Code Geass: Messing with Time von Shin-no-Noir (Und weil es so schön war, gleich noch mal...) ================================================================================ Kapitel 11: Der unliebsame Ausflug ---------------------------------- Letzten Endes war Lelouch seinen Bruder an jenem Tag nicht mehr losgeworden. Gerade als es begonnen hatte, dunkel zu werden, und er sich auf den Weg machen wollte, hatte C.C. ihn angerufen und ihm im Plaudertonfall mitgeteilt, dass Nanali und Sayako davon ausgingen, dass er das Wochenende bei ihr verbringen würde. Lelouch schloss daraus, dass er gar nicht wissen wollte, was die beiden sonst noch so alles annahmen - also fragte er erst gar nicht. Des Weiteren hatte seine Komplizin es ihm ausdrücklich untersagt, auch nur einen Fuß auf die Straße zu setzen, bevor er wieder vollkommen genesen war. Lelouch hielt das für lächerlich, aber er bezweifelte auch, dass es in Anbetracht der Dinge eine gute Idee wäre, C.C. zu widersprechen. Wenn seine ständige Begleiterin es sogar in Kauf nahm, dass er mehr Zeit als unbedingt nötig mit Clovis verbrachte, anstatt sie mit Pizza zu versorgen, dann musste es ihr wirklich ernst sein - und das Letzte, was Lelouch wollte, war, die Graue Hexe gegen sich aufzubringen. Dasselbe galt jedoch nicht für nervtötende Verwandtschaft, und was seinen Bruder anging, so war dieser derart erfreut über die unerwartete Wendung gewesen, dass Lelouch ihn am liebsten erwürgt hätte. Gleichzeitig hatte Clovis sich aber auch sofort bereiterklärt, ihm für eine weitere Nacht das Sofa zu überlassen, was ihm dann doch noch einmal das Leben rettete. Lelouch hatte dem blonden Prinzen lediglich einen bösen Blick zugeworfen und sich dann kommentarlos schlafengelegt. Eine herrische Unsterbliche am Hals zu haben war schlimm genug – gluckenhafte Verwandtschaft konnte er da nur noch ignorieren, wenn er seine ohnehin schon fragliche geistige Gesundheit nicht noch weiter strapazieren wollte. Inzwischen aber war der nächste Morgen angebrochen, und Lelouch war nicht schnell genug gewesen, um zu verhindern, dass Clovis ihn noch auf seinem Nachtlager abfangen und mit einem selbstgemachten Frühstück beglücken konnte. Also saß er noch immer auf der großen roten Couch, einen Teller auf dem Schoß und ein bis zum Rand gefülltes Glas in der Linken. Zögerlich nahm er eines der drei mit Käse belegten Vollkornbrote in die Hand und beäugte es kritisch. „Ich wusste nicht, dass du kochen kannst.“ „Kann ich auch nicht“, gab Clovis leichtmütig von seinem Sessel aus zurück. „Aber ich habe festgestellt, dass es keines Meisterkochs bedarf, um ein paar Scheiben Brot mit einem Milchprodukt zu belegen.“ Lelouch sah ihn skeptisch an. „Hast du es überhaupt schon selbst probiert?“ In gespielter Entrüstung warf Clovis das Haar zurück. „Natürlich“, sagte er hochmütig. „Aber du kannst natürlich auch kalte Pizza haben, wenn dir das lieber ist.“ „Nein danke.“ Lelouch starrte das Brot in seiner Hand noch einen Moment länger so argwöhnisch an, als könnte es sich jeden Moment in ein Nest voller Maden verwandeln, bevor er vorsichtig einen Bissen davon nahm. „Und?“, erkundigte sein Bruder sich unbekümmert. „Nun ja“, erwiderte Lelouch ohne aufzusehen. „Ich schätze, es ist genießbar.“ Clovis schnaubte. „Ist dein Fieber weg?“, fragte Clovis, sobald Lelouch seinen Teller weggebracht hatte. „Aa“, sagte Lelouch, nachdem er sich ohne Eile wieder auf dem Sofa niedergelassen hatte. Es erstaunte ihn beinahe etwas, dass sein Bruder ausnahmsweise darauf verzichtete, ihm ungefragt eine Hand auf die Stirn zu drücken. „Heißt das, du gehst schon wieder?“ „Schon wieder?“, echote Lelouch ungläubig. „Ich habe immerhin zwei ganze Tage hier vergeudet.“ „Verstehe.