90 Minuten von abranka ================================================================================ Kapitel 26: XXVI. Wenn ein Spiel alles verlangt ----------------------------------------------- Das Tor ist in der 90. Minute gefallen. Verlängerung. Die Dortmunder können es noch immer kaum glauben und jubeln weiterhin überschwänglich mit Acun, der diese Saison noch nicht übermäßig oft getroffen hat und sich umso mehr über dieses so wichtige Tor freut. Mit Euphorie gehen sie in die kurze Pause vor der Verlängerung, teilen Wasserflaschen und holen sich Instruktionen von Knie. Dessen Anweisung ist einfach: „Spielt. Spielt, so gut ihr könnt.“ Und genau das wollen sie auch tun. Das und nichts anderes. Egal, wie sehr ihnen die 90 Minuten Rennen und Kämpfen in den Knochen stecken. Egal, wie wenig Chancen ihnen irgendjemand ausrechnen mag. Sie können das hier schaffen. Und sie wissen das. Sie wissen das so verdammt genau. Sie müssen nur zusammenhalten und als Team funktionieren. Mit einem Regisseur in der Mitte, der die Fäden zieht, die Angriffe und auch die Abwehr organisiert. Stillschweigend rückt Raphael weiter ins zentrale Mittelfeld, direkt neben Alejandro, der sich wiederum nach hinten fallen lässt. Der junge Mittefeldspieler soll es richten. Sie wissen, dass er es kann. Alejandro weiß es, denn sonst würde der Kapitän niemals seine Stammposition so einfach aufgeben. Aber auf Eitelkeiten und Sturheit kommt es hier nicht an, sondern einfach nur auf das Spiel. Nur der Fußball zählt, nichts sonst. Den und dieses Spiel, das stellen sie jetzt über alles. Es ist ein einziger Kampf. Leverkusen lässt nicht nach und die Dortmunder auch nicht. Sie rennen sich noch tot, so fühlt es sich an. Auch wenn die Partie jetzt deutlich an Tempo verliert. Selbst Kießling und der heute wie aufgedreht spielende Schneider auf der Bayer-Seite werden deutlich langsamer. Julian ist es schließlich, der als erster mit Krämpfen liegen bleibt und dem Gabriel das Bein dehnen muss. Auch Raphael tun die Beine weh. Bei ihm dauert es wahrscheinlich auch nicht mehr lange, bis ihn ein Krampf erwischt, aber nichtsdestotrotz macht er weiter. Zwingt sich dazu, so wie das ganze Team. Das Spiel verliert deutlich an Tempo, wird langsamer, viel müder. Die Fehler auf beiden Seiten häufen sich und keiner bringt mehr eine wirklich gute Aktion zustande. Die Feuer im Strafraum, die die ganzen regulären 90 Minuten und die erste Hälfte der Verlängerung über gelodert haben, sind erloschen. Doch dann passiert es: Fehlpass im Dortmunder Mittelfeld, Schneider gibt einen unglaublich langen Ball nach vorne, Kießling schafft es irgendwie, noch genug Kraft zu mobilisieren, um die FC-Abwehr zu überrennen – und dann ist der Ball im Tor. Wie sollen sie das bloß noch schaffen? Wie denn? Sie haben noch zwei Minuten. Zwei winzige Minuten, um auszugleichen. Raphael sieht ihre Chancen schwinden. Das war’s dann wohl. „Wir gehen nach vorne“, sagt Alejandro neben ihm. „Alle. Ob wir mit einem oder zwei Toren verlieren, ist scheißegal. Sturmlauf.