Spezialeinheit A von kikidergecko ================================================================================ Prolog eins: Joe ---------------- Die USA. Irgendwo in einer orangebraunen Felswüste stand eine alte Ranch mit einem Stall. Auf der Veranda vor der Haustür war eine Hängematte angebracht. Hier lag ein Mann, grob geschätzt Mitte Vierzig, der aussah, als wenn er aus einem Western-Film käme: Er trug ein ausgewaschenes Hemd, das wohl einmal weiß gewesen war, dessen Farbe nun jedoch an einen verblichenen Ockerton erinnerte, außerdem eine ausgebeulte Hose aus Rindsleder, halbspitze Lederstiefel und einen knöchellangen Mantel, ebenfalls aus braunem Rindsleder. Er hatte seinen breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen, so dass man nur noch die Bartstoppeln sehen konnte, zwischen denen auch schon mal das eine oder andere graue Haar zu entdecken war. Doch dies störte ihn nicht, auch er konnte das Altern nicht aufhalten. Er machte sich sowieso nicht sehr viel aus Äußerlichkeiten und hatte auch nie verstanden, warum Frauen sich nur so über ihre Frisur aufregen können. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum seine Frau eines Tages nicht mehr da war, als er aufwachte, nur die kleine Tochter lag noch nebenan im Kinderzimmer und schlief fest und zufrieden. Die Vergangenheit kümmerte ihn jedoch auch nicht, daher hatte er auch diesen Verlust schnell überwunden. Das einzige, was für ihn zählte, war die Gegenwart: das Hier und Jetzt, leben für den Moment und sich nicht um die Zukunft sorgen, das war schon immer seine Philosophie. Selbst als er im Kindesalter sein linkes Auge verlor, war das für ihn schon nach zwei Tagen nicht mehr so schlimm, seine Großmutter war jedoch selbst drei Monate später noch besorgt, dass er nie wieder so leben könne wie früher. Die Haustür stand offen. Eine Windböe fuhr über die Veranda und klapperte am Fliegengitter. Von Drinnen hörte man ein merkwürdiges Geräusch, ein leises, unregelmäßiges ticken auf Holz. Der Mann auf der Veranda schien sich jedoch nicht dafür zu interessieren, vielleicht bekam er es auch gar nicht mit, weil er schlief. Doch dann wurde die Fliegentür aufgestoßen und ein weißes Huhn lief auf die Veranda hinaus, geradewegs auf die Hängematte zu. Es schien, als wenn das Huhn den Mann aufwecken wollte, es flatterte kräftig mit den kurzen Flügeln, um den Körper des Mannes zu erreichen, doch die Hängematte war zu hoch angebracht. Als das Huhn merkte, dass diese Taktik nicht funktionieren würde, fing es schließlich an, lauthals zu gackern. Davon wurde der Mann anscheinend wach, sein Kopf bewegte sich kurz und man hörte ein leises stöhnen. Dann hob er eine Hand und rieb sich das Auge, setzte den Hut wieder auf und wollte aufstehen. Doch anscheinend hatte er es sich anders überlegt. Als er das Huhn bemerkte, hielt er inne, warf ihm einen bösen Blick zu und schleuderte schließlich seinen Hut nach dem Vogel. Davon angestachelt, gackerte das Huhn noch lauter, beinahe hörte es sich wie ein schimpfen an. Der Mann legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch, bevor er das Huhn ein zweites Mal ansah, diesmal erwiderte es seinen Blick und fast konnte man eine gewisse Boshaftigkeit in den Blick des Tieres hineininterpretieren. Schließlich huschte ein Lächeln über die spröden Lippen des Mannes, er murmelte ein paar Worte und schnipste anschließend mit den Fingern. Vom einen Augenblick auf den Anderen verwandelte sich das Huhn mitten auf der Veranda in einen jungen, hübschen Latino. Seine dunkelbraunen Haare fielen ihm in die Augen, die starr auf den Cowboy gerichtet waren. Hätten Blicke töten können, so wäre der Mann in der Hängematte bestimmt auf der Stelle tot umgefallen. Doch dieser kannte die Reaktion wahrscheinlich schon: Er sah nicht besonders beeindruckt aus und wartete darauf, dass der Italiener etwas sagte. Als wenn dies eine Einladung gewesen wäre, sagte der Italiener ziemlich gereizt: „Joe...! Wie oft habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass du mich nicht verwandeln sollst, wenn ich schlafe? Jedes Mal, wirklich jedes Mal tust du das, obwohl ich dir immer wieder sage...