“ Etwas in der Stimme seines Bruders ließ ihn aufsehen. Clovis schien ehrlich enttäuscht, aber das war noch nicht alles. Der Ausdruck auf seinen Zügen wirkte beinahe ein bisschen… gekränkt? Innerlich seufzte Lelouch, aber er entschied, dass es ohnehin nicht viel gab, was er um diese Tageszeit tun konnte, um seine Pläne voranzubringen. Und da C.C. dafür gesorgt hatte, dass niemand ihn vermisste… „Aber wenn ich schon einmal hier bin, kann ich auch noch ein paar Stunden bleiben. Es wäre verdächtig, wenn mich um diese Tageszeit jemand hier in der Nähe sehen würde.“ Zumal er immer noch die Nachwirkungen seiner Krankheit spürte und im Augenblick nichts dagegen einzuwenden hatte, noch eine Weile tatenlos herumzusitzen. Aber als Clovis ihn daraufhin breit anlächelte, zog sich sein Herz aus irgendeinem Grund schmerzhaft zusammen. „Wie wäre es mit noch einer Partie Schach?“ Lelouch schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und nickte stumm. ~ Es war bereits früher Nachmittag, als Lelouch endlich wieder das Gelände der Ashford-Akademie betrat. Er hatte nur ein Mal gegen Clovis gespielt, aber die Partie hatte länger gedauert als erwartet, obwohl er letzten Endes wie üblich gewonnen hatte. Anschließend war er noch eine Weile geblieben und hatte die Gedanken schweifen lassen, während er seinem Bruder halbherzig beim Zeichnen zugesehen hatte. Dieser arbeitete offenbar an einem Landschaftsbild, das er wohl erst vor kurzem angefangen hatte und welches derzeit noch nichts weiter beinhaltete als die Skizze eines Bergsees und eine halbfertige Wiese, die das Gewässer halbkreisförmig umgab; dennoch hatte selbst ein Laie wie Lelouch erkennen können, dass es beeindruckend sein würde, wenn es fertig war. Clovis war schon immer ein außergewöhnlicher Maler gewesen. Hätte er sich auch nur halb so gut auf das Herrschen wie auf die Kunst verstanden, dann wäre Lelouch einen Großteil seiner Probleme los – er könnte sich einfach darauf konzentrieren, seinen Bruder auf den Thron zu bringen, und alles andere würde sich früher oder später ganz von alleine erledigen. Zu schade nur, dass Clovis und Politik sich so gut vertrugen wie Odysseus und Schach oder Euphemia und Kriegsführung. Auch wenn der Dritte Prinz eine unabstreitbare Begabung in Sachen Rhetorik hatte, so fehlte ihm doch ganz eindeutig das nötige Interesse, um etwas damit anzufangen. Lelouch seufzte lautlos. Weshalb musste alles nur so kompliziert sein? Ein kleines Puzzle hier, eine unvorhergesehene Herausforderung da… damit könnte er gut leben. Aber konnte denn nicht wenigstens irgendetwas einmal simpel sein? „Lelouch!“ Ein Ausruf in seiner ummittelbaren Nähe riss den dunkelhaarigen Jungen aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf und sah, wie Milly ihm winkend entgegengelaufen kam. Erst, als sie keine Armeslänge mehr von ihm entfernt war, bremste sie ab und strahlte ihn an. „Gerade habe ich Nanali nach dir gefragt!“ Lelouch blinzelte. Wäre Milly nicht Milly gewesen und hätte sie nicht einen so offenkundig vergnügten Eindruck gemacht, dann wäre er davon ausgegangen, dass irgendetwas vorgefallen sein musste. So jedoch konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die Präsidentin des Schülerrats so eilig von ihm wollen könnte. „Was gibt es?“, fragte er also und versuchte gar nicht erst, seine Verwunderung zu verbergen. „Was denn? Kann ich nicht einfach mal spontan bei meinem Lieblings-Frauenhelden vorbeischauen, um zu sehen, wie es ihm so geht?“ Lelouch hob die Brauen, und Milly seufzte. „Schon gut, schon gut. Das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich dich gesucht habe.“ „Sondern…?“ Auf diese Frage hatte Milly offenbar gewartet. Sie grinste, streckte den Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn, wobei sie ihm fast das Auge ausstach. „Wandern!“, verkündete sie. „…Was?“ Lelouch hatte das Gefühl, irgendetwas Wichtiges verpasst zu haben. Glücklicherweise hatte Milly schon immer beinahe so viel Freude daran gehabt, ihren hilflosen Opfern zu offenbaren, auf welch grausame und schreckliche Weise sie in naher Zukunft leiden würden, wie daran, sich finstere Pläne auszudenken. Und so musste Lelouch nicht lange auf eine Erklärung warten. „Nachdem es dir Freitag nicht gut ging“, begann Milly fröhlich ihre Erläuterung, „bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Schülerrat überarbeitet ist!