In den Fängen eines Vampirs von Severinam (Gefangene der Emotionen) ================================================================================ Kapitel 7: Erste Freiheiten --------------------------- Ich zietire hier jetzt mal Sandfrauchen weil sie das immer so toll macht: Liebe Leute, ich möchte mich einmal doch versuchen, kurz zu fassen. ^^ Also, der erste Absatz ist aus Alice’ Sicht; das Ende ist mit ‚***’ gekennzeichnet. Ich danke euch wie immer für eure tollen Kommentare und Severinam für ihre tollen Erklärungen und Ideen per Mail, denn ohne sie hätte ich ja gar nicht weiterschreiben können … Wie immer stammen mindestens 99% Prozent der Ideen von ihr; bis auf den Zeitungsartikel habe dieses Mal ich versucht, diese Ideen umzusetzen. Gut … war’s das? Ich glaube, ja. Tja dann … Dann bleibt mir nur noch Eines: Viel Spass beim Lesen! =) ~ ~ ~ ~ Erste Freiheiten Es kam Alice vor, als lese sie die SMS, die sie von Liliane erhalten hatte, schon zum hundertsten Mal durch. „Mir geht’s gut, brauche Zeit für mich. Lg L.“ … Lilianes Nachrichten fielen zwar immer so kurz und unpersönlich aus, doch hatte diese Kurzmitteilung sie nur für wenige Tage wirklich beruhigen können. Alice’ Gedanken waren immer öfter zu ihrer Freundin abgeschweift; vor allem, nachdem sie nach einigen verstrichenen Tagen versucht hatte, Liliane erst per SMS, dann durch Anrufe auf das Mobiltelefon und das Festnetz, zu erreichen. Ihre Versuche waren ohne Erfolg geblieben, und schliesslich hatte Alice begonnen, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Anfangs war sie schlicht wütend gewesen, weil Liliane einfach aus der Disko verschwunden war, ohne ihr zuvor Bescheid gesagt zu haben. Sie sollte es doch längst gewohnt sein – ihre Freundin war schon öfter einfach so verschwunden und hatte sich zurückgezogen; besonders nach solchen Abenden unter vielen Menschen – doch nichtsdestotrotz machte sie sich nun grosse Sorgen. Seit Lilianes SMS waren zwei Wochen vergangen … Sie fragte sich, wo Liliane war, ob es ihr gut ging,… Inzwischen war ihre Besorgnis schon so gross, dass sie beschlossen hatte, bei den Eltern von Liliane nachzufragen, ob sie etwas von ihrer Tochter gehört hatten, oder ob sie vielleicht sogar dort war – obwohl sie das bezweifelte. Aber irgendwo musste Liliane ja sein … die andere Möglichkeit wollte Alice sich gar nicht erst vorstellen. Sie zögerte noch einmal kurz, dann wählte sie die Telefonnummer von Lilianes Eltern. Sie musste einige Sekunden warten, dann hörte sie die Stimme der Mutter: „Ja …?“ „Guten Tag Carla, hier ist Alice.“ „Alice“, wiederholte sie überrascht. „Hallo. Wie geht es dir, was kann ich für dich tun?“ „Mir geht es gut. Ich hoffte, du könntest mir sagen, wo Lily ist? Sie ist nicht vielleicht bei euch?“ „Liliane? Du weisst auch nicht, wo sie ist?!“ Nun hörte Alice leichte Nervosität aus Carlas Stimme. „Wir haben keine Ahnung, wo sie steckt, wir haben schon seit Wochen nichts mehr von ihr gehört und erreichen sie nicht!“ Alice spürte, wie nun echte Angst in ihr aufkam. Auch wenn Liliane schon öfters einige Tage nichts von sich hatte hören lassen – wochenlang … das war noch nie vorgekommen. „Nein, ich habe auch schon nichts mehr von ihr gehört, seit sie alleine aus der Disko verschwunden ist. Ich mache mir solche Sorgen … wir sollten die Polizei verständigen!