Über die Mauer... von ayami (...oder: Neugier war der Katze Tod.) ================================================================================ Prolog: Über die Mauer ---------------------- Well I’m the type of guy That likes to roam around I’m never in one place I roam from town to town Cause I’m the wanderer Yeah, the wanderer I roam around, around, around... (Dion) __________________________________________________________________________________ Liam sah seinem Atem zu, der in weißen Wolken vor seinem Gesicht stand. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke noch ein wenig weiter nach oben und seine Mütze noch etwas tiefer ins Gesicht. Es war eiskalt und er wartete seit einer halben Stunde auf den Bus. Nicht, dass er es nicht gewohnt war, zu warten. Er war jeden Tag um punkt 18.00 Uhr fertig mit der Arbeit und musste jeden Tag bis 18.15 Uhr warten, dass der Bus kam. Aber gewöhnlich kam der Bus nicht zu spät. In den ganzen vier Jahren, die er inzwischen als Schweißer arbeitete, war der Bus nach Hause noch niemals zu spät gekommen. Liam schnaubte und verfolgte die weiße Atemwolke auf ihrem Weg gen Himmel. Er war genervt und er fror. Seine Nase fühlte sich an, als wäre sie schon lange nicht mehr Teil seines Gesichts. Immerhin lag kein Schnee, daran konnte es also nicht liegen, dass der Bus noch immer nicht in Sicht war. Langsam streckte Liam seine steifen Arme, die er bisher schützend um seinen Oberkörper geschlungen hatte. Dann bewegte er vorsichtig die verfrorenen Finger und lief an der Haltestelle auf und ab. Dann hüpfte er ein paar Mal und spürte, wie seine Waden leicht kribbelten. Endlich war er soweit aufgetaut, dass er wieder etwas Leben in sich spürte. Eine weitere Viertelstunde später beschloss Liam, nach Hause zu laufen. Er würde eine volle Stunde dafür brauchen, aber das war immer noch besser, als sich den Hintern abzufrieren. Also überquerte Liam die Straße und lief in Richtung der sinkenden Abendsonne. Die Straßen waren leer, was Liam wunderte. Normalerweise waren immer ein paar Fußgänger unterwegs. Und Taxen. Selbst die Obdachlosen, die sonst nach Einbruch der Dunkelheit die Hauseingänge bevölkerten, waren verschwunden. Liam lief eine Viertelstunde, dann beschloss er, eine Abkürzung zu gehen. Er spürte seine Zehen nicht mehr und sein Gesicht war schon seit fünf Minuten taub. Rechts von ihm lag der ehemalige Industriepark der Stadt. Ein Wall aus gefrorener Erde lag darum herum. Darauf eine halb verfallene Mauer aus Bruchstein. Liam blieb stehen und sah der grauen Wand entgegen. Er wusste, dass die ehemaligen Fabriken, Lagerhallen und Verwaltungsgebäude, seit gut zehn Jahren leer standen. Die Industriellen hatten sich billigere Standorte gesucht und die Stadt hatte zu wenig Geld gehabt, um das riesige Areal abreißen zu lassen. Geschweige denn, es wieder für die Bürger nutzbar zu machen. Und so lag das ehemalige Kapital der Stadt, nun schutzlos ausgeliefert Wind und Wetter gegenüber, brach. Liam wusste auch, dass hin und wieder die Obdachlosen der Stadt sich dorthin verirrten und Schutz suchten. Es machten sich allerdings nicht viele die Mühe, den hohen Wall zu erklettern und sich danach noch über die Mauer zu mühen. Sie war zwar verfallen, von den einst gut sieben Metern waren aber immer noch gut fünf übrig. Und keine Löcher, durch die man schneller hätte auf die andere Seite gelangen können. Und warum sollte man sich derart abmühen, wenn man auch bequem in den Hauseingängen und Innenhöfen der Anwohner übernachten konnte? Liam rieb seine Hände gegeneinander und zuckte zusammen, als ein brennendes Stechen durch die Handflächen fuhr. Es war wirklich eisig. Liam seufzte, dann verließ er den Bürgersteig und lief über einen Wildwuchs von Wiese zu dem Wall. Die Gräser und Halme glitzerten vor Raureif. Die letzten Sonnenstrahlen zauberten aus Eiskristallen kleine Sterne. Liam lächelte, als er sich seinen Weg durch die Wildnis bahnte. Als er den Wall erreichte, war seine Jacke weiß und Liam schüttelte den Reif ab. Dann wandte er seinen Blick den Wall hinauf. Von hier unten sah er noch viel höher aus. Liam bereute seine Entscheidung schon fast, doch da war auch ein kleiner Anflug von Abenteuer. Seit Liam vor vier Jahren in der Autofabrik als Schweißer angefangen hatte, war sein Leben sehr gradlinig verlaufen. Morgens aufstehen, zur Arbeit, abends wieder zurück und nach zehn Stunden harter Arbeit kaum noch mehr, als Schlafen. Liam grinste unbewusst, als ihn jetzt ein wärmendes Kribbeln durchflutete. Sein Herz klopfte etwas schneller. Fast fühlte er sich wie einer der jungen Abenteurer aus den alten Western. Ein junger Bursche von zwanzig Jahren, der auf unbekanntes Gebiet vordrang, um den schnellsten Weg für die Eisenbahn zu vermessen. Greenhorn. Liam lachte beinahe, als ihm die Idiotie seiner Gedanken bewusst wurde. Er schüttelte über sich selbst den Kopf und begann, den Wall zu erklimmen. Die Erde war gefroren und steinhart unter Liams Füßen. Hin und wieder strauchelte er und musste sich mit den Händen abfangen. Er erschauderte jedes Mal, wenn seine Hände den kalten Boden berührten. Liam trug keine Handschuhe, weil er sich keine leisten konnte. Ein paar Mal stachen gebrochene Äste schmerzhaft in Liams Haut. Einmal riss er sich einen Finger an einem mit Dornen übersäten Ast auf. Aber weil seine Finger ohnehin fast gefühllos waren, störte sich Liam nicht daran. Schließlich erreichte er den Fuß der Mauer und drehte sich um. Er befand sich nun knapp zehn Meter über dem Boden. Unglaublich, dass er den Wall erstiegen hatte, ohne außer Atem zu geraten. Der Erdwall lag nun unter ihm und Liam sah von oben auf die Stadt. Welch einen Überblick er erst haben würde, wenn er oben auf der Mauer stand. Liam lächelte und wandte sich der senkrecht aufragenden Wand vor ihm zu. Er musste nicht lange suchen, um Halt für seine Hände und Füße zu finden. Die Bruchsteine waren unregelmäßig behauen und mit Mörtel aufeinander gestellt. Die natürlichen Risse und Vorsprünge des Steins boten genug Fläche, um Liam den Aufstieg möglich zu machen. Allerdings nahm Liam sich zehn Minuten Zeit, um seine Finger und Zehen aufzutauen. Er bewegte alle Glieder und rieb, knetete und stampfte solange, bis Zehen und Finger wohltuend kribbelten. Erst dann atmete Liam tief durch und begann den Aufstieg. Es ging schwerer, als Liam gedacht hatte. Je höher er kam, desto stärker spürte er den Wind. Je länger er kletterte, desto gefühlloser wurden seine Füße und vor allem seine Finger. Liam sah mit wachsender Besorgnis, dass seine Fingerkuppen sich erst rot, dann dunkelblau verfärbten. Er befürchtete, dass sie tatsächlich erfrieren und abfallen könnten, bevor er das obere Ende der Mauer erreichte. Und so machte er immer wieder Pausen, hielt sich mit einer Hand fest und hauchte die andere so lange an, bis sie schmerzhaft pochte. Dann kletterte er ein Stück weiter und tat dasselbe mit der anderen Hand. So hatte er wenigstens immer eine Hand, die er als halbwegs funktionstüchtig erachtete. Obwohl es Liam wie eine halbe Ewigkeit vorkam, brauchte er tatsächlich nur eine Viertelstunde, um die Mauer zu erklettern. Dann saß er auf der Kante und wärmte die schmerzenden Finger unter den Achseln. Hier oben war der Wind fast ohrenbetäubend. Zwanzig Meter über dem Boden rauschten die Böen in Liams Ohren wie ein vorüber fahrender Schnellzug. Liam