“ Hätte Joe ihn nicht unterbrochen, wäre seine Anschuldigung wahrscheinlich noch einige Zeit so wiedergegangen. Doch der Cowboy, immer noch so gelassen wie schon die ganze Zeit, entgegnete: „Ja, ja. ‚Jedes Mal sag ich dir, dass du mich nicht verwandeln sollst, und jedes Mal...’ bla, bla. Ich kann ja dein Temperament verstehen, aber du solltest dich wirklich mal hören: Du klingst wie eine Frau.“ Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wurde immer noch nicht freundlicher, die braunen Augen fixierten seinen Gesprächspartner immer noch hasserfüllt und die Lippen waren ganz schmal. Joe ergriff wieder das Wort. „Gut. Hast du dich genug ausgelassen für den Moment? Dann bin ich jetzt dran, OK? Jedes Mal machst du dieses Theater und jedes Mal sag ich dir, dass es nicht ganz einfach ist, ruhig zu schlafen, wenn man einen unberechenbaren Profikiller im Haus hat. Kannst du das verstehen?“ Der junge Mann sah nicht sehr kompromissbereit aus. „Drei verdammte Jahre wohn ich jetzt schon hier, und du willst mir sagen, dass du immer noch kein Vertrauen in mich hast?“ „Du bist egoistisch, gierig und siehst nicht ein, dass auch mal andere als du Recht haben können. Irgendwie lässt mich das zweifeln...“ Joe grinste, doch sein Gesprächspartner blieb immer noch wie versteinert. „Ach, du kannst mich mal!“ brach es plötzlich aus ihm heraus. Wie ein zickiges Mädchen, das einen Streit verloren hatte, stürmte er hinaus zum Stall. Joe schüttelte nur den Kopf. Die Einstellung werde ich wohl nie verstehen können... dachte er. Plötzlich wurde die Stille der Wüste durch einen heulenden Motor gebrochen, der junge Latino brauste auf einem roten Kawasaki-Motorrad aus dem Stall und den unbefestigten roten Schotterweg in die Weiten der Wüste hinaus. Hinter ihm baute sich eine lange, braunrote Staubwolke auf. Hoffentlich achtet er diesmal auf sein Benzin... Schließlich musste ich ihn letztes Mal schon abschleppen. Dann legte sich Joe in die Hängematte, zog seinen Hut tief ins Gesicht und schlief wieder ein. Das nächste Mal wurde er nicht von dem jungen Latino geweckt, sondern von einer jungen, bildhübschen Frau. Sie trug ein leichtes Sommerkleid in weiß mit einem eingestickten Blütenmuster. Eine Windböe spielte mit ihren langen, blonden Haaren und sie zauberte ein beinahe engelhaftes Lächeln auf ihre Lippen. „Hast du geschlafen? Oh, tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich dachte, du hättest es auch gehört...“ Joe wusste nicht, wovon sie sprach, aber wenn er einmal richtig schlief, dann schlief er. Und wenn man Pech hatte, konnte man das auch nicht ändern. Ein wenig verwirrt richtete er sich in der Hängematte auf und schüttelte den Kopf. „Wovon sprichst du? Ich hab nichts gehört. Aber das ist ja auch nicht sehr verwunderlich...“ Er lächelte das Mädchen an. „Ich hab gerade ein wenig gelesen. Na ja, und dann hab ich auf einmal dieses merkwürdige Geräusch gehört... Als wenn ein... riesiges Pferd oder so etwas angeritten käme.“ „Ein Pferd?“ Joe schüttelte ungläubig den Kopf. „Das einzige Pferd hier ist Betty und die steht drüben im Stall. Selbst wenn hier jemand langgeritten wäre, müsste man den Reiter noch lange sehen.