“ Weshalb beschlich Lelouch nur das dumpfe Gefühl, dass das alles mögliche, nur nicht weniger Arbeit bedeuten würde? Seine Befürchtungen bestätigten sich, als sein Gegenüber fortfuhr: „Deshalb werden wir heute alle etwas zusammen unternehmen!“ „Wir… gehen wandern?“, schlussfolgerte Lelouch nach ein paar Sekunden ungläubig. „Heute? Weil mir vorgestern schlecht war?“ Ja, er kannte definitiv die falschen Leute. Ob auf der einsamen Insel am anderen Ende der Welt wohl noch Platz für eine Person mehr war? Milly lächelte breit. „Ganz genau!“ Sie tippte sich ans Kinn. „Eigentlich wollten wir gestern ins Schwimmbad, aber wir haben dich nicht erreicht, und Kallen hatte wohl auch keine Zeit…“ Natürlich – niemand außer C.C. besaß seine zweite Handynummer, und dass Kallen etwas anderes vorgehabt hatte, war alles andere als verwunderlich. Es erstaunte Lelouch eher, dass sie es trotz des Doppellebens, das sie führte, anscheinend geschafft hatte, sich den Sonntag freizuhalten. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Ich war beschäftigt. Du hättest mir vorher Bescheid sagen sollen.“ Er achtete darauf, es nicht versehentlich wie einen Vorwurf klingen zu lassen. „Beschäftigt…“ Milly bedachte ihn mit einem verschlagenen Lächeln und nicht zum ersten Mal fragte Lelouch sich, was für eine Lawine C.C. wohl dieses Mal wieder losgetreten hatte. Erwartete nun etwa jeder, dass er bald bei seiner vermeintlichen Verlobten einziehen würde? „War es denn… anstrengend?“ Lelouch blinzelte. Nun verstand er gar nichts mehr. Er sagte nichts, aber seine Miene musste ihn verraten haben, denn Milly schüttelte mit einem wehmütigen Seufzer den Kopf. „Hach ja, die unschuldige Jugend…“ Lelouch blinzelte erneut. „Hu?“ „Mach dir nichts draus!“ Milly klopfte ihm auf die Schulter. „Eines Tages wirst selbst du mehr über diese Dinge erfahren.“ Diese Dinge? Wo hatte er das nur schon einmal gehört? Bevor es ihm jedoch wieder einfallen konnte, wechselte die Schülerratspräsidentin abrupt das Thema: „Also, kommst du gleich mit?“ „Ich denke nicht, dass-“ Er hatte absagen wollen, aber Millys Blick ließ ihn es sich mitten im Satz anders überlegen. „In einer halben Stunde?“, fragte er vorsichtig. „Hm…“, machte Milly und rieb sich nachdenklich das Kinn. Sie zögerte ihre Antwort so lange hinaus, dass Lelouch sich unwillkürlich zu fragen begann, ob sie ihn absichtlich nervös machen wollte. Falls ja, dann konnte sie zufrieden mit sich sein – es wirkte. Kurz bevor er jedoch den nötigen Mut gesammelt hatte, sich unauffällig aus dem Staub zu machen, legte sich wieder ein ausgelassenes Lächeln auf die Züge seines Gegenübers. „Na gut“, sagte die Schülerratspräsidentin vergnügt, winkte ihm flüchtig und machte auf dem Absatz kehrt. „Dann bis in einer halben Stunde!“, rief sie dabei. „Und bring Nanali mit, ja?“ Lelouch schnaubte leise. Als ob sie ihm das extra sagen müsste. „Bis dann“, gab er mit all dem unbändigen Enthusiasmus eines Pinguins auf dem Weg in die Tiefen der Sahara zurück. Anschließend sah er dem blonden Mädchen nach, wie es in Richtung Schulgebäude verschwand, und seufzte schwer. Er tröstete sich damit, dass er sich zumindest nicht mehr wie ein Häufchen Elend fühlte, und für eine winzige Sekunde war er C.C. und Clovis sogar dankbar dafür, dass sie ihn so lange aufgehalten hatten – aber dann überkam er die vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit und fragte sich kopfschüttelnd, ob er es mit einem verspäteten Delirium zu tun oder einfach nur den Verstand verloren hatte. Lelouch nahm sich noch die Zeit, sich gebührend über seine untypische Unbesonnenheit zu wundern; dann betrat er das Klubhaus. ~ Wie