sah auf seine billige Armbanduhr und ärgerte sich. Eine Abkürzung hatte er nehmen wollen. Und jetzt war er bereits eine Dreiviertelstunde unterwegs. In einer Viertelstunde wäre er zuhause gewesen, hätte er sich nicht zu diesem idiotischen Vorhaben hinreißen lassen. Aber Liam war nicht der Typ für Selbstvorwürfe und so schob er seinen Ärger beiseite und machte sich an den Abstieg. Er hatte mit einem grandiosen Ausblick gerechnet, war aber enttäuscht worden. Die Stadt sah von so weit oben nur noch grauer und trostloser aus und hinter der Mauer sah Liam nur ein Gewirr aus zerbrochenen Fensterscheiben, verrosteten Rohren und Stahlträgern. Es war einfach zu dunkel, um Näheres zu erkennen. Der Abtieg fiel Liam leichter, als der Aufstieg. Und obwohl inzwischen sein ganzer Körper schmerzte, stellte sich das Abenteuergefühl wieder ein. Er hatte ohnehin schon so viel Zeit verloren, da konnte er jetzt auch aufhören, auf die Uhr zu sehen. Jetzt gab es nur noch ihn und das unbekannte Brachland hinter der Mauer. Liam würde sich Zeit lassen, sich seinen Weg durch die verfallenen Gebäude bahnen und erkunden, was ihm interessant erschien. Er würde die Abwechslung genießen und fragte sich bereits, wieso er nicht früher auf die Idee gekommen war, einen Blick hinter die Mauer zu werfen. Liam reckte die Arme nach oben und streckte sich, bis er es verheißungsvoll knacken hörte. Dann lief er den Wall auf der Innenseite der Mauer hinunter. Er war hier viel steiler, als außen und zog sich daher nicht so weit. Einige Male rutschte Liam auf den harten, glatten Boden aus und landete unsanft auf dem Hintern. Aber er rappelte sich immer wieder auf. Unten angekommen ließ Liam seinen Blick schweifen. Er hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit hier anders war, als außerhalb der Mauer. Liam nahm Schemen war, dann Umrisse und schließlich gewöhnten seine Augen sich so sehr an die Dunkelheit, dass er genug erkennen konnte, um seine Erkundungstour zu beginnen. Als Liam den Blick hob, erkannte er den wabernden Schimmer, der über den Ruinen lag. Die Lichter der Stadt drangen nicht über die Mauer. Nur ihre Ausläufer warfen nebliges Leuchten auf Rost, gebrochenes Glas und Stahl. Liam lächelte, während er sich nochmals wärmte. Er steckte nacheinander seine Finger in den Mund und behielt sie dort, bis sie sich warm anfühlten. Das dunkle Blau löste sich zu Liams Erleichterung wieder in glühendes Rot auf und das Gefühl kehrte in die Glieder zurück. Schließlich richtete Liam seine Kleider, packte sich so warm ein, wie nur möglich und atmete einmal tief durch. Es war ein Abenteuer. Und es begann genau jetzt. Kapitel 1: Das Licht -------------------- The leaded window open And to the dancing candle flame The first moth of summer Suicidal came Oh, suicidal came (Jethro Tull) __________________________________________________________________________________ Liam war eine Zeitlang zwischen den Gebäuden umher gewandert. Er fürchtete sich nicht, obwohl die Szenerie verdammt gut dazu geeignet gewesen wäre. Die Gebäude waren graue Kästen unter schwarzem Himmel. Fast alle Fensterscheiben waren zerbrochen. Entweder die Zeit und das Wetter hatten das geschafft, oder aber die Obdachlosen, die ihre Wut auf die Welt an unschuldigem Glas ausgelassen hatten. Überall herrschte ein Gewirr aus Rohren, die von einem Gebäude zum nächsten führten. Manchmal in den Himmel ragten, oder auch mal in den Boden führten. Manche endeten auch einfach mitten in der Luft und ihre klaffenden, schwarzen Öffnungen glichen Schlünden, die Liam zu verschlucken drohten. Es waren vermutlich Heizungsrohre, Lüftungsrohre, Versorgungs-rohre, Was-auch-immer-Rohre. Stahlträger ragten in die Nacht, bildeten nackte Skelette, Diagonale, Waagerechte, Senkrechte. Schornsteine überall. Dick, dünn, hoch, breit. Es war ein Gewirr aus Stahl, Beton und Stein. Überwuchert von Moos, Unkraut, Sträuchern und Rost. Teilweise waren die Gebäude verfallen, loses Mauerwerk lag auf Liams Weg und er musste hin und wieder über einen umgestürzten Schornstein steigen. Und dennoch war der verschachtelte Wirrwarr faszinierend. Man wusste nie, was einen erwartete, wenn man um die nächste Ecke bog. Immer wieder gab es neue Formen und Anordnungen, die Liam staunen ließen. Trotzdem war er irritiert, als er um die nächste Ecke bog und plötzlich wabernder Lichtschein aus einem Fenster in die Nacht drang. Er war etwa eine halbe Stunde lang in das ehemalige Industriegebiet eingedrungen. Das leuchtende Fenster lag etwa zwanzig Meter über dem Erdboden in einem der oberen Stockwerke eines rechteckigen Turms, der insgesamt etwa fünfzig Meter hoch war. Liam runzelte die Stirn und sah hinauf. Das schimmernde Glimmen hatte etwas Unwirkliches an sich. Es wirkte fehl am Platz, dieses gelbliche Schimmern, inmitten all der Schatten und der Schwärze der Nacht. Dennoch wirkte es unglaublich anziehend auf Liam. Er stand am Fuß des hohen Gebäudes und sah hinauf. Vielleicht einer der Obdachlosen, der sich dort oben ein einsames Heim eingerichtet hatte. Liam beschloss, hinauf zu steigen und zu sehen, ob er dort für eine Weile seinen verfrorenen Körper aufwärmen konnte. Er zählte die Fenster in der aufsteigenden Senkrechten und fand das erleuchtete Fenster ihm zehnten Stock. Er fand die Tür des Gebäudes offen. Das Treppenhaus lag dunkel vor ihm. Schutt und Gerümpel lagen auf dem verschmutzten Boden und den unteren Treppenstufen. Direkt vor Liam lag ein Fahrstuhl. Die Türen hatten ihren alten Glanz verloren und ließen nur noch an wenigen Stellen ehemals glänzendes Metall vermuten. Dennoch beschloss Liam in einem Anflug von Ignoranz, auf den Rufknopf zu drücken und zu sehen, ob der Fahrstuhl kam. Überraschenderweise leuchtete die Schalttafel mit den Rufknöpfen rötlich auf und tauchte Liam in ihren Schimmer. Liam hörte ein elektrisches Summen. Liam fand es merkwürdig, dass der Fahrstuhl scheinbar funktionierte. Er hätte nicht vermutet, dass das Areal noch mit Strom versorgt wurde. Wer zahlte das wohl, durchfuhr es ihn, als der Fahrstuhl kam und die Türen lautlos auf glitten. Helles, gleißendes Licht drang aus dem Inneren der Kabine in den dunklen Hausflur. Liam blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit, dann sah er in die Kabine hinein. Hier war keine Spur von Verfall zu sehen. Im Gegenteil. Die Kabine glänzte chromfarben, die Neonleuchten an der Decke strahlten makellos hell. Liam trat ein und die Türen schlossen sich lautlos wieder. Das Kribbeln im Bauch wurde wieder stärker, als der Fahrstuhl mit Liam in den zehnten Stock fuhr. Da war es, das wahre Abenteuer. Liam hoffte, dass ihn mehr erwartete, als ein Obdachloser mit einer Öllampe. Und als die Fahrstuhltüren sich erneut öffneten, wurde er nicht enttäuscht. Das zehnte Stockwerk war wie eine Reise in die Vergangenheit. Oder die Zukunft, wie man es nahm. Der Boden war sauber und schwarz gefliest. Liam vermutete Marmor, konnte sich aber nicht sicher sein, weil er in seinem Leben noch nie echte Marmorfliesen gesehen hatte. Die Wände strahlten rein weiß. Keine Tapete, nur nackter, steriler Putz. Wie in der piekfeinen Zahnarztpraxis in der zwölften Straße, dachte Liam und grinste. Die Decke war mit Metallplatten beschlagen und glänzte. Wie im Fahrstuhl, strahlten auch hier Neonleuchten Liam entgegen. „Oh man.