“ Langsam erhob er sich und ging von der Verandatreppe hinunter auf die Straße. Dann sah er sich um; erst in die Richtung der Straße, in die der junge Mann mit seinem Motorrad verschwunden war, dann in die andere. Doch nirgends war eine Spur eines Reiters zu erkennen. Schließlich sah Joe zu Boden, um nach Spuren zu suchen. Im roten Sand waren einige Hufabdrucke zu erkennen. Verwundert ging er in die Hocke und sah sich die Spuren genauer an: Es waren eindeutig Hufe, doch für ein normales Pferd viel zu groß. Außerdem waren die Abdrucke sehr tief im Sand, was bedeuten musste, dass das Pferd sehr viel Gewicht hatte, ob nun Eigengewicht oder Gepäck oder eventuell sogar eine Panzerung, konnte er jedoch nicht fest stellen. Jetzt kam auch die junge Frau von der Veranda herunter zur Straße. Sie blieb hinter Joe stehen und beugte sich ein Stück hinunter, um besser sehen zu können. Er betrachtete die Abrucke noch eine Zeit lang, dann schaute er zu ihr hoch. „Du hattest Recht, es war wirklich ein Pferd. Aber ein sehr großes.“ Er nahm seinen Kopf ein Stück zurück, damit sie die Abdrucke sehen konnte. Als sie die enorme Größe der Hufe erblickte, zog sie ungläubig die Augenbrauen hoch. „So eine riesige Pferderasse kenne ich gar nicht. Selbst Shire Horses haben Kinderfüße dagegen... Und sieh mal, die Hufeisen müssen auch schon ganz abgenutzt gewesen sein.“ Joe beugte sich noch einmal sehr nah über die merkwürdigen Abdrücke. Jetzt erkannte auch er es: Entweder waren die Hufeisen schon sehr abgenutzt, oder sie hatten ein bestimmtes Muster eingraviert. Ohne den Abdruck zu beschädigen, suchte er einen weiteren auf. Jetzt konnte man es besser erkennen: In das Metall waren wirklich Zeichen eingraviert! Doch auf dem sandigen Untergrund konnte man kaum noch Details erkennen. Joe vermutete, dass es Zeichen der Hohen Sprache waren, diese wurde jedoch nur in den zwei anderen Welten gesprochen. Mit der rechten Hand fuhr er sich durch die Bartstoppeln. Was hat das nur zu bedeuten? Warum waren sie hier? Und warum sind sie einfach so wieder verschwunden? So viele Fragen kamen auf einmal in Joes Kopf auf, und auf keine konnte er sich eine Antwort machen. Noch immer voll und ganz in Gedanken, stand er auf und ging langsam wieder zur Veranda zurück. Auf diesen Vorfall musste er erst mal einen Whiskey trinken. Also ging er ins Innere des Hauses, durch einen kleinen Flur in eine einfach eingerichtete Küche. Aus einem kleinen, sehr alt aussehenden Kühlschank nahm er eine halbvolle Flasche mit abgerissenem Etikett heraus, holte sich ein Glas und schenkte sich ein. Schließlich nahm er noch ein paar Eiswürfel aus dem Gefrierfach des Kühlschranks und setzte sich an den einfachen Holztisch, der in der Mitte des Raumes stand. Gedankenverloren nippte er an seinem Getränk, doch plötzlich riss ihn etwas aus den Gedanken. „Hey, Joe! Ich glaub, ich hab was gefunden!“ Das Mädchen kam in die Küche gerannt. In ihren Händen hielt sie einen großen Umschlag aus einem pergamentartigen Material, das jedoch eher an Reptilien- als an Säugetierhaut erinnerte. Auf dem Umschlag stand weder eine Adresse noch ein Absender, das einzige Merkmal, das dieser eigenartige Umschlag aufwies, war ein großes Siegel aus schwarzen Wachs. „Das lag auf der Veranda. Du musst es wohl übersehen haben, als du reingegangen bist.“ Joe sah sie irritiert an. „.... Danke.“ sagte er nur leise und nahm den Umschlag entgegen. Er drehte ihn ein paar mal und begutachtete das merkwürdige Material, schließlich wandte er sich dem Siegel zu. Es war aus pechschwarzem Wachs und wies auffällig viele Details und Feinheiten auf. Es schien, als könnte man sich stundenlang allein an den kunstvollen Schnörkeln des Siegels satt sehen. Doch Joe hatte anscheinend kein Interesse an den Verzierungen, ihn schienen eher die verschnörkelten, schwer lesbaren und ringförmig am Rand des Siegels angeordneten Buchstaben zu interessieren. Er zog die Brauen zusammen und hielt den Umschlag