broken von BlackRose (Warum redet sie nicht? Warum sagen sie alle nichts??) ================================================================================ Kapitel 1: Eine von Vielen -------------------------- Eine von Vielen zerbrochenen Seelen... Es gab nicht viel, an das sie sich noch erinnerte. Die meisten Ereignisse aus ihrem Leben waren verloren gegangen- oder wiesen zumindest große Lücken auf. Die meisten Tage ihres Daseins hatte sie vor sich hin gelebt, ohne an ein Morgen zu denken. Wochen, Monate, Jahre verschwammen vor ihrem inneren Auge, als seien sie nie da gewesen. Glückliche Erinnerungen waren zu schmerzhaften und daraufhin verdrängt und verbannt worden. Ja, manchmal fragte sie sich ernsthaft, wo ihr Leben hin verschwunden war. Sie war sechzehn, und konnte sich an kaum einen Tag ihres Lebens erinnern, traurig, oder? Sie senkte den Kopf, sodass sie unweigerlich mit der Stirn gegen das kalte Glas des Fensters stieß. Es war Winter. Die Tage wurden immer kürzer, und das Wenige, was man von ihnen noch sah war meist farblos und trist, abgeschirmt von der Sonne, begraben unter einer erdrückenden Wolken- und Nebeldecke. In den kalten Monaten passte sich das Wetter scheinbar ihrer Stimmung an. Kalt und leer- genau so fühlte sie sich. Sie hätte nur zu gerne geweint, die Tränen auf ihren Wangen und das Beben ihres Körpers gespürt, oder das Schluchzen vernommen, das unkontrolliert aus ihrer Kehle gekommen wäre.... Doch nichts dergleichen geschah. Sie saß nur da, mit ausdruckslosem Gesicht, auf ihrer Fensterbank sitzend und das Gesicht gegen das Glas der Scheibe lehnend. Sie konnte einfach nicht weinen- seit Jahren nicht mehr. Warum? Nun, das hätte sie auch gerne gewusst, denn weiß man den Grund für eine Tatsache, lässt sich dementsprechend meistens etwas an diesem Zustand ändern, doch es gab keinen Grund, keine Antwort und keine schlaue Lösung, die sie in irgendeiner Form weitergebracht hätte. Die Tränen kamen einfach nicht mehr. Sie hatte es schon so oft versucht, sich einfach alles von der Seele zu weinen, doch immer war sie gescheitert- jedes Mal. Irgendwann hatte sie den Versuch aufgegeben, eine menschliche Eigenschaft zu praktizieren, die sie offenbar nicht besaß. Sie hatte es schlicht und ergreifend einfach gelassen, es nicht weiter probiert. Doch das warf Fragen auf, Fragen, auf die sie vorerst auch keine Antwort finden konnte. Was soll sie sonst tun? Wie soll sie all den Gefühlen sonst Ausdruck verleihen, wie ihre Trauer und den vielen Hass, oder den über Jahre angesammelten Schmerz raus- und somit etwas abklingen lassen? Wie war es nur möglich, ohne die Gabe des Weinens zu leben? Worin sollte sie einen Ersatz dafür finden? Was sollte sie tun? Es hatte zur Folge gehabt, dass sie alles in sich hineinfraß, nichts nach außen ließ. Sie ließ andere nicht an ihrem Zustand teilhaben, war nur kalt und gefühllos zu ihnen gewesen. Ja, gefühllos traf es gut. Jede Emotion wurde von ihr verbannt, Erinnerungen verdrängt und ihr Herz unter sicheren Verschluss gestellt. Nichts war mehr von dem einst so fröhlichen Mädchen übrig- nichts. Sie war vereinsamt, ließ niemanden an sich ran, obwohl sie sich doch eigentlich so nach Nähe sehnte, nach Geborgenheit und nach dem Gefühl, geliebt zu werden. Vielleicht kann man das nicht so sagen, kann man sich denn nach Gefühlen sehnen, die man nie zuvor kennen gelernt hat? Vielleicht. Oder es war einfach nur der Wunsch, diese Gefühle endlich kennen zu lernen, sie zu verstehen. Die verschiedenen Emotionen, Eigenschaften und Tugenden, die das Leben angeblich so lebenswert machten. Aber vielleicht hatte sie diese Dinge bereits gefühlt, konnte sie aber nur nicht einordnen? Eigentlich machte es keinen großen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es war wohl genauso, als würde man einem Blinden sagen wollen, dass der Himmel blau war. Er würde die Worte verstehen, jedes einzelne, doch er könnte den Sinn darin nicht erkennen. Sie hatte oft gesagt bekommen, wie wichtig die Liebe für die Menschen war, dass ohne sie keiner Leben könne. Doch was ist Liebe? Was verstehen die Menschen darunter? Ab wann identifiziert man ein Gefühl als solche? Sie verstand das Wort, doch sie kannte keinen Sinn darin. Es war leer, genauso leer wie sie selbst. In ihr befand sich eine Art großes Loch, dass sie irgendwie zu stopfen versuchte. Schmerz. So hieß für sie die richtige Lösung, zumindest für einen Moment. Wenn sie die Klinge nahm- wobei egal war welche- und sich damit über die blasse Haut ihres Arms fuhr, mal fest, mal leicht, dann konnte sie kurz vergessen. Wenn aus den Einkerbungen das rote Blut trat, langsam daran hinunterlief und schließlich auf den Boden tropfte- dann konnte sie vergessen. Vergessen, dass die Menschen grausam waren, ihr immer wieder aufs Neue wehtaten. Vergessen, dass sie hier war, in dieser Welt, die