“, entfuhr es Liam, als er die Szenerie betrat. Das war der Wahnsinn. Wie unglaublich der Wechsel von draußen nach drinnen war, wurde Liam bewusst, als er die Wärme des wohltemperierten Flures durch seine Jacke spürte. Sie drang durch seine Kleidung und schließlich durch seine Haut bis ins Innerste seines verfrorenen Körpers. Liam schloss die Augen und blieb solange an Ort und Stelle stehen, bis er ganz und gar durchdrungen war. Dann öffnete er die Augen wieder und wandte sich nach links. Von dort hatte er den Schein draußen gesehen. Irgendjemand musste hier sein. Für wen sollte das Licht sonst scheinen? „Hallo?“, rief Liam probeweise in die Stille, erhielt aber keine Antwort. Obwohl er sich sicher war, dass jemand hier sein musste, wunderte er sich nicht, dass niemand antwortete. Liam ging den Flur entlang, auf die Tür am Ende zu. Das musste das Zimmer sein, das er von draußen gesehen hatte. Er öffnete die Tür. Es war leer. Nicht nur leer, im Sinne von ‘niemand darin’, sondern gänzlich leer. Liam betrat den Raum und ging bis in die Mitte. Dann drehte er sich einmal um sich selbst und sah sich um. Nein, tatsächlich, es war absolut gar nichts in diesem Raum. Doch, da war etwas! Liam wollte den Raum gerade wieder enttäuscht verlassen, als sein Blick auf den Boden fiel. Unter dem Fenster lag ein Blatt Papier. Es war ebenso strahlend weiß, wie die Wände des Zimmers. Liam trat ans Fenster, sah kurz hinaus und kniete sich dann hin, um das Blatt anzusehen. Es war keineswegs rein weiß, wie er gedacht hatte, sondern beschrieben. Liam las, was auf dem Blatt stand und runzelte beim Lesen die Stirn. Dann lachte er und schüttelte irritiert den Kopf. Bescheuert. „Na, aber sicher doch. Warum nicht?“, sagte er in die Stille des Raumes hinein und lachte leise. So ein Schwachsinn. Dann ließ Liam das Blatt zu Boden gleiten. Es glitt über den glatten Boden und blieb direkt unter dem Fenster liegen. Liam schüttelte noch einmal den Kopf, dann erhob er sich, drehte sich auf dem Absatz herum und verließ den Raum. Er war wütend, enttäuscht. Das hatte alles so viel versprechend ausgesehen. Er hatte tatsächlich geglaubt, jetzt würde er endlich einmal etwas erleben. Ein Abenteuer, etwas, das nur er und sonst niemand erlebte. Und dann nur ein leerer Raum mit einem idiotischen Blatt Papier. Kopfschüttelnd fuhr Liam mit dem Fahrstuhl wieder nach unten und trat in die Kälte hinaus. Ihn fröstelte kurz, dann stapfte er schlecht gelaunt und so schnell es ihm möglich war weiter. Er wollte nur noch so schnell wie möglich aus diesem idiotischen Industriefriedhof heraus und nach Hause. Nur noch ins Bett. Ihm grauste davor, morgen früh um fünf aufstehen zu müssen. Er würde den gleichen Weg zurückgehen, den er hergegangen war, über die Mauer steigen und dann seinen normalen Heimweg gehen. Das Letzte, was er jetzt noch brauchen konnte, war, sich zu verlaufen. Aber verdammt, der ganze Weg würde mindestens noch mal eine Stunde dauern und dann noch die zwanzig Minuten bis nach Hause. Und Liam war so müde, enttäuscht und eingefroren, dass er sicher fast doppelt so lange brauchen würde, bis er zu Hause war. Er hatte einfach keine Lust mehr. Es war kurz nach neun. Kapitel 2: Das Blatt Papier --------------------------- White piece of paper Show me my faith ____________________________________________________________________________________________________________________________________ Eine Viertelstunde später war Liams Gesicht wieder taub. Der Wind war stärker geworden und es hatte begonnen, zu schneien. Zum ersten Mal in diesem Jahr, wie Liam sarkastisch feststellte. Die Flocken waren winzige Körnchen und Liam spürte sie mehr, als das er sie tatsächlich sah. Der Wind peitschte sie gegen seine Wangen und hinterließ erst schmerzendes Prickeln, dann Taubheit. Liam hatte seinen Schal über Mund und Nase gezogen. Seine Hände verbarg er in den Ärmeln seiner Jacke. Als der Schneesturm dichter wurde, sah Liam kaum noch zehn Meter weit. Die Dunkelheit wurde dichter, alles schien zu verschwimmen, überdeckt von wirbelnden Flocken. Nur das schummrige Licht, dass von der meilenweit entfernt scheinenden Stadt am Himmel hing, ließ Liam noch etwas sehen. Und plötzlich sah Liam einen Schatten in einem der Gebäude vor sich. Er blinzelte gegen Wind und Schnee und hob eine Hand an die Augen. Er versuchte, die Augen abzuschirmen, um besser sehen zu können, doch es gelang ihm nicht wirklich. Liam schüttelte den Kopf und wollte sich gerade einreden, dass er sich getäuscht hatte, als er es wieder sah. Es war dort vorn in dem flachen Gebäude mit dem dicken Schornstein. Liam kämpfte sich zu dem Gebäude vor und stolperte fast über herabgestürzte Mauerteile. Mühsam hob er die Füße und stieg darüber hinweg. Dann stand er vor dem Gebäude. Hier war der Wind etwas schwächer, wurde von dem Mauerwerk abgehalten. Auch das Schneetreiben war etwas weniger störend. Liam trampelte auf der Stelle, um den Schnee von seinen Kleidern zu schütteln. Dann sah er es wieder. Eine rasche Bewegung hinter einem der zerbrochenen Fenster. Liam runzelte die Stirn und starrte in die Dunkelheit. Er sah nichts mehr. Aber dort war jemand gewesen und Liam beschloss, diesen Jemand zu finden. Sicher, das war vielleicht leichtsinnig. Aber so würde er vielleicht doch noch zu seinem Abenteuer kommen. Er suchte die Tür des Gebäudes und fand sie an der anderen Seite. Sie knarrte tapfer gegen das Heulen des Sturms, als Liam sie öffnete. Er trat ein und die Tür wurde ihm fast aus der Hand gerissen, als er sie schloss. Endlich aus dem Schneetreiben heraus, streifte Liam sich erst einmal Kapuze und Mütze vom Kopf und fuhr sich durch die Haare. Ohne den Wind und die stechenden Flocken fühlte Liam sich gleich wohler. Er stopfte seine Mütze in die Jackentasche, dann machte er sich auf die Suche nach dem Verursacher der Bewegung, die er gesehen hatte. Das Innere des Gebäudes war dunkel. Aber als Liams Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er schemenhafte Umrisse. Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg durch den Hausflur. Liam wandte sich nach rechts und versuchte, den Raum zu finden, in dem er von draußen die Bewegung gesehen hatte. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Zunächst erschreckte es ihn, dann aber erkannte er, dass jemand weinte. Er hörte unterdrücktes, leises Schluchzen. Es klang, als käme es aus einem Schrank, oder dringe unter einer Decke hervor. Erstickt, gedämpft und ängstlich. Liam runzelte die Stirn und schloss konzentriert die Augen. Er beschloss, dem Weinen zu folgen und herauszufinden, wer sich außer ihm hier aufhielt. Liam hob tastend die Hände. Zwar war es nicht stockdunkel, trotzdem sah Liam nicht genug, um sich sicher sein zu können, dass er nirgendwo gegen laufen würde. Langsam schritt Liam durch den Raum. Das Weinen kam mehr aus dem Inneren des Gebäudes. Es klang auch irgendwie tief. Als käme es von unten. Vielleicht saß jemand in einer Ecke auf dem Boden. Liam stieß mit dem Schienbein gegen etwas Hartes und fluchte leise. Er beugte sich hinunter, tastete nach dem Gegenstand und fühlte kaltes Metall. Ein Stuhlbein vielleicht. Er schob den Gegenstand beiseite und ging nun noch etwas langsamer. Schließlich stieß Liam mit den Händen gegen eine Wand. Er hörte das Weinen etwas lauter und tastete sich an der Wand entlang. Er fand eine Tür und öffnete sie. Als er sich hindurch tastete, fiel er beinahe