sich herausstellte, hatte C.C. mehr getan, als ihm nur ein Alibi zu schaffen und ein paar unnötige Anspielungen zu machen. Lelouch wusste nicht genau, was sie Nanali erzählt hatte, aber nachdem er nach Hause gekommen war, hatte seine kleine Schwester sich ihm gegenüber ausgesprochen merkwürdig verhalten. Nicht nur, dass sie ihn sofort mit einer Schale voller selbstgebackener Plätzchen begrüßt hatte, sie tätschelte ihm auch noch den Arm und versichte ihm, dass sie C.C. mochte und sich sehr für ihn freue. Und dann war da noch das Buch mit Babynamen, das in seinem Zimmer auf ihn wartete und eindeutig von Nanali dort platziert worden war. Als er sie ein wenig später darauf ansprach, bedachte sie ihn mit einem milden Lächeln und sagte: „Lass dir ruhig Zeit, Onii-sama.“ Lelouch hatte keine Ahnung, was das heißen sollte, also erwiderte er nichts. Als er keine fünf Minuten später jedoch erneut sein Zimmer betrat und sein Blick abermals auf die ausgesprochen kuriose Lektüre fiel, die seine Schwester ihm da zum Geschenk gemacht hatte, fragte er sich, ob C.C. wohl behauptet haben könnte, dass er jemandem bei einer Geburt geholfen hatte - eine vollkommen absurde Vorstellung, die immer noch keine wirklich befriedigende Erklärung darstellte, aber alles, was Lelouch auf die Schnelle einfallen wollte. Mit einem Stapel wetterfester Kleidung und dem Gedanken, C.C. auf dieses Thema anzusprechen, wenn er sie das nächste Mal sah, verschwand er noch einmal im Bad, bevor er sich gemeinsam mit seiner kleinen Schwester auf den Weg zu Milly und den anderen machte. ~ Wandern. Ein Wort, das harmlos klingt, aber schon seit Anbeginn der Zeit die Hölle auf Erden hinter sich verbirgt. Natürlich hatte Lelouch sich nicht vollkommen von dem trügerischen Schein täuschen lassen, aber einmal mehr hatte er sich ganz eindeutig überschätzt und nun blieb ihm nichts anderes übrig, als mit den Konsequenzen seiner voreiligen Entscheidung zu leben. Mühsam schleppte er sich durch die Hügellandschaft, schaute zum Himmel empor und wartete auf eine Sonnenfinsternis, die es laut seinen Berechnungen erst in gut sechseinhalb Jahren wieder geben würde. Er war erschöpft, frustriert und ausgetrocknet und wünschte sich nichts weiter, als noch einmal das Bewusstsein zu verlieren, damit er diesen verdammten Ausflug endlich hinter sich hatte. Unglücklicherweise jedoch war von seinem Fieber nichts weiter zurückgeblieben als eine vage Mattigkeit, die seiner ohnehin schon legendären Unsportlichkeit hier und da noch zusätzlich unter die Arme griff, sich ansonsten aber nicht weiter bemerkbar machte, und selbst die Kopfschmerzen, die ihn plagten, waren eindeutig das Resultat der glühenden Hitze, die ganz eindeutig nicht von seinem eigenen Körper, sondern von übermäßiger physischer Betätigung und dem viel zu gutem Wetter ausging, welches nun schon seit mehreren Wochen vorherrschte und so schnell wohl auch nicht wieder verschwinden würde. Folglich blieb Lelouch nichts anderes übrig, als sich mit seinem Schicksal abzufinden und sich darauf zu konzentrieren, Nanali im Auge zu behalten. Diese war bei Shirley, Milly und Rivalz zwar sicherlich gut aufgehoben, aber alte Gewohnheiten ließen sich nun einmal schwer ablegen. Zudem wäre es den anderen mit Sicherheit seltsam erschienen, wenn Lelouch sich im Bezug auf seine kleine Schwester nicht trotz seines leicht angeschlagenen Zustands wie ein paranoider Wachhund aufgeführt hätte. Milly hatte ihn schon seltsam angesehen, als er ihr Nanali so widerstandslos überlassen hatte, und selbst Shirley hatte ihm inzwischen den ein oder anderen verdutzten Blick zugeworfen. Allerdings bekam Lelouch all diese Dinge nur am Rande mit, da der Großteil des Schülerrats mit mindestens sieben Metern Abstand vor ihm her lief. Und das, obwohl sich alle Kallens Tempo anpassten, die selbstverständlich vortäuschte, nur langsam gehen zu können und immer mal wieder eine Pause zu