“ Raphael nickt. Ihr Kapitän weigert sich, jetzt aufzugeben, und ist bereit, alle verbliebenen Kräfte zu mobilisieren und in die Waagschale zu werfen. Er ist ihre Galionsfigur, ihr Anführer. Und er macht Raphael Mut – und ihm kommt eine Idee. Leise flüstert er dem Kapitän seinen Plan ins Ohr, wie sie nach dem Anstoß das wichtige Tor machen können. Anstoß. Raphael passt rüber zu Julian. Die Abwehrspieler und sogar Reine kommen nach vorne. Jetzt ist eh alles egal. Julian gibt den Ball zu Alejandro weiter, der zum Killer und der wieder zu Raphael. Jetzt sind sie alle vorne am Bayer-Strafraum und das recht junge Team scheint verwirrt. Allein der alte Hase Schneider scheint den Braten zu riechen, aber einer allein kann natürlich nichts verhindern, auch wenn er lautstark Anweisungen brüllt. Raphael passt zu Gabriel. Jetzt kommt es darauf an, dass der Brasilianer noch genug Energie für ein Solo hat – und irgendwie kratzt er die zusammen. Dann die Flanke. Reine, ihr Torwart, der natürlich auch mit nach vorne gegangen ist, kommt als erster an den Ball, doch Castro wirft sich dazwischen. Acun schießt – und trifft die Latte. Der Ball kommt erneut zurück, ein Leverkusener schlägt ihn raus und schießt Raphael an. Der denkt nicht lange noch, sondern hält einfach aufs Tor drauf. Mürre hat noch den Fuß dazwischen und so landet das Leder vollkommen unhaltbar für Adler im Netz. Raphael reißt die Arme hoch und schreit sich die Erleichterung von der Seele. Das Team ist sofort bei ihm. Reine reißt ihn hoch, hebt ihn wie eine Trophäe in die Luft, während die anderen sie beide umarmen. Der Schiedsrichter pfeift angesichts der Zeit nicht noch einmal an. Und das heißt Elfmeterschießen. Die Dortmunder sitzen nahezu vollkommen erledigt auf dem Rasen. Elfmeterschießen also. Und sie können es immer noch schaffen. Knie geht rum und sucht die Schützen zusammen. Acun hat er schon und den Killer. Außerdem Alejandro und Julian. „Raffe?“ Raphael nickt nur. Eigentlich will er nicht und fühlt sich zu angespannt dafür, doch sie haben vor dem Spiel natürlich über ein Elfmeterschießen gesprochen. Und sie fünf sind einfach die sichersten Schützen. „Als letzter“, fügt Raphael noch hinzu und steht langsam auf. Mit bedächtigen Schritten geht er rüber zu den anderen Dortmunder Schützen. Jetzt ist es also an ihnen und an Reine. Reine, der zwar ein wirklich guter Keeper ist, aber absolut kein Elfmeterkiller. Adler wird als erstes ins Tor gehen und damit muss Alejandro als erster schießen. Raphael beobachtet ihren Kapitän, als er auf den Punkt zugeht und sieht dann Adler an. So viel Aufmerksamkeit hat er dem jungen Leverkusener Torwart und der Nummer zwei im Tor der Nationalmannschaft – nach Timo Hildebrand – noch nie geschenkt. Angespannt sieht er aus, aber konzentriert. Und in Sachen Elfmeterschießen gilt er auch schon als zweiter Jens Lehmann. Die Anspannung ist kaum noch zu ertragen, als Alejandro anläuft und schießt. Und der Ball ist drin! Torwartwechsel, während Schneider zum Elfmeterpunkt marschiert. Der Leverkusener Kapitän sieht müde aus. Vielleicht heißt das ja, dass Reine eine Chance hat. Schneider läuft an, schießt, Reine saust in die linke Ecke – und der Ball springt knapp am rechten Pfosten vorbei ins Aus. Schneider hat verschossen. Jetzt heißt es Acun gegen Adler. Der junge Türke ist unglaublich nervös und als Raphael ihm die Hand auf die Schulter legt, um ihm etwas Mut zu spenden, spürt er, wie sehr dieser zittert. Verdammt, das kann so nichts werden. Wird es auch nicht. Adler hat den Ball. Jetzt ist Rolfes dran, sein persönliches Duell gegen Dirk Reinolfs anzutreten. Der Dortmunder Keeper befeuchtet sich nervös die Lippen, als sich der Jungnationalspieler den Ball