Code Geass: Messing with Time von Shin-no-Noir (Und weil es so schön war, gleich noch mal...) ================================================================================ Kapitel 8: Die folgenschwere Fehleinschätzung --------------------------------------------- Am nächsten Morgen wachte Lelouch früher auf als gewöhnlich, nur um festzustellen, dass die Kopfschmerzen, die ihn am Vorabend erneut zu plagen begonnen hatten, sich über Nacht keineswegs verflüchtigt hatten. Stattdessen war aus dem bohrenden Schmerz, der so plötzlich an die Stelle eines bis dahin nur gelegentlichen Stechens getreten war, nun ein dumpfer Druck geworden, der sich von innen heraus mit aller Macht gegen seine Schädeldecke zu richten schien und dafür sorgte, dass es Lelouch beinahe so vorkam, als wäre sein Kopf über Nacht zu schwer für seinen Hals geworden. Und als wäre das allein nicht schon unangenehm genug gewesen, fühlte er sich auch noch so benommen und kraftlos, dass selbst das Aufstehen ihm Schwierigkeiten bereitete. Ebenso kostete es Lelouch beträchtliche Mühe, auf der kurzen Strecke von seinem Bett bis zum Badezimmer auch nur die Augen offen zu halten, sodass er sich schon bald mit einem Anflug von Besorgnis fragte, ob er sich womöglich eine Erkältung eingefangen haben könnte. Genauso schnell jedoch kam er auch zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit dafür ausgesprochen gering war: Sein Immunsystem war schon immer überdurchschnittlich gut gewesen, und selbst wenn der ein oder andere Krankheitserreger sich in seinen Körper verirrt haben sollte, dürfte diese Angelegenheit sich binnen weniger Stunde ganz von selbst erledigen. So war es bisher jedes Mal gewesen, und es gab keinen Grund dafür, weshalb sich ausgerechnet jetzt etwas daran ändern sollte. Doch obschon Lelouch fest damit rechnete, dass sich sein plötzliches Unwohlsein im Laufe des Tages wieder legen würde, informierte er Sayako darüber, bevor er aus dem Haus ging – weil Vorsicht immer besser war als Nachsicht, und um nicht zu riskieren, dass er eine ahnungslose Nanali ansteckte. In der Schule erschien Lelouch allerdings trotzdem, wenngleich er wieder einmal den Großteil des Unterrichts verschlief und im Nachhinein nicht einmal hätte sagen können, in welchem Fach sie den Vertretungslehrer gehabt hatten, der ihm ohnehin nur deshalb aufgefallen war, weil der ältliche Mann versehentlich seine Aktentasche hatte fallen lassen und ihn dadurch pünktlich zum Ende der Stunde geweckt hatte. Daraufhin war Lelouch aufgestanden und hatte sich einen möglichst abgelegenen Platz am Fenster gesucht, um dem allgemeinen Lärm um ihn herum zu entgehen und sich von den durch die großen Glasscheiben eindringenden Sonnenstrahlen ein wenig aufwärmen zu lassen. Es mochte warm außerhalb des Schulgebäudes sein, aber wenn die Klimaanlage verrücktspielte, änderte ein bisschen gutes Wetter auch nicht viel an den frostigen Temperaturen, die in dem kleinen Klassenzimmer vorherrschten. Lelouch hatte sich vorgenommen, sich in der nächsten Pause persönlich um dieses überaus ärgerliche technische Problem zu kümmern, und dann erneut die Lider geschlossen. Anschließend hatte er gerade noch mitbekommen, wie die nächste Lehrkraft den Raum beteten hatte - dann war er auch schon wieder tief und fest eingeschlafen gewesen. Erst jetzt, eine ganze Weile später, war er ein zweites Mal wach geworden. Er gähnte lautlos und überlegte, ob es sich wohl lohnte, die Augen zu öffnen. War es etwa schon Pause? Aber dann bemerkte Lelouch, wie die Gespräche um ihn herum allmählich verebbten, und er erkannte, dass er soeben all seine unterrichtsfreie Zeit verschlafen hatte - also sparte er sich die Mühe. Schließlich stand nicht einmal ein Raumwechsel an. Er positionierte seinen Kopf noch rasch ein wenig anders und stützte das