Werewolf Fairytale von beautiful_Nightmare (Es gibt noch keine Kunst, die innerste Gestalt des Herzens im Gesicht zu lesen. (William Shakespeare)) ================================================================================ Kapitel 2: Nachtwanderung ------------------------- Ich hätte andere Schuhe anziehen sollen. Aber wer rechnete schon damit, dass sich ein gemütlicher Kinoabend als Fressgelage mit anschließender Nachtwanderung herausstellen würde? Ich nahm mir vor, nie wieder etwas anderes zu tragen als Turnschuhe, wusste aber, dass ich diesen Vorsatz bei der nächsten Gelegenheit, in welcher ich meine heiß und innig geliebten hohen Schuhe anziehen konnte, wieder vergessen würde. Seufzend stoppte ich meine Schritte und sah misstrauisch zum Himmel. Ich wusste, dass man sich in solchen Situationen niemals ausmalen durfte, was alles noch schlimmer kommen konnte, weshalb ich tunlichst vermied an irgendwelche Vergewaltiger, Mörder oder Entführer zu denken. Trotzdem hatte ich Angst, dass die Wolken, die sich bedrohlich am Himmel wölbten, und die Nacht dunkler erschienen ließen, als sie eigentlich war, da sie ständig den Mond verdeckten, gleich ihre gesamten Inhalt entleeren würden. Nach kurzem Zögern zog ich meine Schuhe aus und stopfte sie in meine Umhängetasche. Lieber eine Woche mit Erkältung im Bett liegen, als drei Wochen nicht laufen können, wegen Blutblasen an den Füßen. Außerdem würde ich wahrscheinlich meine Schuhe ruinieren, wenn ich mit ihnen durch den drohenden Regen latschen würde. Wildleder und Wasser vertrugen sich nicht so gut. Während ich also so durch die Dunkelheit lief, begann ich meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Sie hatten 25 Kilometer Zeit, um all das grad Geschehene irgendwie zu verarbeiten. Und, um irgendwie herauszufinden, warum Jacob, den ich gar nicht wirklich kannte, dem ich also gar nichts hatte getan haben können, mich so derart…ja, fast schon hasste. Ich hatte mich nicht richtig benommen, das wusste ich selbst. Doch ich wunderte mich über mein Verhalten – normalerweise war ich zwar schlagfertig und ironisch, aber bei weitem nicht so zickig und angriffslustig, wie ich es heute gewesen war und ich versuchte herauszufinden, woran das lag. Vielleicht konnte ich einfach nicht mehr mit Menschen meines Alters umgehen? Ich schüttelte leicht den Kopf. Nein, dafür war die vergangene Zeitspanne zu kurz. Das konnte es nicht sein. Nachdenklich legte ich die Stirn in Falten, während ich auf meine Füße stierte und überlegte wie lange ich hier schon lief. Bestimmt schon etwa eine halbe Stunde. Jacob hatte Amy garantiert schon bei Helen abgeliefert und mit Sicherheit machte meine Gastmutter sich grade ziemliche Sorgen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie Jacob einen langen Vortrag über Verantwortungsgefühl und gutes Benehmen gegenüber jungen Damen hielt und sich dabei furchtbar in Rage redete. Amy machte sich bestimmt keine Gedanken mehr um das, was vorgefallen war und hatte sich vor den Fernseher gehangen, froh, dass sie um diese Uhrzeit noch die tausendste Wiederholung irgendeiner Kinderserie sehen konnte, da ihre Mutter mit anderen Dingen beschäftigt war. Ich wunderte mich nur, ob Jacob Helen zuhörte – wenn er ihr Gerede überhaupt über sich ergehen ließ und nicht einfach nur Amy vor der Haustür abgesetzt hatte und weitergefahren war. Erneut seufzte ich und spielte mit dem Gedanken mich einfach an den Straßenrand zu setzen und zu warten. Worauf warten wusste ich selbst nicht so genau. Ich hatte keine Lust mehr weiter zu gehen. Hätte ich mir vorher überlegen sollen. Trotzdem