Insomnia von abgemeldet (Wenn die Angst dir den Schlaf raubt) ================================================================================ Kapitel 1: I ------------ Rei weinte. Diese blöden Zwiebeln – aber zu Bratkartoffeln gehörten die nun einmal dazu und da Kai nicht wirklich im Stande war etwas zu kochen, was über In-die-Mikrowelle-tun hinausreichte (und sich sein Spaß am Kochen im Übrigen auch in Grenzen hielt), hatten sich die beiden schon vor langer Zeit im Stillen darauf geeinigt, Rei das Zubereiten der Nahrung zu überlassen. Schniefend wischte sich der Chinese mit dem Armrücken über die Augen und blinzelte daraufhin, um das Brennen loszuwerden, was nicht gerade von Erfolg gekrönt war, dann kehrte er die Zwiebeln feinsäuberlich in die bereits erhitzte Pfanne, um sie leicht anzudünsten. Die schon geschälten und in Scheiben geschnittenen Kartoffeln folgten kurz darauf und bald machte sich in dem kleinen, jedoch gemütlichen Raum ein angenehmer Essensduft breit. Nichtsdestotrotz riss Rei die Fenster auf, der Zwiebelgeruch musste unbedingt raus, außerdem sollten die Scheiben nicht beschlagen. Einen Moment lang stützte er die Ellenbogen auf dem Fenstersims ab und starrte nach unten. Angenehm kühle Luft schlug ihm entgegen und er genoss das eine Weile. Die Gedanken zu seinem Freund und ein Schatten legte sich über sein Gesicht. Ihm saß der Vorfall von vor nicht allzu langer Zeit noch tief in den Knochen, aber eine Erklärung für das Ganze hatte er noch nicht bekommen. 'Wie soll das nur weitergehen, Kai…?' Kai sah mit teilnahmslosem Blick aus dem Fenster. Regen prasselte gegen die Scheiben. Das eindringliche Gerede des Arztes hatte er ab der Stelle ausgeblendet, ab der die Worte „psychiatrische Behandlung“ gefallen waren. So etwas brauchte er nicht – er war nicht verrückt. Er war kein durchgeknallter Psychopath, der Leute umbrachte und sie wie in „Jeepers Creepers“ in Formaldehyd eingelegt an die Decke einer Katakombe pinnte. Solche Leute sollten zum Psychiater, aber nicht er. Das war verrückt. Dafür hatte man in seinen Augen die Zwangsjacke und die Giftspritze erfunden. Nicht für jemanden wie ihn, der, wie er glaubte, sich unter Kontrolle hatte und nur gelegentlich seine Flucht in der Selbstverstümmelung fand. Kai Hiwatari hatte kein Problem und wenn er doch mal Probleme hatte, wurde er selbst damit fertig. Er hatte sich unter Kontrolle. Und dieser langweilige Arzt, welcher so monoton auf ihn einsprach, dass es beinahe einschläfernd wirkte, stahl ihm nur seine Zeit. Er hatte da was mit Rei zu klären und das am besten sofort. Dass er noch ein wenig benommen von Schmerz- und Beruhigungsmitteln war, störte ihn dabei herzlich wenig. „Herr Hiwatari, ich glaube, Sie begreifen nicht die Dringlichkeit - wissen Sie überhaupt, in welchem Zustand man Sie aufgefunden hat?“ „Wieso verschonen Sie mich nicht einfach mit diesem Scheiß?“, murmelte Kai gelangweilt und ohne den Mann anzusehen. Der Arzt, welcher auf den Namen Kogoro Matsushita hörte, hatte schon mindestens 30 Stunden keine größere Pause mehr gehabt und verspürte seinerseits nicht wirklich den Drang einem trotzigen Teenager ins Gewissen zu reden. Also rückte er seine Brille zurecht und meinte betont ruhig: „Nun, Ich werde Ihnen eine Überweisung zu einem guten Psychologen geben, der sollten Sie in ihrem eigenen Interesse nachgehen – und dem Ihrer Mitmenschen.