Ich hatte gehofft... dass es ihr Blut war, aber innerlich schalt ich mich für diese Dummheit... es war deins.« Er schluckt hart, will seine Stimme festigen. »Ich bin sofort zu dir, hab noch ein paar von den Mistkerlen angeschrien, dass sie besser helfen statt gaffen sollten, aber sie haben nichts getan. Ich kam mir so hilflos vor, als ich vor dir stand... und dachte, dass du... tot wärst.« Seine Stimme ist nicht brüchig, aber voll aufrichtiger Trauer. Es kotzt mich an. Was soll das? Wieso lügt er mich so dreist an? So kann es nicht gewesen sein. Langsam komme ich mir so richtig verarscht vor. Meine vorangegangene Angst wird durch Wut ersetzt. Wut auf seine wahren Lügen. So ist es nicht gewesen, oder? »Als ob ich freiwillig mein Leben für dich Arsch gegeben hätte!«, fahre ich ihn an, erschrocken über die schneidende Kälte in meiner erhobenen Stimme, aber dennoch darauf hoffend, dass meine Worte ihn treffen. Was fällt dem Kerl ein? Ich hasse ihn, er hasst mich, wieso muss er mich jetzt noch verspotten? Ich warte auf seine Antwort, auf einen Grund für mich, meinen angesammelten Aggressionen freien Lauf zu lassen, aber er bleibt still. Mit wütender Miene schaue ich zu ihm, bereit, ihm einen weiteren giftsprühenden Kommentar an den Kopf zu schmettern. Den hat er verdient, für seine Arroganz, seine ewige Bevormundung und das Gefühl, über mich erhaben, mein Herrscher zu sein. Aber als ich meinen Mund öffnen will, erfassen meine Augen sein Gesicht. Nicht Überheblichkeit und Gehässigkeit zeigen sich wie sonst auf seinen femininen Zügen, doch ein anderer Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermag. »Glaubst du wirklich, ich habe das von dir verlangt?«, flüstert er, den Kopf zur Seite gewand, den Blick nach unten gerichtet, und für einen Moment wirkt er wie ein kleines Kind, das man angeschrien hat und sich nun verschämt am liebsten nur verstecken will. Er sieht verletzt aus. Gott weiß warum, aber ich mag diesen Anblick nicht. Egal, wie wenig ich Mello als Freund ansehe, er ist für mich in diesem Monat immer eine starke Person gewesen (so ungern ich das auch zugebe). Zwar hat er mir immer auch das Gefühl gegeben, als wäre ich in seinen Augen nichts als Dreck, aber dennoch ist es gewesen, als ob er mir immer helfen, mich immer beschützen kann. Er ist stark – ich bin schwach. Doch der Ausdruck hält nicht lange genug, als dass ich den Blick beschämt zu Boden senken kann. Mello fängt sich schnell; so schnell, dass er mich im nächsten Augenblick scheinbar ohne große Schwierigkeiten wieder anschreien kann, das Gesicht zu einer rasenden Fratze verzogen (obwohl ich bei genauerem Hinsehen bestimmt das gewisse Maß an Schuldgefühlen und sogar den leichten Selbsthass gesehen hätte). »Glaubst du wirklich, dass ich dich gezwungen habe, für mich in den Tod zu fahren? Ist deine Meinung von mir wirklich so beschissen?!« Streichen wir das, was ich eben gesagt habe; ich wünsche mir den ruhig, nachdenklichen Mello zurück. Ich mag es nicht, angeschrien zu werden, und schon gar nicht von ihm. Jetzt bin ich wohl an der Reihe, mich wie ein verängstigtes Kind in mein Bett zu drücken und zu hoffen, mich so klein machen zu können, dass er mich nicht mehr sehen kann. Aber natürlich kann Mello mich noch sehen. Und das ist das Schlimmste. Never had a voice to protest So you fed me shit to digest I wish I had a reason; My flaws are open season For this, I gave up trying One good turn deserves my dying Und plötzlich funkelt wieder dieser Ausdruck in seinen dunklen Augen, den ich zuvor noch nie bei ihm gesehen habe. Jetzt weiß ich, was es ist: Reue. Ehrliche, aufrichtige Reue. Ich spüre Schuld in mir aufkeimen, weiß aber nicht, warum. Ich habe doch nichts falsch gemacht, oder? Er hat mich in den