lief ich weiter. Brachte ja nichts, wenn ich hier blieb. Davon kam ich auch nicht in La Push an. Ich hob den Blick von der Straße, sah in den Himmel und beobachtete die Wolken, während meine Füße mich weiter gerade aus trugen. Ich war mir sicher, wenn man mir einen Fensterrahmen gegeben, den ich mir vor das Gesicht halten können hätte, währe die Zeit wie im Flug vergangen. So aber kroch sie gerade zu dahin und ich fragte mich, wie lange ich mit meiner momentanen Geschwindigkeit wohl noch brauchen würde, um zurück zum Haus meiner Gasteltern zu gelangen. Schließlich gab ich auf abzuschätzen, wie schnell ich lief, wie lange die Strecke noch war und anhand meiner ungenauen Werte zu versuchen auszurechnen, wie viele Stunden ich noch brauchen würde, um anzukommen. Als ich bemerkte, was ich dadurch eigentlich bezwecken wollte, schimpfte ich mich innerlich selbst aus. Ich hatte mir doch grade vorgenommen herauszufinden, warum mich dieser überdimensional große Junge, Jacob, so verabscheute, während seine Freunde – naja, jedenfalls einer seiner Freunde – ziemlich gut mit mir klar zu kommen schien. Und jetzt versuchte ich mich selbst abzulenken. So ging das nicht an. Also ging ich alle Dinge durch, weswegen ich Menschen nicht leiden konnte. Vielleicht lag darunter ja der Grund, weshalb Jacob mich nicht mochte. An mangelnder Körperhygiene lag es definitiv nicht; immerhin ging ich jeden Morgen duschen. Meine Stimme war ganz normal, nicht zu hoch, nicht zu tief und nicht kratzig; es war also kein Kampf mir zuzuhören. Ich war auch nicht zu aufdringlich – immerhin hatten die Jungs mich gefragt ob ich etwas mit ihnen unternehmen wollte, nicht umgekehrt. Und es war ja auch nicht so, dass ich schüchtern war und Konversation aus dem Weg ging. So ging ich hunderte Kleinigkeiten durch, während ich lustlos weiterging und spürte, wie meine Füße langsam taub vom kühlen Asphalt unter ihnen wurden. Kurz spielte ich mit dem Gedanken meine Schuhe wieder anzuziehen, als mir einfiel, dass meine Füße ziemlich schmutzig sein mussten – auch, wenn ich das jetzt in der Dunkelheit wohl nicht so gut erkennen konnte. Schließlich erkannte ich in einigen Metern Entfernung ein weiteres Straßenschild, dass anzeigte, wie weit ich mich von der nächsten Ortschaft entfernt aufhielt. Euphorisch rannte ich darauf zu, stand dann schließlich vor dem Schild und stand kurz davor zu weinen. Ich hatte bisher nicht mal die Hälfte des Weges geschafft. Und gottverdammt noch mal nicht einmal ein dämliches Handy, mit dem ich mir ein Taxi bestellen konnte. Mir entfuhr ein frustriertes Schnauben als ich mich von dem Schild abwandte, meine Haare über die Schulter schmiss und einen theatralischen Abgang hinlegte. Auch, wenn keiner sah wie elegant ich die dunkle Straße hinabmaschierte – ich brauchte das jetzt. Ich lief vielleicht fünf Minuten im blinden Zorn einfach zügig der Straße folgend ohne auch nur an irgendetwas zu Denken. Dann kam der Regen. Und die Erkenntnis. Vielleicht lag es gar nicht an dutzenden von Details, dass Jacob mich nicht mochte. Vielleicht lag es einfach an meiner ganzen Art. Und damit, dass ich so gereizt darauf reagierte, dass er mich einfach nicht abkonnte, machte ich wahrscheinlich alles nur noch schlimmer. Wie angewurzelt blieb ich stehen, atmete tief durch und horchte in mich herein. Ja, das war eine durchaus plausible Erklärung. Trotzdem warf sie eine neue, nicht wirklich leichter zu beantwortende Frage auf. Warum in aller Welt ging ich davon aus, dass Jacob mich zu mögen hatte? Ich wusste, dass ich ein Mensch war, den nicht jeder ab konnte. Mit meinen