Code Geass: Messing with Time von Shin-no-Noir (Und weil es so schön war, gleich noch mal...) ================================================================================ Kapitel 9: Von unschlüssigen Brüdern ------------------------------------ Clovis hörte Lelouchs Fall mehr, als dass er ihn sah. Obwohl er seinen Bruder die ganze Zeit über aus dem Augenwinkel hatte sehen können, hatte er nicht großartig auf ihn geachtet, während er in Gedanken noch einmal in umgekehrter Reihenfolge die Partien durchgegangen war, die sie im Laufe des Tages gegeneinander gespielt hatten. Ohne auch nur für eine einzige Sekunde von dem kleinen Schachbrett aufzusehen, das er so eindringlich fixierte, als wollte er nur mit Hilfe seines finsteren Blicks ein Loch in es hinein brennen, hatte er die Fehler in seinen Zügen gesucht, lautlose Verwünschungen ausgestoßen und sich ganz allgemein über die unleugbare Vollkommenheit seiner Niederlage geärgert. In anderen Worten: Er hatte geschmollt. Allerdings hätte er das niemals zugegeben, und wäre irgendjemand auf die Idee gekommen, ihm unverblümt ein derartig infantiles Verhalten zu unterstellen, dann hätte er dieser anmaßenden Person strengstens untersagt, ihm jemals wieder unter die Augen zu treten. Clovis la Britannia schmollte nicht – er grübelte. Und wenn er sich das oft genug sagte, dann würde er auch irgendwann anfangen, es selbst zu glauben. Unglücklicherweise hatte diese Art der Selbsttäuschung jedoch einen entscheidenden Nachteil: Bis sie tatsächlich Wirkung zu zeigen begann, mussten immer erst einmal ein paar Minuten, manchmal sogar ganze Stunden verstrichen sein. Und als ein dumpfes Geräusch ihn jäh aus seinen Gedanken riss, war Clovis noch lange nicht so überzeugt von dem Inhalt seines Mantras, wie er es gerne gewesen wäre. Ein Umstand, der ausgesprochen ärgerlich war – denn nichts hasste der Dritte Prinz des Heiligen Britischen Reiches mehr, als an seinen eigenen Lügen zu zweifeln. Wie sich allerdings herausstellte, brauchte er das dieses Mal auch gar nicht. Als er nämlich den Kopf hob, um der Ursache für die plötzliche Störung einen tödlichen Blick zuzuwerfen, und erkannte, worum es sich bei der Quelle seines Unmuts handelte, waren das Schachspiel und sein daraus resultierender Verdruss vergessen, und Clovis war aufgesprungen, ohne es überhaupt zu bemerken. Anschließend dauerte es eine ganze Weile, bis er sich dessen Gewahr wurde, und noch länger, bis es ihm dann auch noch gelang, den Kloß hinunterzuschlucken, der in der Zwischenzeit in seinem Hals Gestalt angenommen hatte. Letzten Endes aber fand er seine Stimme wieder. „Lelouch?“, fragte er vorsichtig. Aber Lelouch antwortete nicht. Er zuckte nicht einmal mit dem kleinen Finger oder drehte den Kopf oder gab sonst irgendein Lebenszeichen von sich. Clovis starrte auf seinen jüngeren Bruder, der so vollkommen unbewegt im Türrahmen lag wie eine Leiche, bei der bereits die Totenstarre eingetreten war, und fühlte eine absurde Panik in sich aufsteigen. Er erstickte sie im Keim und machte einen unsicheren Schritt nach vorne. „Lelouch?“, versuchte er es noch einmal. Der Erfolg jedoch blieb derselbe. ~ Zunächst näherte Clovis sich seinem Bruder nur so zaghaft, als könnte dieser sich jeden Moment in eine wilde Bestie mit Klauen und Reißzähnen und einer besonderen Vorliebe für Menschenfleisch verwandeln, aber schließlich überwand er seine anfängliche Zurückhaltung und ehe er sich versah, kniete er auch schon neben ihm auf dem Boden. Anschließend zögerte Clovis abermals, aber nicht lange - dann griff er nach Lelouchs Handgelenk und wartete. Einen schrecklichen Moment lang spürte er nichts. Vollkommen regungslos saß er da, hielt den Atem an und tastete blind mit den Fingern umher, weil er nun einmal