Insomnia von abgemeldet (Wenn die Angst dir den Schlaf raubt) ================================================================================ Kapitel 3: III -------------- Er ließ Steinchen springen. Mit heimlichem Stolz zählte er sieben kleine Kreise, die auf dem Wasser hinterblieben, ehe er sich bückte um einen weiteren flachen Stein aufzuheben. Kai mochte es, Steinchen springen zu lassen. Auch, wenn er sich irgendwie ein wenig albern dabei vorkam, aber es beruhigte. Und vor allem, hatte er dann wieder genug Zeit, sich Gedanken zu machen. Erneut sprang ein Steinchen. Diesmal kam es nur fünfmal auf, ehe es im dem Fluss versank, der sachte vor sich hinplätscherte. Kai runzelte die Stirn. Die Kratzer, die er sich am gestrigen Abend zugefügt hatte, brannten ihm noch unterschwellig auf dem Oberarm. Es war, als wäre nie etwas gewesen, als hätten er und Rei niemals das Wochenende so friedlich und größtenteils einträchtig miteinander verbracht. Zwei Tage später hatte ihn diese furchtbare Panikattacke heimgesucht und die anklagenden Stimmen, konnten nur wieder zum Schweigen gebracht werden, wenn er ihnen Schmerzen zufügte. Und damit sich selbst. Denn, wie sonst besiegte man etwas Körperloses? Wie sonst brachte man diese Stimmen zum Schweigen? Das nächste Steinchen folgte. Sechsmal. Ein schmales, siegessicheres Lächeln legte sich auf seine Lippen. Ein weiteres Steinchen sprang. Kai stutzte. Das hatte doch nicht er geworfen. „So vertreibst du dir also deine Zeit jetzt“, ertönte eine liebenswürdige Stimme und Kai erstarrte. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer das war. Er hatte ihn also doch gefunden. Kai schloss die Augen. „Was willst du von mir, Brooklyn?“ Er hörte die Schritte auf dem Kiesufer, bis dieser fast neben ihm stand. „Ich denke, das weißt du ganz genau.“ Ein leichter Vorwurf schwang in seiner Stimme mit und Kai schauerte es leicht. Hatte er tatsächlich geglaubt, wenn er seine Existenz verleugnete, dann wäre alles ungeschehen? Töricht. Die dunkelroten Iriden verengten sich und unwillkürlich ballten sich die Hände vor Anspannung zu Fäusten. „Ich lebe nicht mehr in der Vergangenheit, Brooklyn. Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen?“, fragte er leise, obgleich er die Antwort schon kannte. „Als wüsstest du das nicht ganz genau, Hiwatari. Ich habe im Gegensatz zu dir vielleicht ein Gewissen. Oder willst du mir sagen, dass dich die Schreie nachts nicht mehr erwachen lassen? Kannst du ruhig schlafen? Musst du dich nicht mehr umdrehen, weil du glaubst, du wirst verfolgt? Sag es mir, Kai.“ Die letzten Worte flüsterte er nur, während er eine Hand auf seine Schulter legte und ein abermaliger Schauer überlief seinen Körper. „Dachte ich es mir doch“, sagte Brooklyn, sein Schweigen richtig deutend. „Kai“, sagte er noch einmal eindringlich, „Du weißt, dass wir uns einen Schwur gegeben haben. Ist dein Wort heute etwa nichts mehr wert?“ Kais Fingernägel gruben sich schmerzhaft in seine Handflächen. „Ich ... bin noch nicht bereit dazu.“ Nun war es Brooklyn, der die Augen verengte. „Und was ist mit ihnen? Sie waren damals auch nicht bereit zu sterben und doch mussten sie es!“, sagte Brooklyn mit scharfer Stimme. Kai senkte den Blick und starrte auf die Wasseroberfläche. „Wenn du unsere Vergangenheit verleugnest“, fuhr Brooklyn eindringlich fort, „Dann verleugnest du alles, was uns und den anderen zugestoßen ist, damit verspottest du die Toten! Was ist, huh? Könntest du auch vor einem ihrer Gräber stehen und das wiederholen? Könntest du das, Kai?