BlechHerz von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Empfänger und Absender. Hana drehte den Briefumschlag in ihren Händen ein paar Mal hin und her. Die Begegnung mit Joshua ließ ihr keine Ruhe. Natürlich nicht. Sie saß am Tisch ihrer dreckigen Küche. Der Wasserhahn funktionierte nicht und die gelblichen Fließen über der Spüle sammelten Schimmel in ihren Ritzen. Ein längst aus der Mode gekommenes Blumenmuster zierte den Linoleumboden der sich um den defekten Kühlschrank herum fürchterlich wellte. Hana starrte das unbeschriebene Blatt neben ihr wütend an. Allein die Tatsache, dass jemand Hana einen Brief geschrieben hatte, war völlig absurd. Sie war selten so geschockt gewesen, wie an dem Morgen, als sie das Schreiben vor ihrem Türspalt entdeckt hatte. Denn es sprachen genau drei Dinge dagegen, dass Hana Post bekam. Erstens hatte Hana keine Adresse. Das große Haus am Rande Berlins, in dem sich Hana eingenistet hatte, stand seit Jahren leer – zumindest offiziell. Es war eines der verwahrlosten Einfamilienhäuser, die sich jahrelang nicht verkaufen wollten und deren Restaurationskosten in dieser Zeit immer weiter in die Höhe geklettert waren. Schließlich gab man sie auf und überließ sie völlig sich selbst. Die Fassade des morbiden Gebäudes war schmutzig und an einigen Stellen mit Graffiti beschmiert, der Putz bröckelte großflächig von den Innenwänden. Auch der Garten wucherte nur so vor sich hin, bot aber gleichzeitig die Möglichkeit, das Haus unbemerkt zu betreten und verlassen. Hana konnte ohne Probleme einsteigen. Der rostige Gartenzaun war an einer Stelle komplett weg gebrochen und wenn man dem schmalen Pfad folgte, den sich Hana durch Brennnesseln Himbeergestrüpp gebahnt hatte, gelangte man durch den scheibenlosen Fensterrahmen im Erdgeschoss mühelos in die winzige Einbauküche der untersten Wohnung. Die Haustür war zwar immer abgeschlossen, doch alle Türen innerhalb des Gebäudes standen offen. Hana führte hier seit einem Jahr ihr Vagabundenleben, doch nicht ein einziges Mal hatte sie jemand bemerkt. Natürlich nicht. Hana wurde nie von irgendjemandem bemerkt. Dieses Gebäude stand für alle Welt leer. Deshalb gab es für alle Welt auch keine Hana, die hier wohnte. Deshalb hatte Hana keine Anschrift. Deshalb bekam Hana verdammt noch mal keine Post. Der zweite Grund, weshalb es sinnlos war Hana zu schreiben, ist die Tatsache, dass Hana nicht lesen konnte. Sie hatte nie in ihrem Leben eine Schule besucht. Hana konnte weder rechnen, noch schreiben, noch lesen. All ihr Wissen stahl sie sich von Fremden. Manchmal saß Hana stundenlang im Park oder auf den Bänken des Alexanderplatzes, nur um den Gesprächen von unbekannten Menschen zu lauschen. Oder sie fuhr mit der Straßenbahn und setzte sich nicht weit von anderen Personen auf einen freien Sitz, um an deren Tratsch, Sorgen und manchmal auch an derer Liebe teilzuhaben. Natürlich besaß sie nie ein Bahnticket, doch Hana brauchte auch keines, denn sie wurde nicht kontrolliert. Es war eine Tatsache, genau wie die, dass sie beim Stehlen nie erwischt wurde. Die Menschen Berlins bemerkten Hana nicht, und das war gut, denn so konnte ihnen Hana ungestört zuhören. Sie wusste kaum etwas von der Welt, doch sie wusste mehr über Fremde, als man in der Schule je lernen würde. Sie wollte nicht in die Schule. Sie wollte das Lesen nicht lernen. Die Worte mussten doch völlig tot und tonlos klingen, wenn man sie auf solch verstümmelnde Weise in ein paar Buchstaben zwängte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein paar Striche auf Papier eine Stimme ersetzen sollten. Denn Hana hatte schon unendlich vielen Stimmen gelauscht, und keine klang wie die andere. Und erst recht keine klang nach toter blauer Tinte. Der dritte Grund war kurz und schmerzlos. Es gab niemanden, der Hana hätte schreiben können. Niemand kannte Hana und Hana kannte niemanden. Sie war allein hier in Berlin. Es gab keinen Menschen, der ihren Namen wusste. Deshalb bekam Hana keine Post. Das war eine felsenfeste Tatsache. Doch der Brief war von Joshuas Wohnung an Hanas Haus adressiert. Das Mädchen hatte das Aussehen der Wörter auf dem Briefumschlag mit dem Namen auf dem Straßenschild verglichen. Mit dem Schreiben in der Hand hatte sie anschließend nach der Hausnummer des Absenders gesucht und war schnell fündig geworden: Bei der Wohnung, von der sie wusste, dass der seltsame schwarzhaarige Junge dort lebte. Schließlich stimmten auch die Wörter an der Klingel und auf dem Umschlag überein - Joshuas Nachname, wie Hana vermutete, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie er ausgesprochen klang. Der Brief war eindeutig an sie adressiert. Wütend wollte sie den Umschlag in eine Ecke pfeffern, doch er stellte sich in der Luft quer und segelte direkt neben dem Stuhlbein zu Boden. Und jetzt? Genervt dachte sie an Joshua. Verdammter Idiot! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)