In the end von Ryusei (It doesn't even matter) ================================================================================ Kapitel 1: Raito ---------------- Raito Es war ein Phänomen, dass Menschen bei einem Unfall immer stehen bleiben und zusehen mussten. Aber ich hätte niemals gedacht, dass ich selbst einmal hilflos und jeglicher Macht beraubt daneben stehen würde. Nicht als Zuschauer – sondern als Betroffener. Die raue Wolldecke kratzte am Hals und das Geschehen um mich herum glich einem Jahrmarkt. Bunte Flecken, wohin ich auch sah. Menschen, die an mir vorbei drängelten und mich zur Seite stießen. Die besorgten Stimmen der Notärzte. Doch ich konnte mich auf keinen von ihnen konzentrieren. Mein Blick – gläsern und durchnässt – ruhte auf dem verbeulten Stück Metall, das einmal mein Auto gewesen war. Tausende Linien zogen sich durch die Windschutzscheibe und gaben ihr das Aussehen eines Spinnennetzes. Noch immer schlug Qualm aus dem, was vom Motor noch übrig war. Das Auto. Unwichtigster Verlust an diesem ganzen Unfall. Meine Aufmerksamkeit, mein Interesse, meine Angst galt dem schmalen Körper, der noch immer auf dem Beifahrersitz eingeklemmt war. Feuerwehrmänner in schwarz-gelber Uniform arbeiteten ohne Unterlass an der Tür. Schon seit Stunden, wie es mir schien, auch wenn der Unfall nicht länger als eine halbe Stunde zurückliegen konnte. Meine Finger zitterten, während ich sie fester in die Decke grub und mich zwang langsam auf das Wrack zuzugehen. Er bewegte sich nicht. Das Spinnennetz verzerrte seinen Anblick, doch er rührte sich nicht. „Bitte, Sir, gehen Sie von dem Wagen weg“, sagte eine Stimme. Ich wollte sie nicht zuordnen, wollte nicht auf sie hören. „Ryuzaki…“ Ich merkte nicht einmal, dass die Silben laut über meine Lippen gekommen waren. „Sir, bitte… Gehen Sie zum Krankenwagen zurück.“ Mit einem lauten Krachen fiel die Autotür ins Gras. „Ryuzaki!“ Zwei Männer griffen unter seine Arme und hoben den Körper vorsichtig aus den Überresten des ehemaligen BMW. „Sir…!“ Hände versuchten mich festzuhalten, doch ich schlug sie nach hinten, stürzte über die unebene Erde zu der Trage, auf die man ihn gelegt hatte. Meine Knie schlugen hart auf dem gefrorenen Boden auf, doch es war egal, es zählte nicht. Alles, was zählte, war… „Ryuzaki…?“ Ein schwaches Blinzeln. Seine sonst so weiße Haut war rot. Rot und zerstört. „… Ah…“ „Nicht reden. Ryuzaki… Es wird alles gut, hörst du?“ Meine Hand schloss sich um seine Finger. Sie waren kalt. So entsetzlich kalt, doch ich ließ sie nicht los. „Ryu… zaki?“ Seine Lider waren erstarrt. Die knochige Hand zwischen meinen Fingern wurde noch kälter. Undeutlich spürte ich, wie sich meine Zähne in meine Unterlippe bohrten, ehe ich Ryuzakis Hand zu mir zog und seine Haut mit den Lippen berührte. „Sag doch etwas… Ryuzaki…“ Das blaue Licht der Einsatzfahrzeuge glitt über meinen Rücken. Ich hörte Menschen um mich herum, doch ich fühlte mich allein. Allein mit Ryuzakis Körper. Ohne seine Stimme. Ohne seine Nähe. „Es tut mir Leid… Hörst du? Ryuzaki… Es tut mir Leid.