ein egozentrischer Prinz und kein ausgebildeter Arzt war und folglich nur eine recht vage Ahnung davon hatte, wie die Hauptschlagader eines anderen Menschen verlief. Aber letzten Endes war die richtige Stelle nicht schwer zu finden, und Clovis hätte vor Erleichterung beinahe laut aufgeseufzt, als er nach mehreren schrecklichen Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, doch noch einen deutlichen Puls fühlte. Erst dann fiel ihm auf, dass die Haut seines Bruders trotz ihrer unverkennbaren Blässe keineswegs so kalt wie die eines Toten, sondern erstaunlich warm war. Er fragte sich, ob Lelouch schon den ganzen Tag über so aschfahl gewesen war, dass man automatisch erwartete, er würde sich anfühlen wie eine erkaltete Leiche, wenn man ihn berührte, musste aber zugeben, dass er nicht darauf geachtet hatte. Die Haut des jüngeren Prinzen war noch nie sonderlich dunkel gewesen und wenngleich es sicherlich einen Unterschied zwischen „totenbleich“ und einem Musterbeispiel für aristokratische Blässe gab, musste man schon etwas genauer hinsehen, um ihn zu bemerken. Mit einem lautlosen Seufzer der Erleichterung ließ Clovis das Handgelenk seines Bruders wieder los, und erst dabei wurde er sich der Schusswaffe bewusst, die Lelouch noch immer umklammert hielt. Er starrte sie an und fragte sich, ob es das war, wovor sein Bruder Angst hatte – dass er einen Moment lang nicht aufpasste und angreifbar war, und dass Clovis die Gelegenheit nutzen würde, um ihn zu überwältigen und so schnell wie nur irgend möglich nach Britannien zurückzukehren. War er ein Teil von Lelouchs undurchschaubaren Plänen, den zu verlieren sein Bruder sich nicht leisten konnte, oder fürchtete Lelouch einfach nur, dass sein Überleben bekannt werden könnte? Clovis verstand nicht, was so schlimm daran sein sollte, wenn Euphie und Cornelia davon erfuhren, dass die Nachricht vom Tod ihrer Halbgeschwister nur ein dummer Irrtum gewesen war, aber selbst für ihn war offensichtlich, dass sein Bruder keinen Wert darauf legte, gefunden zu werden. Clovis besaß keine Kenntnis darüber, was genau vor oder während der Japan-Invasion vorgefallen war, das solche Abscheu in Lelouch hervorgerufen hatte, dass dieser seinem Heimatland so endgültig den Rücken gekehrt hatte, aber es musste etwas Entsetzliches gewesen sein, wenn er der Überzeugung war, dass selbst Nanali in der Rolle einer gewöhnliche Bürgerin im noch längst nicht befriedeten Gebiet Elf besser aufgehoben war als am Ort ihrer Geburt, wo sie das Leben einer wohlbehüteten Prinzessin führen könnte. Denn wenn es etwas gab, das Clovis auch nach all diesen Jahren noch immer mit absoluter Sicherheit über seinen jüngeren Bruder zu wissen glaubte, dann war das, dass er bei allem, was er tat, immer zuerst an seine kleine Schwester dachte. Noch vor wenigen Stunden mochte Clovis Lelouch unterstellt haben, sich ohne Rücksicht auf Verluste von seiner Langeweile zu halsbrecherischen Aktionen hinreißen zu lassen, aber auch wenn er tatsächlich verwirrt von dem widersprüchlichen Verhalten seines Bruders war, so wusste er im Grunde doch, dass Lelouch zumindest Nanali niemals leichtfertig in Gefahr bringen würde – genauso wenig, wie Cornelia auf die Idee käme, Euphemia aus einer simplen Laune heraus mit sich auf ein Schlachtfeld zu nehmen. Und als Clovis sich der vollen Tragweite dieser Erkenntnis bewusst wurde, erkannte er auch, dass er sich in einer Zwickmühle befand. Das hier war eine einmalige Gelegenheit. Er könnte aufstehen und gehen, kurzerhand einen der wenigen seiner ehemaligen Untergebenen aufsuchen, denen er in dieser Sache wahrscheinlich vertrauen konnte – und sei es auch nur, weil sie sich eine Belohnung erhofften – und nach Britannien zurückkehren. Sein Vater würde ihn nicht mit offenen