die Treppe hinunter, die direkt hinter der Tür lag. Es war die Tür in den Keller, wie Liam feststellte, als er vorsichtig mit dem Fuß nach vorn glitt. Liam legte den Kopf auf die Seite und lauschte nochmals konzentriert. Tatsächlich war das Weinen nach dem Öffnen der Tür lauter geworden. Also beschloss Liam, die Treppe hinunter in den absolut schwarzen Keller zu gehen. Dort unten war rein gar nichts mehr zu erkennen. Liam sah die Stufen nicht, noch nicht einmal seine eigene Hand, als er sie sich vor die Augen hielt. Er seufzte. Dann tastete er sich an der Wand entlang nach unten. Er schob seine Füße langsam bis zum Ende der jeweiligen Treppenstufe und ging so vorsichtig hinunter. Unten angekommen, streckte Liam die Hände vor sich aus, um nirgendwo gegen zu laufen. Trotzdem stieß er sich mehrmals die Schienbeine an. Er hielt die Augen geschlossen, weil er ohnehin nichts sehen konnte. Mit geschlossenen Augen konnte er sich noch besser auf sein Gehör konzentrieren. Schließlich war das Schluchzen so laut, dass Liam glaubte, direkt vor der weinenden Person zu stehen. Er ertastete ein Stückchen vor sich eine Wand und runzelte die Stirn. Woher kam das Weinen? „Hallo?“, fragte er leise in die Dunkelheit. Das Schluchzen verstummte plötzlich, stattdessen erklang ein erschrockener Laut, der ein Schrei gewesen wäre, wäre er nicht so leise und unterdrückt gewesen. Es war mehr ein Quieken. Liam kniete sich hin, denn das Geräusch war von weiter unten gekommen. Offenbar kauerte dort jemand in der Ecke. Liam streckte seine Hand aus und traf auf Holz. Er tastete daran entlang und glaubte, eine Art Schrank gefunden zu haben. Er musste in die Wand eingelassen sein, denn der kalte Beton der Wand ging direkt in das rissige Holz über. Die Person steckte scheinbar darin. Offensichtlich versteckte sie sich, aber Liam wusste nicht wieso. Es sei denn, sie hatte Angst vor ihm. Das allerdings konnte Liam sich nicht erklären. „Hey, sie, bitte antworten sie mir.“, bat Liam mit ruhiger Stimme und versuchte, freundlich zu klingen. Das war allerdings gar nicht so einfach, denn auch in dem Keller war es eiskalt und Liams Zähne klapperten beim Sprechen unaufhörlich. Das Schluchzen ging wieder los. Liam glaubte, es müsste eine Frau sein, die dort weinte. „Hören sie, ich möchte ihnen doch nichts tun. Ich bin dort draußen herumgeirrt und habe sie gesehen. Der Sturm ist schrecklich und ich bin ehrlich gesagt froh, dass sie mir einen Grund gegeben haben, nicht mehr weitergehen zu müssen.“, erklärte er leise und lächelte im Dunkeln. Er hatte nicht gelogen. Obwohl es auch hier eisig war, war Liam froh, dass er wenigstens dem Wind und dem Schnee nicht mehr ausgesetzt war. Das Schluchzen wurde leiser und hörte dann plötzlich ganz auf. Liam legte die Hände auf das Holz vor ihm, als plötzlich etwas auf ihn zu sprang. Holz splitterte um Liam herum und er wurde rücklings zu Boden geworfen. „Sie werden mich verdammt noch mal nicht umbringen, sie Schweinehund!“, schrie jemand hysterisch und kalte Hände packten Liams Kehle. Er war einen Augenblick zu schockiert, um zu reagieren, doch dann wehrte er sich mit ganzer Kraft gegen den unbekannten Angreifer. Er registrierte noch, dass es eine weibliche Stimme war, die da schrie, dann reagierte er nur noch. Liam konnte nichts sagen, er bekam kaum Luft, aber er spürte sofort, dass die Person, die ihn angriff, seiner eigenen Kraft nicht gewachsen war. Liam griff die Hände an den Handgelenken und zog sie von seinem Hals. „Hören sie damit auf, ich tue ihnen doch nichts!“, schrie er gegen den wüsten Angriff an und hielt die Hände fest. Er drehte und wand sich solange, bis er auf die Knie kam und den Angreifer unter sich bändigen konnte. Sofort ließ der Kampf nach und das Schluchzen setzte wieder ein. „Bitte, ich wollte nicht…tun sie es nicht, bitte!“, hörte Liam zwischen Schluchzern heraus, aber er ließ seinen Angreifer nicht los. „Was soll ich nicht tun?“, fragte er verwirrt und lockerte seinen Griff etwas. Jedoch nicht soweit, das der Angreifer sich befreien konnte. „Mich töten. Bitte. Ich werde auch niemandem etwas erzählen. Ich schwöre es.“ Liam schüttelte den Kopf. Dann erhob er sich mühsam und zog den Angreifer ebenfalls auf die Füße. „Kommen sie, verschwinden wir aus diesem Keller und sehen uns in die Augen.“, sagte er und zog die Gestalt mit sich die Treppe hinauf. Sie leistete keinerlei Widerstand mehr. Oben angekommen blinzelte Liam, um seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Er erkannte wieder Schemen und verschwommene Umrisse des Raumes, durch den er vor kurzem gewandert war. „Sehen sie mich an.“, bat er die Frau, die er noch immer festhielt, freundlich. Die Frau hielt den Kopf zu Boden gerichtet und war unter Liams Händen steif wie ein Brett. „Ich kann nicht.“, sagte sie und Liam spürte, dass sie zitterte. „Frieren sie?“, fragte er sanft. Die Frau hob den Kopf. Liam konnte nicht erkennen, ob sie ihn ansah, aber er vermutete es. Scheinbar hatte sie die Frage derart irritiert, dass sie ihre Angst vergaß und nun ihrer Verwunderung Ausdruck verlieh. „Ich habe Todesangst!“, rief sie und klang beinahe empört. Liam runzelte die Stirn. „Aber warum denn?!“, fragte Liam, beinahe ebenso empört, weil er überhaupt nichts mehr verstand. Die Frau legte den Kopf auf die Seite und Liam spürte, dass sie ruhiger wurde. Scheinbar erkannte sie endlich, dass er keine Gefahr für sie darstellte. „Sie sind keiner von denen, richtig?“, fragte sie und seufzte gleich darauf. Dann gab sie sich selbst die Antwort. „Das konnte ich nicht wissen. Oh man, sie sind auch hier rein geraten, was? Dieses dämliche Blatt Papier! Woher sollte ich das wissen? Das konnte ich gar nicht. Wussten sie es? Es ist nicht fair!“ Liam hatte die Frau inzwischen losgelassen. Sie stand da, die Arme lasch an den Seiten und den Blick auf Liam gerichtet. Scheinbar war ihre Angst verflogen und hatte Trotz und Ärger Platz gemacht. Liam schüttelte den Kopf. „Hören sie, es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon sie sprechen.“, erklärte er und fühlte sich ein wenig schlecht dabei. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er es wissen müsste. Dass er dieser kleinen, hilflosen Gestalt helfen müsste, ihr erklären müsste, dass alles gut werden würde. Aber Liam hatte einfach keine Ahnung. Die Frau sah Liam an und dann plötzlich lachte sie. Liam trat einen Schritt zurück, weil das Geräusch so befremdlich klang, dass er zunächst dachte, sie würde wieder auf ihn losgehen. Die Frau lachte und lachte und ließ sich schließlich auf die Knie sinken, weil sie nicht mehr stehen konnte. „Oh man.“, keuchte sie schließlich atemlos, als das Lachen in gelegentliches Seufzen übergegangen war. „Oh man.“, sagte sie dann noch mal und sah zu Liam auf. Der hockte sich zu ihr hinunter und lächelte. Er wusste nicht, ob sie es überhaupt sehen konnte, aber er tat es trotzdem. Er wünschte sich plötzlich, sie hätten ein Licht, damit er ihr Gesicht sehen konnte. Aber er sah nur einen schemenhaften, grauen Fleck. „Es freut mich, dass sie das etwas fröhlicher macht. Aber bitte, ich würde auch gerne verstehen, was hier los ist.“, bat er und bot der Frau eine Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Die Frau nahm sie und Liam glaubte, in den Schatten der Dunkelheit auch auf ihren Lippen ein Lächeln zu sehen. „Wenn das einer von ihren Tricks ist, machen sie das echt gut. Ich kauf es ihnen voll ab.