Tod fahren lassen. Er hat sich einen Dreck um mein Leben geschert. Er hat Schuld. Trotzdem fühle ich mich selbst so verdammt schuldig, rüttelt mich das Gefühl, verloren zu haben. Ich denke angestrengt nach, und dann weiß ich auf einmal, warum ich mich so dreckig fühle. Weiß, warum ich mich fühle, als habe ich Mello gekränkt, und nicht er mich: ich habe meinen Freund – sofern ich ihn so nennen kann – enttäuscht. Mello hat mir vertraut, und ich habe versagt. Die Flutwelle an Erinnerungen bricht ohne Vorwarnung über mir zusammen. Hat vorher nur kleine Wellen geschlagen, die ich ignoriert oder schlichtweg übersehen habe, und trifft mich mit so unbeschreiblicher Kraft, dass sie mich rücklings aufs Bett haut. Wish I'd died instead of lived A zombie hides my face Es ist unglaublich; ich erinnere mich wieder. Nicht an alles, aber an Vieles. Wie ich Mello beinahe angefleht habe, mich bei diesem Auftrag mit einzubeziehen, und an das Glücksgefühl, als er widerwillig zugestimmt hat, wie er mir seine Zufriedenheit gezeigt hat, als das Ablenkungsmanöver so ausgezeichnet funktioniert hat, und wie ich voll närrischer Zuversicht aus dem Auto gestiegen bin, nicht ahnend, dass sie schießen würden. Wie mich die heftigen Schüsse nach hinten gerissen haben, die metallenen Geschosse jede Faser meines Körpers durchbohrt haben, und wie sich neben den Schmerzen nur das Gefühl versagt zu haben in mir ausgebreitet hat. Dann ist alles schwarz geworden und ich bin in das tiefe Loch des Vergessens gefallen. Ich bemerke Mello erst, als sich die Matratze unter dem zusätzlichen Gewicht leicht durchdrückt. Einzelne blonde Haarsträhnen fallen ihm in sein Gesicht, als er sich über meine liegende Gestalt beugt, und ich meine, leichte Besorgnis in den minimal geweiteten Augen sehen zu können. »Alles in Ordnung?« Ich muss nachdenken. Ist denn alles in Ordnung? Ich erinnere mich an die Geschehnisse kurz vor dem Fehler in Mellos Plan, und auch an einige andere Ereignisse. Und ich weiß, wie–... Nein, weiß ich nicht. »Hey! Kannst du dich an deinen Namen erinnern? « »Mello...« »Nee, aber fast.« Seufzend begibt er sich in eine sitzende Position und schüttelt sich das blonde Engelshaar aus dem Gesicht. »Ich dachte schon, du wüsstest wieder alles.« Er grinst mich mit einer Spur scherzhaft gemeinter Gehässigkeit an. »Nach deiner dramatischen Showeinlage hatte ich das erwartet.« Auch ich setze mich auf, blicke ihn an. »Ich erinnere mich an einiges, Mello. An deinen perfiden Plan, an die Horde Mafiabosse mit ihren pikfeinen Anzügen an den bulligen Körpern und den illegalen Knarren in der Hand...« »Nur nicht an deinen Namen«, endet er angenervt meinen Satz. »Mann, warum bist du heute so poetisch?« »Liegt wohl an deiner berauschenden Existenz.« Wir blicken uns einen Moment lang ratlos an, bevor wir beide in schallendes Gelächter ausbrechen. Es hat etwas Gewohntes, etwas Vertrautes und Heimliches. Es fühlt sich richtig an. Wir beruhigen uns, Mello grinst mich frech an. »Wie in alten Zeiten, hmm?« »M-hm. Als ich noch klar im Kopf war und du noch keine Narbe quer über deine weibliche Psychofratze hattest.« Sein Blick verdüstert sich. »Pass auf, was du sagst, dämlicher Spielefreak.« Der Griff um seine glatte Pistole festigt sich minimal. »Reg dich ab, Alter.« Shell forgotten With its memories Eine Weile ist es still und jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Irgendwann hebt Mello seinen zuvor gesenkten Blick und sucht Blickkontakt, aber arschig wie ich nun mal bin, starre ich grinsend den Boden an. Kalter Beton, sehr schön. »Ich weiß, dass du weißt, dass ich mit dir reden will, also hör gefälligst mit dem Scheiß auf.