Kinn auf die Rückhand statt auf die Handfläche; dann konzentrierte er sich ganz darauf, erst dem allgemeinen Geraschel von Heften und Notizblöcken, die aufgeschlagen wurden, und dann der leidenschaftlichen Ansprache seiner Geschichtslehrerin keine Beachtung zu schenken. Zum ersten Mal seit langem war sein Schlaf erholsam anstelle von nervenaufreibend, und Lelouch wusste das zu schätzen. Als Milly ihn am frühen Nachmittag vor dem Schulgebäude abfing und wie üblich spontan zu einem ganzen Haufen von Extraarbeit verdonnern wollte, hielt sie mitten in ihrer Triade inne und musterte Lelouch von oben bis unten. Dabei kam sie ihm so nahe, dass ihre Köpfe sich beinahe berührten. „Du siehst nicht sehr gut aus“, stellte sie fest. „Ist dir schlecht?“ Noch bevor sie die Frage ganz gestellt hatte, legte sich auch schon ein unbeschwertes Lächeln auf Lelouchs Züge. „Nur ein bisschen schwindelig“, gab er wahrheitsgemäß zurück - wobei er zugeben musste, dass ‚ein bisschen’ in diesem Zusammenhang eher relativ war. „Es ist nichts Ernstes“, fügte er hinzu, als Milly ihn daraufhin nur noch eingehender betrachtete. Unbeirrt blieb die blonde Schülerratspräsidentin noch eine ganze Weile vor ihm stehen und taxierte ihn argwöhnisch, bevor sie endlich einen Schritt zurücktrat und ihm wieder etwas Raum zum Atmen ließ. „Wenn du meinst“, sagte sie. Lelouch wunderte sich schon darüber, wie schnell sie nachgegeben hatte, als sie plötzlich die Hände in die Hüften stemmte und ihn strengen Blickes fixierte. „Aber so lasse ich dich nicht arbeiten. Fehlt noch, dass du uns vom Stuhl kippst.“ „Oder auf die Unterlagen kotzt“, ergänzte Rivalz mit einem breiten Grinsen, als er völlig unvermittelt keine zwei Schritte hinter Milly auftauchte. Lelouch verzog leicht das Gesicht, bevor er sich wieder zu einem Lächeln zwang. „Es geht mir wirklich nicht so schlecht.“ Milly sah ihn noch einen Moment lang aufmerksam an, dann tippte sich nachdenklich ans Kinn und wandte sich zu Rivalz um. „Lulu schlägt eine Gelegenheit aus, sich vor seinen Pflichten zu drücken?“, wunderte sie sich. „Glaubst du, wir sollten Nanali Bescheid geben, damit sie ihn zwingt, sich sicherheitshalber mal von einem Arzt ansehen zu lassen?“ Lelouch schwieg zu diesem Thema, aber innerlich seufzte er über seinen dummen Fehler. Es waren nicht nur seine Kopferschmerzen, gestand er sich ein, sondern auch die Emotionen. Trotz der lästigen Arbeit, die seine Mitgliedschaft im Schülerrat schon seit jeher mit sich brachte, hätte er gerne etwas mehr Zeit mit seinen Freunden verbracht – schließlich wusste man nie, was die Zukunft bringen würde. Oder vielleicht doch, aber das war nur umso mehr Grund für Lelouch, das bisschen Freizeit, das ihm im Moment noch blieb, sinnvoll zu nutzen. Dennoch war sein Verhalten in diesem Augenblick uncharakteristisch unbedacht gewesen und er musste zugeben, dass ihn das ein wenig beunruhigte. Es war so lange her, dass er das letzte Mal krank gewesen war, dass er gar nicht mehr wusste, wie es war, auch nur eine verstopfte Nase zu haben - ganz zu schweigen davon, aufgrund irgendeiner dummen kleinen Unpässlichkeit nicht mehr klar denken zu können. Und das hier war definitiv der falsche Zeitpunkt, um spontan seine Erinnerungen aufzufrischen. Rivalz klopfte ihm auf die Schulter. „Du machst wirklich keinen sehr gesunden Eindruck, Kumpel“, sagte er – grinsend, aber mit einem unverkennbaren Anflug von Mitgefühl in der Stimme. „Geh besser nach Hause und überlass den Papierkram uns.“ Milly nickte zustimmend. Lelouch indessen war verdutzt. „Meint ihr nicht, dass ihr ein wenig übertreibt?“ Seine langjährige Freundin schüttelte den Kopf. „Husch“, sagte sie in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete, und machte eine scheuchende Handbewegung in seine Richtung. „Als Präsidentin des Schülerrats befehle ich dir, dich ausruhen zu gehen!