“ „Ja, wahrscheinlich sollten wir das wirklich“, stimmte Lilianes Mutter sofort zu. „Am besten du kommst zu uns, damit du uns erklären kannst, was genau an jenem Abend passiert ist …“ Nachdem Alice versichert hatte, in einer Stunde bei Lilianes Eltern zu sein, hatten sie das Gespräch beendet. Alice hatte Carla genau angehört, dass sie nun dieselbe Sorge hatte wie auch sie selbst … Sie hatte keine Ahnung, was sie Liliane alles zutrauen musste … *** Liliane war nun schon seit über zwei Wochen bei Alain, und langsam konnte sie eine leise Routine in ihrem … ‚neuen Leben’ ausmachen, obwohl ihr das missfiel. Jedoch musste sie sich eingestehen, dass dies vielleicht auch das Beste war. Denn obwohl sie noch immer auf Rettung hoffte, war ihr inzwischen eigentlich klar geworden, dass sie nicht würde flüchten können. Alain gestand ihr kleinere Freiheiten ein – sie durfte die Nachmittage in der Bibliothek verbringen, die sich als überaus interessant herausgestellt hatte – doch Niclas stand immer in ihrer Nähe … weit genug entfernt, um den Anschein von Privatsphäre zu erwecken, doch nah genug, um sie genau beobachten zu können. Ein Fluchtversuch ihrerseits wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da sie entweder in das Zimmer gesperrt war oder ständig überwacht wurde. Während sie die Nachmittage also in der Bibliothek verbrachte oder im Haushalt half, um die immer öfter aufkommende Langeweile zu vertreiben, hatte sie begonnen, die Abende, welche sie mit Alain verbrachte, beinahe zu geniessen. Er verhielt sich ihr gegenüber nicht mehr so zurückhaltend wie zu Beginn, doch seine Annäherungsversuche waren trotzdem nicht zu aufdringlich, und sie ertappte sich immer wieder bei dem Gedanken, dass er eigentlich viel zu nett für einen Entführer war. Auch morgens, wenn er sie zum Frühstück abholte, musste sie zugeben, dass er ein sehr angenehmer Gesprächpartner war. Anfangs waren ihr die Unterhaltungen eher erzwungen erschienen, doch inzwischen redeten sie völlig unbefangen miteinander. Als sie nun jedoch am Tisch sass und an einem Brötchen knabberte, galten ihre Gedanken nicht Alain, sondern Alice … und auch ein wenig ihren Eltern. Wenngleich ihr klar geworden war, dass sie von selbst nicht würde flüchten können, hatte sie immer die Hoffnung gehegt, dass ihre beste Freundin die Polizei informieren würde. Hatte sie das getan? Vermisste sie sie? Und auch ihre Eltern … dachten sie vielleicht an sie? Jetzt, in diesem Moment …? „Du bist so nachdenklich, Lily … woran denkst du?“, fragte Alain. Wie von selbst antwortete sie vollkommen offen: „Ich … frage mich nur, ob Alice und meine Eltern mich vermissen …“ Sie erwartete von Alain nicht unbedingt eine Antwort; schliesslich war er es, der sie hier gefangen hielt, doch sie bekam eine: „Was denkst du denn?“ „Ich… Ich weiss es nicht“, murmelte sie, „Alice vielleicht. Aber meine Eltern? Ich weiss es nicht. Ich … denke nicht.“ Alain nickte leicht. „Haben sie denn einen Grund, dich zu vermissen?“ „Wie meinst du das?“, fragte Liliane, es klang ein wenig schärfer, als es beabsichtig gewesen war. „Versteh mich nicht falsch“, entgegnete Alain sofort, „ich meine nur, ob du denn viel Kontakt mit ihnen hattest. Du hast nie sonderlich viel mit Freunden unternommen, oder? Liliane riss ihr Brötchen in zwei Hälften und schüttelte den Kopf. „Nein, ich … war lieber zu Hause. Ich bin nicht so gerne in Gesellschaft von vielen Leuten. Ich … habe auch nicht viele Freunde. Eigentlich vor allem Alice“, erzählte sie, etwas von sich selbst überrascht, weil sie ihm das einfach so anvertraute „Und weshalb meidest du andere?