“ Kai, welcher auf einer Liege im Schneidersitz gesessen hatte, den Kopf seitlich gegen die Wand gelehnt, stand daraufhin abrupt auf und erwiderte in seiner gewohnten abschätzigen Art: „Wie auch immer …“ „Haben Sie jemanden, der Sie nach Hause bringt?“ „Jaha … Ich weiß, die Medikamente machen mich zu einem Zombie, kann ich jetzt gehen?“ Der Mann im weißen Kittel schüttelte nur resignierend den Kopf und reichte Kai die Überweisung, der sie ihm unfreundlich aus der Hand riss und dann ohne ein Wort des Abschiedes aus dem Zimmer stapfte. Wie er Krankenhäuser hasste. So abgrundtief, und dann diese ganzen Ärzte, die einem versuchen wollten, einzureden, man habe ein Problem, bis man irgendwann selbst daran glaubte, eins zu haben. Um die Gemüter Kais und Reis war es unterschiedlich bestellt – Kai hatte sich in eine Art teilnahmsloses Schweigen gehüllt, während Rei zunehmend gereizter wurde. Eine Erklärung, eine Rechtfertigung, irgendetwas konnte er doch erwarten, immerhin hatte er vor wenigen Stunden den Schock seines Lebens davongetragen, aber nein, nichts kam. Kai saß einfach nur da, tat so, als sei nichts geschehen, und machte ihn mit seinem verdammten Schweigen wahnsinnig. „Hörst du jetzt vielleicht mal auf damit?“, entfuhr es dem Rei schließlich ziemlich gereizt, was ihm einen verständnislosen Blick seitens Kai einbrachte. Ohne ein Wort verloren zu haben, starrte er daraufhin wieder aus dem Seitenfenster, was Rei die Hände in das Lenkrad krallen und ihn eine Vollbremsung hinlegen ließ, da er im letzten Moment die rote Ampel bemerkt hatte. So nicht Kai, ging es ihm grimmig durch den Sinn. Das würde noch ein Nachspiel haben … Kai hatte sich zuhause von ihm abgeschottet und ihm wider Erwarten keine Erklärung abgeliefert und so langsam begann das sogar dem Chinesen, welcher sonst so für seine innere Ruhe und Ausgeglichenheit bekannt war, aufs Gemüt zu schlagen. Was bitte war verkehrt daran, sich um denjenigen zu sorgen, mit dem man die Welt verband? Zumindest war das am Anfang ihrer Beziehung so gewesen ... Jetzt war sich Rei da nicht mehr so sicher. Die Umgebung war hier mehr als heruntergekommen, die wenigen Gebäude die noch bewohnt wurden, waren halb verfallen und schimmelten vor sich hin. Die Straßen waren dreckig von Unrat und Müll, denn die Müllabfuhr verschlug es sehr selten hierher. Kai beobachtete aus teilnahmslosen Augen, an eine fleckige Wand gelehnt und an einer Zigarette ziehend, wie sich zwei kleine, schmutzige Kinder um eine halbe, weggeworfene Tafel Schokolade stritten. Er stand im Halbschatten einer kleinen Gasse – in der Sonne war es für diese Jahreszeit drückend heiß und im Grunde war die ganze Umgebung unerträglich. Den Grund, warum er sich ausgerechnet in dem verkommensten Stadtviertel dieser Stadt herumtrieb, kannte er selbst nicht genau, er wusste nur, dass es ihn hier immer wieder herzog – hier hatte er seine Ruhe, hier ging ihm niemand auf die Nerven. Hier wurde man nicht angesprochen, weil sich hier jeder selbst der Nächste war und man Angst vor seinem eigenen Schatten haben musste, da die Zahl der Überfälle zunehmend stieg und auch die Übergriffe an sich von immer mehr Brutalität zeugten. Kai nahm wieder einen tiefen Zug von seiner Zigarette – vor einiger Zeit hatte er wider seiner Einstellung „mens sana in corpore sanum“ mit dem Rauchen begonnen – sein Geist war ohnehin schon verdorben, also war ihm der Rest auch herzlich egal. Inzwischen hatten die Kinder sich verzogen, nachdem sie sich um das Bisschen Schokolade geprügelt hatten, und es war nur noch das Kläffen eines streunenden Köters zu hören. Auch