dicht vor seine Augen, als wenn jede Serife und jeder Schnörkel an den Buchstaben höchst wichtig wäre. Man konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Die junge Frau stand noch immer im Raum und sah Joe besorgt zu, wie er den Umschlag begutachtete. Sie war zwar sehr gespannt, was dieses merkwürdige Kuvert wohl beinhaltete, aber gleichzeitig machte sich in ihr ein ungutes Gefühl breit, als wenn dieser Umschlag nur Unheil über sie bringen würde. Sie hätte Joe gerne gefragt, was auf dem Siegel geschrieben war, denn sie konnte die merkwürdigen Buchstaben weder lesen noch irgendeiner ihr bekannten Sprache oder Schrift zuordnen. Im Gegensatz zu ihr schien ihr Vater diese mysteriöse Sprache zu erkennen oder sogar zu verstehen, doch traute sie sich nicht, ihn anzusprechen, da er anscheinend tief in Gedanken war und sie ihn lieber nicht stören wollte, da es sehr den Anschein hatte, als wenn dieser Umschlag wichtige Informationen enthielt. Joe selbst brach schließlich die angespannte Stille. Er schaute zu der Frau hinauf und ließ sich einen Moment Zeit, bevor er etwas sagte, vielleicht suchte er auch nur die richtigen Worte, um seine Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen. „Ich kann es auch nicht richtig lesen, es ist schon sehr lang her, dass ich die Hohe Sprache lernte...“ Die Mimik der jungen Frau brachte ihre innere Gespanntheit und Furcht glasklar zum Ausdruck, tausende Gedanken kreisten in ihrem Kopf nur um das eine: Muss er von hier weg? Wird er mich ganz allein hier in der Wüste zurücklassen? Doch sie sagte nicht das, was sie dachte. „Und wenn der Brief auch in dieser ‚Hohen Sprache’ geschrieben ist, und du ihn nicht lesen kannst? Ist es denn wichtig?“ Den letzten Satz hätte sie sich auch selbst beantworten können: Sie wusste zwar nicht, wo diese „Hohe Sprache“ gesprochen wurde, doch wenn der Umschlag schon aus Pergament und mit einem großen Siegel verschlossen war, konnte es nur wichtig sein. Die Angst, auch noch ihren Vater zu verlieren, trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen. „Ich war noch nicht fertig, keine Angst.“ Joe sah, dass sie mit ihren Gefühlen kämpfte und lächelte sie an, dann sprach er weiter: „Der Brief trägt das Siegel der wichtigsten Regierungsbehörde der drei Welten.“ Die junge Frau wusste zwar weder, was die drei Welten waren noch wo diese Behörde war, schon allein das Wort „wichtig“ ließ den Damm brechen und eine dicke Träne kullerte über ihre ebenmäßig glatte Wange. Sofort stand Joe auf und schloss sie in seine Arme. Das Mädchen wehrte sich weder, noch erwiderte sie die Umarmung ihres Vaters. In diesem Moment wusste sie selbst nicht, ob sie ihn hassen oder lieben sollte. „Du musst weg... oder?“ schluchzte sie vorwurfsvoll und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Jetzt ließ sie die Tränen einfach laufen, auf einmal war es ihr vollkommen egal, dass sie weinte. Joe strich über ihre Haare und fast hätte auch er eine Träne herausgelassen. Doch er konnte sich besser beherrschen. „Ariane... Du bist doch ein großes Mädchen geworden, nicht wahr? Und Miguel ist auch noch da...“ Er wusste selbst, das Miguel diesbezüglich keine große Hilfe war. Der Mexikaner sah zwar blendend aus und war deswegen auch äußerst beliebt beim anderen Geschlecht, doch mit Frauen umgehen konnte er noch weniger als Joe. Er strich seiner Tochter noch einmal zärtlich übers Haupt und holte dann ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche mit dem er ihr vorsichtig die Tränen aus dem Gesicht wischte. Er sah ihr in die Augen und konnte tiefe Trauer und Verzweiflung erkennen. „Komm, setz dich hin. Ich hab den Umschlag ja noch gar nicht geöffnet und du fängst schon an, um mich zu trauern.