Über die Mauer... von ayami (...oder: Neugier war der Katze Tod.) ================================================================================ Prolog: Über die Mauer ---------------------- Well I’m the type of guy That likes to roam around I’m never in one place I roam from town to town Cause I’m the wanderer Yeah, the wanderer I roam around, around, around... (Dion) __________________________________________________________________________________ Liam sah seinem Atem zu, der in weißen Wolken vor seinem Gesicht stand. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke noch ein wenig weiter nach oben und seine Mütze noch etwas tiefer ins Gesicht. Es war eiskalt und er wartete seit einer halben Stunde auf den Bus. Nicht, dass er es nicht gewohnt war, zu warten. Er war jeden Tag um punkt 18.00 Uhr fertig mit der Arbeit und musste jeden Tag bis 18.15 Uhr warten, dass der Bus kam. Aber gewöhnlich kam der Bus nicht zu spät. In den ganzen vier Jahren, die er inzwischen als Schweißer arbeitete, war der Bus nach Hause noch niemals zu spät gekommen. Liam schnaubte und verfolgte die weiße Atemwolke auf ihrem Weg gen Himmel. Er war genervt und er fror. Seine Nase fühlte sich an, als wäre sie schon lange nicht mehr Teil seines Gesichts. Immerhin lag kein Schnee, daran konnte es also nicht liegen, dass der Bus noch immer nicht in Sicht war. Langsam streckte Liam seine steifen Arme, die er bisher schützend um seinen Oberkörper geschlungen hatte. Dann bewegte er vorsichtig die verfrorenen Finger und lief an der Haltestelle auf und ab. Dann hüpfte er ein paar Mal und spürte, wie seine Waden leicht kribbelten. Endlich war er soweit aufgetaut, dass er wieder etwas Leben in sich spürte. Eine weitere Viertelstunde später beschloss Liam, nach Hause zu laufen. Er würde eine volle Stunde dafür brauchen, aber das war immer noch besser, als sich den Hintern abzufrieren. Also überquerte Liam die Straße und lief in Richtung der sinkenden Abendsonne. Die Straßen waren leer, was Liam wunderte. Normalerweise waren immer ein paar Fußgänger unterwegs. Und Taxen. Selbst die Obdachlosen, die sonst nach Einbruch der Dunkelheit die Hauseingänge bevölkerten, waren verschwunden. Liam lief eine Viertelstunde, dann beschloss er, eine Abkürzung zu gehen. Er spürte seine Zehen nicht mehr und sein Gesicht war schon seit fünf Minuten taub. Rechts von ihm lag der ehemalige Industriepark der Stadt. Ein Wall aus gefrorener Erde lag darum herum. Darauf eine halb verfallene Mauer aus Bruchstein. Liam blieb stehen und sah der grauen Wand entgegen. Er wusste, dass die ehemaligen Fabriken, Lagerhallen und Verwaltungsgebäude, seit gut zehn Jahren leer standen. Die Industriellen hatten sich billigere Standorte gesucht und die Stadt hatte zu wenig Geld gehabt, um das riesige Areal abreißen zu lassen. Geschweige denn, es wieder für die Bürger nutzbar zu machen. Und so lag das ehemalige Kapital der Stadt, nun schutzlos ausgeliefert Wind und Wetter gegenüber, brach. Liam wusste auch, dass hin und wieder die Obdachlosen der Stadt sich dorthin verirrten und Schutz suchten. Es machten sich allerdings nicht viele die Mühe, den hohen Wall zu erklettern und sich danach noch über die Mauer zu mühen. Sie war zwar verfallen, von den einst gut sieben Metern waren aber immer noch gut fünf übrig. Und keine Löcher, durch die man schneller hätte auf die andere Seite gelangen können. Und warum sollte man sich derart abmühen, wenn man auch bequem in den Hauseingängen und Innenhöfen der Anwohner übernachten konnte? Liam rieb seine Hände gegeneinander und zuckte zusammen, als ein brennendes Stechen durch die Handflächen fuhr. Es war wirklich eisig. Liam seufzte, dann verließ er den Bürgersteig und lief über einen Wildwuchs von Wiese zu dem Wall. Die Gräser und Halme glitzerten vor Raureif. Die letzten Sonnenstrahlen zauberten aus Eiskristallen kleine Sterne. Liam lächelte, als er sich seinen Weg durch die Wildnis bahnte. Als er den Wall erreichte, war seine Jacke weiß und Liam schüttelte den Reif ab. Dann wandte er seinen Blick den Wall hinauf. Von hier unten sah er noch viel höher aus. Liam bereute seine Entscheidung schon fast, doch da war auch ein kleiner Anflug von Abenteuer. Seit Liam vor vier Jahren in der Autofabrik als Schweißer angefangen hatte, war sein Leben sehr gradlinig verlaufen. Morgens aufstehen, zur Arbeit, abends wieder zurück und nach zehn Stunden harter Arbeit kaum noch mehr, als Schlafen. Liam grinste unbewusst, als ihn jetzt ein wärmendes Kribbeln durchflutete. Sein Herz klopfte etwas schneller. Fast fühlte er sich wie einer der jungen Abenteurer aus den alten Western. Ein junger Bursche von zwanzig Jahren, der auf unbekanntes Gebiet vordrang, um den schnellsten Weg für die Eisenbahn zu vermessen. Greenhorn. Liam lachte beinahe, als ihm die Idiotie seiner Gedanken bewusst wurde. Er schüttelte über sich selbst den Kopf und begann, den Wall zu erklimmen. Die Erde war gefroren und steinhart unter Liams Füßen. Hin und wieder strauchelte er und musste sich mit den