benötigen. Einzig Nina hatte einen so geringen Vorsprung zu ihm, dass er nicht hätte schreien müssen, wenn er ihr etwas mitteilen wollte – und das auch nur, weil sie sich absichtlich im Hintergrund hielt. Anders ausgedrückt: Lelouch war sich sicher, dass er ein absolut jämmerliches Bild abgeben musste, und es waren Augenblicke wie diese, in denen er den Eindruck bekam, dass irgendwelche höheren Mächte ihn abgrundtief hassen mussten. Er revidierte seine Meinung, als eine hübsche kleine Portion Vogelkot ihn um Haaresbreite verfehlte und harmlos am Boden liegen blieb. „Da wären wir“, sagte Milly keinen viertel Kilometer später so laut, dass Lelouch sie trotz des riesigen Abstands zwischen ihnen problemlos verstehen konnte. Sie wartete, bis eine zögerliche Nina und ein vor Erschöpfung keuchender Lelouch zu dem Rest der Gruppe aufgeschlossen hatten, dann fügte sie hinzu: „Der ideale Platz für unser Picknick!“ Lelouch hatte die Hände auf die Knie gestützt und japste vor sich hin. Sobald er jedoch wieder genug Luft eingeatmet hatte, damit ein Teil des sich darin befindlichen Sauerstoffs auch sein Gehirn erreichte, sah er mit einem verständnislosen Blinzeln zu der blonden Schülerratspräsidentin auf. „Picknick?“, fragte er und war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass er sich anhörte, als würde er jeden Moment endgültig den Geist aufgeben. Milly grinste ihn an. „Natürlich! Oder dachtest du, wir würden Kallen stundenlang durch die Gegend schleppen?“ Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte sie sich dem rothaarigen Mädchen zu. „Tut mir leid, dass es so weit war.“ Kallen, die sich bis dahin umgesehen hatte, riss den Blick von dem los, was auch immer bis dahin ihre Aufmerksamkeit gefesselt gehabt hatte, und lächelte zurück. „Das macht nichts“, sagte sie und ließ abermals den Blick schweifen. „Es ist wunderschön.“ Zunächst wusste Lelouch nicht, was sie meinte – er war zu sehr damit beschäftigt, ärgerlichen Blicks und noch immer über seine Knie gebeugt Millys Rücken zu fixieren -, aber dann richtete er sich auf und erkannte, dass sich der Pfad, dem sie bis dahin gefolgt waren, in einer weiten Wiese verlief. Bunte Blumen, die Lelouch teilweise noch nie zuvor gesehen hatte, blühten darauf, und vereinzelte schlanke Bäume wiegten sich im Wind. Das Eindrucksvollste jedoch war der See, der nicht weit von ihnen seinen Anfang hatte und sich über nicht mehr als einen Sechstel der grasigen Fläche erstreckte. Steine verschiedener Größen zierten sein Ufer und ließen ihn ein bisschen wie einen sorgfältig angelegten, aber zu groß geratenen und mit der Zeit verwilderten Gartenteich wirken, und teilweise wurde er von einem imposanten Baum fortgeschrittenen Alters überschattet. Als sie näher kamen, erkannte Lelouch außerdem, dass das Wasser darin beinahe so klar war wie das eines abgelegenen Gebirgsees, sodass es umso bemerkenswerter in der Sonne glitzerte. Hier und da kräuselte sich die ansonsten glatte Wasseroberfläche, und Lelouch rechnete fast damit, einen Zierkarpfen darunter zu erkennen – aber das Einzige, was er zu sehen bekam, war eine schlammgraue Schwanzflosse von etwas, das einen Herzschlag später auch schon wieder verschwunden war. Genau wie seine Begleiter verfiel er für einige Augenblicke in ein andächtiges Schweigen. Er hatte nicht gewusst, dass es keine Stunde von der Ashford-Akadamie entfernt einen solchen Ort gab. Die Gegend erinnerte ihn ein bisschen an das Ziel des Ausritts, den er in seiner Zeit als Dämonenkönig gemeinsam mit seinem besten Freund und ersten Ritter unternommen hatte, und nicht zum ersten Mal seit damals wurde ihm bewusst, wie sehr Suzaku ihm fehlte. „Woah“, durchschnitt Rivalz Ausruf die Stille, und der Bann war gebrochen. „Es ist wirklich wunderschön“, murmelte Shirley und machte ein paar Schritte am Seeufer entlang, ohne den Blick dabei von der Wasseroberfläche abzuwenden. „Nicht wahr?