Bring mir dein Lachen bei von Stiffy ================================================================================ Kapitel 15: Entr’acte --------------------- „Welche Tiere magst du?“ Inmitten von Staub sitzend, hob ich meinen Blick. Ein altes Gesicht lächelte mich an, ihm fehlte ein Vorderzahn. Er hatte mir mal gesagt, was passiert war, ich hatte es vergessen. „Schlangen“, antwortete ich und grinste. „Und Skorpione! Oder Eidechsen, Salamander…“ Ich redete mich in Rage, sprang voller Eifer vom Boden auf und breitete die Arme aus. „Sie sind toll, Opa! Voll Geheimnisse… ganz toll!“ Ein freundliches Lachen, er wuschelte mir durchs Haar. „Soll ich dir eins machen?“ „Oh ja! Ja, ja, ja! Kriecht es dann auch?“ Ich hüpfte zu ihm auf den Tisch. „Kann ich mit ihm spielen?“ „Natürlich mein Junge…“, sah ich ihn einen kleinen, fast schwarzen Stein nehmen. „Toll!“, baumelte ich mit den Beinen. „Es soll Evi heißen!“ „Eine sie?“ „Ja!“ Ich nickte heftig, wurde dann sofort ernst „Kann es keine sie sein?“ „Doch natürlich. Alles was du willst!“ „Dann nenn ich sie Evi!“ Ich nickte immer noch heftig, sah mit großen Augen und Spannung den Stein in seinen Händen an. Würde das Evi werden? Mein Blick fiel weiter. Ich griff nach einem unfertigen Gebilde auf dem Tisch. „Ich will das auch können!“, hielt ich ihn ihm hin. „Was möchtest du denn machen?“ „Einen Hund! So einen wie Fletscher…“, dachte ich an den dunkelbraunen Jagdhund, der immer im Wohnzimmer lag. Ich hatte Angst vor ihm… doch er war toll! „Dann solltest du aber lieber den hier nehmen…“, wurde mir ein anderer Stein hingehalten. Sofort ließ ich den in meiner Hand fallen. Staub wirbelte auf. „Toll! Und wie fang ich an?“ Voller Eifer krabbelte ich noch ein Stück weiter auf den Tisch, griff nach einem der Werkzeuge, die ich ihn immer benutzen sah. Nun lächelte er mich an, legte meine unfertige Evi beiseite. „Also, als erstes-“ „Nathanael!“, schallte es durch den gesamten Raum. Ich zuckte stark zusammen. „Hier!“, krächzte ich. Ich sah Opa an, der nun nicht mehr lächelte. Dröhnende Schritte kamen die Treppe hinab. „Wusste ich doch, dass du dich hier rum treibst!“ Sein ernster Blick wanderte von mir zu Opa. „Ich hab dir gesagt, ich will nicht-“ „Aber es ist toll hier!“, sprang ich vom Tisch in den Staub. „Siehst du das nicht? Die ganzen Figuren, es ist so…“ Ich brach ab und ließ die Arme sinken. Er hatte sich schon wieder umgedreht. Er hörte mir nie zu. „Komm mit rauf. Amelie ist da, du musst lernen!“ „Aber ich will bei Opa bleiben! Lernen ist langweilig, ich-“ „Komm mit rauf!“, schmetterte die Stimme durch den Raum. Sie wirbelte förmlich den Staub auf. Hilflos sah ich Opa an. „Nun lass den Jungen doch…“, versuchte er es. Ich wollte mich an sein Bein klammern. „Vater!“ Er drehte sich am Treppenabsatz wieder um. „Ich erziehe meine Kinder wie ich es will! Halt dich da raus!“ Es klang so drohend, dass ich meine Hand sich nun wirklich an Opas Hose klammerte. „Und jetzt komm mit, Nathanael, sonst passiert was!“ Das war es. Damit stampfte er die Treppe wieder hinauf und ich stand da, zitternd und ängstlich. Die sanfte Hand meines Opas ließ mich zusammenzucken. „Na komm, Schatz, geh lieber hoch…“ „Aber…“ „Ich red mit ihm. Morgen kannst du wieder mit herkommen.“ „Versprochen?“, wimmerte ich. „Versprochen.“ Er umarmte mich und ich vergrub mein dreckiges Gesicht an seiner dreckigen Weste. „Ich hab dich lieb, mein Kleiner.