“ Lelouch blinzelte. Es gab Leute, die brauchten ein Geass, damit andere das taten, was sie wollten – und es gab Leute, die hießen Milly Ashford. „Na los!“ Rivalz versetzte ihm einen leichten Stups mit dem Ellenbogen. Lelouch tat so, als hätte ihn das nicht beinahe sein Gleichgewicht gekostet, und stieß einen theatralischen Seufzer aus. „Na schön. Solange es nicht an mir hängen bleibt, wenn wir in Verzug geraten…“ Ein triumphierendes Grinsen erschien auf Millys Gesicht. „Mach dir darüber keine Sorgen“, gab sie gutgelaunt zurück, „und sieh lieber zu, dass du ins Bett kommst.“ Abermals seufzte Lelouch - dieses Mal allerdings ehrlich resigniert. „Zu Befehl, Kaichou.“ ~ Er hatte wirklich vorgehabt, sich erst einmal ein Weilchen hinzulegen und sich auszukurieren, bevor er wieder irgendetwas unternahm, aber als er das Klubhaus erreichte, in dem er und seine Schwester gemeinsam mit Sayako wohnten, fühlte Lelouch sich schon wieder wesentlich besser. Er kam zu dem Schluss, dass er wohl nur etwas frische Luft gebraucht hatte, und entschied, dass es sinnvoller wäre, den Tag möglichst schnell hinter sich zu bringen, damit er am Abend früher als üblich zu Bett gehen und auch noch die letzten Überbleibsel seiner Erkältung wegschlafen könnte. Sobald er sein Zimmer erreicht hatte, schloss er die Tür hinter sich und blickte sich um. C.C. war nirgendwo zu sehen, aber das wunderte ihn nicht. Seit sie sich in den Lauf der Zeit eingemischt hatte, war die Unsterbliche merklich verstimmt, und obwohl Lelouch sich gerne bei ihr für seine zweite Chance revanchiert hätte, indem er sie ein wenig aufheiterte, war ihm sehr wohl bewusst, dass das nicht so ohne weiteres funktionieren würde. Also ließ er sie so viel Pizza haben, wie sie wollte, und hoffte gegen besseres Wissen, dass die Dinge sich früher oder später von selbst wieder einrenken würden. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er auch wirklich alleine in dem kleinen Raum war und keine Gefahr lief, einen verfrühten Herzinfarkt zu erleiden, wenn plötzlich eine unsterbliche Hexe hinter ihm auftauchte und ihm auf die Schulter tippte, entledigte Lelouch sich seiner duchgeschwitzten Schuluniform. Er faltete sie ordentlich auf dem Bett zusammen, um Sayako die Arbeit zu erleichtern, und nahm noch rasch eine Dusche, bevor er schließlich in seine Alltagskleidung schlüpfte und ohne weitere Verzögerung wieder aufbrach. Es gab Angelegenheiten, die er dringend hinter sich bringen musste, wenn er seine Nerven noch eine Weile behalten wollte. ~ Technisch gesehen begann das Wochenende erst in etlichen Stunden, aber da es immer noch nicht ganz ausgeschlossen war, dass er die nächsten zwei Tage mit einer Erkältung im Bett verbringen würde, wollte Lelouch sich bereits im Voraus um die Schadensbegrenzung kümmern. Es gab viele Dinge, mit denen er sich in diesem Augenblick für ein bisschen Schlaf nur allzu bereitwillig abgefunden hätte - aber die Gewissheit, sich anschließend das Gejammer seines chronisch gelangweilten Halbbruders anhören zu müssen, war definitiv keines davon. Dementsprechend wäre es besser, Clovis vorzuwarnen und jetzt schon einmal ein bisschen zu unterhalten, damit er möglichst wenig Grund dazu hatte, sich zu beschweren, sollte es irgendeiner kleinen Viruserkrankung tatsächlich gelingen, Lelouch einen Strich durch die Rechnung zu machen und seine Pläne für die nächsten paar Tage durcheinander zu bringen. Sicher, es mochte umständlich und alles andere als reizvoll sein, Clovis bloß aufgrund einer solchen Eventualität einen spontanen Besuch abzustatten; aber falls er das Wochenende über wirklich verhindert sein würde, wäre ein einziger auf diese Weise geopferter Nachmittag es allemal wert, von den Alternativen verschont zu bleiben, die mit Sicherheit noch wesentlich nervenaufreibender wären. Das zumindest glaubte Lelouch. Bis er eine gute halbe Stunde später als beabsichtigt und vor Erschöpfung keuchend an seinem Ziel ankam und sein Bruder ihn mit den Worten begrüßte: „Zero? Ich glaube, das ist das mit Abstand Einfallsloseste, was ich jemals gehört habe.