“ Er lächelte sie an, doch Arianes Gesichtsausdruck blieb unverändert. Sie setzte sich an den Küchentisch und klammerte sich am Taschentuch fest, das sie vor ihrer Brust hielt. Joe setzte sich auch und öffnete vorsichtig den großen Umschlag, sehr bedacht darauf, das Siegel nicht allzu sehr zu beschädigen. In dem Umschlag steckte ein großer Bogen aus dem selben, pergamentartigen Material, der in der Mitte einmal gefaltet war, damit er auch in das Kuvert passte. Joe zog das Papier vorsichtig heraus und faltete es auf. Es schien, als wäre das Dokument ein formeller Brief, doch komplett in den merkwürdigen Schriftzeichen der Hohen Sprache verfasst. Jemand hatte diesen Brief von Hand und mit einer glänzenden schwarzen Tinte geschrieben, die Joe irgendwie an schwarzes Blut erinnerte, obwohl sie überhaupt nicht danach aussah. Trotz dass der Brief handgeschrieben war, hatte er eine regelmäßige und akkurate Struktur, wie sie wohl nur eine Maschine zustande brachte. Nirgends war ein Rand überschritten, überall zwischen den Wörtern und Buchstaben der gleiche Abstand und alle Zeichen waren unheimlich sauber und klar lesbar geschrieben. Joes Befürchtungen, die Hohe Sprache nicht mehr beherrschen zu können, bestätigten sich glücklicherweise nicht. Er musste zwar ein paar mal Inne halten, weil er sich die Bedeutung einiger Zeichen erst einmal wieder ins Gedächtnis zurückrufen musste, doch verstand er den Inhalt des Briefes ohne Probleme. Ariane neben ihm hatte inzwischen aufgehört zu weinen, zu ihrer Trauer und Verzweiflung war jetzt auch unheimliche Neugier gekommen. Schließlich sah Joe von dem Schriftstück auf und seiner Tochter in die Augen. Er überlegte kurz, wie er die Botschaft am besten ausdrücken konnte, damit sie auch nichts falsch verstand. Dann sagte er: „Es wird nicht für immer sein.“ Schon allein dieser Satz war genug für Ariane. Einerseits war sie glücklich darüber, dass sie ihren Vater wiedersehen würde, doch die Trauer über den nahenden Abschied auf ungewisse Zeit überwog deutlich. Diesmal konnte sie sich beherrschen und hielt ihre Tränen zurück. „Wann musst du gehen?“ Längere Sätze konnte sie auf einmal nicht mehr hervorbringen. Trauer und Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu. „Ein genaues Datum steht dort nicht, aber ich würde sagen, so bald wie möglich. Es tut mir leid...“ Das war keine Lüge. Auch Joe musste sich zusammenreißen, um nicht doch ein paar Tränen zu vergießen. Er hasste solche Momente, in denen man nicht wusste, was man jetzt am besten sagen sollte, um sie nicht zu verletzen. Ein Motorengeräusch zerriss die quälende Stille. Das Heulen des Motorrades wurde immer lauter, bis es schließlich verstummte. Ariane stand auf und ging schnellen Schrittes aus der Küche hinaus und in den ersten Stock des Hauses, wo sich ihr Zimmer befand. Sie hatte in ihrem Zustand wirklich keine Lust, auch noch Miguel zu begegnen. Eigentlich kam sie gut mit ihm zurecht, aber er sollte sie nicht völlig verheult zu Gesicht bekommen. Joe faltete den Brief wieder zusammen und knickte ihn noch einmal, damit er in seine Hosentasche passte. Dann steckte er ihn in eben diese und ging langsam und in Gedanken versunken wieder auf die Veranda und legte sich in die Hängematte. Inzwischen war es draußen am Dämmern. Er zog seinen Hut ein Stück weit ins Gesicht und wollte gerade die Augen schließen, da hörte er Miguels Schritte. „Sag mal, pennst du immer noch?“ rief der Latino ihm zu. Es schien, als habe er den Streit von vorhin gänzlich vergessen und lief mit einem breiten Grinsen auf den Lippen auf die Veranda. Vor der Hängematte kam er – zu Joes Überraschung – zum stehen und wartete gespannt, dass der Cowboy sich aufrichtete. Joe schob schließlich den Hut aus dem Gesicht, sodass er Miguel von unten ansehen konnte. Jegliche Anstalten, sich in der Hängematte aufzurichten, machte er jedoch nicht. „Was ist los?