“, fragte Alain hartnäckig nach. „Hmm“, murmelte sie nur unbestimmt und biss in ihr Brötchen. Was sollte sie ihm antworten? Dass sie nicht gut mit Menschen umgehen konnte? Nachdenklich kauend erinnerte sie sich an ihre Schulzeit … Sie hatte schon in der Schule kaum Freunde gehabt. Meistens hatte sie die Pausen alleine verbracht und den anderen zugesehen, die sich lachend in grossen und kleineren Gruppen die Zeit vertrieben hatten. Es war nicht so gewesen, dass sie nicht versucht hatte, Kontakte zu knüpfen. Sie hatte versucht, mit anderen zu sprechen; oft waren andere auch zu ihr gekommen, um mit ihr zu reden … Aber Liliane hatte nie gewusst, wie sie reagieren sollte, deshalb war sie still geblieben. Sie hatte einfach nicht in diese lockeren, ungezwungenen Gespräche einsteigen können, hatte nie gewusst, was sie sagen sollte; sie kannte es auch gar nicht. Zu Hause wurden nur sehr selten solch lockere Gespräche geführt, und schon gar nicht mit ihr. Irgendwann hatten die anderen es aufgegeben, Liliane war mehr und mehr zur Aussenseiterin geworden, und sie hatte schnell bemerkt, dass es ihr nicht sehr viel ausmachte, alleine zu sein. Sie hatte es nicht anders gekannt, und so war sie auch nicht gestört worden. Einzig Alice hatte viel Zeit mit ihr verbracht, und Liliane hatte sie als Freundin schätzen gelernt, auch wenn sie manchmal von ihr genervt gewesen war … Wenn Alice bemerkt hatte, dass Liliane lieber alleine gewesen wäre, dann hatte sie ihr diese Ruhe zugestanden. So waren sie Freundinnen geworden und auch geblieben … „Lily?“ Alains Stimme riss sie aus ihren Erinnerungen. „Entschuldige“, sagte sie mit einem nervösen Lachen, „ich war in Gedanken.“ Alain nickte nur. Er schien bemerkt zu haben, dass Liliane lieber nicht weiter darüber reden wollte, denn er liess das Thema ‚Alice’ und ‚Freunde’ fallen. Liliane versuchte ebenfalls, nicht mehr darüber nachzudenken, doch die Frage, ob Alice sie vermisste, blieb dennoch. Jenen Nachmittag verbrachte sie wieder in der Bibliothek. Niclas stand an der Türe, mit einem wie immer völlig unbewegten Gesichtsausdruck. Er sah ihr nicht in die Augen, und doch war Liliane sicher, dass sein Blick auf ihr ruhte, sobald sie sich von ihm abgewandt hatte. Sie hatte sich auf einen bequemen Sessel gesetzt sich in den Roman Der Herr der Welt von Jules Verne vertieft. Die Fülle und vor allem Vielseitigkeit der Bücher, die sich in der Bibliothek befanden, hatte sie beeindruckt. Von Philosophischen Schriften des 15. Jahrhunderts reichten die Werke bis zu modernen Thrillern. Sie seufzte leise und legte das Buch zur Seite. Ihr Blick fiel auf den kleinen, runden Tisch vor ihr, auf dem sich diverse Zeitschriften und Tageszeitungen befanden. Aus einer seltsamen Laune heraus griff sie nach der zuoberst liegenden Zeitung, ohne genau zu wissen, weshalb. Normalerweise mied sie Nachrichten, sofern sie es konnte. Es wurde doch ohnehin immer von demselben berichtet – Morde, Anschläge, Terror … Doch nun schlug sie die Zeitung auf und blätterte rasch die erste Seite um, überflog die Schlagzeilen … und blieb bei einem Inserat auf der dritten Seite hängen. Ungläubig verschlang sie die Zeilen, biss sich auf die Lippen, las den Artikel ein zweites Mal, dann ein drittes. »Junge Frau seit Discobesuch spurlos verschwunden Seit etwa 2 Wochen wird die 25-jährige Liliane Kraft aus St. Ives vermisst. Zuletzt wurde sie in der Diskothek New Dark gesehen. Diese verließ sie vermutlich kurz nach ein Uhr nachts. Ob sie in Begleitung war, konnte noch nicht ermittelt werden. In einer SMS an ihre Freundin 2 Tage später, erbat sich die junge Frau Zeit für sich, seitdem wurde kein Lebenszeichen mehr von ihr ausgemacht. Die Vermisste ist 169 cm groß, von normaler Statur mit blassem Teint, sowie mittellangen, dunkelbraunen Haaren. Zuletzt trug sie eine dunkelviolette Bluse und Bluejeans, keinerlei Schmuck. Hinweise nimmt die örtliche Polizeidienststelle entgegen. Die Familie hält die Möglichkeit eines erfolgreichen Suizidversuches für nicht ausgeschlossen.