“ In diesem Augenblick hatte Lelouch große Lust, die Tür einfach wortlos wieder zuzuknallen und zurück nach Hause zu gehen. Und einen Moment lang war er durchaus versucht, auch genau das zu tun; aber dann sagte er sich, dass er sich selbst für alle Unannehmlichkeiten entschädigen und sich die nächsten Tage einfach nicht mehr bei seinem Bruder blicken lassen würde – ganz gleich, ob es ihm nun wieder besser ging oder nicht, und ungeachtet dessen, ob Clovis ihm damit für die nächste Dekade und darüber hinaus in den Ohren liegen würde. Mit diesem guten Vorsatz im Hinterkopf gelang es ihm schließlich, seinen Widerwillen zu überwinden und über die Türschwelle zu treten. „Ich erinnere mich nicht, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben“, bemerkte er betont gleichmütig und ließ sich seinem Bruder gegenüber an dem kleine Schachbrett nieder, mit dem dieser sich vermutlich in einem weiteren seiner vielen halbherzigen Versuche beschäftigt hatte, die Zeit totzuschlagen. Nun jedoch hatte Clovis ganz offenkundig jedes Interesse an den kleinen Figuren aus poliertem Holz verloren, und er beobachtete Lelouch mit der nachlässigen Aufmerksamkeit einer Katze, die zwar für den Augenblick mit sich und der Welt zufrieden ist, aber deshalb noch lange nicht vorhat, ihre nächste Mahlzeit auch nur für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen zu lassen. „Nein“, erwiderte er trocken, sobald Lelouch sich gesetzt hatte. „Ansonsten hätte ich dich darauf hingewiesen, dass es dir an schöpferischer Kreativität mangelt und dass du solche Dinge lieber einem Künstler überlassen solltest.“ Lelouch schnaubte. „Ich werde daran denken, wenn ich mich das nächste Mal zu einem gesuchten Staatsfeind mache“, sagte er tonlos. „Ah, wo wir gerade dabei sind…“ Clovis hob die Brauen. „Darf ich fragen, was das sollte?“ Lelouch überschlug die Beine. „Du darfst“, gab er zurück und stützte das Kinn auf die Hand, in der er keine Waffe hielt. „Aber das heißt nicht, dass du auch eine Antwort bekommen wirst.“ Clovis rollte die Augen. „Im Ernst, Lelouch“, sagte er. „Was hast du dir dabei gedacht? Wenn dich das Leben eines gewöhnlichen Bürgers so sehr langweilt, weshalb bist du dann nicht einfach nach Britannien zurückgekehrt?“ Beinahe hätte Lelouch den Kopf über die Begriffsstutzigkeit seines Bruders geschüttelt. Glaubte Clovis etwas, dass er Nanalis Sicherheit derart unbesonnen riskieren würde? Weil ihm langweilig war? Es war eine vollkommen absurde Annahme, die ihm prompt ein weiteres höhnisches Schnauben entlockte. „Ich habe dir bereits erklärt, weshalb ich nicht zurück kann“, erinnerte er seinen Bruder knapp. Es war eine subtile Ermahnung, die seinen überheblichen Gesprächspartner in seine Schranken weisen sollte und deren tiefere Bedeutung Clovis auch nicht entging. Der ehemalige Gouverneur schluckte hinunter, was auch immer er gerade noch hatte sagen wollen, und wich in seinem Sessel zurück, als wollte er einem unsichtbaren physischen Geschoss zu entgehen, wobei die Überraschung auf seinen Zügen sich schnell in Bestürzung verwandelte. Lelouch indessen, der die Reaktion seines Bruders aufmerksam verfolgte, verbiss sich ein grimmiges Lächeln. Offenbar machte es sich nun bezahlt, dass er sich bei dem Auftakt zu Clovis’ Entführung weitgehend an das Drehbuch gehalten und genau wie damals die Rolle erwähnt hatte, die Nanali und er selbst während der Japaninvasion gespielt hatten. Oh ja, ihr Vater mochte behaupten, es sei zu ihrem