“ Ich nickte nur heftig und wollte weinen. Ich verstand meinen Vater nicht, wieso er es hier nicht toll fand. Aber ich glaube, ich habe ihn nie verstanden. Mir irgendwie schnell bewusst gewesen, dass es ein Traum war, versuche ich lange, nicht daraus aufzuwachen. Irgendwann jedoch hält es mich nicht mehr länger… ich entgleite den 20 Jahre alten Erinnerungen… dem schönen Gefühl… der warmen Umarmung, in der ich mich geborgen fühlte… Ich blinzle und es ist hell. Es ist sauber, kein Staub wirbelt durch die Luft… und es ist wundersam still. Ich reibe mir die Augen. Nässe setzt sich ab. Habe ich geweint? Im Schlaf? Das ist noch nie passiert… Überhaupt… wann habe ich das letzte Mal daran zurückgedacht? Ich schließe die Augen wieder, mir entweicht ein Gähnen. Ich drehe mich ein Stück und erst dann bemerke ich die Nähe. Sofort reiße ich meine Augen wieder auf. In einem Satz bin ich aus dem Bett. Ich stolpere, falle, stoße mir das Knie und weiche ein weiteres Stück zurück. Ein Lachen fährt durch den Raum, ein helles, schönes Lachen. Es lässt mich so plötzlich, wie ich aufsprang, ruhig werden. Und ich sehe ihn an, das Gesicht, welches zu strahlen scheint… die sanften Augen. Ich sehe Mel an als hätte ich ihn noch nie gesehen. Wie wunderschön er ist. „Komm wieder ins Bett“, lächelt er sanft, legt den Kopf ein bisschen schief. Seine Augen verschmelzen mit meinen. Ich kann nicht anders als den Kopf zu schütteln. Irgendeine Macht hält mich fest, von innen drin. „Na gut…“ Die Decke wird beiseite geschlagen. „Dann komm ich zu dir…“, sinkt Mel zu mir auf den Boden. Und so ist er mir plötzlich wieder ganz nah. Mein Herz rast. Sanft berührt er mein Knie, wo ich mich gestoßen habe. Elektrische Impulse fahren von da durch meinen Körper hindurch. Ich starre ihn an. „Du hast im Schlaf geweint…“, streifen die Finger leicht noch immer über die pulsierende Stelle. „Hattest du einen schönen Traum?“ „Ich…“ Überrascht öffne ich den Mund. Er fühlt sich belegt an, nicht fähig, zu sprechen. Ich sehe Mel an, der mir so nahe ist, habe das Bedürfnis, ihn noch viel näher zu ziehen. „… glaube schon…“ „Das ist schön…“ Sanfte Augen kommen mir näher… noch näher… nur noch ein kleines Stück… Ich weiche zurück, ehe sich unsere Lippen treffen können. „Ich-“ „Nein“, unterbricht er mich, seine Hand berührt meine. „Schon gut, ich verstehe schon.“ Damit steht er auf. Seine Nähe entzieht sich mir. Vom Boden blicke ich zu ihm hinauf, sorgenvoll, Wut in seinen Augen zu lesen… doch da ist nichts in ihnen außer Wärme. „Ich bin in der Küche…“, lächelt er nun. „Lass dir Zeit.“ Seine Worte folgen ihm bis zur Tür. Hier erst bleibt er wieder stehen, dreht sich nochmals um. Seine Augen funkeln nun verspielt und ein bisschen durchdringend. „Aber komm ja nicht auf den Gedanken, dass gestern ein Fehler war.“ Damit lässt er mich allein. Ich sinke zurück gegen den Schrank. Kurz erzittere ich aufgrund der holzigen Kälte. Gestern. Mein Kopf dröhnt, als ich die geschlossene Tür anstarre. Gestern… Ich senke den Blick und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Die letzte Nässe verschwindet, als ich die Hände wieder zurücknehme. Es fällt mir schwer, Gestern überhaupt in Gedanken wieder zu fassen zu bekommen. Wir haben geredet, so lange, stundenlang… Marcel war da… und Mel natürlich, der mich hielt, die ganze Zeit, der mein Herz berührte und meine Hand nicht losließ… Stunde um Stunde verging, so vieles kramte ich hervor, über das ich nie geredet hatte… so vieles fasste ich zum ersten Mal in Worte… zum ersten Mal verstand ich es… meine Vergangenheiten, meine Gefühle, Gedanken, Wünsche, Ängste… selbst Träume wie heute Nacht habe ich mir verboten… Sie nie beachtet, hatte ich all das