“, sagte sie und strich sich seufzend die Haare aus der Stirn. Liam fiel auf, dass sie weder Schal, noch Mütze, noch Handschuhe trug. Ihre Jacke wenigstens schien warm. Sie war riesig und passte nicht zu den zarten Proportionen ihrer schlanken Beine. Liam lächelte. Sie musste hübsch sein. Er wünschte, er könnte sie bei Tageslicht sehen. „Na schön. Sie haben doch auch den Zettel gelesen, oder?“, fragte die Frau und es klang eher wie eine Feststellung, als wie eine Frage. Liam nickte. Dann fiel ihm ein, dass die Frau es wahrscheinlich nicht sehen konnte. „Ja, habe ich.“, sagte er. „Was haben sie danach getan?“ „Das weiß ich nicht mehr. Ich bin wieder nach draußen gegangen, warum?“ Liam verstand nicht, worauf die Frau hinaus wollte, aber immerhin schien sie zu wissen, wovon sie sprach. „Nein, nein – was haben sie direkt danach getan? Nachdem sie den Text gelesen hatten?“ Liam runzelte die Stirn. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich bin aufgestanden, hab das Blatt fallengelassen und habe den Raum verlassen. Sonst nichts.“, beteuerte er, aber die Frau war nicht zufrieden. „Haben sie nichts gesagt?“, fragte sie und trat näher an Liam heran. Ihm war ihre Nähe plötzlich unangenehm. So unpassend es auch war, er fühlte die körperliche Nähe plötzlich so stark, dass Liam einen Schritt zurückwich. Er war sich bewusst, wie unnötig sein Verhalten war, aber er tat es trotzdem. Die Frau schien es nicht zu bemerken. Liam dachte nach und dann fiel es ihm wieder ein. „Doch, ich habe etwas gesagt. Ich weiß nicht einmal, wieso. Vielleicht war ich so wütend, dass ich auf dieses Licht hereingefallen bin, mir Hoffnung gemacht habe, dort oben jemanden zu treffen und dann enttäuscht worden bin. Vielleicht wollte ich das jemandem mitteilen. Verrückt, hm?“ Liam grinste ins Dunkel. Die Frau zuckte mit den Schultern. „Was haben sie gesagt?“, fragte sie, ohne auf Liams Erläuterungen einzugehen. Liam war deswegen seltsam verletzt. „Was weiß ich.“, gab er deshalb patzig zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Plötzlich spürte er die allumfassende Kälte wieder mit voller Wucht. „Denken sie nach!“, forderte die Frau eindringlich und Liam fühlte, dass sie es ernst meinte. Warum auch immer. „OK OK, warten sie. Ich überlege.“, entschuldigte er sich deshalb und schloss einen Moment die Augen. Die Frau wartete geduldig. „Ich glaube, ich sagte so was wie ‚Klar, warum nicht’. Irgendwie so etwas. Man, war ich genervt.“ „Sie müssen sich ganz genau erinnern.“, forderte die Frau und langsam ging sie Liam auf die Nerven. Was sollte das alles? „Bitte, erinnern sie sich genau.“, bat die Frau dann und der Wechsel ihres Tonfalls stimmte Liam sofort wieder um. Sie hatte Angst und irgendwie war es wichtig, dass Liam ihr sagte, was er gesagt hatte. Also dachte er noch einmal nach und wusste es dann wieder. Na, aber sicher doch. Warum nicht? „Ich sagte ‚Na, aber sicher doch. Warum nicht?’ Genau. Das war’s.“ Die Frau gab ein triumphierendes Geräusch von sich, das etwa so klang, wie „Ha!“ Liam zuckte zusammen. „Warum ist das wichtig?“ „Wissen sie noch, was auf dem Blatt stand?“ „Nicht wirklich. Irgendwas von einem Spiel. Keine Ahnung. Es war so schwachsinnig, dass ich es wieder vergessen habe.“ Liam spürte, dass er rot wurde. Er wusste nicht, warum, aber es war ihm unangenehm, dass er den Inhalt des Textes vergessen hatte. Die Frau schnaubte. Dann raschelte es aus ihrer Richtung und sie hielt Liam etwas entgegen. „Hier, lesen sie es noch mal.“, befahl sie und Liam nahm den Gegenstand. Es war ein Blatt weißes Papier. Liam konnte die Schrift darauf nicht lesen, es war zu dunkel. „Es ist zu dunkel.“ „Warten sie. Hier.“ Plötzlich flammte über dem Blatt eine kleine Flamme auf. Die Frau hielt ein Feuerzeug in der Hand. Liam sah ihr Gesicht im flackernden Licht der kleinen Flamme. Sie war jung und sehr hübsch. Ihr Haar fiel ihr über die Stirn und einige Strähnen lagen über ihren Augen. Liam beugte sich über das Blatt, um zu lesen. Kaum sah er die Worte, erinnerte er sich auch wieder. «Nehmen sie teil. Spielen sie mit. Überwinden Sie die Mauer. Gewinnen Sie, haben Sie für Ihr Leben ausgesorgt. Verlieren Sie, müssen Sie sich keine Sorgen mehr machen. Sind sie dabei?» Liam ließ den Zettel sinken. „Was soll das?“, fragte er und vernahm mit Schrecken, dass seine Stimme zitterte. Die Frau gab ein ärgerliches Schnauben von sich. „Das bedeutet, dass sie darauf hereingefallen sind, genau, wie ich.“, antwortete sie und lachte verächtlich. Liam wusste nicht, ob das Lachen ihm galt, oder dem Inhalt des Textes. „Ich verstehe das immer noch nicht.“, gab er entschuldigend zu und die Frau hielt ihm das Blatt vor die Nase. „’Sind sie dabei?’ - ‚Na, aber sicher doch. Warum nicht?’.“ Liam schüttelte den Kopf. „Das ist doch Schwachsinn. Sie glauben doch nicht wirklich, dass das jemand ernst nimmt.“ „Warum glauben sie wohl, habe ich mich in diesem schrecklichen Keller versteckt und versucht, sie zu erwürgen, bevor sie mich umbringen?“ Liam schüttelte nochmals den Kopf. „Das ist Schwachsinn.“, sagte er nochmals aber er wusste, dass er weit weniger überzeugt klang, als er es sich gewünscht hätte. „Wenn sie meinen.“ Die Frau ließ das Blatt wieder in ihrer Jacke verschwinden. „Ich jedenfalls setzte keinen Fuß mehr nach draußen. Die warten da draußen bloß darauf, mich zu erwischen. Ich will nicht sterben!“ Liam tastete sich vorsichtig an die Frau heran und legte seine Hand auf ihren Arm. Sie zuckte kurz zusammen, kaum merklich, blieb dann aber ruhig. „Ich verstehe ja, dass sie Angst haben. Die Dunkelheit, der Sturm und dieser dämliche Industriepark – kein Wunder. Aber glauben sie mir, niemand hier will sie umbringen.“ Liam lächelte und hoffte, dass die Frau es sah. „Dann gehen sie da raus, stellen sie sich mitten zwischen die Gebäude und rufen sie ‚Ich bin hier! Ich bin hier!’. Wenn sie das fünf Minuten überleben, dann gehe ich sofort mit ihnen, wohin auch immer sie gehen und alles wird gut.“ Liam schüttelte den Kopf. „Das ist doch idiotisch.“, sagte er und fuhr sich durch die Haare. „Idiotisch? Dann machen sie es doch. Wenn sie keine Angst haben, wenn das alles Schwachsinn ist, dann machen sie es doch!“, rief die Frau und zog den Arm, auf dem noch immer Liams Hand lag weg. Liam schüttelte den Kopf. Dann zuckte er mit den Schultern. „Na schön. Ich tue es. Aber wenn ich in fünf Minuten wieder reinkomme, gehen sie mit mir und wir verschwinden von hier. Und dann lade ich sie zum Frühstück ein. Wie klingt das?“ Die Frau lachte heiser auf. „Idiotisch. Aber in Ordnung.“ Es war fünf nach elf. Kapitel 3: Die Killer --------------------- Now I understand You’ve been running from that man That goes by the name of the sandman He flies the sky Like an eagle in the eye of a hurricane That’s abandoned (America) __________________________________________________________________ Der Sturm hatte etwas nachgelassen, als Liam aus der Tür trat. Trotzdem zog er seine Mütze wieder auf und die Kapuze tief in die Stirn, als er nach draußen trat. Er wand sich um und spähte in die Dunkelheit des Inneren des Hauses. Dort stand undeutlich der Schemen der jungen Frau. Sie drückte sich an die Tür und spähte in Liams Richtung. „Es ist alles in Ordnung.