“ Lelouch brauchte sich nicht erst zu Milly umzudrehen, um zu wissen, dass sie ein vergnügtes Grinsen im Gesicht hatte. „Ich bin erst vor kurzem darauf gestoßen. Eigentlich wollte ich noch eine Weile warten, bevor ich euch hierher bringe, aber dann hat die Sache mit dem Schwimmbad nicht geklappt und ich dachte mir: ‚Weshalb eigentlich nicht?’“ „Hast du das alles selbst hergebracht?“, fragte Rivalz staunend. Lelouch sah zu ihm hinüber und erkannte, dass er unterhalb des großen Baumes stand, dessen Wurzeln bis tief ins Wasser hinein ragten. Im Gras zu seinen Füßen standen mehrere Plastikbehälter, zwischen denen große Stoffstücke lagen, von denen Lelouch annahm, dass es sich bei ihnen um zusammengerollte Wolldecken handelte. „Mhm!“, gab Milly zurück und gesellte sich mit einem breiten Lächeln zu ihm. „Mir war langweilig, und es hat Spaß gemacht.“ Sie beugte sich hinunter und hob eine der Decken auf. „Helft ihr mir?“ Wenig später saßen sie alle dicht beieinander und ließen sich das mitgebrachte Essen schmecken, das hauptsächlich von Milly, aber auch teilweise von Shirley, Kallen, Nina und Nanali stammte. Wie sich herausstellte, hatte seine kleine Schwester von Anfang an gewusst, dass dieser Ausflug keineswegs eine reine Wanderung war, aber genau wie alle anderen darauf verzichtet, Lelouch über diesen Umstand aufzuklären. Nun saß sie mit Nina, Rivalz und der Vorsitzenden des Schülerrats zusammen auf einer Picknickdecke und hörte Letzterer aufmerksam dabei zu, wie sie ihr jedes noch so kleine Detail der Umgebung beschrieb. Indessen versuchte Shirley lebhaft, ihn und Kallen in eine Unterhaltung zu verwickeln, aber ihr Erfolg hielt sich in Grenzen, sodass sie sich beinahe den Mund fusselig redete, während Kallen bestenfalls halb so viel zu der holprigen Konversation beitrug und Lelouch nichts weiter tat, als hin und wieder eine direkte Frage zu beantworten, während er vorgab, gedankenverloren den See zu betrachten, anstatt Nanali zu beobachten. Shirley war nicht sehr erfreut über seinen mangelnden Enthusiasmus, und als ihr Gespräch mit Kallen schließlich nicht länger einseitiger Natur war, gab sie es recht schnell auf, ihn mit einbeziehen zu wollen. Lelouch verbiss sich ein Schmunzeln, als sie ihm noch einen letzten ärgerlichen Blick zuwarf und sich dann demonstrativ etwas von ihm wegdrehte. Irgendwie schien er ein Talent dafür zu haben, selbst die gesprächigsten Leute so sehr zu frustrieren, dass sie sich irgendwann weigerten, auch nur noch ein Wort mit ihm zu wechseln – außer vielleicht Milly, aber selbst er wagte es nicht, sein Glück herauszufordern, indem er es riskierte, die Schülerratspräsidentin gegen sich aufzubringen. Er blieb noch eine Weile bei den beiden Mädchen sitzen, während sie erst über die Schule und das Wetter und schließlich über Süßspeisen plauderten, dann entschuldigte er sich und stand auf. Shirley war nicht sehr begeistert davon, dass er sich einfach so aus dem Staub machte, aber mit ein paar reuevollen Worten und einem einnehmenden Lächeln schaffte er es, sie so sehr zu beschwichtigen, dass er mit einem kleinen Tadel davonkam. Noch immer lächelnd erwiderte er Kallens höfliches Nicken und wandte sich ab. Es war seltsam, dachte er, während er sich ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen in Bewegung setzte, wie surreal die Welt ihm mit einem Mal wieder erschien, wo er dieses Gefühl doch in den letzten Tagen beinahe vollkommen hatte abschütteln können. Vielleicht lag es daran, dass er so viel Zeit mit Clovis verbracht hatte. Denn auch wenn er im Grunde wusste, dass sein Halbbruder in einem anderen Leben zu diesem Zeitpunkt längst tot gewesen war, hatte Lelouch sich erstaunlich schnell daran gewöhnt, ihn um sich zu haben. Er vermutete, dass es daran lag, dass er in Clovis’ Gegenwart bis vor kurzem immer zu sehr auf der Hut gewesen war, um viel über solche Dinge nachzudenken, und dass es sicherlich auch nicht