“ fragte Joe. „Du siehst irgendwie zu glücklich aus. Soll ich mir Sorgen machen oder hast du Drogen genommen?“ Miguel lachte. „Wo ist Ariane? Ich hab was für sie mitgebracht.“ Er knetete nervös seine Finger und wippte leicht hin und her. Die Frage war ein Grund für Joe, wieder aufzustehen. Seine Tochter wollte bestimmt nicht, dass sie Miguel so sieht. Also richtete er sich in seiner Hängematte auf und sah dem vor Freude zappelig gewordenen Italiener in die Augen. „Ich glaube, du solltest es ihr morgen geben. Sie ist in ihrem Zimmer und versucht, ihren Kummer in den Griff zu bekommen.“ Aber wehe, du gehst hoch zu ihr... In Miguels Gesicht machte sich Verwunderung breit. „Warum? Was ist los mit ihr? Was ist passiert?“ Joe wusste, dass diese Frage kommen würde. „Warte hier. Ich hol mir nur schnell was zu trinken.“ Er stand aus der Hängematte auf und ging in die Küche. Miguel wusste, dass es schon etwas sehr ernstes sein musste, wenn Joe sich noch „schnell was zu trinken“ holen musste. In der Küche ging Joe als erstes instinktiv zum Kühlschrank, doch dann sah er sein Glas mit Whiskey, dass er sich vorhin schon geholt hatte. Er nippte kurz an dem Getränk, zog eine Grimasse und tat noch ein paar Eiswürfel in das Glas. Dann ging er wieder auf die Veranda zurück. Er hatte überhaupt keinen Plan, wie er Miguel das alles erklären sollte. Draußen saß der Latino auf den Stufen der Veranda und schaute starr in die Wüste. Joe setzte sich zu ihm und stellte sein Glas beiseite, nachdem er einen großen Schluck genommen hatte. „Du kennst die Geschichte mit meiner Frau, nicht wahr? Wie ich vor 7 Jahren einfach morgens aufwachte, und das Bett leer war? Ich habe es dir bestimmt schon erzählt.“ Miguel nickte nur und sah weiter in die schier unendliche Weite der Wüste im Dämmerlicht hinaus. „Ariane war damals zwar noch sehr jung – ich bezweifle, dass sie es damals wirklich mitbekommen hat – aber ich war und bin auch jetzt nicht in der Lage, ihre Mutter zu ersetzen. Ich habe ja selbst jetzt noch Probleme, allein ein guter Vater zu sein.“ Joe atmete tief durch und nahm noch einen Schluck Whiskey. „Na ja, und heute ist ein Brief gekommen. Ein sehr spezieller Brief. Habe ich dir von den drei Welten erzählt?“ Er wartete die Antwort nicht ab. „Es gibt nicht nur diese Welt mit uns Menschen... Sondern noch zwei Parallelwelten. Du musst es mir nicht unbedingt glauben, es ist sehr schwer für Außenstehende, das zu verstehen. Auf jeden Fall habe ich von einer Behörde aus einer der Parallelwelten heute einen Brief erhalten. Es reicht vollkommen, wenn du dir vorstellen kannst, das er von ‚weit weg’ kommt... Woher genau ist nicht wichtig für dich.“ Joe hoffte, dass der Latino ihm auch glauben würde. „Ich muss weg. Dorthin, in diese Parallelwelt, so schnell wie möglich und auf unbestimmte Zeit. Ich habe Ariane zwar gesagt, dass ich wiederkommen werde, doch jetzt bin ich mir selbst nicht mehr sicher. Sie ist deswegen ziemlich aufgelöst gewesen. Ich kann das gut verstehen, auch für mich war es bis jetzt nicht immer einfach ohne ihre Mutter. Und nun geht auch noch ihr Vater weg... Miguel? Ich möchte von dir, dass du auf meine Kleine aufpasst, solange ich weg bin. Ich bin mir sicher, dass sie dich nicht so hasst, wie sie immer vorgibt... Frauen halt.“ Er lächelte kurz, bevor er weitersprach. „Glaubst du, dass du das schafft? Ich kann mir gut vorstellen, dass es durchaus mehrere Jahre werden können...“ „Was hast du denn da so wichtiges zu erledigen? Mehrere Jahre...“ Miguel konnte es kaum fassen. Einfach so, von heute auf morgen, ohne jede Vorwarnung musste Joe einfach so weg von hier. „Hast du vielleicht was verbrochen oder so? Ganz unschuldig siehst du ja auch nicht aus...