“, rief Liam ihr zu und lächelte. Obwohl er wusste, dass sie es nicht sah. Dann ging er in die Mitte des Ganges zwischen den Gebäuden und stellte sich dorthin. Und dann schrie er. „Hier bin ich! Los, holt mich doch! Ich bin hier und ich laufe nicht weg!“ Liam schrie aus vollem Hals. Es klang unheimlich, wie schnell der Wind seine Stimme davontrug. Die größtenteils glaslosen Fensterhöhlen schienen die Worte zu verschlucken. Liam schloss die Augen und rief noch einmal. „Kommt schon! Wer auch immer ihr seid! Hier bin ich!“ Liam öffnete die Augen wieder und drehte sich zu der Frau um, die noch immer halb hinter der Tür stand. Sie rührte sich nicht. Liam hob die Arme, um ihr zu zeigen, dass niemand kommen würde und alles in Ordnung war. Zur Antwort riss die junge Frau plötzlich einen Arm hoch und deutete auf etwas hinter Liam. Etwas, das hinter einem zerbrochenen Fenster im ersten Stock des Hauses gegenüber aufgetaucht war. Und noch bevor Liam erkennen konnte, was es war, schoss etwas an ihm vorbei und schlug kaum zehn Zentimeter neben ihm in den Boden. Liam zuckte zusammen. Aber anstatt wegzulaufen, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte in die Schatten der Nacht. Die Gestalt im ersten Stock bewegte sich. Vielleicht auch nicht. Liam war sich nicht einmal sicher, ob dort tatsächlich etwas war. Vielleicht waren es auch nur die wabernden Schatten des Sturms und der Dunkelheit. Dann hörte er die Stimme der Frau. Sie wurde so schnell vom Wind in Fetzen gerissen, dass Liam kaum etwas verstand. „…zurück! Schnell!“, hörte er, dann spürte er einen scharfen Luftzug an seiner Wange. Kurz darauf einen brennenden Schmerz. Dann ein kleiner Knall, als etwas in der Hauswand neben der Frau einschlug. Liam zuckte zusammen und griff sich an die Wange. Er spürte etwas Glitschiges und gleichzeitig einen erneuten scharfen Schmerz, der durch seinen Kiefer zuckte. Dann rannte Liam geduckt zurück ins Haus und die Frau schlug die Tür hinter ihm zu. Noch zweimal schlug etwas in das Holz der Tür, dann war es wieder still. Nur das Heulen des Sturms war zu hören. Liam ließ sich auf die schmutzige Treppe sinken. Er spürte Brocken von Putz, oder was auch immer unter sich und rutschte unbehaglich hin und her. Die Kälte der Stufe drang langsam aber sicher durch Liams Hose und brachte ihn zum zittern. Die Frau kniete sich neben ihn und fasste ihn etwas unbeholfen an der Schulter. „Sind sie verletzt?“, fragte sie und ihre Stimme zitterte. Liam glaubte, dass ihr kalt sei, aber dann sah er ihr Gesicht dicht vor seinem und stellte fest, dass sie Angst hatte. Um ihn. Er lächelte. Wieder dieser stechende Schmerz. „Mir geht’s gut.“, wollte er sagen, doch stattdessen sagte er etwas, das so klang, wie ‚Mirehts uht’. Liam erschrak über den verwaschenen Klang seiner Stimme und versuchte es erneut. „Mir geht’s gut.“, sagte er langsam und diesmal klappte es. Allerdings tat seine Wange furchtbar weh beim Sprechen. Die Frau schüttelte den Kopf. Dann hob sie die Hand und Liam zuckte zurück, weil er glaubte, sie würde seine schmerzende Wange berühren. Doch die Frau ließ nur das Feuerzeug mit einem leisen Ratschen aufleuchten. „Zeigen sie mal her.“, bat sie sanft und Liam nahm vorsichtig die Hand von seiner Wange. Die Frau beleuchtete sein Gesicht und irgendwie war Liam froh, dass er selbst nicht sehen musste, was der Feuerschein beleuchtete. „Es ist nicht so schlimm.“, sagte die Frau und Liam freute sich unbewusst über die Erleichterung in ihrer Stimme. „Nur eine kleine Fleischwunde, auch wenn es weh tut. Sie werden es überleben.“ Liam spürte den drohenden Beiklang dieser Worte. Sie werden es überleben. „Was war das?“, fragte Liam schließlich, als er sich beruhigt und ein Taschentuch auf seine Wange gedrückt hatte. Das Blut trocknete schon und das Papiertuch blieb von allein haften. „Einer der Reaper. Glauben sie mir jetzt endlich?“ „Einer der was?“ „Reaper. So nennen sie sich. Sie sind die Spielmacher. Die Jäger. Die, die uns umbringen werden, wenn wir nicht ganz viel Glück haben.“ Die Frau weinte wieder, jedoch schluchzte sie nicht mehr. Liam sah sie an und lächelte. „Es fällt mir wirklich schwer, das zu glauben.“, sagte er und schüttelte seufzend den Kopf. „Immer noch?“, stieß die Frau ungläubig hervor und schnaubte verärgert. „Ich weiß es auch nicht. Das ist verrückt. Oder etwa nicht?“ Die Frau nickte. „Sicher, aber das heißt noch lange nicht, dass es nicht passiert. Sie haben es doch selbst gespürt, verdammt noch mal. Besser wäre es jedenfalls, wenn sie langsam anfangen würden, es zu glauben. Sonst sind sie beim nächsten Mal, wenn sie dieses Gebäude verlassen, tot.“ Liam zuckte zusammen. Das waren schlechte Aussichten. „In Ordnung. Warum auch immer, da draußen sind Menschen, die uns erschießen wollen, richtig?“ Die Frau nickte. „Gut, also sehen wir zu, dass wir von hier wegkommen, richtig?“ Wieder nickte die Frau, doch gleichzeitig seufzte sie hoffnungslos. „Wie sollen wir das anstellen?“ „Das weiß ich auch noch nicht. Wie lange sind sie schon hier?“ Die Frau senkte den Blick. „Zwei Tage.“, antwortete sie und begann wieder, zu zittern. „Zwei Tage?!“, rief Liam ungläubig und schüttelte den Kopf. „Wie haben sie das überlebt?“ Die Frau lächelte. „Ich habe mich versteckt. Und mich nur nachts von Haus zu Haus geschlichen. Ich habe versucht, immer dieselbe Richtung einzuhalten, damit ich irgendwann die Mauer erreiche, aber entweder ich war zu langsam, ich habe mich verirrt, oder dieser gottverdammte Park ist einfach zu groß.“ Liam lächelte. Auch, wenn die Frau weinte und zitterte, sie war ziemlich mutig. Und ihr Fluchen passte so gar nicht zu ihrer zarten Gestalt. Sie hatte es mit den Unbekannten aufgenommen, nicht aufgegeben und ihm das Leben gerettet, nachdem sie versucht hatte, ihn umzubringen. Und bei all dem war sie erstaunlich ruhig geblieben. Liam beschloss, der mutigen, jungen Frau zu helfen. „In Ordnung. Ich werde uns schon hier raus bringen. Ich werde ihnen helfen.“, beschloss er und stand auf. Dann reichte er der Frau die Hand und sie nahm sie. Sie lächelte leicht und Liam wusste, dass sie nicht daran glaubte, dass er sie retten konnte. Sie beide. Trotzdem lächelte sie. „Ich bin übrigens Talia.“, sagte sie leise und ihr Lächeln wurde etwas deutlicher. Liam grinste. „Und ich bin Liam. Und jetzt zeigen wir’s denen.“ Es war halb zwölf. Kapitel 4: Die Flucht --------------------- So dress a little dangerous And modify your walk Nothing wrong with sparrows But try, to be a sparrowhawk (Jethro Tull) _______________________________________________________________________________________________________________________________ Eine halbe Stunde später war der Sturm abgeflaut und Liams Plan gereift. Er wollte mit Talia geduckt zur Rückseite des Hauses laufen und sich mit ihr im Schutz der Dunkelheit davonstehlen. Liam wollte mit der jungen Frau gemeinsam den Weg zurück nehmen, den er hergekommen war. Er war sich relativ sicher, dass dies von ihrem Standort aus der kürzeste Weg zur Mauer war. Wenn sie rannten und das Tempo durchhielten, würden sie nur eine halbe Stunde brauchen. Liam wusste, dass er es schaffen konnte, aber er war sich bei Talia nicht sicher. Die junge Frau hatte zwei Tage lang nichts gegessen und war durch den Mangel an Energie und durch die extreme Kälte völlig entkräftet. Liam fürchtete, dass er sie nach einer Weile würde tragen müssen. Und dann würden sie wesentlich langsamer werden. „Liam?