eigenen besten gewesen, aber das war nur eine klägliche Ausrede, die nichts an der Tatsache änderte, dass es niemals eine Garantie dafür gegeben hatte, dass man den kaiserlichen Geschwistern nicht einfach als Rache die Kehlen aufschlitzen würde, wenn Britannien einfach so in das Land einfiel, dessen Geiseln sie waren. Für Charles di Britannia waren seine Kinder nichts weiter als politische Werkzeuge, und Clovis war nicht so dumm, dass ihm das entgangen wäre. Zu Lelouchs großem Verdruss jedoch hielten die Nachwirkungen seiner mit Bedacht gewählten Bemerkung nicht ewig vor, und wie sich herausstellte, plante sein Bruder keineswegs, das heikle Thema einfach fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel. „Aber nicht“, entgegnete er, sobald er seine vorübergehende Betretenheit überwunden hatte, „weshalb du so leichtfertig dein Leben aufs Spiel setzt.“ Anfangs schwankte Clovis’ Stimme noch ein wenig, aber mit jedem Wort wurde sie etwas fester und nachdrücklicher, und schließlich meinte Lelouch sogar, einen tadelnden Unterton darin entdecken zu können. „Ganz gleich, was für einen aufwendigen Plan du auch gehabt haben magst, es hätte nur einer dieser Soldaten-“ „Lass das meine Sorge sein“, unterbrach Lelouch ihn. Vielleicht etwas unwirsch, aber sein Halbbruder war eindeutig der Letzte, von dem er sich eine Strafpredigt anhören würde. „Was kümmert es dich?“ Clovis, der mitten im Satz abgebrochen hatte, schloss den Mund wieder und starrte ihn an. „Du begreifst es wirklich nicht, oder?“, fragte er nach kurzem Schweigen und schüttelte den Kopf. Lelouch sagte nichts zu dieser scheinbar zusammenhangslosen Äußerung, sondern lehnte sich in seinem Sessel zurück und erwiderte den verständnislosen Blick seines Bruders so kühl wie eh und je. Es folgte eine weitere Stille, in der Clovis’ Miene eine ganze Reihe von Verwandlungen durchmachte: An die Stelle von Unglauben trat erst Verwunderung, dann Bestürztheit, und schließlich etwas, das sich wohl am besten als Begreifen bezeichnen ließ - auch wenn Lelouch sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was Clovis so plötzlich begriffen haben könnte. Allerdings musste es wohl etwas Wichtiges gewesen sein, denn gleich darauf huschte ein ausgesprochen merkwürdiger Ausdruck über das Gesicht seines Bruders, den Lelouch zwar ebenfalls nicht genauer zu deuten vermochte, der aber doch etwas an sich hatte, das ihn unverkennbar zu dem Resultat einer bedeutungsschwangeren Erkenntnis machte. Und mit einem Mal fixierte Clovis ihn mit einem so durchdringenden Blick, dass Lelouch nichts weiter tun konnte, als verwirrt zu blinzeln. „Ich habe dich schon einmal verloren, Lelouch“, teilte der blonde Prinz ihm daraufhin mit „Ich habe nicht die Absicht, es noch einmal zu tun.“ Lelouch setzte zu einem verächtlichen Schnauben an, aber etwas an der Art, wie sein Bruder ihn ansah – unbeirrt und eindringlich und mit einem seltsam emotionsgeladenen Ausdruck in den Augen, den er unmöglich genauer hätte definieren können - , ließ ihn beinahe sofort wieder verstummen. Vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, wie Clovis die Worte ausgesprochen hatte – in einem ungekünstelt klingenden Tonfall, der sie nicht einmal ansatzweise theatralisch klingen ließ, und so langsam und betont, als wollte er, dass Lelouch die Aufrichtigkeit hinter dem, was er sagte, unmöglich verkennen konnte. Falls das tatsächlich Clovis' Absicht gewesen sein sollte, dann war er wohl erfolgreich gewesen. Denn auch wenn Lelouch keinen Zweifel daran hatte, dass sein Bruder ein hervorragender Schauspieler war, wenn er es darauf anlegte, wollte ihm im Augenblick einfach keine spöttische Erwiderung einfallen. Dieses Mal war ganz eindeutig er es, dem es die Sprache verschlagen hatte. Als Clovis das bemerkte, blinzelte er verdutzt – offenbar hatte er nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet. Sofort stellte Lelouch sich die Frage, was er sonst erwartet haben könnte, und schließlich zog er sogar die entfernte Möglichkeit in Betracht, dass sein Bruder ihm vielleicht wirklich nur verständlich hatte machen wollen, weshalb er sich ungefragt in seine Angelegenheiten einmischte; möglicherweise hatte Clovis tatsächlich jedes Wort ernst gemeint und nicht einmal die Absicht gehegt, sich durch vorgetäuschte Rührseligkeit dafür zu revanchieren, dass Lelouch ihn zuvor auf so unfeine Art und Weise aus dem Konzept gebracht hatte. Bevor Lelouch diesbezüglich jedoch zu einem Schluss kommen konnte, veränderten sich Clovis’ Züge auch schon wieder – völlig übergangslos nahmen sie den hochmütigen Ausdruck eines Königs an, der aus purem Großmut beschlossen hat, den Pöbel mit seiner Anwesenheit zu beehren. „Außerdem“, fuhr er fort, wobei er den Kopf schräg legte und Lelouch mit einem betont herablassenden Lächeln bedachte, „würde ich hier mit Sicherheit vor Langeweile umkommen, sollte dir etwas zustoßen. Also verbiete ich dir hiermit ausdrücklich, zu sterben.“ Der seltsame Humor seines Bruders traf Lelouch unvorbereitet, und bevor er darüber nachdenken konnte, was er davon halten sollte, war ihm auch schon ein Lachen entwichen. Es war ein leiser, kurzlebiger Laut, aber das genügte schon, damit Clovis ihn perplex anstarrte. Und dann schlich sich ein Lächeln auf das Gesicht des Dritten Prinzen – so zögerlich, dass es beinahe scheu wirkte, aber ehrlich erfreut. „Eine Partie Schach gefällig?“, fragte er. Lelouch zauderte nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er nickte. Da Clovis der Herausforderer war, hätte die Etikette es eigentlich verlangt, dass er Schwarz nahm, aber weder er noch Lelouch schenkten dieser vor allem bei Hofe vorherrschenden Formalität Beachtung. Schwarz war schon immer Lelouchs Farbe gewesen, ebenso wie Clovis stets Weiß den Vorzug gab. Es war passend, fand Lelouch, und doch ironisch „Du verbirgst also deine wahre Identität und besuchst eine ganz gewöhnliche britische Schule?“, erkundigte Clovis sich, nachdem er seinen dritten Zug gemacht hatte. „Aa“, bestätigte Lelouch. „Wie nennst du dich?“ Es war eine beiläufige Unterhaltung, bei der sie beide das Brett noch nicht einmal für eine Sekunde aus den Augen ließen. Selbst die Geschwindigkeit ihrer Züge verringerte sich nicht. „Lelouch Lamperouge.“ „Huh.“ Clovis nahm Lelouchs Turm mit seinem Läufer. „Kreativität liegt dir wirklich nicht sonderlich, oder?“ Lelouch ließ sich Zeit mit seiner Antwort und konzentrierte sich auf das Spiel. Erst einige Züge später, als er Clovis’ Läufer mit seinem König schlug, erwiderte er: „Genauso wenig, wie dir das Regieren liegt.“ „Touché.“ „Du bist besser geworden.“ „Wenn nicht, wäre das auch recht peinlich, meinst du nicht?“ „Aa.“ „Und ich könnte mich sicherlich besser konzentrieren, wenn du aufhören würdest, dieses Ding auf mich zu richten.“ Nun sah Clovis doch auf und warf einen kurzen, genervten Blick auf die Pistole in Lelouchs Linken. “Es ist schließlich nicht so, als würde ich dich bei der erstbesten Gelegenheit überwältigen und fliehen.“ „Ach?“ Clovis schnaubte und griff nach seiner Dame. „Vater würde mich enterben.“ „Hm…“ Lelouch setzte seinen Springer vor seinen König. „Wahrscheinlich“, räumte er ein. Sein Bruder ließ die Gelegenheit, den schwarzen Springer zu nehmen und damit ein unter den gegebenen Umständen ohnehin sinnloses Schach zu erzielen, ungenutzt verstreichen, und führte stattdessen eine Rochade durch. „Du traust mir wirklich kein bisschen, oder?“ Lelouch hielt den Blick weiterhin auf das Schachbrett gerichtet, wenngleich ein leises Lächeln seine Mundwinkel umspielte. „Nein.“ „Hmpf.