« Jepp, Mello ist extrem angepisst. Juhu. »Was ist denn? Ich muss nachdenken. ...und ja, ich bin durchaus dazu in der Lage, mein Köpfchen anzustrengen«, füge ich noch hinzu, als habe ich seine Gedanken gelesen (bei dem arroganten Grinsen wäre da aber jeder drauf gekommen). Mello scheint kurz über meinen Kommentar nachzudenken, dann wendet er sich wieder mir zu. Er blickt mir geradewegs in die Augen. Seine Iriden sind dunkelbraun, erinnern mich unwillkürlich an die Farbe geschmolzener Schokolade. »Wie ist es, sein Gedächtnis zu verlieren?« Ich muss nicht lange überlegen. »Scheiße.« Als ich seinen unzufriedenen Blick sehe, entscheide ich mich für die gleiche Antwort, nur etwas ausführlicher. »Es ist ein mieses Gefühl, wenn du eines Morgens mit zig Wunden aufwachst, du dich nicht mal an deinen Namen erinnerst und dann plötzlich die Tür auffliegt und ein psychopatischer Killer im Türrahmen steht und dich anherrscht, von wegen du hättest lange genug gepennt und solltest jetzt besser deinen faulen Arsch aus seinem Bett bewegen, sonst puste er dir die Birne weg.« »Das habe ich nie gesagt!«, verteidigt er sich, fast schon wie ein kleines Kind. »Doch, ganz genau so.« »Ach, leck mich.« »Liebend gerne, Schätzchen.« Ich muss losprusten, als sich seine blassen Wangen leicht rosa färben und er empört irgendetwas murmelt, das verdächtig nach ›Scheiß Homo‹ klingt. Während ich weiter vor mich hingrinse und der Wunsch nach einer schönen Zigarette – oder zumindest meinem Nintendo DS – immer stärker wird, springt Mello plötzlich auf und macht sich auf den Weg zur Tür. »Wohin gehst du?« Es klingt ein wenig beleidigt und anklagend, aber ich will jetzt nicht alleine sein. Ich habe diese freundschaftlich-gefährliche Wärme – zu der nur Mello im Stande ist – über einen Monat schrecklich vermisst. Er darf jetzt nicht gehen. Ich verbiete es ihm. Basta. Nur schade, dass Mello immer noch der mit der Knarre ist. »Ich bin gleich wieder da, muss nur was holen.« Und mit einem Satz ist er zur Tür hinaus. Wenig später geht ein Grollen durch den kleinen Unterschlupf. Flüche wie ›Verdammt, wo ist dieses nutzlose Teil?!‹, ›Demnächst kann der faule Hund selbst suchen!‹ oder ›Scheiße, jetzt hab’ ich mir auch noch den Finger eingeklemmt! Dafür zieh’ ich ihm meine Knarre über den Schädel.‹ hallen durch die Flure. Er hat ja wieder eine großartige Laune. Wenige Minuten, aber unendlich viel Gemecker später betritt er wieder den kleinen Raum, unter dem Arm ein kleines Bündel. »Hier.« Er wirft mir das Ding zu, und als es mit einem dumpfen Aufprall auf meinem Schoß landet, kann ich es als Notizbücher identifizieren. »Soll ich mir jetzt deine teuflischen Pläne durchlesen und dich in den Himmel loben, damit du dich daran aufgeilen kannst, oder wie?« Ich sehe ihn verwirrt an, doch Mello schnappt sich nur voll Ungeduld seine zuvor vernachlässigte Schokolade – oder zumindest das, was davon übrig ist – und zwingt mich mit einem ›Lies, sonst blas ich dir den Schädel weg‹ zur bedingungslosen Kapitulation. Wieso habe ich in solchen Momenten eigentlich grundsätzlich keine Waffe? Diaries left With cryptic entries Damit er Ruhe gibt, schlage ich resigniert seufzend die erste Seite des obersten Buches auf. Beginne zu lesen. Ungläubig überfliege ich die handgeschriebenen Seiten. Ich kenne die Schrift, kenne den Wortlaut und die Probleme, die in diesen Schriften aufgeführt werden. Natürlich kenne ich diese Bücher, schließlich gehören sie mir. »...du Arsch«, ist das Einzige, was ich zunächst rausbekomme. »Wie kommst du überhaupt an meine alten Tagebücher?!« Mellos Grinsen versetzt mich etwas in Rage, immerhin ist das ein massiver Eingriff in meine geheiligte Privatsphäre. Das wird er mir noch büßen. »Hör auf, so penetrant zu grinsen, Idiot.