vergraben, irgendwo, ganz tief… so weit, dass ich es nicht mehr erreichen konnte, nicht alleine, nicht ohne zu wissen wie… aber Mel hatte es geschafft, hatte es mit seinem Lächeln geschafft, mit seinem Gesang, mit seinem ganzen Sein… er hat es hervorgeholt und ich habe sie nicht verstanden… doch nun half er mir, es zu verstehen, vieles davon… eine lange Nacht lang… Ich spüre ein kaltes Zittern. Zögernd erhebe ich mich vom Boden. Es ist nicht so, dass ich wirklich alles begriffen habe. Gefühle sind mir fremd, ich kann sie nicht von einem Tag auf den anderen lernen… Ich kann nicht plötzlich verstehen, was all die Jahre schief gelaufen ist, da ich nie bewusst das Gefühl hatte, dass etwas schief lief. Ich kann nicht plötzlich ein anderer Mensch sein, Lachen und ständig fröhlich sein… Ich kann bestimmt nicht oft aus meiner Haut… Doch Mel sagte mir immer wieder, dass er das wissen… dass er es verstehe. Er versicherte mir, dass er warten könnte, dass wir es zusammen schaffen könnten, einen Weg zu finden… Er würde mir helfen, wenn ich ihn nur ließe… Es gab bereits eine andere Person, die einmal etwas Ähnliches zu mir gesagt hat... doch ich habe es nicht verstanden, habe ihn nie verstanden. Leise öffne ich die Zimmertür. Stimmen dringen aus der Küche zu mir heran. Ja, auch über Tobias haben wir geredet, lange und ausgiebig. Ich habe erzählt, Mel und Marcel haben zugehört… und sie haben mir gesagt, dass ich Fehler gemacht habe, in dieser Verbindung, viele, nicht nur einen einzigen. Ich habe ihm wehgetan, auch wenn es mir schwer fällt, zu verstehen, womit genau… Ich habe ihn verletzt und ich tue es immer noch… Natürlich, ich wusste es schon, auf gewisse Weise, doch verstanden habe ich es nie. Ich habe nie darüber nachgedacht, warum Tobias oft traurig war, habe nie hinterfragt, weshalb er eifersüchtig war. Ich habe ihn einfach nie verstanden… obwohl es manchmal wahrscheinlich gar nicht so schwer gewesen wäre, wenn ich es doch nur versucht hätte… Ich trete an die Küchentür heran. Drei gutgelaunte Gesichter entdecken mich, zwei unter ihnen wünschen mir einen guten Morgen. Das dritte starre ich an, während ich mich gegen den Türrahmen lehne. Tatsächlich habe ich mich wahrscheinlich schon viel länger als es mir bewusst ist, gefragt, was eigentlich Liebe ist. Ich glaube, dass ich die Frage gerne beantwortet hätte… vielleicht, um meinem Vater sagen zu können, dass er sich geirrt hat… aber vielleicht auch nur um meiner selbst Willen. Ich wollte spüren, wovon so viele sprachen… und doch fand ich es nie, denn eigentlich wusste ich nicht wirklich, wonach ich suchte, wie sich das Gefühl anfühlte, dass ich haben wollte… ich kannte es nicht und dann erkannte ich es nicht… dabei ist es eigentlich ganz einfach… glaube ich… Die drei sind wieder in ein Gespräch verfallen, lachen über einen komischen Artikel in der Zeitung. Mel schielt ab und an zu mir hinauf und ich schaffe es nicht, meine Augen von ihm zu nehmen. Ich kann nicht sagen, dass ich nun wirklich verstehe, was gerade in mir vorgeht. Ich kann nicht sagen, dass ich das Kribbeln kenne und erklären kann… Ich verstehe die Nervosität nicht, die Unsicherheit und das Verlangen, ihm nahe zu sein… aber immerhin weiß ich, dass es da ist… und ich darf mich dem nicht entgegensetzen. Es würde nichts bringen, es würde nichts ändern und nichts besser machen… dabei habe ich seit gestern das Gefühl, dass es wirklich besser werden kann… Seine Augen bleiben an mir hängen, als er mich das nächste Mal ansieht. Sie strahlen mich an und dies fährt in meinen Bauch hinein. Ich spüre, wie