ironischen Bemerkungen kam nicht jeder klar. Man musste mich auch nicht mögen. Ich konnte damit umgehen, wenn jemand nichts mit mir zu tun haben wollte – es gab stets genug andere Menschen, die mich dafür umso lieber mochten und meine durchaus vorhandenen Vorteile zu schätzen wussten. Trotzdem schien es einfach falsch, dass ausgerechnet Jacob mich nicht mögen sollte. Und ich konnte es drehen und wenden – ich wusste nicht warum. Bei allen anderen Menschen in ganz La Push war es mir ziemlich egal gewesen, was von mir gedacht oder gehalten wurde. Klar, ich hätte mich gefreut, wenn mich jemand gemocht hätte und war überaus erleichtert gewesen, da ich mich super mit meiner Gastfamilie verstand. Aber im Groben und Ganzen war es mir relativ egal gewesen, ob jemand mich jetzt erträglich fand oder nicht. Warum sollte dies ausgerechnet bei diesem großen, mürrischen Jungen, der mich mitten im Nirgendwo ausgesetzt hatte, anders sein? Perplex blieb ich stehen, als ich feststellte, dass es mich tatsächlich verdammt störte und ich wohl nur deshalb so aufmüpfig, fast schon unverschämt frech ihm gegenüber gewesen war. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde es, dass jede Faser meine Körpers etwas dagegen hatte von Jacob nicht gemocht zu werden. Das war doch absurd! Wahrscheinlich lies diese Einöde und Abgeschiedenheit mein Hirn irgendwie verdorren. Eine andere Erklärung gab es nicht. Jedenfalls keine, die für mich akut offensichtlich gewesen wär. Ich strich mit mein mittlerweile klatschnasses Haar aus dem Gesicht und war mir ziemlich sicher, dass ich aussehen musste wie ein begossener Pudel. Meine Schminke war wahrscheinlich ebenso ruiniert wie meine Frisur, aber das machte mir nichts. Immerhin sah mich keiner. Seufzend und bis auf die Unterwäsche nass setzte ich schließlich meinen immer noch viel zu langen weg fort. Erneut. Ich fragte mich, wie oft ich wohl noch dazu ansetzen müssen würde. Und, wie lange ich wohl brauchen würde. Gerade spielte ich mit dem Gedanken, trotz der Nässe und der Tatsache, dass ich barfuss war, einfach loszujoggen und zu schauen, wie weit ich so kam, als ich mich doch tatsächlich und absurder Weise beobachtet fühlte. Ich war irgendwo im Nirgendwo. Soweit abseits von jeder Zivilisation, dass es höchst unwahrscheinlich war hier anderem menschlichen Leben zu begegnen. Warum sollte sich auch ein Massenmörder oder Vergewaltiger hier herum treiben? Für gewöhnlich gab keine Menschen die hier herumspazierten, besonders nicht im Dunkel. Es war also höchst unangebracht jetzt in Panik zu verfallen. Trotzdem meinte ich einen Blick auf mir zu spüren. Und auch, wenn man nicht schneller laufen, sondern ruhig bleiben sollte, wenn man sich verfolgt fühlte, um seine Panik nicht zu zeigen, warf ich einen Blick über die Schulter – sah natürlich nichts – und rannte los. Irgendwann, nachdem ich die ganze Zeit stupide der Straße folgend gerade aus gerannt war und mittlerweile dankbar für meine Idee die Schuhe ausgezogen zu haben war, da ich mir diese sonst wahrscheinlich komplett ruiniert hätte, wurde ich langsamer, blieb schließlich keuchend stehen. Ich war zwar nicht sonderlich unsportlich, aber fürs Sprinten im Regen anscheinend nicht geschaffen. Mein Kreislauf fuhr runter, die Panik breitete sich wie eine warme, klebrige Masse in mir aus und beides zusammen sorgte dafür, dass ich zitterte wie Espenlaub. Das Bedürfnis sich zu setzen machte sich in mir breit, aber ich schaffte es nicht die Kontrolle über meine Glieder zu erlangen. Wie hypnotisiert und ohne nachzudenken starrte ich in die Dunkelheit. Irgendetwas war