« Mit zitternden Händen liess sie die Zeitung sinken. Dieses Inserat meinte sie! Jemand, vermutlich Alice, hatte die Polizei verständigt … Und trotz dieses Inserates – oder genau deswegen – schwand in diesem Moment all ihre Hoffnung auf Rettung. Sie schluchzte leise auf, als ihr bewusst wurde, dass niemand nach ihr suchen würde; alle würden denken, dass sie sich umgebracht hatte. Wieder einmal rannen Tränen über ihre Wangen. Sie würde nicht gerettet werden … Sie konnte all ihre Freiheitsgedanken aufgeben … Sie warf einen beinahe hilfesuchenden Blick zu Niclas, doch der Butler erwiderte den Blick nur emotionslos wie immer, fragte nicht nach dem Grund ihrer Tränen. Sie würde die Zukunft in Gefangenschaft verbringen. Liliane wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie liess sich in dem Sessel zurücksinken. Alle würden denken, dass sie tot war … Und ihr nächster Einfall erschreckte sie zunächst selbst ein wenig: Alle würden sie in Ruhe lassen; niemand würde sie mehr belästigen. Dieser Gedanke schien ihr absurd, doch sie spann ihn weiter … Sie war nicht mehr verpflichtet, sich ab und an bei ihren Eltern zu zeigen. Sie konnten ihr nun egal sein, ohne dass sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben musste. Alice würde sie nicht mehr ständig anrufen. Liliane musste ihr nun nicht mehr versichern, dass es ihr gut ging und diese Aussage dadurch bestätigen, dass sie mit ihrer Freundin in irgendwelche Bars und Diskos ging, obwohl sie lieber zu Hause bleiben würde … Sie war von allen anderen, die sich für sie interessieren könnten, befreit. Niemand würde sie vermissen. Und obwohl Lilianes Verzweiflung darüber, dass sie keine Hoffnung auf Rettung mehr hatte, blieb, fühlte sie sich nach einigen Minuten, während denen sie versucht hatte, sich zu beruhigen, tatsächlich ein wenig freier. Wieder vergingen Tage, während denen sich die Routine festigte. Nun, da Liliane wusste, dass sie nicht auf Rettung hoffen konnte, hatte sie es langsam geschafft, ihre Situation zu akzeptieren, obwohl sie damit nicht gerechnet hatte … sie hatte sich irgendwie daran gewöhnt. Sonderlich schwer war es ihr noch nicht einmal gefallen. Sie hatte bemerkt, dass weder ihre Eltern noch Alice ihr sonderlich fehlten. Auch ihre Fluchtpläne hatte sie vergessen; ihr jetziges Leben war zu gemütlich, als dass sie sich wirklich hätte daran stören können. Sie genoss Alains Gesellschaft und die lockeren Gespräche mit ihm immer mehr, und auch der Aspekt, dass sie sich um nichts zu kümmern brauchte, empfand sie als sehr angenehm. Sie hatte es sogar eines Morgens gewagt, Alain wieder einige Frage zu Vampiren zu stellen – so hatte sie auch erfahren, dass es in der Stadt noch zwei weitere Vampire gab; einen weiblichen Vampir und einen männlichen, André. Während sie also beim Frühstück über die verschiedensten Dinge plauderten, widmete sie sich an den Nachmittagen weiterhin der Bibliothek oder der Hausarbeit. Sie vermutete, dass Alain dann geschäftlich zu tun hatte. Die Abende wiederum verbrachte sie mit … ihrem Adonis . Zumeist sassen sie nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer und sahen fern. Alains subtile Annäherungsversuche liess sie immer unbekümmerter zu. Eine rasche Umarmung, ein sanfter Kuss auf die Wange, eine wie zufällige Berührung ihrer Haare … Zum Schluss hatte sie sich an diese kurzen Körperkontakte schon beinahe gewöhnt. Eines Abends, als sie wieder gemeinsam im Wohnzimmer sassen, hatte