ich zu lächeln beginne, wie mir bewusst wird, dass ich vielleicht wirklich genau darauf immer gewartet habe… Ich setze mich in Bewegung und nehme wahr, wie die Stimmen verstummen. Mels Augen folgen mir, wie ich ihm näher komme, immer näher. Und ich ergreife seine Hand, als er sie ausstreckt, verschlinge meine Finger mit seinen und ziehe ihn zu mir hinauf. Ich verstehe all das nicht, aber es macht nichts… es macht überhaupt nichts, solange ich dieses Lächeln sehen kann, solange ich ihn strahlen sehe und seine Augen mir das zeigen, was ich sehen will. Ich verschließe seine lächelnden Lippen mit einem Kuss und ich ziehe ihn an mich heran. Ich umschlinge ihn und vergesse für einen Moment die anderen beiden in diesem Raum. Es ist nicht wichtig in dieser Sekunde, so wie nichts wichtig ist… nichts außer ihm, der mir gezeigt hat, dass mein Vater all die Jahre lang unrecht hatte. Es gibt die Liebe. Ich bin grade dabei, sie zu erforschen. Als ich mich wieder von Mel trenne, sind seine Wangen tief gerötet. Ich umfasse sie mit meinen Händen. „Ich muss noch mal heim und ein bisschen was regeln“, sage ich leise und sehe ihm genau in die Augen. „Du wartest auf mich, nicht wahr?“ „Wenn du zurückkommst…“ „Das werde ich“, verspreche ich ihm. „Ganz bald.“ Und damit küsse ich ihn wieder, nur um mir sicher zu sein, dass das Gefühl jedes Mal stärker wird. Und das wird es. Mein Herz hämmert und ich weiß, dass ich in gewisser Weise doch ein anderer Mensch geworden bin. Ein kleines bisschen… Schritt für Schritt… ~ * ~ Die Rückfahrt ist lang. Und jeder Schritt, den ich mich meiner Wohnung nähere, fällt schwer, obwohl ich doch weiß, dass es noch zwei Stunden dauern wird, bis Tobias von der Arbeit zurück ist. Ich schließe die Tür auf und bleibe einen Moment lang in der geöffneten Tür stehen. Als ich mich dann bewege und langsam ins Wohnzimmer gehe, spüre ich ein merkwürdiges Gefühl. Es ist, als sei ich lange schon nicht mehr hier gewesen… Irgendwas ist anders… in mir drin… Ich sinke ins Sofa hinein. Und hier bleibe ich sitzen… lange… eine ganze Weile lang, ohne etwas zu tun. Ich schließe die Augen und lausche. Auf was? Auf mich selbst? Vielleicht... Ich versuche, in mich hineinzuhorchen, versuche mir selbst zu antworten, wie es nun weitergehen soll. Wie will ich, dass es ab hier weitergeht? Eine Antwort bekommen, stehe ich auf. Ich hole das Telefon zu mir und wähle eine Nummer. Meinen Gesprächspartner gefunden, erkläre ich min heutiges Fehlen und dann mache ich meine Entscheidung fest... Natürlich, ich stoße auf Unverständnis, doch das ist mir egal. Dann lege ich auf. Den Hörer sinken lassend, weiß ich schon, wie überschwänglich diese Entscheidung ist… doch es ist gut. Wenn ich versuchen will, etwas zu ändern, dann muss ich überall anfangen… Nicht ganz zwei Stunden vergehen, bis Tobias da ist. In dieser Zeit habe ich meinen Platz auf dem Sofa nur kurz verlassen… und ansonsten darüber nachgedachte, wie ich dieses Gespräch beginnen soll. Ich bin zu keinem wirklichen Ergebnis gekommen, zu keinem guten. Aber wahrscheinlich gibt es für so etwas keinen Plan, wahrscheinlich muss jeder selbst herausfinden, wie man so etwas macht... Es gibt dafür kein Richtig, es gibt nur ein Falsch... „Es tut mir Leid...“, spreche ich also mit gesenktem Kopf, als er endlich da ist, als ich nicht zugelassen habe, dass er mich küsst, und als er nun neben mir sitzt. Ich heb den Kopf und zwinge mich, ihn anzusehen. Die Furcht in seinen Augen ist deutlich zu lesen, sogar für mich. Größtes Unverständnis. „Was meinst du?