“ Liam sah auf und begegnete Talias scheuem Blick. „Ja?“ „Hast du Angst?“ Liam lächelte. „Nein.“, sagte er und wusste, dass das tatsächlich die Wahrheit war. Er hatte keine Angst, weil er wusste, dass sie es bis zur Mauer schaffen würden. Dann würden sie hinüberklettern und auf direktem Weg zur Polizei laufen, um diesem Schwachsinn ein Ende zu machen. Talia lächelte und wand ihren Blick wieder nach vorn. Sie bahnten sich einen Weg durch das Gerümpel und Liam öffnete vorsichtig die Hintertür. Der Schnee fiel jetzt in dicken, aber spärlichen Flocken. „Bist du soweit? Wenn sie schießen, müssen wir die nächstbeste Deckung nehmen, die wir finden.” Talia nickte. Und dann rannten sie los, noch immer geduckt. Durch den Schnee, der inzwischen alles weiß bedeckt hatte und im Zick Zack zwischen den Gebäuden entlang. Immer von einer Deckung in die nächste. Niemand schien sie zu bemerken. Immerhin wurde nicht mehr auf sie geschossen. Aber Liam hatte das sichere Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Das man mit ihnen spielte. Vielleicht testete, wie gut sie waren. Sie einfach abzuknallen war schließlich langweilig. Eine Viertelstunde lang ging alles gut, dann hallte plötzlich ein Schuss durch die Dunkelheit. Liam und Talia zuckten beide zusammen und Liam riss die junge Frau im Lauf herum. Er zog sie mit in einen Häusereingang und drückte sie gegen die Wand. „Scht!“, zischte er und Talia nickte. Liam drehte den Kopf und versuchte, den Standort des Schützen ausfindig zu machen. Aber er sah nichts. Es war einfach zu dunkel. Er musste warten, bis er wieder feuerte. Das Mündungsfeuer würde den Schützen verraten. Fünf Minuten lang geschah nichts, dann krachte ein zweiter Schuss. Die Kugel schlug direkt neben Liam und Talia in die Wand und Liam wusste, sie mussten verschwinden. Offensichtlich zielte dieser Schütze wesentlich besser, als der erste. Wahrscheinlich arbeitete er mit einem Nachtsichtzielfernrohr. Anders war es unmöglich, dass er so genau traf, schließlich herrschte noch immer tiefste Nacht. „Ins Haus.“, wisperte Liam und Talia drückte die Tür. Doch sie öffnete sich nicht. Liam knurrte und schob Talia beiseite. Aber auch er bekam die Tür nicht auf. „Scheiße.”, entfuhr es ihm und er drückte sich neben Talia an die Wand. Dann überlegte er es sich anders und zog die junge Frau zu Boden. Dort hockten sie, zusammengekauert und erwarteten den nächsten Schuss. Liam beobachtete die Häuserwand gegenüber. Ein Heizungsrohr mit gut einem Meter Durchmesser lief daran entlang. Stahlträger bildeten zwei schräg liegende Kreuze und die Fenster waren alle zerstört. Im zweiten Stock hatte das Mündungsfeuer des zweiten Schusses den Schützen verraten. Aber das half Liam nicht weiter. Jedenfalls nicht, wenn er hier unten und der andere dort oben war. Liam schnaubte wütend. Talia sah ihn fragend an und wurde dann plötzlich mitgezogen. Liam rannte am Haus mit der verfluchten geschlossenen Tür entlang und überquerte plötzlich die Straße. Sie rannten auf das gegenüberliegende Haus zu und erreichten es ohne Zwischenfall. Talia zog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein, als sie sich an die Wand drückten. „Was zum Teufel tust du denn?“, fragte sie Liam und stieß ihn wütend gegen die Schulter. Liam zischte ihr zu, sie solle still sein und zog sie ins Haus. Nun waren sie im selben Haus wie der Killer. Liam konnte nicht umhin, zuzugeben, dass das Gefühl aufregend war. Talias Angst störte ihn. Sie zerstörte seinen Nervenkitzel. “Keine Sorge, ich bring uns hier raus.”, sagte er so voller Inbrunst und Überzeugung, dass Talia sprachlos schwieg. Liam fasste Talia an der Hand und führte sie. Sie liefen die Treppe hinauf, bis in den zweiten Stock. Von dort war der Schuss gekommen und vielleicht wurden sie erwartet. „Wir werden ihn suchen und sehen, ob wir ihn loswerden können.”, schlug Liam vor und Talia blieb schockiert stehen. „Was?!“, entfuhr es ihr und Liam musste ihr die Hand auf den Mund legen, damit sie nicht weiter zeterte. „Vielleicht schaffen wir es ja!“, gab er zurück und lächelte. Talia schüttelte den Kopf. „Das schaffen wir nie. Wir haben keine Waffe, schon vergessen?” Liam schüttelte den Kopf. „Wir werden so oder so erschossen, oder etwa nicht?“ Talia zuckte mit den Schultern. Liam lächelte und zog die Frau mit sich. Sie liefen den Flur entlang, aber im zweiten Stock war niemand außer ihnen. Liam zog Talia mit zur Treppe, die aufs Dach führte. Talia hatte das Sprechen aufgegeben. Sie lief schweigend neben Liam her und starrte vor sich hin. Als sie das Dach erreichten und auf die geteerte Fläche traten, schlugen ihnen dicke Schneeflocken ins Gesicht. Talia zitterte wieder und sie schluchzte leise. Liam sah sich um, konnte aber niemanden sehen. Gerade wollte er das Dach überqueren, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Auch Talia hatte es gehört. Ein leises Knacken, dann ein scharrendes Geräusch. Füße, die über Teerpappe liefen. Liam wirbelte herum und stand plötzlich einem der Männer gegenüber, die sich laut Talia ‚Reaper’ nannten. Der Mann war einen halben Kopf größer, als Liam und er trug eine Waffe. Es war ein automatisches Gewehr und der Lauf war direkt auf Liam und Talia gerichtet. Bevor Liam überlegen konnte, lief er plötzlich los. Er zog Talia mit sich, die wie in Trance nicht einmal den Versuch machte, sich zu wehren. Liam rannte direkt auf den Schützen zu. Und offenbar war dieser so überrascht, dass er vergaß, den Abzug durchzuziehen. Liam traf den Mann mit voller Wucht und warf ihn zu Boden. Aber er blieb nicht stehen, sondern zog Talia weiter, auf den Rand des Daches zu. Die junge Frau starrte wie gebannt auf die immer näher kommende Kante und dann auf den Abgrund, der sich danach auftat. „Wir werden hinunterfallen!“, schrie sie plötzlich und Liam musste sie mit aller Kraft festhalten, damit sie nicht einfach stehen blieb. „Nein, werden wir nicht.“, schrie er zurück und sprang. Er hielt Talia noch immer fest und weil ihr nichts anderes übrig blieb, sprang sie ebenfalls. Einen schrecklichen Augenblick lang schien es, als behielte die junge Frau recht, doch dann bewahrheitete sich Liams Vorhersage. Er wusste nicht, woher er es gewusst hatte, aber sie fielen nicht. Stattdessen straffte Liam all seine Muskeln und schloss die Augen. Er konzentrierte sich mit ganzer Kraft darauf, in der Luft zu bleiben und als er nach einigen bangen Sekunden die Augen wieder öffnete, standen sie sicher auf dem gegenüberliegenden Dach. Talia hatte sich von ihm losgemacht und starrte ihn nun entsetzt an. Liam lächelte sanft und hielt ihr seine Hand hin. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich uns hier raus bringe.“, sagte er ruhig und sah zufrieden zu, wie Talia langsam wieder an ihn herantrat und seine Hand nahm. „Wie hast du das gemacht?“, fragte die junge Frau mit zitternder Stimme und sah Liam zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung richtig in die Augen. Als suche sie dahinter nach der Erklärung für das Geheimnis, das den jungen Mann umgab. Liam aber lächelte nur und zuckte mit den Schultern. „Manche Dinge passieren einfach.