« Meine Stimme klingt nur halb so aggressiv, wie ich es angepeilt habe, aber dafür umso trotziger. Wer ist hier das Kleinkind? Seine Züge entspannen sich, das zusammengeknüllte Papier der verschlungenen Schokolade landet knisternd in der nächsten Zimmerecke, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es sein werde, der es wieder wegräumen wird. Er zuckt kurz mit den Schultern, dann sieht er mich mit ehrlichen Augen an. »Ich hatte gehofft, dass dir dein altes Gewäsch weiterhelfen würde, auf die Spuren deines Namens zu kommen, aber leider hast du Vollpfosten die Einträge nicht signiert.« Sehe ich das richtig? Er stielt meine Tagebücher, liest sie noch und beschwert sich dann, dass mein Name nicht drinsteht? Arschloch. »Du, Mello?« »Was?« »Wieso sagst du mir meinen Namen eigentlich nicht? Ich meine, ich kann mich doch an alles andere erinnern.« Fragend blitzen meine Augen zu seinen. Aber Mello zuckt nur erneut mit den Schultern – so wenig Bewegung wie möglich; er darf doch keine Kraft verschwenden, solange er keine Schokolade zu sich nehmen kann – und setzt zu seiner Erklärung an. »Als ich dahinter gekommen bin, dass du echt keinen Schnall mehr hattest, wer du bist, hab ich ein paar Bücher gewälzt. Und in den alten Schinken stand, dass du als Patient alleine darauf kommen musst.« Ich sehe ihn ungläubig an. »Und so einem Geschwätz glaubst du?!« »Natürlich. Bildung ist alles.« Das meint er nicht ernst. Natürlich nicht. Wenn man mal von der überdimensionalen Grimasse, die sich über seine untere Gesichtshälfte zieht, absieht, ist da noch die Tatsache, dass Mello nie las. Zumindest nichts Bildendes. Nicht Mello. Nicht mehr. Auf keinen Fall. Ich stöhne resignierend auf. Jetzt habe ich meine Vergangenheit schon wieder, nur ein Wort trennt mich vom endgültigen Erfolg, und dieser Idiot verweigert mir den Sieg? Was denkt der Kerl sich eigentlich? Freundschaft hin oder her. »Das ist unfair«, brumme ich. »Du könntest doch ganz einfach mal nett sein, und sagen ›Matt, dein Name ist...‹, und schon wäre die Sache gegessen.« Ich bemerke seinen komplett irritierten Blick. Was ist denn nun schon wieder? Habe ich irgendetwas im Gesicht. Meine Fresse... »W-was soll ich sagen?«, fragt er mich verwirrt, wendet den Blick nicht von mir ab. Ich seufze genervt. Er ist wohl heute nicht ganz auf der Höhe. »Sag doch einfach ›Matt, du heißt...‹, du Spatzenhirn.« »...du rallst nicht, was du da gerade laberst, oder, Alter?« Ich verstehe wirklich erst nicht, was er meint. Aber als ich mir den Satz noch mal durch den Kopf gehen lasse, springt es mir förmlich ins Gesicht. Na klar. Schon das ganze Gespräch über hat es als Schatten in meinem Kopf gelauert, hat auf den richtigen Moment gewartet, und als dieser endlich gekommen ist, hat es mich fröhlich angelacht, als sei es immer da und niemals fort gewesen. »Matt.« Der Klang meiner Stimme, als sie meinen langverschollenen Alias ausspricht, ist überwältigend. Man kann es vielleicht nicht nachvollziehen, aber wenn man erst mal einen Monat unter retrograrer Amnesie gelitten hat, versteht man das schon (nicht, dass ich das irgendjemandem wünschen würde). Voll wahrer Freude grinse ich ihn an. »Ich kenne meinen Namen!«, schreie ich ihm fast ins Gesicht. Wehmütig grinst er zurück. »Na endlich.« Und ich kann Erleichterung in seinem hübschen Gesicht sehen. Eine Zeit lang necken wir uns, ganz wie früher, aber dann wird sein Gesicht wieder ernst. »Du kennst zwar deinen Alias, aber wie sieht’s mit deinem richtigen Namen aus?« Ich muss kurz überlegen, aber die Lösung kommt so erschreckend einfach, ohne große Anstrengung, dass ich mich glatt verarscht fühle. Dann lächle ich. »Natürlich kenne ich meinen wahren Namen. Wie könnte ich den vergessen?«, frage ich spaßeshalber. »Ja, wie könntest du nur...