“ Diese Menschen um uns herum. Sie sollten verschwinden. Sie sollten uns nicht ansehen. Ryuzaki. Es war noch nicht lange her, als ich sein Leben selbst beenden wollte. Warum tat es jetzt so weh? „Ich hätte besser aufpassen müssen… Ich…“ Ich ließ ihn nicht los, obwohl sein Körper längst kalt war. Meine Hand wühlte sich in seine dunklen Haare, fassten in das feuchte Blut. „Es tut mir so Leid…“ Kapitel 2: Ciel --------------- Ciel Ich dachte immer, ich wäre eine Person, die alles unter Kontrolle hat. Weil es mir zustand alles unter Kontrolle haben zu können. Weil ich es vertraglich festgehalten hatte. Macht, die mir ein Dämon gab, der sich mir untergeordnet hatte. Ein Dämon, der bereits auffällig lange verschwunden war. Ich wandte den Kopf und blickte auf die gewaltige Turmuhr in meinem Rücken. Bald eine Stunde, in der ich ihn nicht mehr gesehen hatte, seit er hinter den Hausdächern verschwunden war. Ein Fall wie jeder andere, hatte es geheißen, als ich den Brief geöffnet hatte. Aber es sollte sich herausstellen, dass dieser Fall so gar nicht wie jeder andere war. Der Mörder, den wir hatten stellen können, war kein Mensch. Auch kein Todesgott, wie ich angenommen hatte, als mir Sebastian jene Tatsache erläutert hatte. Es war ein anderer Dämon. „Kein Problem“, war alles, was Sebastian gesagt hatte. Doch allmählich kroch die Sorge in meinen Gliedern hoch. Er war einfach… zu lange weg. Ich konnte nicht mehr warten. Ich zog den Mantel ein wenig fester, dann verließ ich den sicheren Platz an der kalten Backsteinmauer in der Seitengasse. Londons Straßen waren um solch eine Uhrzeit wie ausgestorben. Aber außer meinen Schritten, konnte ich kein Geräusch wahrnehmen. Keine Schreie. Keine Geräusche, die auf einen Kampf schließen ließen. Kein Auftreten von schwarzen Lederschuhen. Kein „Young Master, der Fall ist gelöst.“ Wo zur Hölle steckte er? „Sebastian?“ Ich musste vorsichtig sein. Auch wenn ich es ausschloss, dass sich der andere Dämon noch in der Nähe befand. Allmählich stieg die Ungeduld in mir. Wagte es Sebastian wirklich, solche Spielchen mit mir zu spielen? Was, wenn er sich nur versteckt hielt, um mich zu erschrecken? „Sebastian! Ich befehle dir sofort zu mir zu kommen!“ … Nichts. Ich schluckte und beschleunigte meine Schritte etwas. Sebastian hörte immer auf Befehle. Immer! Was war passiert, dass der schwarz gekleidete Butler nicht wie gewohnt aufgetaucht war? „Seb-… ah!“ Auf dem Boden lag eine zusammengesunkene Gestalt. Eine dunkle, nach Metall riechende Lache hatte sich um den Körper gebildet. Das Kinn ruhte auf der Brust, die Arme hingen an den Seiten hinunter. Mein Blick glitt langsam von den Beinen an nach oben. Eine schwarze, an vielen Stellen zerrissene Hose. Ein Frack. Eine dunkelgraue Weste, das Kettchen einer Taschenuhr. Ehemals weiße Handschuhe an den Händen. Und das silberne Abzeichen mit dem Phantomhive-Wappen. „Sebastian! Hör auf damit, das ist nicht lustig!“ Was fiel ihm ein sich tot zu stellen, während er mich warten ließ? „Sebastian!“ Meine rechte Hand legte sich langsam an die Augenklappe und zog sie nach unten. „Ich meine es ernst.“ Er reagierte nicht. Er trieb sein Spielchen weiter. “Steh auf! Das ist ein Befehl!“ … „… Sebastian?“ Ich ließ mich auf die Knie sinken und rutschte so nah es mir möglich war an den Körper meines Butlers, ohne mir an seinem Blut die Kleidung schmutzig zu machen. „Sebastian, das ist wirklich nicht mehr lustig.“ Zögernd streckte ich meine Hand aus und stieß gegen seinen Kopf, doch die schwarzen Haare waren das Einzige, was sich bewegte. Seinen Körper wollte ich nicht ansehen. Ein kurzer Blick hatte gereicht, um zu erkennen, dass das Fleisch seiner Brust aufgerissen war. „Sebastian! Hör auf damit. Du kannst doch gar nicht sterben… Du bist ein Dämon. Du kannst nicht…!