ihr tagtäglich so viel Schmerz zufügte. Vergessen, dass sie lebte- dass sie gezwungen war, dies zu tun. Vergessen, vergessen, vergessen..... Doch die Schnitte hinterließen Narben, sowohl in ihrer Haut, als auch in ihrer Seele. Doch dem nicht genug, scheinbar brauchte sie immer mehr. Die Kerben wurden jedes Mal tiefer, jedes Mal mehr. Und jedes Mal überkam sie das Verlangen, es doch einfach zu beenden, das Leiden. Ein tiefer Schnitt, ihren Arm entlang und alles wäre vorbei.... Nie wieder leiden... Nie wieder trauern... Nie wieder hassen... Sie ließ ihren Blick schweifen. Draußen war es dunkel, und es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis das Tageslicht den Weg zu ihr finden würde, doch das war jetzt egal. Draußen war es leer, kein Mensch war auf der Straße, keine Fußgänger, die sich mühsam und gehetzt aneinander vorbeidrängten, sich anrempelten oder einfach nur schnell den Weg zu ihrem Ziel finden wollten. Nein. Draußen war es leer und trostlos. Eine dünne Schneeschicht bedeckte die Landschaft und tauchte Autos, Bäume, Straßen und Häuser in ein glitzerndes Weiß, das gleichzeitig ein wenig die Nacht erhellte. An den Fenstern der Autos und Gebäude konnte man deutlich die Minusgrade der vergangenen Tage ablesen. Sie waren von den Temperaturen zugefroren und trüb gefärbt worden, sodass man am nächsten Morgen wohl den ein oder anderen Autofahrer beim Freikratzen seines Wagens fluchen hören würde. Sie liebte die Nacht, wenn sie allein sein konnte. Um diese Zeit war niemand da, der ihr hätte wehtun können, oder vor dem sie sich irgendwie hätte verstellen müssen- nein, es war niemand da, sie konnte ganz sie selbst sein. Ihr Gesicht war wie versteinert, fast wie eine eiserne Maske, die niemand zu durchbrechen vermochte. In den letzten Jahren hatte sie eine Mauer um sich aufgebaut, eine Fassade, die jeden anderen auf sicherer Distanz hielt. Eigentlich fand sie das auch gut so, aber woher kam dann dieses Bedürfnis, das Verlangen nach Nähe? Irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie nicht allein und einsam sein wollte, sondern viel lieber wünschte sie einem Menschen zu vertrauen. Doch sie wusste genau, dass sie dies nicht mehr konnte. Kam irgendjemand und wollte sie näher kennenlernen, verstellte sie sich, um nicht ihr wahres Ich preisgeben zu müssen. Und auch, wenn sie es nicht beabsichtigte, so tat sie es immer wieder, ohne etwas dagegen tun zu können. Vorsichtig und streng darauf bedacht, niemanden zu wecken, erhob sie sich wieder, löste sich von der Fensterbank und stand auf. Eine kleine Ewigkeit verharrte sie so, stehend in ihrem Zimmer. Morgen würde sie wieder stark sein müssen. Sie durfte ihren Lehrern und Mitschülern keine Schwäche zeigen, musste sich so gut es eben ging verschließen und im Hintergrund halten. Sie musste ihre Fassade verhärten und versteinern lassen, erst dann würde sie sich sicherer fühlen- glaubte sie zumindest. Dies war die einzige Lösung, die ihr auf ihre Probleme einfiel. Doch sie hatte schon vor Wochen gemerkt, dass ihre so mühsam aufgebaute Mauer Risse bekam. Dass sie allmählich nicht mehr in der Lage war, stark zu sein. Sie zerbrach, mit jeder kleinen Sekunde, die verstrich ein wenig mehr. Sie war einer der Menschen, die in einem Scherbenmeer standen, sich ihres Schicksals vollkommen bewusst und dennoch machtlos, daran etwas zu ändern. Sie wusste nicht wie. Gab es denn noch einen anderen Weg, außer den der Selbstzerstörung? Hatte sie vielleicht doch die falsche Richtung eingeschlagen? Und wie sollte sie es denn besser machen? So viele Fragen, doch niemand, der ihr eine Antwort hätte geben können. War sie letzten Endes doch selbst an ihrem Leid schuld? Ja, vermutlich, das musste es sein. Sie litt, und wahrscheinlich hatte sie es sich selbst zuzuschreiben. Sie konnte es nicht erklären, doch sie hatte das Gefühl einen Fehler gemacht zu haben, für den sie nun zurecht bestraft wurde. Aber dann war alles doch eigentlich ok, oder? Wenn tatsächlich alles so sein sollte, wie es war, dann gab es doch gar kein richtiges Problem in ihrem Leben? Richtig. Wo war das Problem? Wo die Schwierigkeit? Nein, es war alles richtig, nicht wahr? Genau. Mit dieser Erkenntnis setzte sie sich wieder in Bewegung, schlich zu ihrem weichen Bett und legte sich hinein. Sie machte sich doch etwas vor. Vielleicht hatten alle Recht mit dem, was sie ihr täglich an den Kopf warfen, vielleicht hatten die Lehrer recht, wenn sie sagten, dass sie sich doch mehr anstrengen solle und vielleicht lagen ihre Eltern richtig, wenn sie meinten, wie dumm sie doch sei, und dass sie sich ein Vorbild an den guten Noten ihrer Schwester nehmen solle. Ja, sie hatten alle recht. Allesamt. Es gab kein Problem, ihre Trauer und ihr Leiden waren vollkommen unberechtigt. Alles war in Ordnung, oder? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)