« Habe ich diesen Sarkasmus an Mello wirklich mal gemocht? Ach egal. »Na dann, Matt. Raus mit der Sprache.« »Nö.« Ich kann förmlich sehen wie sehr er sich anstrengen muss, seine Wut zu unterdrücken, die wohl gerade in meterhohen Wellen durch seinen Körper schwappt. Es ist gewagt von mir, aber hey, sehen wir es so: würde mich Mello wirklich mit seiner Waffe töten? Ich muss hart schlucken als ich daran denke, dass es zwischen ›nicht schießen‹ und ›töten‹ immer noch ›lebensgefährlich verletzen‹ gibt. Nur nicht dran denken, Matt. Das unheimliche Knacken seiner Fingerknöchel reißt mich unangenehm aus meinen Gedanken. Ich wäre lieber in meiner kleinen Welt geblieben, als mich diesem rasenden Monster zu stellen. Doch statt die Schläge auszuteilen, die ich schon fast erwartet habe, dreht sich das blonde Genie nur demonstrativ von mir weg und fängt an, sich lautstark zu beschweren; die vor Raserei pochende Ader an seiner Stirn ist immer noch gut sichtbar. Und dann geht die Salve an Vorwürfen los. »Sag mal, geht’s noch?! Ich kümmere mich hier seit über einem Monat jeden beschissenen Tag um dich undankbaren Sack, lasse mich beleidigen und beschimpfen. Stehe jeden scheiß Morgen vor der Tür und bewahre dich davor, von deinem eigenen Geschrei wahnsinnig zu werden. Sieh dir diese Augenringe an! Was glaubst du, wer Schuld daran hat? Du! Mein Gott, ich habe seit Wochen kein Auge mehr zugetan, nicht mal mehr fünf Stunden durchgeschlafen. Dann kommst du endlich mit meiner unglaublich gütigen und notwendigen Hilfe erst auf deinen Alias, dann auf deinen richtigen Namen, und du Arsch sagst mir nicht mal, ob du dich richtig erinnerst? Du undankbarer Idiot! Und mich unfair schimpfen, das ist doch wohl die Höhe, du...« Er wird immer leiser, bis er vollends verstummt und mir mit vollem Körpereinsatz wortwörtlich die kalte Schulter zeigt. Ich muss mir alle Mühe geben, bei diesem urkomischen Anblick eines süßen, trotzigen, schmollenden Mellos nicht laut loszugackern. You don't need to bother; I don't need to be I'll keep slipping farther But once I hold on: Vorsichtig tapse ich auf dem unbequemen Bett unmittelbar hinter ihn; lehne meinen Kopf gegen seine schmalen Schultern, und einzelne blonde Haarsträhnen kitzeln mich an der Nase. »Und wenn ich nun doch beschließen würde, meinen richtigen Namen mit dir zu teilen?« »Dann würde mich das wirklich unglaublich freuen, Matt.« Den Anflug von Sarkasmus ignorierend, beuge ich mich noch ein wenig mehr nach vorne, sodass ich meinen Kopf neben seinen betten kann, und sein Atem meine Wange sanft streift. Ich kann spüren, wie er ganz leicht zittert. »Kennst du ihn schon? Findest du ihn etwa nicht schön?«, necke ich ihn ein wenig, obwohl mir klar ist, dass mein Gegenüber nicht zu der Sorte geduldiger Menschen gehört, zumal ich meinen Vorrat an Glück wohl bereits vollkommen ausgeschöpft und seinen Toleranzbogen weit überspannt habe. Wie zur Bestätigung seufzt er genervt und schließt die Augen; ich muss leise lachen. (Immer noch habe ich Schuldgefühle wegen meinem Versagen, doch das lässt sich wohl nicht mehr ändern.) »Was ist denn, Mihael? Ich finde, Mail Jeevas klingt gar nicht mal so schlecht.« I'll never live down my deceit -=- [1] = Jaah, die Rede ist hier von Mello. Ich meine, der Kerl gibt einen Dreck auf sein eigenes Leben, ist für Matt da, auch wenn dieser seine Bemühungen mit Füßen tritt (und man es Mello auch nicht auf de ersten Blick anmerkt) – und trotzdem hilft er, wo er kann. Und weil das menschliche Unterbewusstsein ja gemein ist, manifestiert sich Mello halt in Matts Gedanken als strahlender, Bestien tötender Ritter. [2] = In seinem Zimmer gibt es keinen Fernseher, und Mello ist nicht sonderlich gesprächig. Also kennt er Kira nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)