“ Er konnte es nicht. Er blickte in die Ferne. Keine gute Zeit, um sich zu erinnern. Rei Kon hatte einen Entschluss gefasst. Wenn er wartete, bis Kai von selbst mit ihm über seine Probleme sprach, dann vermutete er, konnte er warten, bis er schwarz wurde. Also griff er auf die einzige Möglichkeit zurück, die ihm blieb. Schnüffeln. Es ärgerte ihn, weil Kai ihn so dazu trieb, das Vertrauen, das er sich mühsam erarbeitet hatte, zu missbrauchen, immerhin hatten sie ihre gegenseitige Privatsphäre immer respektiert. Aber was sollte er anderes machen, wenn Kai nicht mit ihm sprach, verdammt! Noch entschlossener, begann Rei zu Werke zu gehen. Kai war weg, unterwegs und da er ihm nicht gesagt hatte, wann er vorhatte, wieder zu kommen, war das mit dem Risiko des Erwischtwerdens verbunden. Reis Herz schlug vor Anspannung schneller, als er an den Wohnzimmerschrank ging, wo jeder von ihnen seine privaten Fächer hatte und die obere Schublade - Kais - aufzog. Da es für sie beide selbstverständlich war, dass sie nicht an die Sachen des jeweils anderen gingen, war es auch nie nötig gewesen, irgendwelche Schlösser oder dergleichen anzubringen. Wieder ein kleiner Stich. Mit leicht zitternden Händen schob Rei Kais kleines Heftmäppchen für die Kontoauszüge zur Seite und blätterte daraufhin vorsichtig durch die darunterliegenden Sachen. Arztquittungen, Garantiebelege, ein kleines DIN A6 Fotomäppchen, ein alter Personalausweis, an sich nichts Besonderes. "Nun, komm schon!", murmelte Rei leise und hob vorsichtig einen kleinen Stoß von alten Stern-Ausgaben nach oben; Flüchtig glitten seine Augen über die Themen auf der Titelseite: '9/11 - Verschwörungstheorie, was wirklich dahintersteckt'. 'Die Fußball WM in Südafrika' und ... da wurde er einen Moment aufmerksam: 'Depressionen, jeder dritte leidet heutzutage an dieser Krankheit.' Rei legte die beiden anderen Zeitschriften abwesend zur Seite und schlug die, die er noch in den Händen hielt, auf, registrierte dabei nicht, wie ein kleiner zusammengefalteter Zettel zwischen den Seiten hervorrutschte und lautlos auf den Boden segelte. Dass Kai an Depressionen litt, war lange kein Geheimnis mehr. Auch, wenn er das, wie vieles andere, was Kai betraf, irgendwie selbst hatte herausfinden müssen. Was hatte er erwartet? Kai würde ihn sicher nicht mit der Nase in die Suppe drücken, Kai musste man alles aus der Nase ziehen und im Idealfall dessen Gedanken erahnen oder schlicht von selbst drauf kommen. Das war typisch. Wieder mal ärgerte Rei sich über seinen Freund und zudem über sich selbst, ließ es sich jedoch nicht nehmen den Artikel zu lesen, was sicher fast eine halbe Stunde in Anspruch nahm und später schwirrte ihm der Kopf vor lauter Bezeichnungen. Manisch depressiv. Schizotype Störungen. Psychosen. Antidepressiva. Und so weiter und sofort und alles verschwamm ineinander und Rei fühlte sich maßlos überfordert. Dieser Artikel deckte zwar bei weitem nicht alles ab, was es an psychischen Erkrankungen gab, aber Rei war sich auch nicht wirklich sicher, ob er über alles Bescheid wissen wollte. Er biss sich auf die Unterlippe. "Ich bin so ein Idiot", schalt er sich leise und schlug die Zeitschrift zu, um sie zu den anderen zu legen, nur um einen weiteren Blick in die Schublade zu werfen. Doch er sollte enttäuscht werden. Er fand nichts für ihn Relevantes mehr und schob die Lade nachdem er alles wieder einigermaßen an den richtigen Platz gebracht hatte, sachte wieder zu. Dann erhob er sich aus seiner knienden Position und ächzte erstmal, da ihm die Beine schmerzten. Rei streckte sich. Irgendwie war er jetzt etwas ratlos und ziellos ließ er den Blick seiner mattgelben Augen im Raum umherschweifen. Gab es sonst noch irgendwelche Orte ...? Plötzlich fiel sein Blick auf das kleine Zettelchen auf dem Boden, im ersten Moment nur ein Stück Müll. Stirnrunzelnd bückte er sich, um es aufzuheben, es war ihm bis heute ein Rätsel, aber manchmal hatte Kai