“ Ich erstarrte. Auf dem Boden vor meinen Füßen lag die Taschenuhr. Ungläubig erwiderte ich den Blick meiner eigenen Augen. Sie waren blau. Kapitel 3: B ------------ B Ich hatte mich daran gewöhnt, mich einem System unterzuordnen, an dessen Vorhandensein ich nichts ändern konnte. Die Unterordnung war nur ein Schritt zu einem weiteren System. Einem System, das mir unterlag. Damals im Waisenhaus hatte ich mich den Regeln gebeugt, die Watari und Roger für uns aufgestellt hatten, nur um einige Jahre später diesem System zu entkommen und den Kronprinzen L von seinem Thron zu stoßen. Zu meinem Bedauern verlief mein perfekt durchdachter Plan nicht so, wie ich es gewollt hatte und so blieb mir wieder nichts anderes übrig, als mich unterzuordnen. Die Wende würde wieder kommen, das war mir bewusst. Doch sie kam überraschend in Form einer Person, die ich nie wieder lebend zu sehen erwartet hatte. Abergläubige Menschen nannten dieses Wechselspiel aus Ausbruch und Unterordnung Schicksal. Ich nannte es Systematik. Wer zu schwach war aus einer bestehenden Anordnung auszubrechen, der war zu schwach sein eigenes Leben zu regeln. Ich hätte nicht erwartet, dass ich mich selbst einmal für schwach halten könnte. Doch leider war Systematik nichts, was man alleine entscheiden konnte. Auch andere Menschen hatten das Recht ihre Entscheidungen zu treffen. Ich hätte es sehen sollen. Ich hätte es merken müssen. Ich war zu blind. Jetzt war es zu spät. Ungläubig richtete ich den Blick wieder nach oben, in der vagen Hoffnung endlich etwas anderes zu sehen. Doch die schmalen, blassen Füße ließen keinen anderen Schluss zu. Wie hatte es eigentlich dazu kommen können? Was war passiert, was ihn zu diesem Schritt getrieben hatte? Was hatte ihm wieder einmal nicht gepasst? Er war noch nie einfach gewesen. Und die Zeit mit ihm war anstrengend. Er war so unruhig und unselbstständig, dass es mich wütend machte. Die ständigen Tränen von einer Person, die ich schon so lange kannte. Ich konnte mit ihm nicht umgehen. Mit jedem weiteren Tag verletzte ich ihn mehr. Hatte er je verstanden, dass ich ihn nur stärker machen wollte? Dann das. Genau wie damals. War es Absicht, dass er mir diesen Anblick wieder ins Gedächtnis rufen musste? Ich hatte ihn damals schon verdrängt. Damals, im Waisenhaus. Ich schüttelte den Kopf und wandte den Blick von dem dürren, aufgehängten Körper hinter mir ab. Ich würde mir nicht die Mühe machen und ihn von der Decke schneiden. Stattdessen stand ich auf und ging an ihm vorbei in die Küche, nicht ohne ihm noch einen harten Schlag zu verpassen. Zielsicher griff ich nach der Kühlschranktür und zog sie auf. Dann lehnte ich den Kopf gegen das eingebaute Gefrierfach. „Gott… Dass darf doch alles nicht wahr sein. Du scheinst mich echt zu hassen, oder?“ Was hatte ich in meiner Planung übersehen. Wo war die Lücke in meiner Perfektion? Wer hatte mir den Fehler in meine Systematik geprügelt? War es L? L, der mir seit jeher alles zerstört hatte, was ich aufzubauen versucht hatte? Mit Sicherheit war er es. Ich würde herausfinden, was er ihm angetan hatte. Und dann… würde ich Rache nehmen. Und die bestehende Ordnung ändern. Seufzend kehrte ich ins Wohnzimmer zurück und lehnte mich gegen die weiße Wand, den Blick ohne Zögern auf den Körper gerichtet. Seine Schuhe hatte er ausgezogen. Der braune Kapuzenpullover war ein wenig verrutscht und entblößte eine schneeweiße Schulter. „Du bist so ein Idiot. So ein verdammter Idiot, weißt du das, Abel? Ich könnte dich schlagen. Ich könnte dir den Hals umdrehen! Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?!