“, zittert seine Stimme. Sie fleht mich an, dass ich mich doch nur für meine nächtliche Abwesenheit entschuldigen solle… Doch das reicht nicht. Es ist nicht genug. „Es tut mir Leid... aber es kann so nicht weiter gehen...“, fällt es mir tatsächlich schwer, überhaupt Worte zu finden. „Sag jetzt nicht, du...“ Er springt auf. „Sag bloß nicht, dass du mit mir Schluss machst!“, durchfährt seine laute Stimme den gesamten Raum. Es lässt mich zusammenzucken. Und dann nicke ich. „Du machst mit mir Schluss?“, kommt es noch mal, ungläubig. „Ja“, antworte ich, zwinge mich, ihn anzusehen. „Wa... warum.“, klingt es gar nicht mal wirklich nach einer Frage. Es scheint nur ein Ausdruck zu sein. „Weil... wir nicht zusammen passen“, antworte ich dennoch. „Ist das der einzige, bescheuerte Grund?“ „Nein...“ „Warum dann?“ Er will es höre. „Weil... ich jemanden liebe.“ Stocksteif zieht sich sein Körper zusammen. Für einen Moment scheint er sogar das Atmen zu vergessen. „Sag das noch mal!“, stößt er dann aus. „Ich bin verliebt.“ „DU?“ Er fährt vor, packt meine Schultern. „DU bist verliebt? Willst du mich verarschen?“ „Nein, das-“ „Nach all den Jahren, die ich um dich kämpfe... nach all den Jahren, die ich dich anflehe, mich zu lieben und ich mir immer wieder anhören darf, dass du so was nicht kannst... nach all den Jahren verlässt du mich, weil du dich VERLIEBT hast?“ Seine Handfläche trifft mich im Gesicht, bevor er zusammensackt, vor meinen Füßen, seine Hände noch immer an meinen Schultern verkrampft. „Warum?“, keucht er. „Was macht er mit dir? Wieso nicht ich?“ „Ich weiß es nicht.“ „Du weißt es nicht? Du verlässt mich wegen dieses Arschlochs und du weißt NICHT wieso?“ „Ich habe mir das nicht ausgesucht...“, versuche ich es vorsichtig, berühre seinen Arm. „Nein, natürlich nicht!“ Er schüttelt mich, hebt den Kopf, sieht mich mit Tränen in den Augen an. „Aber das hier! Und das gibst du einfach so auf! Einfach so, nach all der Zeit! Du hast doch gar keine Ahnung, auf was du dich da einlässt... du weißt doch gar nicht...“ Er verstummt, schüttelt den Kopf. „Darum geht es auch nicht.“ Vorsichtig berühre ich seinen Arm erneut. „Eigentlich hätte ich das hier schon viel früher beenden sollen...“ „Ach ja?“, kommt es bitter. „Und warum?“ „Weil es nicht funktioniert hat.“ „Nicht funktioniert? DU findest, dass es nicht funktioniert hat? Das ich nicht lache! Du hast doch gar keine Ahnung!“ Er stößt sich auf die Beine zurück. „Ich sollte es sein! Ich sollte mit dir Schluss machen! Nicht du! Gott, das ist so erbärmlich!“ Er fährt herum, greift sich in die Haare, zieht daran, scheint keinen Endpunkt zu finden. Ich sehe ihm zu und habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Ihn schreien lassen ist vielleicht die beste Wahl... „Weißt du eigentlich...“ Er bleibt stehen, fährt wieder zu mir herum. „Weißt du eigentlich, wie sehr ich versucht habe, dass das funktioniert? Weißt du eigentlich, wie oft ich versucht habe, dir Gefühle für mich zu entlocken? Aber nein, du bist kalt geblieben wie ein Felsblock. Du hast nie gezeigt, dass du mich magst, du lachst kaum mit mir… du lebst neben mir her, ohne mich zu sehen! Hast du dich eigentlich je gefragt, warum ich fremdgegangen bin? Ich wollte für einen Tag wen, der mich sieht… und du hast mich noch nicht mal gesehen, als du mich erwischt hast! Du bist nicht mal sauer geworden… du warst noch immer genauso wie vorher! Noch nicht mal das hat irgendwas gebracht! Gar nichts!