“ Es war zehn nach eins. Kapitel 5: Über die Mauer ------------------------- Come on baby Don’t fear the reaper Baby, take my hand Don’t fear the reaper We’ll be able to fly... (Blue Oyster Cult) ____________________________________________________________________________________________________________________________________ Um viertel nach eins stand Liams Entschluss fest. Er würde sich von diesen Killern mit ihren Waffen nicht töten lassen. Er hatte einen von ihnen geschlagen, dann konnte er sie alle besiegen. Und Talia ließ seine Hand nicht los. Ohne sich umzusehen, lief Liam mit Talia durch die Ruinen. Sie krochen unter Rohren hindurch und sprangen über Mauerstücke. Sie durchquerten halb zerfallene Häuser und duckten sich hinter zerborstenen Fensterscheiben. Tauchte ein Reaper auf, so konzentrierte Liam all seine Kraft auf seine freie Hand und stieß ihn beiseite. Nachdem es das dritte Mal funktioniert hatte, hörte Talia auf, hysterisch zu schreien und ergab sich in ihr Schicksal. Es fiel kein einziger Schuss mehr. Liam führte die junge Frau um Ecken, durch Keller, über Dächer und um Schornsteine herum. Er machte kein einziges Mal Halt und als Talia die Beine wegknickten, lud er sich die junge Frau auf die Schultern und lief weiter. Nach einer weiteren halben Stunde stand plötzlich dunkel und drohend die Mauer vor dem unfreiwilligen Pärchen. Liam sah sich um, aber es war niemand zu sehen. Er blieb stehen, duckte sich in den Schutz eines Hauses und lud Talia vorsichtig ab. Er legte sie auf den Boden und strich ihr über die Wange. „Wach auf.“, flüsterte er und die junge Frau öffnete die Augen. „Wir sind da. Wir sind an der Mauer.“, sagte Liam lächelnd und auch Talias Lippen kräuselten sich zart. „Wie schön.“, hauchte sie kraftlos und eine einsame Träne rollte über ihre Wange. Liam wischte sie sanft beiseite. „Ich kann nicht hinübersteigen, Liam.“, sagte Talia kraftlos und Liam nickte. „Das weiß ich doch.“, antwortete er und erhob sich wieder. Dann nahm er Talia auf den Arm und trug sie wie ein kleines Kind. Er lief bis auf fünfzig Meter an den steilen Erdwall heran und schloss die Augen. „Stell dir einfach vor, wir würden fliegen.“, flüsterte er dann ganz nah an Talias Ohr und sie lächelte. „Geht in Ordnung.“, wisperte sie und legte ihren Kopf an Liams Schulter. Liam lächelte ebenfalls und begann, zu rennen. Er nahm soviel Geschwindigkeit auf, wie es ihm nur möglich war, mit dem zerbrechlichen Paket in seinen Armen. Dann, zehn Meter vor dem Wall, stieß Liam sich mit aller Kraft vom Boden ab und schloss die Augen. Schwarz. Es war viertel nach zwei. Kapitel 6: Das Ende ------------------- Is this the real life? Is this just fantasy? Open your eyes Look up to the sky and see I’m just a poor boy I need no sympathy (Queen) _________________________________________________________________________________________________________ Liam schlug die Augen auf. Er blinzelte. War das die Sonne? Sie musste es wohl sein. Liam stellte fest, dass er auf dem Boden lag und er setzte sich auf. Sein Nacken war steif und sein ganzer Körper schien ihm nicht gehorchen zu wollen. Unbeholfen rappelte Liam sich auf und taumelte kurz, bevor er sicher stand. Ein beißender Schmerz durchzuckte seinen Hinterkopf und hielt sich dann stechend hinter seiner Stirn. Er sah verschwommen und rieb sich die Augen. Beinahe hätte er sich mit dem Hals der zerbrochenen Flasche, die er in der Hand hielt, ein Auge ausgestochen. Glücklicherweise traf er nur seine Nase. Liam starrte irritiert den Flaschenhals an und ließ ihn dann fallen. Er zerbrach auf dem harten Boden in viele, kleine Scherben, die in der Sonne funkelten. Liam betrachtete sie einen Moment lang. Dann berührte er zaghaft seine Nase und stellte erleichtert fest, dass sie nicht verletzt war. Aber sein Kopf tat wirklich höllisch weh. Und irgendetwas stimmte auch nicht mit seiner Wange. Als Liam wieder klar sah, sah er die junge Frau mit dem wunderschönen Namen Talia wieder. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Sie hatte sich zusammengerollt. Als Liam sich zu ihr knien wollte, traf sein Knie eine leere Glasflasche und sie zersprang. Liam zog sein Knie zurück und spürte, dass ein Splitter durch den Stoff gedrungen sein musste. Es piekste fürchterlich. Liam stand schwankend wieder auf und zog den Splitter heraus. Dann ging er langsam halb um Talia herum und kniete sich an ihrem Kopf nieder. Er strich ihr über das steif gefrorene Haar und lächelte. „Wach auf.“, flüsterte er, wie er es vor langer Zeit schon einmal getan hatte. Talia rührte sich nicht. Sie war immer noch völlig entkräftet. Liam ließ sich in den Schneidersitz sinken, wogegen seine Knie mit einem lauten Knacken protestierten. „Wach auf, Talia.“, flüsterte Liam noch einmal und drehte die junge Frau zu sich herum. Sie war sehr blass und ihre Lippen schimmerten bläulich in der Morgensonne. „Talia?“, fragte Liam und strich über ihre Wange. So kalt. Liam fürchtete, sie könnte sich eine Lungenentzündung holen, wenn sie noch lange auf dem gefrorenen Boden liegen blieb. Und so zog er sie auf seinen Schoß und schüttelte sie sanft. Dann etwas fester und schließlich schlug er ihr ins Gesicht. Dabei fiel Talias Kopf schlaff zur Seite und blieb regungslos dort liegen. Liam schloss die Augen. Dann stand er auf und hob Talia auf seine Arme. Er wollte den Wall hinuntersteigen, aber er stolperte. Was war das? Noch so eine Flasche. Liam schnaubte. Ihm war übel und die Kopfschmerzen wurden unerträglich. Er sah schon wieder doppelt und fiel auf die Knie. Diesmal zerbrach eine Flasche unter dem unverletzten Knie, aber glücklicherweise blieb es unverletzt. Liam hob den Blick. Zum Teufel, da lagen überall diese dämlichen Flaschen. Rings um ihn herum. Wie sollte er auf seinen wackeligen Beinen darüber hinweg kommen? Er erhob sich, taumelte und eine Welle von Übelkeit brachte seinen Magen durcheinander. Er ließ sich keuchend wieder auf die Knie sinken, schob Talia von sich herunter und erbrach sich auf Glas und Raureif. Das tat gut und die Übelkeit ließ nach. Liam sah Talia an und lächelte. Er hob sie wieder auf und drückte sie sacht an seine Brust. Es sah nicht schön aus, wie locker ihr Kopf herumbaumelte. Liam stand zum fünften Mal auf und wankte um die leeren Flaschen herum, den Erdwall hinunter. Er dachte nicht darüber nach, wie er es schaffte, unten anzukommen, ohne noch einmal zu stolpern, aber er schaffte es. Dann sah er sich um und war nicht verwundert, dass er auf dem Erdwall keine fünf Meter hohe Mauer entdecken konnte. Nur lauter winzige grüne Pünktchen. Dort, wo die leeren Glasflaschen lagen. Und dahinter nur strahlend weißer Himmel, der Schnee ankündigte. Liam keuchte und spürte ein verzweifeltes Schluchzen in seiner Kehle aufsteigen. Er sah Talia an, die schlaff in seinen Armen hing und schüttelte sie. Dann schüttelte er sie noch mal, etwas fester. Ihr Kopf kullerte auf ihrer Brust hin und her, wie ein umgekippter Kreisel, der keine Kraft mehr für eine ganze Drehung hatte. Als Liam kraftlos durch die mit Unkraut überwucherte Wiese taumelte, verhakte sich ein Zweig in Talias riesiger Jacke. Liam riss sie los und kämpfte sich weiter. Der Zweig schnellte zurück und wippte einige Male auf und ab, bevor er wieder ruhig gen Himmel ragte. Das weiße, zerknitterte Papier, das an den kleinen Dornen hängen geblieben war, wurde zwei Tage später von einem kleinen Jungen gefunden. Er spielte gerade Forscher und zerschlug die wilden Sträucher mit einer Eisenstange, als er den Zettel fand. Er fand ihn äußerst merkwürdig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)