schadete, dass sein Bruder ihm durch seine nervtötende Art wenig Zeit für tiefsinnige Grübeleien ließ. Unter solchen Umständen war es erstaunlich leicht, zu vergessen, dass er Clovis einst mit eigenen Händen eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende geformt, frischte plötzlich der Wind auf, und trotz der sommerlichen Temperaturen musste Lelouch frösteln. Unwillkürlich verschränkte er die Arme vor der Brust, um der leichten Brise mit Körperwärme entgegenzuwirken. Dabei fiel sein Blick auf das andere Ufer des Sees, den er inzwischen zur Hälfte umrundet hatte, und ein Lächeln schlich sich auf seine Züge. Zu sehen, wie Nanali sich so unbeschwert mit Milly und Rivalz unterhielt, gab ihm das Gefühl, dass er das Richtige tat. Dass er die Welt verändern konnte – verändern musste -, ohne wieder Tausende und Abertausende dafür ins Unglück zu stürzen. Er mochte diese zweite Chance nicht verdienen, aber Nanali und der Rest der Welt schon, und es wäre niemandem geholfen, wenn er sich von seinen Schuldgefühlen leiten ließe. Mit einem Schmunzeln dachte er daran zurück, wie er diesen Fehler beinahe gemacht hätte, nachdem das Zero Requiem nicht wie geplant mit seinem Tod eingeleitet worden war, und im Gegenzug von einer gewissen unsterblichen Hexe die Leviten gelesen bekommen hatte. Manchmal fragte er sich wirklich, was er tun würde, wenn sich nicht immer irgendjemand finden würde, der ihn zurückholte, wenn er einmal wieder vom rechten Weg abgekommen war. Wenn er allerdings nicht aufpasste, würde er das dieses Mal womöglich sogar herausfinden – außer C.C. gab es zurzeit niemanden, der genug über ihn und seine Ziele wusste, damit Lelouch sich vollkommen auf ihn verlassen konnte, und die Graue Hexe kam und ging, wie es ihr passte. Nicht zu vergessen, dass das hier eine einmalige Chance war. Ein falscher Schritt, und das Schicksal der gesamten Welt wäre ebenso unwiderruflich besiegelt wie sein eigenes. „Manchmal frage ich mich wirklich, was du denkst.“ Lelouch fuhr herum und starrte Milly an, die wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war. Er hatte keine Ahnung, wie lange er regungslos dagestanden und auf See hinausgeblickt hatte, aber offenbar hatte er sich tiefer in Gedanken befunden, als ihm bewusst gewesen war. Er blinzelte. „Was?“ Milly schüttelte den Kopf. „Schon gut“, winkte sie ab und trat neben ihn. „Was machst du hier so lange?“ „So lange?“, wiederholte Lelouch. „Na ja, du stehst hier jetzt bestimmt schon seit zwanzig Minuten.“ „Tatsächlich?“ Verdutzt drehte er sich wieder zu dem kleinen Gewässer um, das er die ganze Zeit über betrachtet hatte, und sah hinüber zu Nanali und den anderen. Inzwischen war der Schülerrat noch dichter zusammengerückt, und Rivalz war dazu übergegangen, auf Kallen einzureden, während seine kleine Schwester sich mit Shirley unterhielt. Lelouch blinzelte, als er bemerkte, dass Nina nur ein kleines Stück weiter hinten auf den sich an den Enden berührenden Decken saß als die Übrigen, ein Laptop auf dem Schoß und eifrig damit beschäftigt, irgendetwas darauf zu tippen. Hatte sie überhaupt einen Rucksack bei sich gehabt? „Alle scheinen sich zu amüsieren“, bemerkte Milly, die offenbar seinem Blick gefolgt war. Aus dem Augenwinkel sah Lelouch, dass ein versonnenes Lächeln ihre Mundwinkel umspielte. „Ich hatte schon befürchtet, dass sie sich vielleicht langweilen würden.“ „Weshalb das?“ Milly zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie grinsend. „Es ist schön hier, aber nicht unbedingt aufregend. Ich schätze, deshalb war ich mir nicht sicher, ob dieser Ort wirklich so ein gutes Ausflugsziel abgeben würde.“ Lelouch musste zugeben, dass ihn dieses unerwartete Bekenntnis etwas verwunderte. Milly war nie der Typ gewesen, sich den Kopf über solche Kleinigkeiten zu zerbrechen… oder vielleicht doch? Es war ihm unangenehm, aber er wusste es nicht. „Es ist… nett“, sagte er daher nach kurzem Schweigen. Und bereute seine Worte, als sich prompt ein Arm um seine Schultern legte und Milly ihn so fest an sich drückte, dass er zu röcheln begann. „Aw, Lulu!