“ Er kommt wieder auf mich zu, drückt mich erneut in die Sofalehne und gräbt seine Fingernägel in meine Schultern. „Weißt du eigentlich wie weh es mir getan hat, dass du nicht sauer geworden bist? Oder wie weh es tat, als ich dich mit diesem Marcel lachen sah? Und jetzt... jetzt sagst du mir, dass du mich wegen so einem verlässt... du kennst ihn doch gar nicht... Verdammt! Mel kennt dich doch gar nicht!“ „Woher weißt du...“ „Woher ich weiß, dass es Mel ist?“ Ein bitteres, tiefes Lachen entweicht seiner Kehle. „Ich bin nicht blind, du Arschloch! Jedes Mal... JEDES MAL wenn du über ihn geredet hast... oder mit ihm... weißt du überhaupt, wie du da ausgesehen hast? Gott, das Lächeln ist so ekelhaft! Und du hast gelacht! Immer wieder! Denkst du wirklich, dass ich so blind bin und es nicht bemerke? Ich kenne dich, verdammt noch mal!“ Ich war so blind und hab es nicht bemerkt. Doch diese Antwort erspare ich mir. „Wahrscheinlich sollte ich froh sein!“, donnert er weiter. „Ich hab dich ja eh kaum wiedererkannt! Kaum hattest du was mit denen zu tun, warst du plötzlich ein ganz anderer Mensch! Ein Wunder, dass du noch in den Spiegel schauen kannst! Echt, das ist so widerlich!“ Er stößt sich ab, verschränkt die Arme. „Ja, wahrscheinlich sollte ich echt froh sein, dich los zu sein. So eine Schwuchtel wie du geworden bist... du bist nicht mehr der Mensch, den ich liebe...“ Eiskalt sind seine Augen bei diesen Worten... und dennoch kann ich sie lügen strafen. Doch ich schweige. Ich habe nichts mehr zu sagen. Ich war darauf vorbereitet, dass er schreien und toben wird. Ich kenne ihn gut genug, um das zu wissen. Und es ist wahrscheinlich okay so... so kann er wenigstens seine Wut herausschreien. Und das tut er. Noch bestimmt eine halbe Stunde lang tobt Tobias in der Wohnung herum. Seine Stimme nimmt alle möglichen Töne an, sogar flehend ist kurz dabei, bis er schnell wieder zur Mordstimmung übergeht. Ich sitze da währenddessen und bin das, was ich nicht sein sollte, in dieser Situation: ruhig. Ich weiß ungefähr, wie sehr es mir Leid tun sollte, dass ich ihn vielleicht sogar in den Arm nehmen und trösten sollte... doch das kann ich nicht... Ich bin nicht der Mensch dazu... und ich kann mit dieser Wut von ihm nicht gut umgehen. Also sitze ich einfach nur da und ertrage sie. Als Tobias sich einigermaßen beruhigt hat, weint er nur noch. Und er stapft ins Schlafzimmer, reißt eine Tasche aus dem Schrank hervor und wirft alle möglichen Sachen hinein. Er erklärt mir, dass er in den nächsten Tagen wiederkommen wird, um den Rest seiner Sachen zu holen. Ich solle sie ihm bis dahin zusammenpacken und dann verschwinden. Ich solle auf keinen Fall da sein, wenn er sie holen kommt. „Ich will dich nie wiedersehen!“, sind die letzten Worte, die ich von ihm höre, als er mir mit verquollenen Augen einen letzten sehnenden Blick zuwirft und die Tür von außen schließt. Dann hört man laute Geräusche von draußen und ich sehe fast vor mir, wie er aufs Treppengeländer eintritt. Es tut mir Leid... Ich hatte nie vor, dir wehzutun. Nach einer Weile beginne ich damit, meine Wohnung aufzuräumen. Während ich die Kissen, die Tobias in der Gegend herumgeworfen hat, wieder zurück auf ihren Platz lege, gehe ich im Kopf durch, wo ich alle Sachen von ihm finden werde. Es hat sich so vieles angesammelt über die Jahre hinweg... und nicht zum ersten Mal bin ich froh, dass ich ihm nicht erlaubt habe, richtig bei mir einzuziehen. So also nehme ich also einen großen Koffer aus meinem Schrank und beginne damit, Tobias’ Kleidung zu packen... anschließend seine Badesachen... dann das Zeug aus der Küche. Natürlich, es ist überflüssig zu sagen, dass auch mir dabei Dinge durch