“ Sobald Clovis seinen nächsten Zug beendet hatte, überkreuzte er die Arme vor der Brust und sah Lelouch an, als sei er seiner schon seit dem Tag seiner Geburt überdrüssig. „Weißt du“, sagte er, „wenn ich etwas Besseres zu tun hätte, würde ich schon lange nicht mehr mit dir sprechen.“ Lelouch blieb ungerührt. „Zu schade, dass dem nicht so ist“, bemerkte er beiläufig. Dann glitt ein zufriedenes Lächeln auf seine Züge und er sah das erste Mal in den letzten fünfzehn Minuten auf. „Schach.“ „Hu?“ Clovis starrte perplex auf den Springer, den Lelouch soeben abgesetzt hatte. Es gelang ihm, seinen König noch einmal in Sicherheit zu bringen, aber nicht sonderlich effektiv – Lelouch brauchte keine weitere Viertelstunde, um die Partie für sich zu entscheiden. Clovis schnaubte verärgert und Lelouch schenkte ihm ein kurzes, selbstgefälliges Grinsen. „Noch mal?“ Sein Bruder gab einen verächtlichen Laut von sich und begegnete Lelouchs belustigtem Blick mit einem hochmütigen Ausdruck in den Augen. „Dieses Mal werde ich mich nicht so einfach ablenken lassen“, warnte er ihn. Lelouch lächelte gönnerhaft - wissend, dass es Clovis ärgern würde, auch wenn er sich erstaunlicherweise nichts anmerken ließ. „Wie du meinst.“ Und damit begannen sie von neuem. Tatsächlich verlief das nächste Spiel nicht nur schweigend, sondern dauerte auch noch eine ganze Stunde länger als das erste, wenngleich Lelouch letzten Endes wieder als eindeutiger Sieger daraus hervorging. Ganz ähnlich verliefen auch die darauf folgende und die übernächste Partie; und die, die danach kam, nahm sogar noch eine gute halbe Stunde mehr in Anspruch als die vorherigen. Jedes Mal schien Clovis ein kleines bisschen besser zu werden, und jedes Mal schlug Lelouch ihn vernichtender, während er die Tatsache zu ignorieren versuchte, dass er sich mit jeder verstreichenden Minute schlechter fühlte. Zunächst war es nicht weiter schlimm – die schleppende Müdigkeit, die er schon den ganzen Tag über verspürte, hatte zugenommen, und ihm war ein wenig zu warm gewesen. Es war nicht besonders angenehm, nein, aber auch nichts, worüber er sich großartig Gedanken gemacht hätte. Wenn er sich Mühe gab, beeinträchtigte sein leicht angeschlagener Zustand nicht einmal nennenswert seine Konzentration. Aber dann waren die Kopfschmerzen zurückgekommen. Anfangs hatte Lelouch sie kaum bemerkt, aber mit der Zeit waren sie schlimmer geworden, und als die letzte Partie sich ihrem Ende neigte, hatte er das Gefühl, dass der Raum um ihn herum sich in dem gemächlich-nervtötenden Tempo eines Kinderkarussells drehte. Das war der Punkt, an dem Lelouch entschied, dass es Zeit für ihn war, den Heimweg anzutreten. Nachdem er Clovis zum fünften Mal hintereinander mattgesetzt hatte, lehnte dieser sich mit vor der Brust verschränkten Armen in seinem Sessel zurück. „Ich denke, es ist offensichtlich, dass ich nicht der Einzige bin, der besser geworden ist“, sagte er nach einem kurzen Moment des Schweigens und gestand damit seine Niederlage ein – wenn auch nur äußerst widerwillig. „Vielleicht hast du nächstes Mal ja mehr Erfolg“, gab Lelouch zurück – in einem Tonfall, der deutlich machte, dass er eher mit fliegenden Schweinen und Fischen im nächsten Wetterbericht rechnete. Er versuchte sich auch an einem süffisanten Lächeln, hatte aber das Gefühl, nur ein klägliches Zucken der Mundwinkel zustande zu bringen. Dennoch erzielten seine Worte die gewünschte Wirkung. Clovis gab ein verstimmtes „Huh“ von sich und fixierte Lelouch mit einem Blick, der deutlich machte, dass er dieses Mal nicht das Geringste einzuwenden hätte, wenn er nun allmählich wieder aufbrach. Und genau das hatte Lelouch auch vor. Längst war er dabei, sich zu erheben, und ohne dem unerwartet heftige Schwindelgefühl größere Beachtung zu schenken, das ihn dabei befiel, wandte er sich zur Tür. Er zwang sich, konsequent