“ Ich wusste nicht, ob es Wut oder Trauer war, was überwiegte. Ich hätte ihn umbringen können. … Wenn er nicht schon tot gewesen wäre. Erläuterung Da ich nicht davon ausgehen kann, dass jeder Kapitel 4 von "Unfortunately" gelesen hat: A hat sich erhängt :3 Kapitel 4: L ------------ L Ich dachte immer, ich wäre eine Person, die alles unter Kontrolle hat. Bis ich lernen musste, wie es war, wenn man machtlos war. Wenn man vor der Lösung eines lange bearbeiteten Rätsels saß und nichts tun konnte, um das Unvermeidliche abzuwenden. 40 Sekunden. 40 elende, kurze, verdammte Sekunden. Und ich konnte nichts tun, als bei ihm zu sitzen und seine Hand festzuhalten. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Doch ich wusste, dass er Angst hatte. Ich kannte ihn zu gut, als dass ich es nicht gespürt hätte. Das Ticken der Uhr in unserem Rücken war laut. So laut, dass ich schreien wollte, um es zu übertönen. Ich wollte sie anhalten. Die Zeit, nicht die Uhr. Wollte sie stoppen, sie in Scherben schlagen, alles nur, um ihn zu retten. Doch mein Gehirn sagte mir, dass es keine Rettung gab, dass es bereits zu spät war. Was geschrieben war, war geschrieben. Und keine Macht der Welt konnte rückgängig machen, was eine Hand voll Linien in einem schwarzen Notizbuch anrichten würden. Nicht einmal der große L, Ansprechpartner aller Nationen und so oft gefeierter Held. Im Augenblick fühlte ich mich nur noch erbärmlich. Seine Augen suchten meinen Blick und ich konnte nicht einmal lächeln, um ihm ein wenig die Angst zu nehmen. Meine Hand fuhr durch seine weichen, braunen Haare, spielten mit den einzelnen Strähnen. Ein Seufzen glitt über meine Lippen. Ich konnte nicht einmal abschätzen, wie viel Zeit uns noch blieb. „Ryuzaki… Du hast gewonnen.“ „Das habe ich nicht…“ Er lächelte. „Da hast du Recht…“ Belanglose Worte. Aber ich nutzte sie, um mir seine Stimme einzuprägen. Seine schöne, sanfte Stimme. Mit einem Ticken schlug der Sekundenzeiger vorwärts. Und Raito bäumte sich in meinen Armen auf. Ich spürte, wie sich seine Hände in meine Arme gruben, schmerzhaft, die kurzen Nägel viel zu tief in meinem Fleisch. Doch ich hielt ihn fest, drückte ihn mit aller Kraft an mich, als könnte ich so irgendwie verhindern, dass er mir entglitt. Ein Schrei – gequält durch die stechenden Schmerzen, die er haben musste. Dann kam er zur Ruhe. Sein Körper sank auf meinem Schoß zusammen und die Uhr tickte weiter. Weiter, als wäre überhaupt nichts passiert. „Raito…?“ Ich wusste, dass er mir nicht mehr antworten würde. Ich wusste es – und trotzdem hoffte ich auf ein leises ‚Ja?’. Doch das hübsche Gesicht mit den halb geschlossenen Augen reagierte nicht. Leer blickte er auf einen Punkt irgendwo an der Decke. „Raito…“ Meine Hand legte sich auf seine Lider, schloss sie und mein Kopf sank nach unten, bis meine Stirn die seine berührte. Ich wollte ihn nicht loslassen. Ich war es gewohnt Menschenleben zu beenden. Nicht direkt, aber indirekt. Ich war es gewohnt, Unschuldige vor Verbrechen zu bewahren. Aber ich hatte es nicht geschafft ihn zu retten. Ihn – meinen Feind. Kira. Ich hatte ihn retten wollen – und hatte versagt. Ein Schluchzen drang über meine Lippen, während ich mich zwang tief einzuatmen. Ich wollte seinen Geruch nicht vergessen, wollte ihn nicht vergessen. Doch während ich noch über ihm lag, begann mir seine Stimme zu entgleiten. „Nein… Verdammt…“ Ich fühlte mich hilflos. Ich hatte nichts tun können, um es aufzuhalten. Und jetzt konnte ich nicht einmal verhindern, dass ich ihn vergessen würde. So fest ich konnte, hielt ich ihn in meinen Armen und sah ihn an. „Du hast gewonnen… Kira. Raito… Hörst du? Du hast gewonnen…“ Ich strich die Haare aus seinem Gesicht. „Gratuliere… Du hast… gewonnen…“ Ich ließ ihn nicht los. Auch nicht, als sich in meinem Rücken die Türen öffneten und unsere Zweisamkeit zerrissen wurde. Auch nicht, als die Sonderkommission um mich herum zu schreien begann. Das einzige, was ich hörte, war… das Ticken der Uhr. Erläuterung Nein, L hat Raito nicht aufgeschrieben =p Kapitel 5: Sebastian -------------------- Sebastian Ich hatte mich daran gewöhnt, mich einem System unterzuordnen, an dessen Vorhandensein ich nichts ändern konnte. Es änderte jedoch nichts daran, dass ich mich regelmäßig so weit gegen meine Grenzen lehnte, wie es mir zugelassen wurde. Dennoch… als Butler sind diese Grenzen stark. Als Dämon leichter zu überwinden, als man glauben mag. Ich begab mich freiwillig in einen Vertrag, der mich einem Menschen unterordnete. Einem sehr jungen Menschen. Einem… … Kind. Doch ich tat es gern. Ich genoss jeden Tag. Eine Tatsache, die mich anfänglich erschreckte, später überraschte. Und dann war es mit einem Mal gar nicht mehr ungewohnt. Es war Alltag. Sekunden. Minuten. Stunden. … Jahre. Ich war für ihn da, wann immer er nach mir verlangte. Freiwillig. Gerne. Und dann… wurde alles anders. Ein einziger Tag. Ein einziges… Verlangen. Hunger. Ich verfluche mich, dass ich es nicht unterdrücken konnte. Ich verfluche mich dafür, dass ich schwach war. Schwach, einem schlichten, menschlichen Trieb nachgegangen zu sein, dem ich niemals hätte nachgehen dürfen. Ich hatte mich und meine eigenen Fähigkeiten überschätzt. Ich Narr. Ich finde keine Worte. Keine Worte, die ich an den kalten Körper richten kann, der in meinen Armen liegt. Keine Empfindung, wenn ich in die leeren, blauen Augen sehe. Das Vertragszeichen ist verschwunden. Sowohl bei ihm als auch bei mir. Meine rechte Hand. Nackt und entweiht. Und blutverschmiert. Meine Finger gleiten über sein Gesicht, über die zarten Wangen, durch die dichten, grauen Haare, über die geöffneten Augen. Tiefer. Über seine Brust, die tiefen Gräben, die sein Leben beendet haben, die Arme, über seine Hände. Zwei Finger fehlen. Sie liegen irgendwo in der weitläufigen Eingangshalle. An einem steckt noch immer der goldene Ring. Ich ziehe ihn höher, drücke ihn gegen meine Brust und atme zitternd ein. Normalerweise hätte ich mich freuen sollen. Mein Hunger ist gestillt, doch das schlechte Gewissen und die Trauer lasten wie ein Gewicht auf meinen Schultern. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen. „Young Master…“ Ist es wirklich meine Stimme, die so leise und erbärmlich klingt? Ich habe den Vertrag gebrochen. Der Vertrag, der besagte, dass ich ihn beschützen sollte. Bis an sein Lebensende. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich sein Leben beenden würde. Ich, dem er vertraut hatte. Ich, der ihm stets jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte. Ich… sein Butler. Waren die Grenzen nicht stabil genug? Wie hätte ich sie sonst durchbrechen können. Nie hätte ich geglaubt, dass ein menschliches Leben einmal bedeutsam werden könnte. Doch es hatte sich viel verändert. Ich hatte mich verändert. Durch ihn. Langsam zwinge ich mich aufzustehen, den Körper immer noch auf den Armen. Meine Lippen berühren seine Stirn. Nichts, was es wieder gut machen könnte. Nichts, was mich noch auf Erden halten könnte. Ich bringe es nicht über mich, um Verzeihung zu bitten. Es wäre… falsch. Etwas Unverzeihliches ließ sich nicht entschuldigen. Ein Zittern läuft über meinen Körper und ich höre meine Schritte nicht, während ich auf die Türen zugehe. Ich weiß nicht, wohin ich nun gehen soll. Aber ich weiß, dass ich nicht mehr hier bleiben kann. Nicht, wenn er nicht mehr da ist. Nicht, nach dem, was ich getan habe. Meine Arbeit im Hause Phantomhive ist vorbei. Kapitel 6: A ------------ A Es war ein Phänomen, dass Menschen bei einem Unfall immer stehen bleiben und zusehen mussten. So als hätten sie keine eigenen Probleme. Oder ein eigenes Leben. Als gäbe es nichts Wichtigeres, als sich am Leid anderer zu erfreuen. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich jemanden umbringen. Jeden, der um mich herum stand. Jeden, der mir tröstend die Hand auf die Schulter legte. Jeden, der mir sagte: „Aber sei doch froh, dass du noch lebst.“ Wie sollte ich froh sein? Ich wollte nicht gerettet werden. Ich hatte mich gewehrt, hatte um mich getreten, geschrieen und mich mit aller Kraft am Türrahmen festgehalten. Ich solle nicht unvernünftig sein, sagten sie, und zerrten mich mit Gewalt aus der brennenden Wohnung. Man könne für ihn sowieso nichts mehr tun. Und das letzte, was ich sah, war die geschlossene Schlafzimmertür. „Der Brand ist sicherlich bald gelöscht…“ „Schrecklich. Wenn es nun auf die anderen Häuser übergegriffen hätte…“ Ich wollte nicht zuhören. Was kümmerte es mich, wenn Fremde ebenfalls in dem Feuer gestorben wären? Meine Hände griffen fester um die Decke, die um meine Schultern lag. Rauchvergiftung. Leichte Verbrennungen. Wen kümmerte es. Mein Blick galt dem Asphalt zu meinen Füßen. Die Wärme des brennenden Hauses war zu fühlen. Ich musste es nicht ansehen. Wasserdampf trieb die Straße entlang, benetzte Haare und Wimpern. Und schließlich erlosch das Feuer. Dichte Rauchschwaden stiegen in den Himmel. Aber keine Flammen mehr, die aus den Fenstern züngelten. Keine Stimme mehr, die vor Angst vor dem Feuer laut schrie. „B…“ Ganz rau. Ich hatte nicht angenommen, dass sie überhaupt noch funktionierte. In der Wohnung hatte ich geschrieen. Nach ihm. Ihm, der aus dem Schlafzimmer nicht mehr entkommen konnte. Die Tür hatte sich wegen der Hitze verzogen. Rettungskräfte betraten den Hausflur. „Seid vorsichtig, dass die Treppen nicht nachgeben…“ „Sie sagten in der Wohnung wäre noch eine Person?“ Ich merkte nicht, dass man mit mir sprach. „Bitte sei noch am Leben… Bitte… Bitte sei noch am Leben… Ich flehe dich an…“ Tränen rannen über meine Wangen und ich musste husten. Meine Fingerknöchel wurden weiß, so fest grub ich meine Finger in die Decke. Vielleicht hatte ihn das Feuer nicht erreicht. Vielleicht hatte er ein sicheres Versteck gefunden. Vielleicht war er über das Fenster entkommen. Vielleicht… Das erste, was ich sah, war der weiße Rücken eines Sanitäters. Dann eine orangefarbene Trage. Und mir wurde klar, dass ich umsonst gehofft hatte. Sein Körper war schwarz. Nur wenige Stellen waren vom Feuer verschont worden und leuchteten feucht-rot. Meine Hände bebten, während ich zusehen musste, wie sie ihn an mir vorbei trugen. Keine Regung. Kein Zucken. Kein Schrei mehr. Die Augen eingesunken und dunkel. „Das ist nicht fair…“ Tränen tropften zu Boden, ehe ich das Gesicht in meinen Händen vergrub. „Das ist… einfach nicht fair…“ Salziges Wasser rann über meine Arme. Ich wagte nicht, noch einmal aufzusehen. Ich brachte es nicht über mich, mich von ihm zu verabschieden. Allein der Gedanke ließ mich würgen. Ich wollte ihn nicht verlieren. Erläuterung Spoiler zu "Another Note" B verbrennt am Ende. Darum hier der Feuertod. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)