wenn Rei ihm das nicht wirklich zu glauben schien, er machte sich in der Tat Gedanken. Nur nicht um die Dinge, die Rei sich vielleicht gewünscht hätte, aber dass sollte mal so dahingestellt sein. Er hatte das Gefühl, dass es da irgendeinen Knoten gab – seine Launen, seine Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation. Er ärgerte sich maßlos über sich selbst, dass er sich so hatte gehen lassen an jenem Abend und dass er sich vor Rei solche Blöße gegeben hatte... „Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?“, fragte Rei, während er vor dem Spiegel stand und geschäftig an seiner langen Haarpracht herumzupfte, die nie so saß, wie sie sitzen sollte – zwar konnte er Kais Sturmfrisur damit noch lange nicht das Wasser reichen, aber darüber war er im Grunde auch froh. Kai indes lag lustlos auf dem Sofa, einen Arm und ein Bein jeweils herunterbaumelnd, während er die Fliegen an der Decke zählte, gehüllt in sein verwaschenstes Lieblings-T-Shirt (irgendeine Band, von der Rei fand, sie klänge, als würde sich jemand rückwärts übergeben und dazu ziemlich falsch auf einer Geige herumkratzen). „Seh ich so aus ...?“, brummte er und gähnte demonstrativ. „Ne du, den Zirkus tu dir mal lieber alleine an, das ertragen meine geschundenen Nerven nicht ...“ Der Chinese rollte mit den Augen und verdrehte selbige, um Kai durch den Spiegel sehen zu können. „Das ist wirklich schade, weißt du, wir werden uns sicher betrinken, doofe Partyhüte aufsetzen und Apres Ski-Songs zum Besten geben, wenn uns langweilig wird.“ Kai konnte sich eines leichten Schmunzelns nicht erwehren, welches er schnell zum Verschwinden brachte, als er die Schritte Reis sich nähern hörte. Das Gesicht des anderen erschien über ihm und keine Sekunde später hatte Rei sich heruntergebeugt, um Kai einen flüchtigen Kuss auf den Mund zu hauchen. „Amüsier dich hier ja nicht zu sehr ohne mich, okay?“ „Ich wird’s versuchen.“ Nach einem letzten kurzen Nasenstupser und einem einnehmenden Lächeln verschwand Rei schließlich und wenige Augenblicke später vernahm Kai das Klirren des Schlüssels und das gedämpfte Zuschieben der Haustür, dann kehrte Stille ein. Nun war er alleine mit sich und seinen Gedanken. Kai hatte ganz vergessen, wie still es in einer Wohnung sein konnte, wenn man alleine war. Nur das beständige Ticken der alten Kuckucksuhr war zu vernehmen. Das Ding war zwar mehr als hässlich, und weder Kai noch Rei gefiel es vom Optischen her besonders, doch hatte sie für den Chinesen eine nostalgische Bedeutung – hatte sie doch seiner Großmutter gehört, welche ihn aufgezogen hatte – und er hätte wohl mehr als ein schlechtes Gewissen, wenn er sie weggeben würde. Dennoch hatte sie trotzdem die angenehme Eigenart, welche die meisten Uhren auf Kai ausübten – sie tickte und das Ticken wirkte unheimlich beruhigend und einlullend. Kai versuchte die Augen zu schließen, da er ohnehin zu müßig war, sich von dem Sofa weg zu bewegen und versuchte etwas zu dösen. Nun, leider war dieses Unterfangen nicht von wirklichem Erfolg gekrönt, da plötzlich das Telefon klingelte, und das in so einem, wie er sich einbildete, aufdringlichen Ton, dass er es nicht einfach ignorieren konnte. Mit einem entnervten Stöhnen hievte sich der junge Mann schließlich vom Sofa hoch und begann eher halbherzig nach dem schnurlosen Telefon zu suchen – es klingelte beinahe eine Minute weiter, ehe er es endlich gefunden hatte, und im Stillen frage Kai sich, wer hier so inbrünstig mit ihm (oder Rei) sprechen wollte, dass er so eine Geduld aufbrachte. Mit einem kühlen „Hiwatari...?