Armen empfangen, da machte er sich nicht vor, aber wenn er es richtig anstellte, könnte er es vielleicht tatsächlich vermeiden, enterbt zu werden. Wenn er eine Truppe von Ärzten zu Lelouch schickte und dafür sorgte, dass er und Nanali sicher zurück nach Hause gebracht wurden, war es gut möglich, dass der Kaiser über Clovis’ Versagen als Regent hinwegsehen und ihn weitgehend unbehelligt zu seiner Mutter zurückschicken würde. Lelouch und Nanali würden das Leben führen, das ihnen als Mitgliedern des Königshauses zustand, und Clovis könnte sich wieder ganz seinen Bildern widmen. Er hatte ohnehin niemals Gefallen an den ermüdenden Ränkespielen der Politik gefunden, und seine Mutter würde sich sicherlich über seine Gesellschaft freuen. Es war verlockend – so verlockend, dass Clovis am liebsten sofort zur Tür geeilt und auf dem schnellsten Weg nach Hause zurückgekehrt wäre, anstatt sich erst noch den Kopf über mögliche Konsequenzen zu zerbrechen -, aber es wäre noch um einiges reizvoller gewesen, wenn er sich sicher gewesen wäre, dass Lelouch nur von einem fehlgeleiteten Zorn über den Tod seiner Mutter angetrieben wurde, und dass er das einsehen würde, sobald er erkannte, dass er und Nanali es bei ihrer Familie trotz allem besser haben würden als hier – auf sich alleine gestellt in einem erst vor noch nicht allzu langer Zeit besetzten Gebiet, in dem es nur so von Aufwieglern und Terroristen wimmelte. An einem Ort, wo sie untertauchen und für den Rest ihres Lebens so tun müssten, als wären sie nichts weiter als zwei ganz gewöhnliche Bürger. Clovis konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb Lelouch es ihm dauerhaft verübeln sollte, wenn er ihm dabei half, wieder seinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, aber irgendetwas sagte ihm, dass sein Bruder trotz allem genau das tun würde. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun sollte. Wie könnte er eine solche Entscheidung treffen, ohne alle Fakten zu kennen? Wie sollte er unter diesen Umständen einen Entschluss fassen, von dem nicht nur seine eigene Zukunft, sondern auch die zweier seiner Geschwister abhing? Aber das musste er, und da er sich bei einer Angelegenheit von derartiger Wichtigkeit nicht auf Spekulationen verlassen würde, beschloss Clovis, sich bei seinem Urteil am schlimmstmöglichen Fall zu orientieren. Wenn er blieb, bestand die Gefahr, dass Lelouch bei irgendeinem großartigen Plan, der entweder dazu diente, den Tod seiner Mutter zu rächen oder seiner Langeweile zu entfliehen, ums Leben kam. Wenn Clovis aber ging und Lelouchs Überleben bekannt werden ließ, mochten er und Nanali in Britannien vielleicht fern von allen nur erdenklichen Bedrohungen sein, aber dafür würde Clovis damit rechnen müssen, dass sein Bruder das als Verrat werten und ihn bis in alle Ewigkeit hassen würde. Es widerstrebte ihm, es sich einzugestehen, aber zu seiner Schande brauchte Clovis keine zwei Sekunden, um sich zu überlegen, womit er besser leben könnte. Anschließend fiel ihm die Entscheidung nahezu lächerlich leicht. Entschlossen streckte er die Hand nach der Pistole aus, und als Lelouch noch immer keine Reaktion zeigte, entwand er sie behutsam seinem ohnehin nicht festen Griff. Sobald er die Waffe an sich genommen und neben sich auf den Boden platziert hatte, verharrte Clovis noch ein letztes Mal ratlos an Ort und Stelle. Obwohl er nicht glaubte, dass Lelouch in Lebensgefahr schwebte, war ihm der unveränderte Zustand seines Bruders nicht ganz geheuer. War es Schlafmangel, der Lelouchs plötzliche Ohnmacht hervorgerufen hatte? Eine plötzliche Kreislaufschwäche? Oder war es doch etwas, was die umgehende Aufmerksamkeit eines Arztes erforderte, sodass seine Grübeleien von vorneherein überflüssig gewesen waren