einen Fuß vor den anderen zu setzen, und versuchte so, seinen bemerkenswert unkooperativen Körper unter Kontrolle zu bringen. Dass ihm dabei kurz schwarz vor Augen wurde, beunruhigte ihn genug, damit er beschloss, dass er sich zu Hause sofort ins Bett legen würde. Um seine Beziehung zu den Terroristen konnte er sich auch noch kümmern, wenn er diese Erkältung wieder losgeworden war. Abermals begann der Raum um ihn herum sich zu drehen, dieses Mal wesentlich schneller als noch wenige Minuten zuvor, und plötzlich war Lelouch sich gar nicht mehr so sicher, ob er es hier wirklich nur mit einem harmlosen Schnupfen zu tun hatte. Er erschauderte leicht, war aber fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. ~ Und wie immer, wenn Lelouch Lamperouge sich etwas vorgenommen hatte, erzielte seine schiere Willenskraft auch dieses Mal erstaunliche Ergebnisse. Er schaffte es durch den gesamten Raum und bis in den Türrahmen, ohne dass Clovis irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen wäre. Dann gelang es ihm gerade noch, seinen Sturz notdürftig mit einem Arm abzubremsen, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor. ____________________ Ha, geschafft! Ich dachte schon, dieses Kapitel würde sich meinen Ansprüchen ewig widersetzen. So sollte es vorerst in Ordnung sein. *nickt vor sich hin* Merkt man, dass ich der festen Überzeugung bin, dass sich Lelouch und Clovis schon immer gegenseitig auf den Geist gegangen sind? xD Hach ja, Familie... Ich hoffe mal, Lelouchs Kopfschmerzen sind in den Kapiteln davor nicht völlig untergegangen, auch wenn ich sie absichtlich immer nur mal ganz am Rande erwähnt habe. Schließlich sollte es ja auch nicht zu offensichtlich sein. ;P Und den Klischee-Satz habe ich hoffentlich auch gut vertuscht... Äh, Wie dem auch sei... *teilt schnell die versprochenen Törtchen aus* Wieder einmal bedanke ich mich für die Kommentare, über die ich mich wie immer sehr gefreut habe. Ich muss zugeben, dass ich mir gar nicht mehr sicher war, wann und vor allem wo genau C.C. an Cheese-kun gekommen ist, aber da sie logischerweise auch kein Geld für das Stück Pizza dabei hatte, das sie sich hat schmecken lassen, darf jeder seine eigenen Schlüss darüber ziehen, wie sie in dieser Fanfic da herangekommen ist. xD Was die Absätze angeht... zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich ziemlich oft auf die Entertaste drücke. Nur benutze ich meistens die "kleinere" Variante von Einzügen. Ich gebe allerdings zu, mich in dieser Fanfic recht schwer mit den Leerzeilen zu tun, und werde ab diesem Kapitel bewusst versuchen, sie immer einzubauen, wenn sie mir gerade halbwegs passend erscheinen. Versprechen kann ich allerdings nichts. ^^" Das nächste Kapitel wird voraussichtlich etwas aus dem Rahmen fallen, was sich auch an seinem Titel zeigen wird. Ich kann außerdem schon einmal verraten, dass Clovis darin vorkommen wird. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass besagter Prinz noch immer kein Heiliger ist. Wer allerdings das entsprechende Sound-Drama kennt oder zumindest die Zitate daraus in seiner Chara-Beschreibung hier gelesen hat, wird schnell feststellen, dass er ein vielschichtigerer Charakter ist, als man während der ersten paar Anime-Episoden hätte meinen können. Behaltet also am besten im Hinterkopf, dass der Gute mehr als nur eine Seite hat und dass ich - wie aus meinem bisherigen Geschreibsel hoffentlich auch schon hervorgegangen ist - keineswegs vorhabe, seine weniger glorreichen Taten und Charakterzüge einfach bequem unter den Tisch fallen zu lassen. Ansonsten hoffe ich, dass das Lesen Spaß gemacht hat, und merke noch einmal schnell an, dass ich mich - genau wie sonst auch - sehr über alle Arten von Rückmeldungen freue. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)