“ Der Witz ging voll daneben. Joe war in diesem Moment überhaupt nicht nach scherzen zu mute. „Kannst du was für dich behalten?“ „Natürlich!“ antwortete Miguel mit entrüstetem Unterton. „Ich war fast mein ganzes Leben lang bei der Mafia, da muss man dichthalten, wenn man sich die Radieschen nicht von unten angucken will!“ „Also gut. Ich verlange nicht von dir, dass du mir das glaubst, aber ich bin bei so was wie einer... Elitekampfeinheit, um es mit deinen Worten auszudrücken. Ist aber alles streng geheim, selbst ich weiß nichts von den anderen Mitgliedern... Noch nicht einmal, was ich machen muss. Aber ich bin mir sicher, dass es nur eine Übung ist...“ Jetzt richtete sich Miguels Blick zum ersten Mal in diesem Gespräch direkt auf den Cowboy neben ihm, der gerade einen großen Schluck Whiskey nahm. Man konnte die Überraschung, die dem Italiener förmlich ins Gesicht geschrieben stand, deutlich sehen. „Du willst ein Elitekämpfer sein? Ok, das würde die Sache mit dem Huhn erklären, aber du bist doch gar nicht trainiert! Solche Leute müssen Ausdauer ohne Ende und blitzschnelle Reflexe besitzen... Und bei dir hab ich so was bis jetzt noch nicht bemerkt... Und womit willst du überhaupt kämpfen? Du kannst doch gar nicht mit Waffen umgehen!“ Joe grinste nur. „Glaubst du, dass du alles über mich weißt? Ganz bestimmt nicht. Aber ich kann dich trösten: Ariane weiß genauso wenig wie du. Und jetzt sogar noch weniger. Nur wehe, wenn du ihr oder irgendwem anders das erzählst!“ „Du hast mein Versprechen. Ich werde auf sie aufpassen, wie auf meinen Augapfel, das kannst du mir glauben!“ „Gut.“ Entgegnete Joe nur. „Dann packe ich jetzt meine Sachen. Vor Sonnenaufgang werde ich dann losreiten.“ „Moment. Du willst reiten? Du hast doch eben selbst gesagt, wie weit weg das ist! Und dann mit dem alten Gaul... Mit dem kommst du doch nicht mal bis zu nächsten Stadt! Von mir aus kannst du gerne meine Kawasaki nehmen, damit bist du auf jeden Fall um einiges schneller.“ „Gewöhn dir lieber ab, alle Dinge nach ihrem Aussehen zu beurteilen. In mir hast du schließlich auch keinen Elitekämpfer vermutet. Und selbst vollgetankt würde mich dein Motorrad auch nicht annähernd so weit bringen wie Betty. Danke für dein Angebot, aber ich weiß schon, was ich tue.“ Mit diesen Worten stand Joe auf, nahm sein Whiskeyglas und ging ins Haus. Miguel war auf einmal wieder vollkommen fassungslos. Elitekämpfer, Parallelwelten, reiten... Also entweder ist er total abgedreht oder hier läuft eine gigantische Verschwörung... Er legte sich vor die Veranda in den Staub der Felswüste. Inzwischen war es Nacht geworden und viele Sterne standen am Himmel. Schon seit er ein kleines Kind war, hatten Miguel die Sterne immer fasziniert. Streng katholisch erzogen hatte er früher immer geglaubt, dass die Sterne die Lichter in den Häusern der Engel wären, und der Mond wäre das Licht von Gottes Haus. Später hatte er diesen Glauben natürlich verworfen, da ihm in der Schule von der Astronomie erzählt wurde. Auch seinen Glauben an Gott und die Engel gab Miguel irgendwann auf. Das einzige, an das man als Profikiller glauben sollte, waren die Kontoauszüge. Doch auf einmal war er sich nicht mehr ganz so sicher, ob man ihm wirklich das richtige erzählt hatte. So viele Gedanken und Möglichkeiten kreisten in seinem Kopf, dass ihm schwindelig wurde. Miguel schloss die Augen, und schon bald kam der Schlaf über ihn. Joe stand derweil in seinem Schlafzimmer im ersten Stock und überlegte vor dem offenen Schrank, was er am besten mitnehmen sollte. Zu viel Gepäck würde hinderlich werden, das wusste er. Doch was könnte man entbehren? Schließlich nahm er ein weiteres Hemd, eine Hose und etwas Unterwäsche zum Wechseln aus dem Schrank und packte