und nichts weiter getan hatten, als wertvolle Zeit zu stehlen? Clovis zögerte. Dann, einem plötzlichen Impuls folgend, legte er eine Hand auf Lelouchs Stirn – und erhielt prompt die Antwort, nach der er gesucht hatte. Es bedurfte keiner medizinischen Ausbildung, um sagen zu können, dass Lelouch geradezu glühte. ~ Seinen Bruder auf das Sofa zu bekommen, war alles andere als ein Zuckerschlecken, und als es Clovis endlich gelungen war, musste er erst einmal eine kurze Verschnaufpause einlegen. Er mochte sportlicher sein als Lelouch, aber das war auch keine große Kunst. Hätten sie beide indessen gemeinsam an einem Ausdauerlauf teilgenommen, wäre Clovis mit Sicherheit keine drei Minuten nach seinem Bruder auf der Strecke geblieben. Also hockte er sich neben die Couch und beobachtete geistesabwesend, wie Lelouchs Brustkorb sich träge hob und senkte. Das Atmen fiel ihm offensichtlich nicht leicht, aber obwohl der jüngere Prinz den Mund nur leicht geöffnet hatte, schien er ausreichend Luft zu bekommen, und Clovis vermutete, dass das ein gutes Zeichen war. Dennoch fand er es ein wenig beunruhigend, Lelouch so zu sehen. Beinahe alles, was Clovis in den letzten Tagen von seinem lange verschollenen Bruder zu Gesicht bekommen hatte, waren kühle Selbstbeherrschung, unverhohlener Unmut und manchmal eine augenscheinliche Gelassenheit, die jedoch nicht ganz zu dem wachsamen Ausdruck passen wollte, der regelmäßig in seine Augen trat. Und selbst in ihrer Kindheit, als Lelouch keine zehn Jahre alt gewesen und noch nicht auf so tragische Weise seiner Mutter beraubt worden war, war er zumindest in Abwesenheit seiner beiden Lieblingsschwestern immer anders gewesen. Zu nachdenklich, zu ernst, zu sehr auf der Hut. Vielleicht lag es daran, dass die meisten Leute bei Hofe in ihrer Kurzsichtigkeit auf Marianne vi Britannias bürgerliche Wurzeln und damit auch auf ihren Sohn herabgeblickt hatten, oder es hing damit zusammen, dass Lelouch schon immer zu stolz und zu klug für sein Alter gewesen war, aber Clovis konnte sich nicht erinnern, seinen kleinen Bruder jemals mit seinem so friedlichen Gesichtsausdruck gesehen zu haben. Er wirkte so schwach, so verletzlich, so vollkommen harmlos, dass es beinahe unheimlich war. Und während Clovis so dasaß und darüber staunte, dass Lelouch trotz allem nur ein siebzehnjähriger Junge war, der genauso anfällig für Grippen und Erkältungen und Kopfschmerzen war wie der Rest der Menschheit auch, fiel ihm noch etwas anderes auf: Dass es ihm in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal gelungen war, Lelouch wirklich zum Lachen zu bringen. Wenn man bedachte, dass das noch keinen halben Tag her war und er in seiner späten Kindheit wahrscheinlich mehr Zeit mit Lelouch als mit irgendeinem anderen Familienmitglied verbracht hatte – seine eigene Mutter einmal ausgenommen -, war das eine erschreckend traurige Bilanz. Spontan setzte Clovis es sich zum Ziel, es auch noch ein zweites und ein drittes und vielleicht sogar ein viertes Mal zu schaffen. Das wäre sicherlich nicht ganz so befriedigend wie eine gewonnene Partie Schach, aber immerhin besser als nichts. Und in jedem Fall würde es eine weitere Herausforderung sein, die zu meistern zwar alles andere als leicht, aber durchaus nicht unmöglich sein würde. Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, hob Clovis in einer instinktiven Geste den Arm, um Lelouch eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Vielleicht, kam es ihm dabei in den Sinn, war es das, was Cornelia fühlte, wenn sie Euphemia ansah, und was Lelouch Nanali gegenüber empfand. Niemals würde Clovis es sich anmaßen zu behaupten, dass seine Gefühle ähnlich stark oder selbstlos oder bedeutsam wären; aber als er in diesem Moment auf Lelouchs schlafendes Gesicht herabschaute, verspürte er denselben seltsamen Beschützerinstinkt, der ihn genauso wie die meisten anderen Leute für gewöhnlich immer dann überkam, wenn Euphie in der Nähe war. Der Unterschied allerdings war, dass Euphie ihn nicht brauchte - sie hatte Cornelia, die ihre Sicherheit garantierte. Und überhaupt, dachte Clovis mit einem leichten Schmunzeln, gab es inzwischen vermutlich reihenweise Männer, die sich für seine kleine Schwester jederzeit bereitwillig in ein Schwert stürzen würden. Lelouch dagegen… Lelouch war ein brillanter Stratege, der schon als Kind vernünftiger gewesen war als so mancher erwachsener Mann. Er war selbstständig, scharfsinnig und unter normalen Umständen durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Clovis wusste, dass es reine Arroganz gewesen wäre, zu glauben, dass sein kleiner Bruder auf seine Hilfe angewiesen war; und dennoch war er sich sicher, dass er sie nötiger hatte als irgendjemand anderes von seinen Geschwistern - selbst Euphie. Es war mehr als ironisch: Es war vollkommen absurd. Aber das änderte nichts daran, dass es die Wahrheit war. Clovis zog die Hand von Lelouchs viel zu warmer Stirn zurück und seufzte. Wenn er jetzt nur noch dahinter kommen würde, was sein Bruder vorhatte. Sich allerdings zum hundertsten Mal in einer einzigen Woche den Kopf darüber zu zerbrechen, wäre ganz und gar sinnlos. Nicht nur, dass ihm für eine verlässliche Schlussfolgerung wichtige Informationen fehlten, er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, wie sehr Lelouch sich in den letzten sieben Jahren verändert hatte. Denn selbst wenn sein Bruder es nicht irgendwie geschafft hätte, sich ein gestohlenes Experiment anzueignen und etliche Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen, gegen die selbst das größte Genie eigentlich nicht viel mehr hätte ausrichten können sollen als jeder durchschnittliche Terrorist auch, machte sein bloßes Auftreten ihn noch immer unergründlich. Wenn er ehrlich war, dann musste Clovis zugeben, dass der erste Eindruck, den Lelouch auf ihn gemacht hatte - gleich nachdem er bewaffnet und wie aus dem Nichts in seinen Gemächern aufgetaucht war und sich ihm zu erkennen gegeben hatte - kein sonderlich angenehmer gewesen war. In der Tat war Clovis sich am Ende ihrer Unterhaltung vollkommen sicher gewesen, dass er sterben würde - dass sein eigener Bruder ihn erschießen würde, ohne erst großartig darüber nachdenken zu müssen. Er hatte sich ausgemalt, wie das bleierne Geschoss sich erst in seine Stirn und dann in sein Gehirn bohren würde und es wunderte ihn noch immer, dass er vor Angst nicht ohnmächtig geworden war. Lelouchs Blick war so unbewegt gewesen, so kalt, dass er noch jetzt Schwierigkeiten hatte, ein Schaudern zu unterdrücken, wenn er daran dachte. Und irgendwo zwischen dem nackten Entsetzen, das ihn gepackt hatte, und der schieren Todesangst, die ihm um ein Haar den Verstand geraubt hätte, hatte für den Bruchteil einer Sekunde ein einziger zusammenhängender Gedanke Platz in seinem Kopf gefunden: Was war geschehen, das seinen sonderbaren, besserwisserischen, aber im Grunde liebenswerten kleinen Bruder so erbarmungslos, so gleichgültig, so unglaublich hasserfüllt hatte werden lassen? Wenn er nicht so sehr damit beschäftigt gewesen wäre, um sein Leben zu fürchten und in Panik zu verfallen, dann hätte Clovis diese Überlegung vermutlich weitergeführt und Vermutungen angestellt - etwas, das er inzwischen nachgeholt hatte. Allerdings war er bereits mehrmals gezwungen gewesen, seine Meinung zu revidieren. Denn abgesehen davon, dass es Nanali gut zu gehen schien (und Clovis war wirklich froh gewesen, das zu hören; ganz gleich, was sein Bruder von ihm denken mochte), verhielt Lelouch sich vollkommen