hier. So sehr mein Verstand versuchte gegen dieses unangebrachte Gefühl zu kämpfen, ein Teil von mir war der Überzeugung, dass ich nicht alleine war. Und weil sich dieser Teil nicht beruhigen lassen wollte, stand ich also einfach da, wie ein Kaninchen vor einer Schlange, und wartete darauf, dass etwas passieren würde. Ich schaltete den Rest meines Verstandes komplett ab, als der Wolf aus den Schatten einiger Bäume auftauchte. Er war riesig, ungefähr so groß wie ein Pferd, wenn nicht noch größer. In Amerika – vor allem in La Push – war wohl wirklich alles größer. Da ich aber bezweifelte, dass Mais oder Tomanten auf dem Speiseplan eines Wolfes standen, musste das wohl etwas mit dem Trinkwasser zu tun haben. Vielleicht würd’ ja auch ich noch etwas wachsen, wenn ich fleißig Wasser trank – solange nicht ICH auf dem Speiseplan dieses… dieses… Wolfes stand. Ich traute mich nicht zu atmen, als das Tier auf mich zukam. Das einzige, zu dem ich im Stand war, war es anzusehen. Auch, wenn es absurd war. Es war schön. Dieser Wolf war zwar groß, aber schön. Es wirkte fast, als käme er vorsichtig auf mich zu, um mich nicht zu verschrecken – vielleicht wollte er mir nicht unnötig hinterher rennen müssen, um mich zu verspeisen. An Weglaufen verschwendete ich sowieso keinen Gedanken – das Tier hätte nur einen Satz machen zu müssen, um mich einzuholen. Stattdessen blieb ich einfach stehen, meine Glieder hörten sogar auf zu zittern. Die Panik verschwand, und ein taubes Gefühl nahm ihren Platz ein. So seltsam es auch war, ich hatte keine Angst. Der Teil von mir, der vorhin die Hektik belächelte hatte, der, der gemeint hatte, es wäre nichts da, was mich beobachten könnte, trieb mich jetzt an. Weglaufen. Fliehen. Der andere Teil – der größere – reagierte nicht. Er hatte sich einfach komplett ausgeschaltet. Es war, als wäre ich nicht mehr ich selbst. Ich sah meine Hand, wie sie sich nach dem Wolf ausstreckte, ihn berühren wollte. Mich interessierte, ob das Fell, welches trotz der Dunkelheit, die mich nicht erkennen lies, welche Farbe es hatte, voller Glanz war, sich so weich anfühlte, wie es wirkte. Wie ertappt zog ich die Hand zurück, als für einige Sekunden gleißendes Licht das Szenario erfüllte. Reflexartig drehte ich mich herum, um die Lichtquelle ausfindig zu machen. In der einen Sekunde, in welcher ich mich abgewandt und festgestellt hatte, dass ein Auto gehalten hatte, verschwand der Wolf. Das taube Gefühl blieb, und ich, ich blieb auch da, wo ich war. Wie angewurzelt stehen. In meinem Kopf tobte all das, was gerade zum Stillstand gekommen war. Mein Gehirn überschwemmte meinen Verstand mit eingelagerten Fakten. Normale Wölfe werden nicht halb so groß. Wölfe sind Rudeltiere – wahrscheinlich gab es noch mehr so große Tiere… In einigen Metern Entfernung hatte der Wagen angehalten. Nach dem Marsch durch die Dunkelheit wirkten die Scheinwerfer des Autos surreal hell. Und es hupte. Erst, nach nachdem die Autotür aufging, und mein Name gerufen wurde, erkannte ich, dass es Johns Wagen war. Mein Gastvater war gekommen, um mich abzuholen. Ich wollte ihm entgegen laufen, und meine Beine bewegten sich auch. Nur leider nicht ganz so, wie ich es geplant hatte. Statt mich vorwärts zu bewegen, begannen sie wieder zu zittern. Erst, als John mich zum Wagen schob und beruhigend auf mich einredete, realisierte ich, dass nicht nur meine Beine am Zittern waren. Mein ganzer Leib schlotterte. Aber warum? Angst, hatte ich, seltsamer Weise nicht. Jetzt, wo mich jemand abholte, erstrecht nicht mehr. „Ist dir kalt?