den Kopf gehen, die mit diesen Sachen zusammenhängen. So erinnere ich mich zum Beispiel daran, wie glücklich er war, als ich ihm ein Fach für seine CD-Sammlung freigemacht habe... oder wie er sich immer gefreut hat, wenn ich sein Essen gelobt habe … Es sind nur Kleinigkeiten, die mir jetzt wieder einfallen, aber tatsächlich lassen sie ein mulmiges Gefühl in mir entstehen. Das ist normal, nicht wahr? Es sollte nicht einfach sein, die Sachen des Ex-Freundes wegzuräumen, egal wer wen verlassen hat. Eine Trennung ist immer mit Schmerz verbunden... wahrscheinlich ist dies nur ein Zeichen dafür, dass ich tatsächlich ein Mensch bin. Als ich fertig bin und der Koffer zusammen mit einigen Beuteln im Flur stehen, lasse ich mit merkwürdigem Bauchgefühl meinen Blick darüber gleiten. Komisch irgendwie, dass dieser Lebensabschnitt nun vorbei ist und ein neuer beginnen wird... Wieder im Schlafzimmer hole ich eine weitere Reisetasche hervor und beginne, Sachen hineinzupacken. Nur ein paar wichtige, dieses Mal von mir. Im Flur und auf dem Weg ins Arbeitszimmer greife ich nach dem Telefon. Ich wähle Mels Nummer, bestätige und freue mich darauf, seine Stimme zu hören... Erst in letzter Sekunde lege ich auf, da nämlich, als ich vor meinem Schreibtisch zum Stehen komme. Ich lasse den Hörer sinken. Eine alte Erinnerung starre ich an, während ein Gedanke durch meinen Kopf rauscht. Ich weiß nicht, ob es gut wäre... aber vielleicht würde es etwas bringen, mir etwas bringen... Während ich zögernd die einzelnen Zahlen der Telefonnummer wähle, spüre ich, wie ich nervös werde. Ich versuche, mir Worte zurechtzulegen. Worte, die ich wahrscheinlich schon so lange hätte sagen sollen… doch erst jetzt sind sie mir klar geworden… durch das Gespräch mit Mel und Marcel... durch meine Vergangenheit, über die ich sprach… oder vielleicht auch durch den Traum... Ich weiß jetzt, wieso es mir so wichtig war, meinen Eltern, meinem Vater die Wahrheit zu sagen... Marcel hatte Unrecht. Es ist keine Wut, die ich verspüre. Doch auch ich hatte unrecht, es ist kein Hass. Es ist etwas viel Tieferes, Gravierenderes, das man nicht so schnell vergessen kann... Es ist die Enttäuschung, das Gefühl, geliebt werden zu wollen... das Gefühl, nicht beachtet zu werden... der Wunsch danach, einfach nur einen Vater zu haben... Das Telefon in meiner Hand wiegt schwer, als ich es ans Ohr hebe und die Nummer bestätige. Meine Augen liegen noch immer auf der alten Erinnerung auf meinem Tisch. Ich habe sie bis heute nie wirklich verstanden. Eine freundliche Stimme einer Sekretärin meldet sich. Ich lasse mich durchstellen, warte wieder, höre die Wartemusik und bin mir sicher, dass es richtig ist, was ich tue. Ihm wird es nichts bedeuten, ihm wird es gleichgültig sein... aber mir wird es helfen, davon bin ich überzeugt. Ich greife nach der Erinnerung und drehe sie in meinen Fingern. Wann habe ich sie eigentlich das letzte Mal Evi genannt? Die Musik in meinem Ohr verschwindet. Stattdessen wird sie von einer tiefen Stimme abgelöst. Ich melde mich. Ganz leicht überrascht wird mein Anruf kommentiert. „Was willst du?“, fragt er dann. „Ich will dir nur etwas sagen...“, spreche ich in den Hörer, noch immer Evi ansehend. Doch eine Weile sehe ich nicht sie vor mir, sondern meinen Traum… ihn… sein immer so gleichgültiges Gesicht. Das ist nicht schwer. Ein ähnliches habe ich auch so oft im Spiegel gesehen. „Und das wäre?“ „Ich habe nachgedacht. Ich habe darüber nachgedacht, weshalb ich euch gesagt habe, dass ich schwul bin und ich-“ „Hast du dich zu einer Therapie entschieden?