Händen abfangen. Er erschauderte jedes Mal, wenn seine Hände den kalten Boden berührten. Liam trug keine Handschuhe, weil er sich keine leisten konnte. Ein paar Mal stachen gebrochene Äste schmerzhaft in Liams Haut. Einmal riss er sich einen Finger an einem mit Dornen übersäten Ast auf. Aber weil seine Finger ohnehin fast gefühllos waren, störte sich Liam nicht daran. Schließlich erreichte er den Fuß der Mauer und drehte sich um. Er befand sich nun knapp zehn Meter über dem Boden. Unglaublich, dass er den Wall erstiegen hatte, ohne außer Atem zu geraten. Der Erdwall lag nun unter ihm und Liam sah von oben auf die Stadt. Welch einen Überblick er erst haben würde, wenn er oben auf der Mauer stand. Liam lächelte und wandte sich der senkrecht aufragenden Wand vor ihm zu. Er musste nicht lange suchen, um Halt für seine Hände und Füße zu finden. Die Bruchsteine waren unregelmäßig behauen und mit Mörtel aufeinander gestellt. Die natürlichen Risse und Vorsprünge des Steins boten genug Fläche, um Liam den Aufstieg möglich zu machen. Allerdings nahm Liam sich zehn Minuten Zeit, um seine Finger und Zehen aufzutauen. Er bewegte alle Glieder und rieb, knetete und stampfte solange, bis Zehen und Finger wohltuend kribbelten. Erst dann atmete Liam tief durch und begann den Aufstieg. Es ging schwerer, als Liam gedacht hatte. Je höher er kam, desto stärker spürte er den Wind. Je länger er kletterte, desto gefühlloser wurden seine Füße und vor allem seine Finger. Liam sah mit wachsender Besorgnis, dass seine Fingerkuppen sich erst rot, dann dunkelblau verfärbten. Er befürchtete, dass sie tatsächlich erfrieren und abfallen könnten, bevor er das obere Ende der Mauer erreichte. Und so machte er immer wieder Pausen, hielt sich mit einer Hand fest und hauchte die andere so lange an, bis sie schmerzhaft pochte. Dann kletterte er ein Stück weiter und tat dasselbe mit der anderen Hand. So hatte er wenigstens immer eine Hand, die er als halbwegs funktionstüchtig erachtete. Obwohl es Liam wie eine halbe Ewigkeit vorkam, brauchte er tatsächlich nur eine Viertelstunde, um die Mauer zu erklettern. Dann saß er auf der Kante und wärmte die schmerzenden Finger unter den Achseln. Hier oben war der Wind fast ohrenbetäubend. Zwanzig Meter über dem Boden rauschten die Böen in Liams Ohren wie ein vorüber fahrender Schnellzug. Liam sah auf seine billige Armbanduhr und ärgerte sich. Eine Abkürzung hatte er nehmen wollen. Und jetzt war er bereits eine Dreiviertelstunde unterwegs. In einer Viertelstunde wäre er zuhause gewesen, hätte er sich nicht zu diesem idiotischen Vorhaben hinreißen lassen. Aber Liam war nicht der Typ für Selbstvorwürfe und so schob er seinen Ärger beiseite und machte sich an den Abstieg. Er hatte mit einem grandiosen Ausblick gerechnet, war aber enttäuscht worden. Die Stadt sah von so weit oben nur noch grauer und trostloser aus und hinter der Mauer sah Liam nur ein Gewirr aus zerbrochenen Fensterscheiben, verrosteten Rohren und Stahlträgern. Es war einfach zu dunkel, um Näheres zu erkennen. Der Abtieg fiel Liam leichter, als der Aufstieg. Und obwohl inzwischen sein ganzer Körper schmerzte, stellte sich das Abenteuergefühl wieder ein. Er hatte ohnehin schon so viel Zeit verloren, da konnte er jetzt auch aufhören, auf die Uhr zu sehen. Jetzt gab es nur noch ihn und das unbekannte Brachland hinter der Mauer. Liam würde sich Zeit lassen, sich seinen Weg durch die verfallenen Gebäude bahnen und erkunden, was ihm interessant erschien. Er würde die Abwechslung genießen und fragte sich bereits, wieso er nicht früher auf die Idee gekommen war, einen Blick hinter die Mauer zu werfen. Liam reckte die Arme nach oben und streckte sich, bis er es verheißungsvoll knacken hörte. Dann lief er den Wall auf der Innenseite der Mauer hinunter. Er war hier viel steiler, als außen und zog sich daher nicht so weit. Einige Male rutschte Liam auf den harten, glatten Boden aus und landete unsanft auf dem Hintern. Aber er rappelte sich immer wieder auf. Unten angekommen ließ Liam seinen Blick schweifen. Er hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit hier anders war, als außerhalb der Mauer. Liam nahm Schemen war, dann Umrisse und schließlich gewöhnten seine Augen sich so sehr an die Dunkelheit, dass er genug erkennen konnte, um seine Erkundungstour zu beginnen. Als Liam den Blick hob, erkannte er den wabernden Schimmer, der über den Ruinen lag. Die Lichter der Stadt drangen nicht über die Mauer. Nur ihre Ausläufer warfen nebliges Leuchten auf Rost, gebrochenes Glas und Stahl. Liam lächelte, während er sich nochmals wärmte. Er steckte nacheinander seine Finger in den Mund und behielt sie dort, bis sie sich warm anfühlten. Das dunkle Blau löste sich zu Liams Erleichterung wieder in glühendes Rot auf und das Gefühl kehrte in die Glieder zurück. Schließlich richtete Liam seine Kleider, packte sich so warm ein, wie nur möglich und atmete einmal tief durch. Es war ein Abenteuer. Und es begann genau jetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)