“, wollte mein Gastvater besorgt wissen, nachdem er mich ins Auto verfrachtet hatte, und selbst auf der Fahrerseite wieder eingestiegen war. Ich blinzelte nur, griff nach dem Gurt, und stellte fest, wie steif meine Finger waren. Statt zu sprechen nickte ich nur – ich wollte meine Stimme nicht versagen hören – und versuchte, die Einrastfunktion des Gurtes zum einrasten zu bringen, was natürlich misslang. „Du siehst gar nicht gut aus, Annabell“, meine John, und zog seine Stirn in Falten. „’Tschuldige.“, nuschelte ich mit brüchiger Stimme und immer noch von der Begegnung und dem Marsch leicht benebelt. Ich registrierte, wie John mir half den Gurt festzuschnallen und wie er die Heizung des Wagens voll aufdrehte. Zu gerne hätte ich irgendwas gesagt, mich entschuldigt, erklärt, was passiert war, aber mein Verstand war nicht in der Lage halbwegs zusammenhängende Sätze zu bilden – erstrecht nicht auf einer anderen Sprache, als meiner Muttersprache. „Tut mir leid.“, sagte ich deshalb nur noch mal, während ich auf die Fahrbahn vor mir starrte. John machte das Radio an, sodass die Musik eine angenehme Geräuschkulisse bildete. „Geht’s dir gut, Annabell?“, fragte er jetzt hellhörig nach. Ich nickte zur Antwort, doch dann fiel mir ein, dass er dies wohl nicht gut sehen konnte, wenn er gleichzeitig Auto fuhr. „Ja.“, sagte ich also. „Mir ist nur kalt.“ Ich hörte John laut seufzen. „Wir waren ganz außer uns vor Sorge.“, erklärte er, wirkte aber ruhig. Wenn ich genau darüber nachdachte, hatte ich ihn noch nie wütend gesehen. „Entschuldigung.“, antwortete ich nur wieder, immer noch nicht im Stande große Reden zu schwingen. „Du musst dich nicht dauernd entschuldigen.“, erwiderte John nur, und etwas Warmes lag in seiner Stimme. „Oh. Wenn dich das stört, tut mir das leid…“, sagte und ich sah John perplex an. Dieser lachte nur, als hätte ich grade eben einen Witz erzählt. Sein Lachen brachte mich schließlich aus meinem tranceähnlichen Zustand zurück in die Wirklichkeit. Schlagartig spürte ich die Kälte in meinen Füßen, meinen Beinen und meinen Händen, bemerkte, dass meine Nase einen Marathon lief, und konnte mir gut vorstellen, wie bescheiden ich gerade aussehen musste. Seufzend klappte ich die Sonnenblende herunter und begutachtete mich im dort eingebauten Spiegel. Kaum hatte ich hereingesehen, klappte ich ihn auch schon wieder zu. Das wollte ich mir nun wirklich nicht länger als nötig ansehen. „Ich habe einen Wolf gesehen.“, sagte ich schließlich. „Kurz, bevor du kamst.“ Mein Gastvater runzelte nur die Stirn. „Das sollten wir der Polizei melden.“, meinte er ruhig. „Das Tier hat dir aber…?“ „Nein.“, unterbrach ich ihn. „So groß es auch war – es hatt’ mir nichts getan.“ Nachdenklich zog ich die Augenbrauen zusammen. Dafür, und auch dafür, dass ich keine Angst gehabt hatte, musste es eine Erklärung geben, auf die ich gerade nur nicht kam – wahrscheinlich, weil ich fror. Vielleicht war das Tier satt gewesen, hatte gerade erst einen Elch oder ähnliches verspeist, bevor es auf mich gestoßen war, deshalb hatte es mich nicht gefressen. Und wie Zebras intuitiv Spüren, dass Löwen satt sind und ihnen nichts tun wollen, hatte ich wohl gespürt, dass der Wolf satt war. Diese Erklärung klang total bescheuert. Noch so etwas, auf das ich keine Antwort zu finden schien. Noch etwas, das mich ziemlich ärgerte. „Solche Vorfälle hatten wir vor einiger Zeit schon mal…“, sagte John und schien ziemlich froh darüber, dass ich, wenn auch mit brüchiger und zu hoher Stimme, sprach. „Oh.“, sagte ich nur, und wandte den Blick seitlich aus dem Fenster. Einige Minuten herrschte Stille. „Warum hattest du dich dazu entschlossen nach Hause zu laufen?