“ „Nein“, schüttle ich den Kopf, führe dann meinen Satz nachdrücklich fort: „Und ich bin zu einem ganz einfachen Ergebnis gekommen... Ich weiß nun, warum ich es euch gesagt habe...“ Ich drehe mich um und verlasse mein Arbeitszimmer. Evi findet im Flur einen Platz in meiner Jackentasche. „Dann mal raus damit“, kommt es fast gelangweilt. „Weil ich sehen wollte, wie du wütend wirst. Ich wollte sehen, dass du ein Mal meinetwegen schreist und sauer wirst, nicht wegen deines Ansehens oder deiner Firma... Ich wollte spüren, dass du Gefühle hast, Vater... ich wollte wenigstens ein Mal in meinem Leben spüren, dass ich dir etwas bedeute… dass ich nicht nur Teil deines Plans bin.“ „Meines Plans?“ „Aber ich habe es nicht geschafft“, spreche ich ungeachtet seiner Zwischenfrage weiter. „Du warst genauso gleichgültig wie damals, als du mir verboten hast, bei Opa zu spielen… Dir war es vollkommen egal, was mir Spaß gemacht hat… Es ging dir immer nur um dein Geld, dein Ansehen… um Macht. Es hat lange gedauert, aber jetzt weiß ich wenigstens, dass es gut ist, irgendwie anders zu sein. Enterbt mich, streicht mich aus dem Stammbaum. Es ist mir egal. Es ist mir auch egal, wenn ich nie wieder etwas von euch höre.“ Ich schlucke, spüre eine Träne, will sie aber nicht durchklingen lassen. „Okay, zugegeben, es tut weh, zu erleben, dass man dem eigenen Vater vollkommen gleichgültig ist, aber ich bin froh, dass es weh tut... denn es zeigt, dass ich ein Mensch bin, dass ich Gefühle habe... es zeigt, dass ihr mich nicht vollkommen zerstört habt.“ Ein hohles Lachen entweicht mir. „Soll ich dir was sagen? Ich bin der Beweis dafür, dass du nicht perfekt bist. Bei mir hast du versagt, Vater, denn ich bin nicht zu deiner Puppe geworden... Ich habe gelernt zu lieben und ich werde lernen, glücklich zu sein. Ich bin das, was du nie sein wirst, Vater, und deshalb hast du versagt.“ Ich lächle, wische die Tränen von den Wangen. „Das war alles, was ich sagen wollte. Du könntest mir einen Gefallen tun, und es Mutter ausrichten... Danach dürft ihr dann versuchen, mich zu vergessen. Leb wohl Vater, denn ich werde es.“ „Nath-!“ Mehr als diese erste Silbe meines Namens dringt nicht mehr zu mir heran, denn ich lasse ihn verstummen. Ich lasse die Hand mit dem Hörer sinken. Mit der anderen wische ich mir erneut über die Augen. Dann lege ich den Hörer weg und ich greife nach Jacke und Tasche. Meine Wohnung verlassend, lasse ich den Gedanken an mich heran, ob ich gerne wissen würde, was er zu all dem zu sagen hat, was er gerade, am Ende noch sagen wollte… Ja, natürlich... irgendwie würde ich es gerne wissen. Aber was würde es mir bringen? Es würde mir nicht helfen, voranzugehen, doch genau das muss ich tun. Ich muss lernen, diesen Teil meine Vergangenheit hinter mir zu lassen, ich muss ihn abschreiben, wie er mich abschreiben wird. Ich muss endlich anfangen, zu leben, ohne ihn ständig im Hinterkopf zu haben. Ich muss endlich anfangen, mich selbst zu hören. Ich steige in mein Auto und ich fahre los. Ich lasse das Verdeck herunter, obwohl es eisigkalt ist, und lasse mir die gefrierende Luft ums Gesicht blasen. Ich atme tief ein, spüre das Brennen meiner Lungen und fühle mich gut… Ich fühle mich frei. ENDE Akt 15 Entr’acte: Übersetzt heißt es „Zwischenakt“ und bezeichnet im Musical das Vorspiel des 2. Aktes nach der Pause. Bei uns ist der 2. Akt Nathanaels zweiter Lebensabschnitt, den er beginnen will... und dieser Part stellt den offensichtlichen Beginn dieses Abschnitts dar. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)