solche Anfälle, dass ihn die kleinsten Kleinigkeiten nervten - wie etwa ein Stück Papier auf dem Boden, das da einfach nicht hingehörte. Kurz faltete er es auseinander - eine Eigenart, die viele Menschen innehatten, zusammengefaltete Zettel regten nun mal eine gewisse unterschwellige Neugier - und besah es sich. Nichts Besonderes, nur eine Telefonnummer, ohne Namen oder Hinweis wem sie zugehörig war und gelangweilt ließ er es in seine Hosentasche gleiten, um es später wegzuschmeißen. Kai kam wohl heute später nachhause, stellte er fest, das war an und für sich nichts sonderlich Ungewöhnliches und Rei beschloss sich die Zeit mit ein wenig Hausarbeit zu vertreiben. Irgendwer musste sie ja machen. Zuerst kümmerte er sich um die Wäsche. Dabei stopfte er einfach alles in eine Maschine, da er schlichtweg zu faul war, um die Wäsche vorher mühsam auseinander zu sortieren, er für seinen Teil hatte kein Problem mit ein paar rosa gewordenen Socken - was ohnehin in den seltensten Fällen passierte. Danach eine zweite Trommel, während er die erste in den Trockner gepackt hatte. Das Bügeln überließ er Kai, er bekam es irgendwie nie hin, ohne, dass da, wo eine Falte verschwunden war, sofort an anderer Stelle eine neue auftauchte. Es musste doch irgendeinen Trick geben, Wäsche glatt zu bekommen. Da er allerdings bezweifelte, dass er das jemals herausbekommen würde, überließ er das von vornherein Kai und erfreute sich an den einfacheren Dingen des Lebens. Zum Beispiel, herauszufinden, warum aus der Wäschetrommel immer weniger Socken herauskamen, als er reingeworfen hatte. Oder mit der Relativitätstheorie. Der Müll musste natürlich auch noch gemacht werden, ganz zu schweigen von... Gab es eigentlich noch andere Orte, wo Kai vielleicht irgendwelche privaten Sachen aufbewahrte? Aha. Er hatte sich grade dabei ertappt. Ein paar wenige Stunden hatte Rei es geschafft diese quälend neugierigen Gedanken zu verdrängen, aber nun waren sie wieder da. "Verdammmich", murmelte er ärgerlich. Irgendwie hatte er plötzlich Lust auf eine Zigarette. Und das, obwohl er eigentlich nicht rauchte. Der Chinese ließ sich flach auf das Sofa fallen, da blieb sein Blick an dem durchsichtigen Wohnzimmerschrank hängen, in dem verschiedene Spirituosen lagerten. Ein Grinsen schlich sich auf seine Züge. Ein Schlückchen würde vielleicht ganz gut tun. Wenig später brannte sich der herbe Scotch einen Weg seine Kehle hinunter und Rei schüttelte es. Ab und an brauchte man so etwas. Plötzlich glitten seine Gedanken zu dem Zettelchen in seiner Tasche und zögerlich holte er es hervor, blickte misstrauisch auf die dort geschriebenen Zahlen, als würden sie ihm eine Antwort geben, wenn er das lang genug tat. Dann kam ihm eine Idee, die gleichzeitig simpel war, wie dämlich. Sollte er diese Nummer vielleicht einfach mal anrufen? Zur Not konnte er immer noch behaupten, er habe sich verwählt oder dergleichen. Nach zwei Minuten Nachdenken stand sein Entschluss fest. "Zeig mir deine Arme." Kai wandte den Blick ab. "Was erhoffst du dir zu sehen?", fragte er leise. Brooklyn antwortete nicht, sondern packte den Arm seines Gegenüber, welcher das wortlos geschehen ließ. Barsch wurde der lange Ärmel des Oberteiles zurückgeschoben. Brooklyns Augen verengten sich, als der Blick auf die Narben fiel. "Wolltest du dich umbringen?" "Ich weiß es nicht. Vielleicht wollte ich fliehen." Brooklyn lächelte plötzlich, dann ließ er Kais Arm los, trat noch einen Schritt näher und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. "Mach es das nächste Mal richtig", flüsterte er, "das ist deine einzige Alternative. Oder du kommst mit mir und erfüllst den Schwur, den wir uns damals gegeben haben." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)