Alain es geschafft, sie zu überreden, sich einen Horrorfilm anzusehen. ES. Sie mochte solche Filme eigentlich überhaupt nicht, doch nachdem Alain ihr mit einem Lächeln versichert hatte, er würde sie schon vor den bösen Monstern beschützen, hatte sie, ebenfalls mit einem unsicheren Lächeln, zugestimmt. Sie bereute es ein wenig … Sie beobachtete den ahnungslosen Jungen auf dem Bildschirm und hätte am liebsten weggesehen … doch sie konnte den Blick nicht abwenden. Ihre Sorge bestätigte sich keine Sekunde später, als tatsächlich eine Hand aus dem Abwasserschacht schoss, um sich fest um das Handgelenk des Jungen zu schliessen, natürlich untermalt mit der dazu passenden markerschütternden Musik. Liliane fuhr erschrocken zusammen; ihr Herz raste und sie konnte nur mühsam einen Schrei unterdrücken. Wie von selbst … griff sie nach Alains Hand. Ihre Finger umklammerten die seinen fest, und nach einem kurzen, überraschten Zögern, erwiderte er den Druck. Sie sah ihn an, und er erwiderte ihren Blick, sanft lächelnd. Sie starrte fassungslos auf ihre Hände. Langsam löste sie ihre Finger von den seinen. Sie hatte nach seiner Hand gegriffen … dieses Mal hatte nicht er die Initiative ergriffen. Sie schüttelte leicht den Kopf; wollte nicht wahrhaben, dass sie das tatsächlich getan hatte. Und doch … Wieso nicht? Immerhin, überlegte sie sich, hatte er sie seit dem Vorfall in dem Zimmer nie mehr gebissen … Er hatte nichts getan, was sie misstrauisch hätte machen müssen; im Gegenteil. Er hatte sich ihr gegenüber … absolut lieb verhalten. Nach einer Weile des Schweigens, die überhaupt nicht unangenehm gewesen war, sagte Alain leise: „Lily, was hältst du davon, wenn wir bald einmal spazieren gehen?“ Überrascht drehte sie sich zu ihm. Sie wusste nicht genau, was sie sagen sollte. „Spazieren? Draussen?“, fragte sie. Er schmunzelte. „Ja, draussen.“ Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich denke, ein wenig frische Luft würde dir gut tun?“ Noch immer überrascht, nickte sie. „Ja. Sehr… Sehr gerne!“ Sie lächelte zaghaft, und er erwiderte die Geste. Einige Sekunden lang sahen sie sich noch in die Augen, dann wandte Liliane den Blick ab, um wieder in den Fernseher zu starren. Sie konnte sich jedoch überhaupt nicht auf den Film konzentrieren … Sie würden nach draussen gehen, an die frische Luft, in die Freiheit …! Einige Tage später machte Alain dieses Versprechen tatsächlich wahr. Er hatte sie zwar abseits jeglicher Zivilisation geführt; sie waren weit entfernt von der Stadt, doch dies störte Liliane nicht im Geringsten. Sie dachte nicht an Flucht … Es tat ihr so unglaublich gut, die frische Luft, die Freiheit überall um sich herum spüren zu können. Sie sprachen kaum miteinander, Liliane war zu beschäftigt damit, alles um sich herum zu bewundern, als würde sie es zum ersten Mal sehen. Die Farben des bunten Laubes, schienen ihr, obwohl es bereits dunkler wurde, viel heller und deutlicher zu sein als jemals zuvor, sie konnte so frei atmen wie schon lange nicht mehr,… Schliesslich blieben sie stehen. Es kam Liliane vor, als wäre nicht viel Zeit vergangen, doch es mussten Stunden gewesen sein … denn direkt vor ihnen ging die Sonne in wunderschönen Farben unter. Es war nicht das erste Mal, dass Liliane einen Sonnenuntergang beobachten konnte, doch sie glaubte, dass es wohl der schönste sein musste … Sie seufzte leise, ein Lächeln hatte sich auf ihr Gesicht geschlichen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Das Spiel der Farben vor ihr … und der Wind war stärker geworden; er blies ihr ins Gesicht und trieb ihr Tränen in die Augen, brachte ihre