widersprüchlich: An einem Tag wirkte er reserviert, kühl und gleichmütig, nur um am nächsten sichtlich aufgebracht und reizbar zu sein. Und dann, nur ein paar Minuten später, schlug seine Stimmung plötzlich wieder um und er war beinahe zuvorkommend. Und als wäre das allein nicht schon verwirrend genug gewesen, kam es auch noch regelmäßig vor, dass sein Bruder sich für einen kurzen Augenblick zu vergessen schien und Clovis einen flüchtigen Blick auf eine Seite an ihm erhaschte, die ihn beinahe noch unbefangener wirken ließ als den Lelouch aus seiner Kindheit. Es war unerklärlich, paradox und ungemein irritierend. Und ein Rätsel, das Clovis zu lösen gedachte. ~ Etwa eine Viertelstunde gestattete er es sich noch, sich neben tiefsinnigen Grübeleien auch der Nostalgie hinzugeben, aber schließlich sah Clovis ein, dass er zu keinen neuen Ergebnissen mehr kommen würde, und erhob sich. Mit einem letzten Blick auf seinen Bruder setzte er sich in Bewegung und machte sich bereit, mit den Konsequenzen seiner Entscheidung zu leben – was auch immer sie sein mochten. Als er den Raum schon zur Hälfte durchquert hatte, hielt er noch einmal inne. War es wirklich das Richtige, was er tat? Aber seine Zweifel waren ebenso kurzlebig wie belanglos. Er hatte eine Wahl getroffen, und ganz gleich, was das im äußersten Fall bedeuten könnte, er würde dabei bleiben. Der Umstand, dass sich an Lelouchs leblosem Zustand innerhalb von mindestens einer halben Stunde nichts geändert hatte, war zwar ein wenig beunruhigend, aber noch lange kein Grund, einen Rückzieher zu machen. Als Clovis wenige Sekunden später über die Türschwelle trat und das Zimmer verließ, das für die letzten paar Tage sein Gefängnis gewesen war, fragte er sich, ob er nicht vielleicht bloß nach einem Vorwand gesucht hatte, seinen selbstsüchtigen Entschluss noch einmal zu überdenken. _________ Ich muss zugeben, dass ich ein schlechtes Gewissen habe. Erst erlaube ich mir einen Cliffhanger, dann hält das überaus lästige RL mich davon ab, schnell weiter zu machen, und jetzt komme ich schon wieder mit einem Ende, das wohl ruhig ein wenig klarer hätte sein könnte. Aber es hätte schlimmer sein können - immerhin sind jetzt Ferien, was hoffentlich heißt, dass es bald weitergehen wird. Es hat wirklich sehr viel Spaß gemacht, mich eingehender damit zu beschäftigen, wie Lelouch wohl als Kind war, wie Clovis ihn gesehen haben wird und wo die wichtigsten Unterschiede in der Wahrnehmung der beiden liegen. Im Nachhinein wundert es mich allerdings etwas, dass Schneizel in diesem Kapitel kein einziges Mal erwähnt wird - aber obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass er und Clovis kein schlechtes Verhältnis zueinander hatten, ist es mir irgendwie unpassend erschienen, ihn im selben Zusammenhang wie Cornelia und Euphie zu erwähnen... also wird er sich bis zum nächstes Mal gedulden müssen. Wie immer habe ich mich über die Kommentare sehr gefreut und bedanke mich herzlich. Und ja, es stimmt, dass Clovis ziemlich häufig vorkommt; aber das ist durchaus beabsichtigt. Immerhin ist er einer der drei Hauptcharaktere und hat es dringend nötig, von mehr als nur einer Seite gezeigt zu werden. Das, was in meinem Kopf nicht ganz passend "Clovis-Arc" heißt, neigt sich allerdings bereits dem Ende zu; auch wenn das im Grunde nichts weiter heißt, als dass auch Suzaku bald ins Rampenlicht rücken wird, wenn alles nach Plan verläuft. Im nächsten Kapitel sehen wir aber erst einmal: Menschen, Pizza und... Hühner! Bis dahin hoffe ich allerdings erst mal, dass das Lesen Spaß gemacht hat, und freue mich wie üblich über Rückmeldungen - selbst, wenn sie mir so viel Angst machen wie die Vorstellung von Clovis als Gigolo. xD Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)