“, fragte mein Gastvater nun und klang betont unverfänglich. „Spontaneinfall.“, erwiderte ich und ein sarkastisches Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Allerdings kein Entschluss von mir – viel eher kam Jacob auf die Idee, dass mir etwas frische Luft gut tun würde.“ John schien verwirrt, schien aber genauso viel zu begreifen, dass Jacob Schuld war. „Wir haben das Auto aufgeräumt.“, erklärte ich und meine Stimme troff geradezu vor Ironie. Wieder herrschte einige Minuten Stille. Dann verfinsterte sich Johns Gesichtsausdruck und er setzte gerade an etwas zu sagen – doch ich kam ihm zuvor. „Ich hab’s provoziert.“, gestand ich ein. Seltsamerweise hatte ich das Bedürfnis Jacob zu verteidigen. Und noch etwas, was ich mir nicht erklären konnte. Eigentlich hatte ich vor gehabt, ihn gehörig in die Pfanne zu hauen, und jetzt schluckte ich eine Rede zu seinen Gunsten herunter, zwang mich gerade zu sie nicht runter zu rattern. „Oh. Achso.“, sagte John nur und das Gespräch war beendet. Trotzdem herrschte kein angespanntes Schweigen im Auto, wie auf der Hinfahrt zum Kino in Jacobs Wagen. Viel eher lag etwas Tiefsinniges in diesem Moment der Stille. Fast schon etwas Vertrautes. Ich spürte, dass die Erklärung, die ich ihm gegeben hatte, John vollkommen zufrieden stellte. Sowieso schien mein Gastvater recht pragmatisch zu sein. So war es eben gewesen, mir war nichts passiert, es war okay. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie gut ich es mit meiner Gastfamilie erwischt hatte. Nach wenigen Minuten – wie es mir schien – waren wir auch schon in La Push angekommen. John hechtete vom Parkplatz vor dem Haus hinein, ich lies mir Zeit. Nass war ich sowieso. Und ich fühlte mich zu schlapp, mich noch großartig zu bewegen. „Annabell, Schatz, wie geht es dir, was ist mir dir, wieso…?“ Ich war nicht mal halb die Stufen zum Haus hinaufgestiegen, da wickelte mich Helen schon in eine Decke und bombardierte mich mit dutzenden von Fragen, auf die ich allesamt nicht wirklich Lust hatte zu antworten. Trotzdem tat ich es. „Ist alles okay. Ich möchte nur trockene Klamotten und ins Bett.“, erklärte ich. „Oh nein, junge Dame!“ Helens Tonfall lies mich auf eine Schimpfarie schließen, die allerdings ausblieb. „Erst einmal wirst du warm duschen, dann kriegst du etwas Suppe, und dann geht’s ins Bett.“ Ich nickte ergeben, während Helen mich ins Bad führte. „Du bist ganz kalt.“, erklärte sie mir. „Hoffentlich erkältest du dich nicht.“ Innerlich lächelte ich, da ich davon ausging, mindestens einen Schnupfen aus der ganzen Geschichte davon zu tragen… Schließlich lag ich – endlich – im Bett. Helen war eine liebevolle Person, so schön und gut – aber sie neigte zu Übertreibungen. Trotzdem war ich erleichtert, dass niemand auf mich sauer war. Insbesondere Amys Reaktion hatte mich überrascht. Ich war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass es sie nicht stören würde, wenn ich nicht da wäre. Das wäre okay gewesen – immerhin war sie noch ziemlich klein, und ich erst seit knappen zwei Wochen in ihrem Leben. Damit, dass sie die ganze Zeit am weinen gewesen war, weil sie sich um mich gesorgt hatte… hätte ich nun als letztes gerechnet. Nach kurzer Zeit sank ich dem Schlaf entgegen – und das, obwohl ich krampfhaft versuchte noch so einige Erklärungen aus meinem Gehirn zu quetschen. Auch, wenn ich – trotz der Eskapaden heute – anfing mich hier wirklich wohl zu fühlen, schien ich die Kontrolle über die Dinge zu verlieren. Das letzte, was ich hörte, war das Heulen von Wölfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)