“, rief sie mit einem vergnügten Grinsen aus. „Wie immer ein echter Gentleman!“ Sie klopfte ihm so kräftig auf den Rücken, dass er husten musste, und ließ dann mit einem flüchtigen Kichern wieder von ihm ab. „Man tut, was man kann“, gab er trocken zurück, sobald er wieder mehr als ein Krächzen hervorbrachte. „Aber Lelouch“, sagte Milly plötzlich in einem merkwürdig sanften Tonfall, der sie ungewohnt ernst klingen ließ. Perplex sah Lelouch sie an. „Hm?“ „Ich weiß, dass du deine Probleme lieber für dich behältst, aber… wenn dich irgendetwas bedrückt, kannst du es mir jederzeit sagen, ja?“ Sie lächelte leicht, und mit einem Mal schien es Lelouch, als hätte sich die ausgelassene Stimmung von zuvor innerhalb weniger Herzschläge verflüchtigt, nur um von einer seltsam beklemmenden Atmosphäre abgelöst zu werden, die ihm die Kehle zuschnürte. „Manchmal ist es besser, wenn man mit jemandem redet“, fuhr sein Gegenüber fort. Doch gerade, als ihm die Situation wirklich unangenehm zu werden begann, verwandelte Millys verstörend verständnisvolles Lächeln sich plötzlich in ein neckisches Grinsen. „Nicht, dass du Manns genug wärst, um den Mund aufzukriegen, wenn tatsächlich etwas nicht in Ordnung wäre.“ Sie versetzte ihm einen spielerischen Klaps auf die Schulter. „Ich gehe dann zurück zu den anderen. Denk nicht so viel nach, ja? Wir warten mit den Snacks auf dich.“ Lelouch sah ihr nach, während sie sich wieder zum Rest des Schülerrats gesellte, und schüttelte den Kopf. Erst C.C., dann Clovis und jetzt auch noch Milly? Sah er wirklich so aus, als hätte er einen persönlichen Therapeuten derart nötig? Er warf noch einen letzten Blick auf die im Sonnenlicht glitzernde Wasseroberfläche, dann wandte er sich um und folgte dem lebhaften blonden Mädchen, das sich darauf verstand, ihn immer wieder aufs Neue zu überraschen. Vielleicht machte er sich wirklich zu viele Gedanken. _______________ *winks* Dieses Mal hat es ein bisschen länger gedauert als üblich - aber RL ist nun mal eine schlechte Angewohnheit, die zuweilen recht lästig werden und einem nur allzu leicht in die Pläne pfuschen kann. Und dann hatte ich auch noch plötzlich das Verlangen, nebenbei eine weitere Fanfic anzufangen... allerdings werde ich mich jetzt hoffentlich wieder mehr auf diese hier konzentrieren; schließlich steckt mein neustes Projekt noch in den Kinderschuhen und ist noch nicht einmal hochgeladen, weil mich die zwei verschiedene Clovis-Varianten auf Dauer verwirren könnten. Wie jedes Mal habe ich mich sehr über die Kommentare gefreut. Es ist gut zu wissen, dass der Humor in dieser Fanfic gut ankommt. Schließlich soll er die Sache auflockern, ohne dabei die Handlung zu beeinträchtigen, und da habe ich immer ein bisschen Angst, die Grenze zu übersehen. Allerdings glaube ich, dass Clovis würde grundsätzlich immer den kürzeren ziehen, würde man ihn irgendwo mit C.C. einsperren. xD Oh, und dass Lelouch meint, "diese Dinge" schon mal irgendwo erwähnt gehört zu haben, ist eine Anspielung auf das Sound-Drama, in dem Suzaku ein Haar von C.C. in Lelouchs Zimmer findet und ihm praktisch auf die Schulter klopft, während Lelouch keine Ahnung hat, wovon sein Freund da redet. xD Überhaupt werde ich wohl einige Anspielung auf die Sound-Dramen machen, alleine schon, weil man in Stage 0.884 so viel über Clovis erfährt. Aber wie dem auch sei... Im nächsten Kapitel sehen wir Reflexionen, alte Freunde und chronischen Masochismus! Und ich kann jetzt schon einmal verraten, dass es sich stark an die entsprechende Episode anlehnen wird und dass ich mich darin sehr auf die Dinge konzentriere, die "zwischen den Zeilen stehen" - auch wenn es natürlich auch hier wieder Abweichungen geben wird. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)