zurechtlegt. Die Dortmunder Fans drehen nur wenige Sekunden später fast durch, denn Reine hat den Ball irgendwie noch mit den Fingerspitzen erwischt und über die Latte gelenkt. Ganz knapp, aber das ist egal. Julian tritt jetzt nach vorne und Raphael ist noch aufgeregter, wie wenn er selbst schießen würde. Er krallt seine Hand so fest in die Schulter des Killers, dass dieser einen leisen Laut der Empörung von sich gibt. Mehr sagt Dariusz jedoch nicht, als er Raphaels bleiches Gesicht sieht, sondern legt ihm nur aufmunternd den Arm um die Schultern. Julian läuft an – so leicht und kraftvoll, dass es Raphael beinahe das Herz zerreißt. Er schießt – und der Ball segelt so eben an Adlers Fingerspitzen vorbei ins Netz. Raphael atmet tief durch und hat das Gefühl, als wenn eine gigantische Last von seinen Schultern fällt. Julian trabt lächelnd zurück, während auf der Leverkusener Seite Kießling zum Punkt geht. Der junge Nationalstürmer hat es nicht nur faustdick hinter den Ohren, sondern auch einen genialen Torriecher, den er heute ja schon mehrfach unter Beweis gestellt hat. Er läuft nur kurz an und schlinzt den Ball dennoch vollkommen unhaltbar ins Tor. Damit sind die Leverkusener wieder dran. Und jetzt ist der Killer an der Reihe. Dariusz geht mit festen Schritten hinüber und legt sich den Ball zurecht. Einen Augenblick bleibt er stehen und blickt auf das Tor, ehe er einige Schritte zurücktritt. Erneut bleibt er stehen und läuft dann an. Beim letzten Schritt rutscht er weg, er trifft den Ball zwar noch, semmelt diesen jedoch weit hinauf in den Dortmunder Nachthimmel. Jetzt wittern die Leverkusener Morgenluft. Wenn Manuel Friedrich trifft, dann ist bei den letzten Bällen wieder alles offen. Der junge Abwehrspieler marschiert forsch zu dem Ball, doch seine Augen verraten die Aufregung und Nervosität. Er läuft an, will erst verzögern, macht es dann doch nicht und zielt vollkommen vorhersehbar nach rechts unten. Reine faustet den Ball sicher weg. Jubel brandet im Stadion auf „Reine!“-Sprechchöre gellen durch die Runde. Doch noch ist nichts sicher. Erst, wenn auch Raphael getroffen hat. Mist. Er hat gehofft, dass die anderen vier so sicher sind, dass er nicht mehr ranmuss und jetzt ruht die Verantwortung wieder auf seinen Schultern. Er wollte sie doch nie, aber irgendwie trägt er sie am Ende doch immer. Ihm ist vor Aufregung und Anspannung fast schlecht, als er in den Strafraum geht. Oh, verdammt. Kann er nicht einfach abhauen? Aber nein, das geht nicht. Er rennt nicht mehr weg. Nie wieder. Langsam legt er sich den Ball zurecht. Für das Team, für Julian, für den Killer, für Alejandro, für Knie, für sie alle – wird er jetzt treffen. Er strafft die Schultern und tritt zurück. Adler fixiert ihn aufmerksam, doch er ignoriert den Leverkusener Torwart. Er schließt die Augen und öffnet sie einen Augenblick später, als der Pfiff erklingt und rennt los. Ohne noch einmal auf das Tor zu schauen, schießt er. Adler fliegt in die linke Ecke, während der Ball sauber direkt in der Mitte unter der Latte einschlägt. Raphael bleibt gar nicht erst stehen, sondern rennt auf Reine zu, dem sie diesen Halbfinaleinzug noch mehr zu verdanken haben als ihm. Seine Ohren klingeln von dem Lärm, den die Dortmunder Fans veranstalten – und Fußball, Fußball ist in dem Moment wirklich alles, was zählt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)