die Sachen in einen Schultersack, wie man ihn bei Seefahrern oft sieht. Dann schnürte er den Sack locker zu und verließ mit ihm über der Schulter den Raum. Vor Arianes Zimmer hielt er kurz inne um zu horchen, ob sie auch wirklich schlief. Als er kein Geräusch hören konnte, ging er schließlich die Holztreppe hinunter und in die Küche. Joe nahm aus einem Schrank einen kleinen Kochtopf und eine Pfanne mit abschraubbarem Stiel und tat die Sachen ebenfalls in den Sack. Auf dem Küchentisch lagen neben dem Pergamentumschlag noch ein paar Zettel und ein Stift. Nach kurzem Überlegen nahm Joe einen Zettel und den Stift und schrieb: Mein Schatz, Bitte vermiss mich nicht zu sehr, ich werde zurückkommen. Miguel habe ich gesagt, er soll auf dich aufpassen, mach es ihm nicht allzu schwer. Joe. Er war noch nie ein Mann großer Worte gewesen, für ihn zählten nur die Taten. Ein letztes Mal verließ Joe die Küche und ging hinaus auf die Veranda. Dort sah er Miguel im Staub liegen und schlafen. Er wollte ihn nicht aufwecken und versuchte deswegen, so leise wie möglich zu sein. Ohne ein Geräusch zu machen, schlich Joe zum Stall und öffnete vorsichtig die morsche Holztür. Im Stall stand neben dem Motorrad und dem Schimmel Betty noch ein paar große Stroh- und Heuballen und einige Holzkisten. An der Wand hingen auf rostigen Nägeln aufgehängt ein Halfter, Zügel und ein alter Sattel. Daneben standen eine Heugabel, eine Harke und eine rostige Sense and die Wand gelehnt. Zu erst ging Joe zu den Holzkisten und öffnete eine, die ganz unten stand. Er nahm ein merkwürdiges, langes Eisenwerkzeug aus der Kiste und legte es in den Sand, der den Boden der Scheune bedeckte. Dann holte er noch einen grauen Stoffbeutel aus der Kiste und öffnete den Knoten. Zum Vorschein kam ein Gürtel mit zwei Waffenholstern. Joe legte sich den Gürtel an und nahm schließlich noch zwei kunstvoll gefertigte, schwere Trommelrevolver mit polierten Holzgriffen aus dem Beutel, der nun leer war. Er klappte kurz die Trommeln auf, um sich zu vergewissern, dass sich auch keine Insekten oder Staub darin befanden. Die Revolver waren beide ohne Patronen und Joe machte auch keine Anstalten, sich welche einzustecken Er tat die Revolver in die Holster verschloss die Kiste. Dann nahm er den Sattel von der Wand und ging zu seinem Pferd, das vor einem Heuhaufen stand und genüsslich kaute. „Tja Betty, jetzt ist’s aus mit dem süßen Leben.“ flüsterte Joe dem Pferd ins Ohr und sattelte es. Dann nahm er noch den Halfter und die Zügel von der Wand und legte sie der Stute an, die diese Prozedur einfach über sich ergehen ließ. Anschließend nahm Joe das merkwürdige Werkzeug, das er aus der Kiste geholt hatte und band es am Sattel fest. Er schulterte seinen Sack mit den Wechselsachen und dem Kochgeschirr und stieg auf das Pferd. Betty und Joe waren ein eingespieltes Team: Schon die kleinste Bewegung reichte aus, damit Betty das richtige tat. So ritten die beiden aus dem Stall hinaus. Vor dem alten Haus hielt Joe an. Miguel lag noch immer im Staub und schlief. Wehmütig atmete Joe tief durch und formte schließlich mit dem Fingern eine abstrakte Figur und schloss die Augen. Auf einmal begann die Luft vor den beiden zu flirren, obwohl es angenehm kühl war. Joe öffnete die Augen nicht, und auch Betty schien nicht sehr beeindruckt, sie kannte diese Prozedur anscheinend schon. Langsam hob Joe den Kopf und öffnete schließlich die Augen und löste auch seine Fingerhaltung wieder. Mit einem leichten Druck in die Seiten des Pferdes setzte Betty sich in Bewegung und lief geradewegs auf die noch immer seltsam flirrende Luft zu. In dem Augenblick, in dem sie in diese Spiegelung hineintrat, verschwanden sowohl Ross als auch Reiter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)