Haare durcheinander … doch es hatte sich nie besser angefühlt. Völlig unerwartet schlang Alain einen Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich, küsste sie ganz sanft auf die Wange. Sie vergass alles; sie vergass, dass sie seine Gefangene war, sie vergass, dass sie diese Freiheit nicht ewig haben würde … in diesem Moment schien ihr schlicht alles perfekt. Und nur das war wichtig … Obwohl Liliane zuvor völlig ruhig gewesen war, fühlte sie sich nun plötzlich absolut glücklich und beinahe … ja, euphorisch beschrieb ihr Gefühl vielleicht am besten. Sie lachte leise und wandte den Blick, um Alain anzusehen. Er ergriff ihr Handgelenk und zog sie zu sich. Sie hörte seine Stimme an ihrem Ohr: „Hab keine Angst, Lily – du kannst mir vertrauen“, und dann bohrten sich zum zweiten Mal seine Zähne in ihren Hals. Sie sog scharf die Luft ein, doch sie wehrte sich nicht gegen seinen Griff; sie blieb völlig ruhig. Der Biss war nicht vollkommen überraschend gekommen; ihr war klar gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er erneut von ihrem Blut trinken würde. Der Schmerz war auch nicht so intensiv wie das letzte Mal – vielleicht nur deshalb, weil sie sich nicht wehrte. Schliesslich löste Alain sich von ihr. Er leckte sich über die Lippen und hauchte erneut einen Kuss auf ihre Wange. „Danke, Lily“, sagte er und lächelte. Zögerlich erwiderte sie das Lächeln. Ihre Hände zitterten ein wenig, doch noch immer war sie ruhig. Weiterhin war Liliane in beinahe unangebracht ausgelassener Stimmung, als sie zurück zu Alains Haus gingen. Die Bisswunde an ihrem Hals pochte unangenehm, doch es störte sie nicht wirklich, dass er sie gebissen hatte. Das einzige, worüber sie sich Gedanken machte, war die Frage, weshalb ihm das wenige Blut reichte. Sie war mehrmals kurz davor zu fragen, doch sie tat es schlussendlich nicht … Alain war immerhin ab und an geschäftlich in der Stadt, wo er viele Menschen traf … Sie wollte gar nicht wissen, ob es vielleicht noch andere gab, von denen er trank – dazu war ihr das Thema Blut irgendwie ein wenig zu unheimlich. Liliane hatte erwartet, dass sich Niclas um die Wunde an ihrem Hals kümmern würde, doch kaum waren sie wieder im Haus, desinfizierte Alain höchstpersönlich die Bisswunde und sorgte dafür, dass sie etwas ass. Schliesslich begleitete er sie sogar zu ihrem Zimmer. Bevor er die Türe schloss, sagte er noch einmal: „Danke, dass du mich hast trinken lassen, ohne dich zu wehren, Lily.“ Zum ersten Mal, seit sie bei ihm war, schloss er die Türe nicht ab, und Liliane war sicher, dass er das tat, weil sie sich nicht gewehrt hatte … Sie befand sich zwar weiterhin unter der Aufsicht Niclas’, doch die Türe wurde nicht mehr verschlossen; eine Tatsache, über die Liliane irgendwie ziemlich froh war. Weitere Wochen vergingen, in denen sie immer öfter Spaziergänge unternahmen. Alain hatte ihr immer mehr, kleinere Freiheiten gewährt. Liliane vermutete dahinter eine Art Belohung, weil sie keine Fluchtversuche oder Ähnliches unternommen hatte. Schliesslich nahm Alain sie sogar in die Stadt. Erneut hatte Liliane das Gefühl, noch nie hier gewesen zu sein. Sie nahm die Stadt ganz anders war; die Farben; die Gerüche … Ihr Adonis beeindruckte sie mit seiner Kenntnis über Kunst – als sie in einem Museum waren, konnte er ihr die verschiedensten Bilder interpretieren, die Auswahl der Farben, welche Künstler gerade am erfolgreichsten waren, … Sie hörte ihm interessiert zu … und musste sich eingestehen, dass sie sich in seiner Anwesenheit unwillkürlich immer wohler fühlte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)