“, nahm er schließlich an. „Ah, welch ein Zufall, mein Lieber, dass ich dich gleich erwische“, säuselte ihm die Art von kindlicher Stimme entgegen, bei der man am liebsten schreiend wegrennen würde. Nicht so jedoch Kai – lediglich seine Fingerknöchel wurden ein wenig weiß und das leichte Zittern in seiner Stimme unterdrückend, hauchte er ein „Was willst du ...?“ in die Sprechmuschel. Ein liebliches Lachen ertönte. „Sag bloß, ich komme irgendwie ungelegen ...?“ „Du kommst immer ungelegen“, ließ Kai herablassend vernehmen und hatte nun vor das Gespräch zu beenden, doch es ging nicht. Seine Hand hatte sich so dermaßen um das Telefon gekrampft, dass es ihm unmöglich war, sich schnell zu lösen. „Ehe du jetzt auflegst ...“, fuhr die Stimme am anderen Ende fort, „Ich habe dich letzte Woche vermisst ... Weißt du nicht mehr, was wir uns versprochen haben? Damals? Im Angesicht des Todes?“ „Ich führe jetzt mein eigenes Leben und habe nicht vor, länger in Furcht zu leben, die Vergangenheit könne mich einholen.“ Kai setzte alles daran seiner Stimme die nötige Festigkeit zu verleihen, welche für diese Aussage angebracht war, nur war er sich nicht sicher, ob der Andere ihn nicht doch durchschaute – bei so einem Geistesgestörten würde es ihn nicht wundern und immerhin, er wusste Dinge von Kai, die sonst keiner wusste. Ein Schauer lief über den Körper des Russen und die Stimme klang plötzlich kalt. „Vergiss das Mädchen nicht, Kai, du bist es ihr schuldig. Und vergiss nicht all jene, die wir über Jahre hinweg zurücklassen mussten. Ich werde kommen und dich daran erinnern, denn ich hasse es, wenn die Dinge, die mir wichtig sind, in Vergessenheit geraten!“ Ein Tuten, dann Stille. Kai hatte die Lippen aufeinandergepresst und starrte mit ausdruckslosem Blick ins Leere. So voller Hass hatte diese Stimme geklungen und voller Rachsucht. Dabei wusste er doch um seine Schuld, nur zu gut. Dachte er jedenfalls, denn mit diesem Anruf, oder besser gesagt jetzt, kurz danach hatten erbarmungslos die Bilder wieder begonnen in seinen Geist zu strömen, malträtierten ihn mit der Präzision eines Vorschlaghammers. Mit einem wütenden Aufschrei warf Kai das Telefon von sich, sodass es an der Wand in seine Einzelteile zersprang. „Verschwindet endlich ...“, murmelte er danach und suchte taumelnd den Weg ins Bad. Er musste die Kontrolle behalten. Durfte nicht zulassen, dass sie wieder begannen seinen Geist zu beherrschen. Die leeren Augenhöhlen, die zu stummen Schreien verzerrten und zugenähten Münder. Der anklagende Blick des Mädchens. Mit einer fahrigen Bewegung riss Kai das Badeschranktürchen auf, und es damit aus den Angeln, wobei er hektisch nach ein paar bestimmten Tabletten suchte. Schuldig Verdammt. Leer. Kai glaubte, unter dem Druck müsse sein Schädel zerbersten und er biss sich leicht auf die Zunge, um nicht aufzuschreien. Punkte tanzten vor seinen Augen. Schuldig Die Realität verschwamm und um sich selbst zurückzuholen griff er nach dem Rasiermesser... Schuldig Ein Schnitt und mit messerscharfer Präzision ließ er ihn für den Moment wieder klar sehen. Und plötzlich war Rei da. Kai blinzelte, die Sonne stand in einem schrägen Winkel. Es wäre wohl langsam an der Zeit nach Hause zu gehen ... Er hoffte, Rei würde ihm nicht an die Gurgel gehen, weil er sich um eine Stunde verspätete – aber wozu gab es schließlich Mikrowellen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)